14
Lucys Absätze klackerten laut auf den polierten Dielen im Haus der Sastres, das Geräusch hallte in der großen zweistöckigen Diele wieder. Durch die bleiverglaste Eingangstür sah sie, wie der extravagante Geländewagen vorfuhr, den Alex für diesen Auftrag angemietet hatte.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte sie zu Alex’ Schwester, »würde ich gerne allein mit ihm sprechen.« Obwohl die Unterhaltung mit Ileana auch recht interessant gewesen war. Lucy erfuhr gerne etwas über die Kindheit ihrer Angestellten; das half ihr, sich die richtige Motivationsstrategie zurechtzulegen. Ileana hatte viel über Alex’ überfürsorgliche Ader gesprochen, Lucy hatte sich allerdings mehr für die Verwandten auf Kuba interessiert. Alex hatte sie ihr gegenüber noch nie erwähnt. Trotzdem wusste sie natürlich, wer sie waren und wo sie lebten.
»Im Wohnzimmer sind Sie ungestört, Miss Sharpe«, sagte Ileana. Sie hatte die gleichen dunklen Augen wie Alex. »Wenn Sie etwas brauchen, finden Sie mich in der Küche.«
Obwohl die teure, kunstvoll aus Glassplittern zusammengesetzte Tür den Blick nach draußen in hundert Einzelteile zerbrach, konnte Lucy beobachten, wie Alex ausstieg und auf die Beifahrerseite zu einer Frau ging, die offensichtlich nicht warten konnte, bis ihr die Tür geöffnet wurde. Die beiden Körper trafen aufeinander, als ob keine Macht der Welt sie hätte aufhalten können.
Lucy seufzte leise. Armer Alex! Es lastete wirklich ein Fluch auf ihm.
Die Eingangstür öffnete sich; wenn Alex bei ihrem Anblick überrascht war, so ließ er dies durch nichts erkennen.
»Da sieh mal einer an, Lucy«, sagte er mit diesem diabolischen kleinen Lächeln auf den Lippen. »Wer hätte das gedacht?«
Er machte keinerlei Anstalten, seinen Arm von der Taille der Frau zu nehmen, deren Schutz eigentlich seine Aufgabe gewesen war. Aber er hatte ja auch keinen Grund mehr, Lucys Regeln zu befolgen.
»Ich war zufällig gerade in Miami«, sagte sie und wandte ihre Aufmerksamkeit der Frau zu. Die falsche Zwillingsschwester sah nicht annähernd so gelackt aus wie die Moderatorin, das kastanienbraune Haar mit den roten Strähnen war zerzaust, und kaum eine Spur von Make-up umrahmte die Katzenaugen. Lebendig und mit beiden Beinen auf dem Boden, sehr weiblich trotz der Kampfkleidung. Zweifellos zog so jemand Alex an. »Gestatten: Lucy Sharpe.«
Die Frau streckte ihre Hand aus, war offensichtlich genauso wenig aus der Fassung zu bringen wie Alex. »Jazz Adams. Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Irgendwie nahm Lucy ihr das nicht ab. »Ganz meinerseits.« Sie sah wieder zu Alex. »Wo habt ihr gesteckt?« Was sie getan hatten, brauchte sie nicht zu fragen. Jazz’ offensichtlich von einer stürmischen Begegnung mit Bartstoppeln gerötete Wangen hatten ihr genug verraten.
»Im Büro meiner Schwester.«
»Das geht dich nichts an.«
Die beiden gleichzeitigen Antworten negierten sich gegenseitig.
Sie lächelte. »Tatsächlich geht es mich sehr wohl etwas an. Und dich auch, Alex.« Sie wies nach rechts auf die Tür zum Wohnzimmer, mit einer Gelassenheit, als wäre dies ihr eigenes Haus. »Könnte ich dich unter vier Augen sprechen?«
An der trotzigen Anspannung seines Kiefers und dem halb verschleierten Blick erkannte sie die bevorstehende Ablehnung.
»Bitte, Alex«, sagte Jazz, noch bevor er antworten konnte, »sprich mit ihr! Ich habe sowieso noch etwas zu erledigen.«
Er sah sie zweifelnd an, aber sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Stur zu sein, bringt uns nicht weiter.«
Hart im Nehmen, sexy und weise. Lucy hatte nicht erwartet, dass diese Frau ihre Verbündete sein würde.
Alex sprach kurz mit seiner Schwester, und Lucy ging derweilen schon ins Wohnzimmer. Sie setzte sich auf einen Stuhl mit gerader Rückenlehne, der vor einem großen Fenster stand, sodass Alex gezwungen sein würde, in dem hellgelben Sofa gegenüber zu versinken, wo ihm die Sonne direkt in die Augen schien.
Doch er blieb stehen, kreuzte die Arme über der Brust und neigte den Kopf gerade so weit, dass sie seine Ungeduld spüren konnte und er den Blick in die Sonne vermied. »Ich dachte, ich wäre heute Morgen gefeuert worden.«
»Und hast trotzdem unerlaubt weiterermittelt.«
Er zuckte die Achseln. »Aussagen von Max sind mit Vorsicht zu genießen.«
Irgendwann würde sie schon noch herausfinden, warum Max und Alex sich so absolut nicht leiden konnten. Dan Gallagher hatte es »männlichem Platzhirschverhalten« zugeschrieben, aber es musste mehr dahinterstecken.
»Ich habe geahnt, dass so etwas passieren würde«, sagte sie und schüttelte den Kopf.
»Was hast du geahnt?« Sein Ärger war nicht zu überhören. »Wusstest du schon vorher, dass Kimball Parrish angepisst sein würde oder dass ich weiter versuchen würde, Jessica Adams zu finden, obwohl du mir gekündigt hast, oder dass ich…« Er sah in Richtung Diele, wo Jazz gestanden hatte, und ließ die offene Frage in der Luft hängen. »Was davon hast du bereits geahnt, als du mich nach Miami geschickt hast und mir dann nachgeschlichen bist?«
Noch eindrucksvoller als seine Libido war sein Temperament; nur die Wahrheit konnte ihn wieder auf den Teppich bringen.
»Alex«, sagte sie sanft. »Ich habe dir etwas verschwiegen.«
Der Ausdruck auf seinem Gesicht änderte sich nicht, sein Blick versengte sie förmlich.
»Der eigentliche Klient heißt nicht Kimball Parrish.«
Sie hatte gewusst, dass sie es ihm eventuell sagen musste – ein späterer Zeitpunkt wäre ihr allerdings lieber gewesen. Ihr wäre es auch lieber gewesen, wenn sie Jessicas Spur nicht verloren hätten, das hätte alles sehr viel einfacher gemacht.
»Miles Yoder ist der Kunde. Aber das ist streng vertraulich. Keiner darf etwas davon erfahren.«
Alex ließ sich aufs Sofa fallen. »Und was spielt Parrish für eine Rolle?«
»Offiziell ist er unser Kunde, er zahlt auch für den Schutz von Jessica Adams. Aber Miles Yoder hat den Auftrag vermittelt und bezahlt für – etwas anderes.«
Alex schwieg.
»Miles ist der Mann meiner besten Freundin Valerie Brooks. Ich habe sie sogar einander vorgestellt.«
»Ach, wirklich?« Alex lehnte sich etwas zurück und sah sie unter halb geschlossenen Lidern an. »Dann solltest du vielleicht diejenige sein, die ihr beibringt, dass Miles Jessica Adams vögelt.«
»Das entspricht nicht der Wahrheit«, sagte Lucy. »Er tut nichts dergleichen. Miles will Jessica für einen hochdotierten Nachrichtenjob bei seinem Sender.«
»Das habe ich auch gehört.« Alex verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Und wie passt Kimball Parrish da rein, und warum war es so wichtig, bei ihm Eindruck zu schinden?«
Lucy presste die Lippen aufeinander. Auch nach all den Jahren bei der CIA fiel es ihr immer noch schwer zu entscheiden, wie viel sie preisgeben sollte. »Wie du weißt, ist er gerade erst zu Metro-Net gestoßen. WMFL ist der erste Sender von Metro-Net im Adroit Medienimperium.«
»Und?«
»Miles Yoder sitzt im Aufsichtsrat von Yellowstone, und Metropolitan Network gehört zu diesem Unternehmen. Er hat mich gebeten, jemanden mit diesem Auftrag zu betrauen, der eine aussagekräftige Persönlichkeitsanalyse von Kimball Parrish liefern kann.«
Sie hörten ein Räuspern, Ileana stand mit einem Tablett im Türrahmen. »Alex meinte, Sie trinken gerne Tee, Miss Sharpe.«
Lucy vermutete eher, dass Alex seiner Schwester gesagt hatte, er bräuchte dringend einen kubanischen Kaffee. So schnell wie möglich. »Wie aufmerksam, vielen Dank!«
Ileana stellte einen Teller mit kubanischen Teigtaschen, Tee und eine Kanne pechschwarzen Kaffee auf den Tisch und ging wieder hinaus. Alex goss sich einen Espresso ein, und Lucy nahm sich eine Tasse Tee.
»Warum erzählst du mir nicht alles von Anfang an, Lucy?«
Na schön! »Parrish hat auf einer karitativen Veranstaltung Miles gegenüber geäußert, er wolle Personenschutz für eine Angestellte arrangieren, die von einem Fan belästigt werde. Miles erkannte sofort die Gelegenheit, eine vertrauenswürdige Person einzuschleusen, die sich einen Einblick verschaffen könnte, wie Parrish die Geschäfte führt und mit Angestellten umspringt.«
»Warum hat er nicht einfach die Mitarbeiter befragt und sich den Geschäftsbericht angesehen?«, fragte Alex. »Das wäre doch viel sinnvoller.«
»Nicht unbedingt«, widersprach Lucy. »So hat Kimball nichts davon mitbekommen, dass du ihm auf den Zahn fühlst.«
»Ach, Luce!« Alex lachte leise. »Ich doch ebenfalls nicht. Stell dir bloß mal vor, um wie viel effektiver ich hätte arbeiten können, wenn du mir gesagt hättest, was von mir erwartet wird.«
Sie trank einen Schluck Tee. »Ich wollte erst, dass du Fuß fasst, dann hätte ich dich eingeweiht.« Das entsprach der Wahrheit. »Adroit ist ein Privatunternehmen und vollkommen nach außen abgeschottet. Und über Parrish ist auch nur wenig bekannt, obwohl er sich so offen konservativ gibt. Nur ein kleiner Kreis von Menschen steht ihm wirklich nahe.«
»Wonach sucht Yoder? Nach dreckiger Wäsche?«
»Parrishs Ansichten beunruhigen den Sender, vor allem der Aufsichtsrat von Yellowstone macht sich Sorgen. Miles wird wahrscheinlich in Kürze zum Vorsitzenden berufen, und einer der Gründe für seine Ernennung ist die Fähigkeit, sich solche Informationen zu verschaffen.«
Alex sagte nichts, legte sich aber wahrscheinlich jede Menge Fragen zurecht.
»Dass Jazz die Rolle von Jessica übernommen hat, hat die Sache nicht einfacher gemacht«, sagte Lucy.
Alex schnaubte. »Ja, sicher.«
»Aber Miles ist überzeugt davon, dass Jessica mit großem Erfolg für eine Story recherchiert, die er bei Metro-Net unterbringen will, und wieder auftaucht, sobald sie damit fertig ist. Bis dahin besteht keine Notwendigkeit, dass Kimball Parrish erfährt, wer Jazz wirklich ist, denn dann würde er sich nicht mehr unbefangen ihr gegenüber verhalten.«
Angewidert sah Alex an die Decke. »Genau das wollte ich immer schon sein: eine Schachfigur im großen Spiel.«
»Eher ein Maulwurf. Miles muss alles wissen über den Mann, der über ein größeres Imperium als er selbst herrscht. Yellowstone könnte als Nächstes auf seiner Liste der Übernahmen stehen. Sie haben Adroits Beteiligung nicht gerade begeistert aufgenommen, und nun wollen sie wissen, womit sie es zu tun haben.«
»Warum hat Yoder Jazz versetzt, als sie ihn vor ein paar Tagen treffen wollte?«
»Ich hatte ihm schon vorher gesagt, wer sie ist«, sagte Lucy. »Er war noch nicht bereit, sich einer Außenstehenden anzuvertrauen.«
Alex sah sie eine ganze Weile schweigend an. Sie nippte am Tee und wartete, was er dagegen vorzubringen hatte.
»Ich bin Sicherheitsexperte, Lucy«, sagte er schließlich. »Warum hast du niemanden darauf angesetzt, der auf Ermittlungsarbeit oder psychologische Analysen spezialisiert ist? Unter deinen Leuten sind doch genügend ehemalige Spione.«
»Es war ein Test.«
Sein Kiefer mahlte. »Wofür?«
»Für deinen nächsten Auftrag. Mein ehemaliger Arbeitgeber ist an mich herangetreten.« Sie trank betont langsam einen Schluck Tee, bevor sie die Bombe platzen ließ. »Sie brauchen jemanden für einen Spezialeinsatz.« Lucy schwieg einen Augenblick und sah ihm dann in die Augen. »Auf Kuba.«
Man musste ihm zugutehalten, dass er nicht einmal zuckte. »Um was geht es?«
»Das weiß ich nicht.« Was vollkommen der Wahrheit entsprach. »Aber die Bezahlung gefällt dir bestimmt.«
Er hob nur eine Augenbraue, aber sie spürte förmlich, wie sein Interesse erwachte.
»Wenn der Einsatz erfolgreich ist, werden sie dafür sorgen, dass fünfzehn Menschen ausreisen können. Und wir dürfen die Personen auswählen.«
Trotz seiner dunklen Hautfarbe, sah sie, wie er blass wurde, und ihr Herz wurde weich. Er war ein knallharter Macho, typisch Latino eben. Aber er liebte seine Familie.
»Ich will den Auftrag, Lucy.«
»Das war mir klar. Aber der Auftrag erfordert sorgfältige Persönlichkeitsanalysen und Profilerqualitäten. Du bist noch nicht ganz so weit. Ich hatte gehofft, dieser Job würde dir die notwendigen Fähigkeiten verschaffen. Aber –«
»Gib mir noch eine Chance!«
»Genau das habe ich vor«, versicherte sie ihm. »Ich habe Kimball Parrish bereits davon überzeugt, dass er zu voreilig gehandelt hat und du der beste Bodyguard bist, den wir haben. Miles wird ebenfalls mit ihm reden und das bestätigen. Um ehrlich zu sein, auch er hält Kimballs Verhalten für etwas bizarr. Zumindest hat sich gezeigt, dass der Mann schnell ausrastet und anderen nur ungern zuhört.«
»Er denkt mit seinem –« Er unterbrach sich und fuhr dann fort: »Wenn es um Jessica Adams geht, kann er nicht mehr klar denken.«
»Wenn du deinen Posten wiederhast, musst du so viel Zeit wie möglich in seiner Nähe verbringen. Aber zieh keine unnötige Aufmerksamkeit auf dich und verprell ihn nicht wieder.«
Alex nickte bedächtig, offensichtlich mit seinen Gedanken bei fünfzehn Verwandten, die sich nach einem besseren Leben sehnten. »Was ist mit Jazz?«
»Was soll mit ihr sein? Sie soll ihre Rolle weiterspielen – Miles ist ganz entzückt darüber, dass er Jessicas Verschwinden nicht decken muss. Kimball soll keinen Wind davon bekommen, dass Miles Jessica einstellen will. Er würde Jessica wahrscheinlich nur ungern ziehen lassen, der Sender würde sehr darunter leiden. Das hat er Jessica schon oft genug deutlich gemacht.«
Alex runzelte die Stirn. »Übersiehst du nicht die Möglichkeit, dass Jessica tatsächlich etwas zugestoßen sein könnte? Macht es dir keine Sorgen, dass sie sich nicht bei ihrer Schwester gemeldet hat? Findest du es völlig abwegig, dass sie das Opfer eines Stalkers geworden sein könnte?«
»Miles hat mich davon überzeugt, dass so etwas ganz abwegig ist. Er weiß als Einziger, worum es bei ihrer Story geht, und ist vollkommen überzeugt davon, dass sie dafür untertauchen musste. Sie hat alles im Griff, heißt es.«
Ein seltsames Lächeln erschien auf Alex’ Lippen.
»Was ist?«, fragte Lucy prompt.
»Nichts. Nur … bin ich nicht so überzeugt von Jessicas universellen Fähigkeiten, wenn du verstehst, was ich meine.« Das Lächeln verschwand. »Und ich bin keinesfalls überzeugt davon, dass sie sich in Sicherheit befindet.«
Lucy sah ihn nachdenklich an und ging noch einmal die Fakten durch. Alex’ Instinkte waren fabelhaft, sein sechster Sinn für aufkommenden Ärger hatte ihn zu ihrem Topspezialisten für Personenschutz gemacht. Aber Miles war näher an der Sache dran und kannte alle Beteiligten. »Nur für den Fall, dass du mit deiner Annahme richtigliegst, werde ich Dan und Max auf den Stalker ansetzen. Sie werden frühere Freunde von Jessica und andere Quellen befragen. Und du wirst weiterhin den Bodyguard für Jazz bzw. Jessica spielen. Mehr habe ich nicht zu sagen.«
Er schüttelte den Kopf und wies mit dem Daumen hinter sich. »Du vergisst den weiblichen Spürhund da draußen. Sie wird nicht eher Ruhe geben, bis sie ihre Schwester gefunden hat, und es ist ihr scheißegal, was du dazu zu sagen hast.«
»Du musst sie davon abhalten, unsere Ermittlungen zu torpedieren«, sagte Lucy.
»Sie will noch heute nach Key West«, sagte er. »Um mit Kimball zu reden.«
Lucy riss erschrocken die Augen auf. »Auf keinen Fall. Wenn Kimball herausfindet, dass sie nicht Jessica ist, wird er dir sicher den Laufpass geben. Miles wäre nicht gerade erfreut über diese Entwicklung.«
Alex sah sie skeptisch an. »Ich glaube, sie will vor allem die Sache mit gestern Nacht klarstellen. Danach will sie sich auf Miles Yoder stürzen.«
»Du musst sie aufhalten, Alex.«
»Ich weiß nicht recht«, sagte er und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Sie ist wie eine Naturgewalt.«
Lucy beugte sich vor, nahm eine der süßen Teigtaschen und biss hinein. »Köstlich! Himbeeren.« Sie bürstete einen Krümel von ihrem Schoss und fing seinen finsteren Blick auf. »Vielleicht fällt dir etwas Kreatives ein, um sie abzulenken. In solchen Dingen bist du doch sehr bewandert.«
Fakten logen nicht, davon war Jazz zutiefst überzeugt. Menschen allerdings schon. Meinungen boten immer Raum für Interpretationen, und Schlussfolgerungen waren stets gefährlich. Aber auf Fakten konnte man sich verlassen.
Und auf ihrem Bildschirm leuchtete ihr ein großer, böser Fakt entgegen.
Kimball Parrish hatte eine direkte Verbindung zu Denise Rutledge. Nachdem Ollie Parrishs Büro verlassen hatte, hatte sie einen Hinweis auf Desirée Royalle im Computer entdeckt. Sie war auf einen Ordner gestoßen und hatte ihn markiert, aber dann hatte Alex … sie abgelenkt. Und während er sie auf Parrishs Schreibtisch genommen hatte, waren die Dateien auf ihren Computer überspielt worden.
Nun hackte sich ein Programm in die Daten, und sie schloss die Augen und überließ sich den Erinnerungen. Was geschah zwischen ihr und Alex? Es war weit mehr als reine körperliche Anziehung, weit mehr als ein Hormonschub, der zur Entladung führte. Wie hatte er es genannt, als sie ihn damals ausgetrickst hatte.
Einen Machtkampf.
Ja, genau. Und sie verlor. Haushoch.
Der Bildschirm leuchtete auf, als das Programm ein Schlupfloch in der Firewall gefunden hatte; sie sollte sich besser um ihre verschwundene Schwester kümmern, als einer Romanze nachzuhängen.
Eine schöne Liebesgeschichte würde das werden. Alex reiste in der Welt herum, um reiche Laute zu beschützen, und sie saß in ihrer kleinen Privatdetektei in San Francisco. Und hatte kein Bedürfnis – absolut keins, niemals, nada –, eine Beziehung mit einem Mann einzugehen, der im tiefsten Herzen davon überzeugt war, dass Männer die dominante Spezies waren und es seine Aufgabe war, Frauen zu beschützen.
Aber, du lieber Gott! Wenn sie nur daran dachte, wie sehr sie ihn begehrte, spannten ihre Brüste, und sie wurde feucht. Dabei war es nur Sex. Unglaublicher, alles auflösender, fantastischer Sex.
Niemand würde diesen Machtkampf gewinnen. Ihr blieb nur, sich auf die Suche nach Jessica zu konzentrieren. Und eine faszinierende Spur tat sich genau in diesem Moment direkt vor ihrer Nase auf. Eine Mail an Kimball Parrish von niemand Geringerem als Howard Carpenter, dem Mann, der Denise Rutledge rausgeschmissen hatte.
Gott sei Lob, Preis und Dank für alle digitalen Fingerabdrücke und Spuren, die Leute auf ihren Computern hinterließen. Ein reger Mailverkehr zwischen Howie und Kimball. Sie hatten ein Sex-Treffen arrangiert, bei dem die Pornodarstellerin genau dasselbe tun sollte wie in den Filmen. Überraschenderweise schien die Initiative von Desirée Royalle ausgegangen zu sein.
Wollte sie einen ehrbaren Job im Fernsehen ergattern und hatte geglaubt, gerade Parrish könnte ihr dazu verhelfen? Oder suchte sie eine Möglichkeit, Jessica bei ihrer Story zu helfen?
Was es auch war, Jazz würde dahinterkommen. Mit einem Kurzstreckenflug konnten sie in einer Stunde auf Key West landen.
Sie hatte gerade die Buchung abgeschlossen, als sich die Schlafzimmertür öffnete.
»Ich bin nicht gefeuert«, sagte er mit einem schiefen Grinsen. »Wir können uns also den Trip nach Key West sparen und den ganzen Tag …« Er sah sie von oben bis unten mit einem an Deutlichkeit nicht zu überbietendem Blick an. »… im Pool schwimmen.«
Warum reagierte ihr Unterleib bloß auf diese Weise? Wer bestimmte denn über ihren Körper? »Tut mir leid, Alex. Es geht doch nach Key West, genauer gesagt nach Sunset Key. Das Flugzeug startet in …« Sie sah auf die Uhr. »… ungefähr drei Stunden. Wir müssen davor noch einchecken, und bei dem Verkehr wird kaum Zeit zum Schwimmen bleiben.«
»Wir müssen aber nicht mehr hin«, sagte er noch einmal und schloss die Tür hinter sich. Verdammt, ihr Mund war plötzlich ganz trocken!
»Müssen wir wohl.« Sie zeigte auf den Laptop. »Eigenartigerweise besteht eine Verbindung zwischen Kimball Parrish und Desirée Royalle. Ich will herausfinden, was dahintersteckt.«
»Zeig her!« Er stieg auf das Bett und setzte sich mit gespreizten Beinen hinter sie. Seine Brust drückte sich warm an ihren Rücken, als er ihren Nacken küsste. Sie spürte sein Lächeln, während er die Mails las. »Scheint mir nicht eigenartig, sondern ganz normal zu sein.«
»Alex.« Sie zeigte auf den Bildschirm, seine Hände lagen auf ihrer Taille und bewegten sich langsam nach oben. »Meinst du nicht, es ist ein merkwürdiger Zufall, dass Kimball Parrish Denise kennt und sich zum Sex mit ihr treffen will?«
»Ich halte nichts von Zufällen.« Er legte das Kinn an ihren Hals und knabberte an ihrem Ohrläppchen. »Aber ich halte sehr viel von Sex.«
Sie drehte sich weg. »Was hat Lucy gesagt?«
»Sie gibt mir eine zweite Chance. Und sie mag dich.« Seine Hand fuhr über ihren Bauch und streichelte ihre Brust. »Ich mag dich auch.«
Sie schloss die Augen und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Drehte sich ein wenig zur Seite und sah ihn an. »Woher stammt die weiße Strähne?«
»Wie bitte?«
»Auf Lucys Kopf. Etwas Derartiges in noch dunklem Haar wird gewöhnlich durch ein traumatisches Erlebnis hervorgerufen.« Lucy war eine außergewöhnliche Erscheinung, über einen Meter achtzig groß, sehr helle Haut und jadegrüne Augen, aber am auffälligsten war die zwei Finger breite weiße Strähne im langen schwarzen Haar.
Alex schüttelte den Kopf. »Niemand weiß Genaues über ihre Vergangenheit. Nur dass sie CIA-Agentin war, eines Tages ausgestiegen ist und die Bullet Catcher gegründet hat.«
»Kein Mann, keine Familie?«
»Nicht dass ich wüsste.« Er zog Jazz näher an sich heran, fast lagen sie schon aufeinander. »Wir müssen trotzdem nicht nach Key West. Parrish wird morgen, spätestens übermorgen wieder in Miami sein.«
Was hatte ihn dazu gebracht, seine Meinung zu ändern? Sie richtete sich auf, wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Laptop zu und blätterte die Ordner auf Parrishs Computer durch. Die meisten waren durch ein Passwort geschützt, aber das machte ihr keine Schwierigkeiten.
»Lucy ist überzeugt davon, dass es Jessica gut geht«, sagte Alex. »Sie ist hinter einer Story her, genau wie du von Anfang an gesagt hast.«
Zweifel machten sich in ihr breit. »Worum geht es dabei?«
»Ein Thema von überregionaler Bedeutung für einen der großen Sender.« Er strich mit den Händen über ihre Oberschenkel.
So viel wusste sie schon seit Tagen. Ein Ordner öffnete sich, und sie ging ihn Seite für Seite durch. »Was genau?«
»Keine Ahnung.« Seine Hände hielten inne. »Geh mal eine Seite zurück!«
Sie klickte auf Zurück. »Was ist?«
»Noch eine Seite zurück.« Sie spürte, wie angespannt er war. »Da ist es!«
Auf der linken Seite standen zwanzig Einträge, meist die Abkürzungen von Fernseh- und Radiosendern, die Kimball gehörten. Alex zeigte auf den Bildschirm. »Sieh dir das an!«
Climax.
Sie lachte kurz auf. »Du hast nur Sex im Kopf.«
Er rückte näher an sie heran und beugte sich zum Bildschirm, sein Geruch machte sie ganz schwindlig. »Klick da mal drauf!«
Ein Link zu einem anderen Ordner erschien, der ebenfalls gut gesichert war. Überraschend gut.
»Climax«, sagte Alex. »Das erinnert mich an etwas.«
Sie beugte sich zur Seite und warf ihm einen unwilligen Blick zu. »Kannst du nicht einmal ernst sein?«
»Ich bin völlig ernst.« Er sah auch nicht aus, als ob er Witze machte. »Geh doch mal alle Ordner nach diesem Wort durch!«
Sie drückte ein paar Tasten. »Und woran denkst du?«, fragte sie, während sie auf die Suchergebnisse warteten. Sie konnte es sich lebhaft vorstellen, woran er dachte. Sex auf dem Schreibtisch. Sex im Pool. Noch mehr Sex.
»Mir fallen Pornos ein.«
Plötzlich ging ihr ein Licht auf. »Climax Film. Das war der Name der Produktionsfirma des Videos«, sagte sie und schnippte mit den Fingern. »Stimmt ja.«
»Mit den Bildern von Jessica.«
Ihre Brust zog sich zusammen, mit fliegenden Fingern tippte sie »Film« ein.
Weitere Ordner mit höchster Sicherheitsstufe zeigten sich auf dem Bildschirm. Sie hatte weder die nötige Software noch die Zeit, sich da hineinzuhacken.
Sie sah Alex an. »Könnte Adroit irgendwie bei Climax Film drinhängen.«
»Das wäre ein herber Schlag für den Herrn Saubermann.«
»Und gäbe landesweit Schlagzeilen.« Jazz drückte ein paar Tasten. Zugriff verweigert.
»Aber Metro-Net hätte sicher genauso wenig ein Interesse an der Veröffentlichung wie Parrish«, sagte Alex. »Es geht schließlich um den Besitzer eines Senders ihres Unternehmens.«
Nur aus einem unbestimmten Gefühl heraus fing Jazz an, nach weiteren Videoaufnahmen zu suchen.
»Worauf bist du aus?«, fragte Alex.
»Weiß ich auch nicht genau.« Sie hatte ein Videobearbeitungsprogramm entdeckt und probierte herum. »Ich … schaue nur.«
Alex küsste sie auf den Nacken, ihre Finger bewegten sich langsamer. »Ich schaue dir gerne beim Arbeiten zu«, flüsterte er, was sie in einen Zustand zwischen Verwirrung und Entzücken stürzte. »Es macht mich an.«
Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, erstarrten aber im nächsten Augenblick, als eine bekannte Szene auf dem kleinen Videofenster links im Bild auftauchte.
»Alex.« Der Anblick des lachenden Gesichts ihrer Schwester verschlug ihr die Sprache. »Sieh doch!«
»Mein Gott!« Alex drückte sie an sich und sah auf den Bildschirm. »Auf nach Key West.« Mit einem Sprung war er vom Bett und hielt ihr die Hand hin. »Sofort.«
Himmel, sie könnte sich in einen Mann verlieben, der in den gleichen Bahnen dachte wie sie.
Ihr Herz machte einen so heftigen Satz, dass sie erstaunt war, dass Alex nichts davon bemerkte.
Liebe? Das war ein Mordsbrocken im täglichen Überlebenskampf.
Erinnerungen tauchten kurz auf und verschwanden wieder wie Wolken im Wind, bevor Jessica sie fassen und ihnen nachgehen konnte. Sie roch an dem grünen Tee in ihrer Tasse, hoffte dass sich ein weiterer Schnipsel in ihrem umnebelten Hirn zeigte.
Aber in ihrem Kopf war ein Durcheinander wie auf einer zerstörten Festplatte.
»Was hat er mir gegeben?«, fragte sie und umklammerte die Tasse, um ihrem Körper ein wenig Wärme zukommen zu lassen. »Ich kann mich kaum noch an meinen Namen erinnern.«
»K.-o.-Tropfen, möchte ich wetten.« Denise schlürfte ihren Tee und sah durch die Schiebetüren auf die dicken violetten Gewitterwolken, die sich über dem Wasser zusammenbrauten.
K.-o.-Tropfen. Rohypnol. Wie war sie jetzt darauf gekommen? Jessica schloss die Augen und suchte nach einer Erinnerung. Anterograde Amnesie … sie hatte mal einen Bericht darüber gemacht. Fast wäre ihr die Tasse aus der Hand gefallen. Das Mittel wurde in Bars benutzt, löschte die Erinnerungen von Stunden oder ganzen Tagen aus.
»Warum bin ich hier?«, fragte sie zum wiederholten Mal, obwohl sie wusste, dass Denise die Antwort entweder nicht kannte oder ihr nicht sagen wollte.
Statt ein weiteres Mal mit den Achseln zu zucken, kniff Denise die Augen zusammen. »Wie wollen Sie an meinen Sohn herankommen?«
Seit sie auf Händen und Füßen aus dem Bad gekrochen war, hatte die Erinnerung daran, dass Denise einen Sohn hatte, sie zweimal gestreift und war wieder verschwunden. Jessica versuchte, sich zu konzentrieren. »Wir brauchen ein Telefon.«
Aber nirgends im Haus fand sich ein Gerät, nur das Ladegerät für ein Handy hing nutzlos an einer Steckdose. Es gab nicht einmal einen Fernseher oder ein Radio. Das Obergeschoss stand auf Pfählen, um vor Sturmfluten geschützt zu sein, die wenigen Räume im Erdgeschoss waren verschlossen. Außerdem war das einzige Transportmittel – das Golfmobil – verschwunden, und Jessica konnte in ihrem Zustand keine größeren Strecken zurücklegen.
Sie sah sich in der Küche um. Obwohl die Räumlichkeiten sehr großzügig und peinlich sauber waren, schlicht, aber teuer eingerichtet, fehlte dem Ganzen jegliche persönliche Note. Graue Fliesen bedeckten die Oberfläche des Tresens und die Wand hinter der Spüle, die Schränke waren weiß, und der Herd sah aus, als wäre er noch nie benutzt worden.
Jessica starrte auf die Herdplatten, und eine Erinnerung regte sich in ihr. Sie hatte gekocht. Das war das Letzte, woran sie sich erinnern konnte. Sie hatte das Abendessen zubereitet … für einen Mann.
Jessica ballte die Fäuste und versuchte, mehr aus ihrem stumpfen Hirn hervorzuholen. Dann zwang sie sich loszulassen, und allmählich traten Bilder hervor.
Sie hatten Wein getrunken … schweren Chateauneuf-du-Pape. Ihren Lieblingswein. Aber etwas war geschehen … etwas hatte die Situation verändert … Sie war aus der Wohnung gestürmt und zum Fahrstuhl gelaufen, ihre Absätze hatten auf dem Garagenboden geklappert.
Dann brach die Erinnerung ab.
Das war am Montag gewesen. Montagabend, sie hatte zwischen den Sendungen zu Abend essen wollen.
»Welcher Tag ist heute?«, fragte Jessica.
Denise wandte sich zu ihr um, unbarmherzig zeigte das Tageslicht die tiefen Falten um ihren Mund. »Montag.«
Der Tee in ihrem Mund brannte plötzlich wie scharfe Säure. Sie hatte eine ganze Woche verloren.
»Bitte erzählen Sie mir alles, was Sie wissen, Denise. Ich muss mich einfach erinnern.«
»Ich weiß nur, dass Sie für eine Story meine Hilfe wollten. Sie wollten Unterlagen und Filme. Wollten meinen Tagesablauf filmen, und ich sollte eine Kamera ins Studio schmuggeln.«
Jessica sah Denise verständnislos an und versuchte krampfhaft, sich an irgendetwas zu erinnern.
Sie schrak zusammen, als Denise ihre Tasse mit einem Knall auf dem Tresen abstellte. »Das sollte Ihnen die Beweise verschaffen, dass niemand in diesem Scheißgeschäft vor den Schweinen sicher ist, die auf unsere Kosten Geld scheffeln.« Denise sah sie finster an. »Sie haben tausend Fragen über Howies Filmfirma und die Studios in Hialeah gestellt. Haben mir Geld und ihren Schutz angeboten, wenn ich Kimball Parrish aushorche.«
Bei diesem Namen ging Jessicas Körper in Habtachtstellung. »Um was ging es?«
Der Kies am Haus knirschte. Denise schnappte nach Luft, alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Er ist wieder da! Zurück ins Zimmer! Schnell!«
Jessica bewegte sich nicht. »Nein, Denise. Er ist mir eine Erklärung schuldig. Ich weiß immer noch nicht, warum er mich hergebracht und unter Drogen gesetzt hat.«
»Sind Sie irre?« Denise riss die Augen weit auf. »Ich habe es Ihnen doch gesagt. Er will uns beide zusammen filmen.«
Jessica starrte sie an und schüttelte den Kopf. »Sie müssen sich irren.« Aber noch während sie das sagte, nahm ein furchtbares Bild in ihrem Kopf Gestalt an.
Ihr eigenes lachendes Gesicht auf einem Bildschirm, aber … irgendjemand hatte es bearbeitet.
Darum war sie aus der Wohnung gelaufen. Er hatte ihr einen Film gezeigt, den er gemacht hatte. Aufnahmen von ihr, entspannt und lachend im Nachrichtenstudio, waren mit dem Körper einer anderen Frau zusammengeschnitten worden. Einer Frau, die … gerade Sex hatte. Zuerst hatte sie gedacht, er hätte sich einen schlechten Scherz erlaubt.
Aber dann hatte er sich umgewandt und mit einem entwaffnenden Lächeln gesagt: »Ich möchte Ihnen ein Geschäft vorschlagen, Jessie.«
Schritte hallten auf der Holztreppe vor dem Haus, um ein Haar wäre die Erinnerung ihr wieder entglitten.
»Los doch!«, flehte Denise. »Er bringt Sie um, wenn er Sie hier findet.«
Etwas in ihrem Blick, in ihrer Stimme sagte Jessica, dass sie wahrscheinlich recht hatte. Hatte sie den Mann unterschätzt? Jessica stellte die Tasse in die Spüle, nahm sie dann aber doch wieder in die Hand, um keine verräterischen Spuren zu hinterlassen, und rannte schnell in das Zimmer, in dem sie eine Woche lang gefangen gewesen war.
Im Flur waren die Schritte von draußen noch besser zu hören, sie kamen immer näher. Jessica fuhr herum und sah Denise an. Sie brauchten einen Plan. Mussten sich Zeit verschaffen. Wenn er glaubte, sie wäre immer noch betäubt, könnte Denise vielleicht Hilfe holen. »Schnappen Sie sich sein Handy, oder suchen Sie da draußen ein Telefon! Rufen Sie meine Schwester an – Jasmine Adams in San Francisco. Bitte!«
Im Zimmer riss sich Jessica das Kleid vom Leib und legte sich rasch ins Bett, wie eine Jugendliche, die ihre Eltern glauben machen wollte, sie sei die ganze Nacht zu Hause gewesen. Sie schob die Tasse unter das Kopfkissen und legte sich auf die Seite, um ihr Gesicht unter den Haaren zu verbergen.
Eine Männerstimme drang an ihr Ohr, dann war es einen Augenblick still; Denise musste geantwortet haben.
Jessica machte sich unter der Decke so klein wie möglich und schloss die Augen. Es reichte nicht, sich einfach nur schlafend zu stellen. Sie musste so tun, als wäre sie betäubt.
Ihre Schwester schlief so tief.
Die Freude über einen weiteren Erinnerungsschnipsel wärmte sie ein wenig. In ihrem Kopf fand sich plötzlich eine Flut von Informationen über Jazz. Sie sah die schlafende Jazz förmlich vor sich. Es war ganz einfach – Jazz mochte nichts mehr, als zu schlafen. Schlafen, lachen, jedes Fünkchen Energie aus dem Leben in sich einsaugen. Das war Jazz. Auf ihr lastete kein Ehrgeiz, keine knebelnden Strukturen oder das Diktat der Uhr. Und sie war so liebenswert. Jessica begrüßte freudig den wohlbekannten Stich der Eifersucht, weil es sich einfach so gut anfühlte, sich überhaupt zu erinnern. Dann fiel ihr noch etwas ein.
Jazz wollte nach Miami kommen. Oh Gott, sie war schon seit mehreren Tagen in der Stadt. Was hatte sie wohl gedacht, als ihre Schwester nicht aufgetaucht war –
Die Tür ging auf.
Jessica zwang sich, bewegungslos liegen zu bleiben, kämpfte gegen den Drang an, loszuschreien und Erklärungen zu fordern.
Gummisohlen quietschten auf dem Holzfußboden, als er näher kam. Ihr Herz schlug wild in der Brust, das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie wollte schlucken, aber ihr Hals war völlig trocken, ganz eng und geschwollen vor Furcht.
Sie spürte, wie sich eine Hand auf die Decke legte, und ihr wurde übel, als sie sich für den unvermeidlichen Augenblick wappnete, in dem sie nackt seinen Blicken ausgesetzt sein würde. Ihre Finger schlossen sich um den Tassenhenkel unter dem Kopfkissen. Konnte sie ihm damit auf den Kopf schlagen? Ihn kampfunfähig machen?
Jazz hätte das gekonnt.
Er zog den weichen Stoff bis unter ihr Kinn, wie ein liebevoller Vater, der seiner Tochter Gute Nacht sagt. Seine Finger strichen über ihr Haar, und sie nahm sich zusammen, um nicht unter dieser Berührung zusammenzuzucken.
»Shakespeare nannte Ehrgeiz ›die Sünde der gefallenen Engel‹.« Er lachte leise auf. »Stimmt das, schöne Jessie?«
Jessica konzentrierte sich darauf, die Augen wie im Schlaf geschlossen zu halten, die Lider nicht aus Furcht oder Wut zusammenzukneifen. Und auch nicht aufzureißen, um sich auf ihn zu stürzen und auf ihn einzuschlagen.
»Wenn du nicht so versessen darauf gewesen wärst, ganz nach oben zu kommen, hätte ich etwas für dich tun können. Ich hätte dich dorthin gebracht.« Er strich ihr über den Kopf. »Aber nun kann ich das nicht mehr.«
Als er seufzte, spürte sie seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht, er roch schwach nach Pfefferminz und Aftershave. Widerwillen keimte in ihr auf, aber die Angst vor der Nadel drängte ihn zurück.
»Und so wirst du also nicht bei Metro-Net hereinschneien, mit einem vernichtenden Bericht über eine konservative Ikone, und im Scheinwerferlicht stehen, sondern ich werde dem Aufsichtsrat von Yellowstone ein Video deiner Nebentätigkeiten präsentieren.« Er schnalzte mit der Zunge wie ein enttäuschter Lehrer. »Die werden sich bestimmt auf ihren Sesseln krümmen, wenn du vor ihren Augen rumfickst.«
Ich werde Dich ficken, und meine Kamera wird Deine Schreie aufzeichnen.
Plötzlich hatte sie es kristallklar vor Augen. Die Drohung eines Fans, die sie mit einer Handbewegung abgetan hatte. Es war kein Fan gewesen – sondern er.
»Über meinen ersten Versuch hast du gelacht, Jessie.« Er klang jetzt drohend. »Und du hattest ganz recht – wir brauchen etwas Reales. Denn dein kleines Sexvideo wird im Internet, im Fernsehen und in den Zeitschriften in allen Einzelheiten auseinandergenommen werden. Es wird überall zu sehen sein, Jessie, eine plumpe Fälschung reicht da nicht.« Sie spürte seinen Handrücken auf ihrer Wange. »Die ganze Welt muss sehen, was für eine heuchlerische kleine Schlampe du bist. Jegliche Glaubwürdigkeit musst du verlieren, damit niemand dir mehr zuhört, wenn du die Aufmerksamkeit der Medien auf jemand anders lenken willst.« Seine Finger glitten unter das Haar. »Wir wollen doch sichergehen, dass nur du allein im Rampenlicht stehen wirst. Das wolltest du doch immer, mein strebsames Mädchen.«
Ihre Augenlider flatterten, und sie musste sich anstrengen, um sie wieder ruhig zu halten. Er legte einen Finger auf ihre Wimpern. »Wachst du etwa auf, Jessie?«
Sie atmete ruhig und tief ein, um ihn davon zu überzeugen, wie fest sie schlief.
»Übrigens wollte ich mich noch bei dir bedanken, weil du mein Leben so viel leichter gemacht hast. Ein genialer Schachzug, deine Schwester für dich einspringen zu lassen. Niemand hat dich vermisst. Und das Schönste ist, jetzt sieht es sogar so aus, als wäre auch ich von dir reingelegt worden. Wie könnte man mich dann noch verdächtigen, irgendetwas mit dieser Sache hier zu tun zu haben? Du hast mir ein noch besseres Alibi verschafft, als ich selbst in petto hatte.« Er lachte auf, als wäre er äußerst zufrieden mit sich selbst. »Wenn der kleine Film erst mal im Kasten ist, lasse ich dich wieder aufwachen. Dann kannst du dich an so viel erinnern, wie du magst. Aber es wird keine Rolle mehr spielen, Jessie.«
Er legte den Finger auf ihre Unterlippe, und Jessica musste sich mit aller Gewalt zusammenreißen, um nicht den Mund zu öffnen und zuzubeißen.
»Dann ist endgültig Schluss mit deinem Weg an die Spitze. Das Finale wird dramatisch und schlagzeilenträchtig. Das wird dir bestimmt gefallen.«
Ihr wurde speiübel, als seine feuchten Lippen ihre Wange berührten. »Schlaf weiter, Jessie! Ich werde nach unten gehen und das Studio vorbereiten. In ein paar Stunden bist du wach genug, um mit uns zusammenzuarbeiten.« Er seufzte schwer. »Obwohl ich wünschte, ich müsste nicht hinter der Kamera stehen. Das ist wirklich widerlich.«
Sie spürte, wie er sich vom Bett entfernte, ihr Herz schlug schneller bei jedem Schritt. Raus, hau endlich ab, damit ich wieder atmen kann!
Sie kramte in ihrem Gedächtnis. Wie lange hatte sie das alles schon gewusst? Hatte sie ihrer Schwester davon erzählt? Wusste sonst noch jemand, wie niederträchtig dieser Mann war? Und, oh Gott, ahnte jemand etwas davon, dass sie in diesem einsamen Strandhaus in der Falle saß, mit einem Wahnsinnigen und einem Nervenbündel?
Als sie hörte, wie die Tür aufging, traute sie sich, die Augenlider ein wenig zu heben. Doch in diesem Moment drehte er sich um, und der Blick aus den rauchblauen Augen fiel auf sie.
Er hatte sie erwischt.
Schloss die Tür wieder und senkte den Kopf.
»Du bist ja wach, Jessie.«
Ohne zu überlegen, warf sie die Tasse quer durch den Raum und kniff die Augen zusammen, als er sich duckte und das Porzellan an der Tür zerschellte.
»Du hast mich angelogen, Jessie.« Mit einem flammenden, anklagenden Ausdruck in den Augen kam er auf sie zu. »Lügen ist eine Sünde.«
Bis ins Mark spürte sie die Angst, denn sie erinnerte sich nur zu deutlich daran, dass Kimball Parrish eines ganz sicher nicht tolerierte: Sünde.