42. Kapitel

Sommer

»Unten gibt es eine Cafeteria, in der Sie einen Kaffee bekommen, wenn Sie möchten.«

Carter hob den Blick vom Fußboden und nickte der Krankenschwester in der Tür zu. »Danke, mir fehlt nichts.«

Sie schenkte ihm ein routinemäßiges Lächeln und verschwand. In der Ecke liefen im Fernsehen Nachrichten auf CNN mit leise gestelltem Ton. Der größte Teil des Landes litt unter einer Hitzewelle. Carter war allein im Raum, dem Wartebereich auf der Entbindungsstation des St. Vincent’s, der allein werdenden Vätern vorbehalten war. Und er wusste, warum.

In den letzten Monaten waren seine Sorge und Ungewissheit immer weiter angewachsen. Sobald sie erfahren hatten, dass Beth in der Tat schwanger war – »allen Widrigkeiten zum Trotz«, wie Dr. Weston ihnen wiederholt bestätigt hatte –, hatte Carter sich zunehmend grausigere Szenarien ausgemalt. Es war ihm fast unmöglich, seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Aber jedes Mal, wenn er auch nur andeutete, dass etwas Schreckliches vor sich ging, dass er Gründe hatte zu glauben, das Baby könnte nicht auf normale Weise oder nicht gesund zur Welt kommen, wurde er mit einem nachsichtigen Lächeln oder einem Schulterklopfen abgespeist, dazu der eine oder andere Rat über das Lampenfieber beim ersten Mal und wie man darüber hinwegkäme.

Doch die Wochen vergingen, und seine Ängste wuchsen, bis schließlich die Chance, dass er bei der Geburt im Kreißsaal zugelassen würde, immer geringer wurden. Als Erster hatte Dr. Weston gewarnt, dass die Geburt möglicherweise »zu belastend« für ihn sein könnte, und schließlich hatte sogar Beth seine Hände ergriffen und ihm gesagt, dass ihr wohler dabei wäre, wenn er »in der Nähe, aber nicht im selben Raum« wäre. Sie hatte so getan, als sei es eine Frage des Anstands. »Ich will nicht, dass du mich schreien siehst, während meine Haare am Kopf kleben und meine Beine in der Luft hängen.« Aber er wusste, worum es wirklich ging. Er machte alle wahnsinnig.

»Da bist du ja«, hört er jemanden rufen, und Abbie stürmte herein. »Ich bin sofort gekommen, als ich deine Nachricht erhalten habe.« Sie ließ sich auf den Stuhl neben Carter fallen und legte eine Hand auf sein Knie. »Irgendwelche Neuigkeiten?« Mit der anderen Hand öffnete sie den obersten Knopf ihrer Bluse und lockerte den Kragen. »Heiß ist es hier.«

»Allerdings«, sagte er.

»Puh.« Sie ließ den Blick durch den kleinen nichtssagenden Raum schweifen.

»Danke, dass du gekommen bist«, sagte er pflichtschuldig. Er wusste, wie schwer es für sie sein musste. Ihr letzter Krankenhausaufenthalt lag noch gar nicht lange zurück, sie hatte eine Fehlgeburt gehabt.

»Ich hatte nicht erwartet, dass es so schnell gehen würde«, sagte sie.

»Damit hat niemand gerechnet.«

»Ich hatte gedacht, wir hätten noch eine Woche oder so. Ben wäre auch gekommen, aber er ist die ganze Woche in Boston.«

»Geschäftlich?«

»Nein, er hat da eine Freundin.«

Als er weder lachte noch irgendeine andere Reaktion zeigte, sagte sie: »Das war ein Witz, Carter. Kein besonders guter, aber trotzdem ein Witz.«

»Tut mir leid. Ich fürchte, ich bin etwas abgelenkt.«

»Dazu hast du jedes Recht. Wie lange bist du schon hier?«

Carter schaute auf die Uhr über dem Fernseher. »Etwa vier Stunden.«

Abbie nickte.

Jeden Augenblick konnte es so weit sein. Das war es, was sie dachte. Das war es, was er seit vier Stunden dachte. Jeden Augenblick konnte er die Antwort erhalten. Aber wollte er es auch?

Abbie tat, als würde sie sich den landesweiten Wetterbericht ansehen. Carter konnte sie kaum ansehen, ohne an die grauenvolle Nacht auf dem Land erinnert zu werden. Doch eines war ihm zunehmend klarer geworden: Er war der Einzige, der sich überhaupt erinnerte. Er hatte festgestellt, dass Abbie nichts mehr von dem wusste, was Arius mit ihr angestellt hatte. Wenn jemals Bilder des Überfalls in ihrem Bewusstsein aufflackerten, wurden sie als nichts weiter als ein Albtraum abgetan, den sie einmal gehabt hatte.

Genauso war es bei Beth.

Gewiss, sie erinnerte sich daran, aus dem Badezimmerfenster geklettert, durch den Obsthain gerannt und aus Arius’ Umklammerung vom Heuboden gefallen zu sein, aber sie erinnerte sich an nichts, was ihr in jener entscheidenden Nacht in New York vor Monaten zugestoßen war. Als Carter behutsam versucht hatte, es ihr zu erzählen, hatte sie zuerst überrascht und schließlich mit wachsendem Entsetzen reagiert. Schließlich hatte sie ihm eine Hand auf den Mund gelegt und gesagt: »Hör auf! Ich werde ein Kind bekommen, unser Kind, und ich habe schon genug Sorgen. Rede mir nichts ein, das es noch schwerer machen würde.«

Also hatte er seine Sorgen Dr. Weston vorgetragen. Dieser hatte ihm die Laborergebnisse und Ultraschallbilder gezeigt und ihm geraten, sich zu entspannen. »Aber Sie haben doch selbst erzählt, dass Beth unmöglich von mir schwanger werden kann.«

»Ich bin nicht unfehlbar«, hatte Dr. Weston gesagt. »Es sind schon merkwürdigere Dinge geschehen.«

Ach, tatsächlich?

»Mr Cox?«, sagte die Schwester und steckte erneut den Kopf durch die Tür. Carter sagte nichts, bis Abbie schließlich an seiner statt antwortete. »Ja?«

»Der Doktor kommt in einer Minute, um mit Ihnen zu reden.«

Ehe er sie noch irgendetwas fragen konnte, hatte sie sich schon wieder zurückgezogen. Was hatte das zu bedeuten: Der Doktor kommt, um mit Ihnen zu reden? Er sah Abbie an, und selbst sie sah ein wenig besorgt aus.

»Glaubst du, dass irgendetwas nicht stimmt?«, fragte Carter sie.

Wenig überzeugend schüttelte Abbie den Kopf. »Nein. Wie kommst du darauf?«

»Der Klang ihrer Stimme. Irgendwie hörte sie sich unehrlich an.«

»Ich bin sicher, dass sie viel zu tun hat.«

»Nein, in ihrer Stimme schwang etwas mit«, beharrte Carter.

Abbie tat, als würde sie etwas tief unten in ihrer Tasche suchen, und Carter stand auf und ging zum Fenster. Sie befanden sich im zehnten Stock, und als er hinausblickte auf die Lichter der Stadt, stellte er fest, dass das alte Sanatorium auf der anderen Straßenseite verschwunden war. An seiner Stelle ragte das stählerne Gerüst des Neubaus der Villager-Genossenschaft in die Höhe. Er fragte sich, was Ezra, der sich immer noch in einer Privatklinik im Norden »erholte«, davon halten würde. Oder ob es ihn überhaupt interessierte.

Erneut hörte er, wie die Tür geöffnet wurde. Als er sich umdrehte, kam Dr. Weston, immer noch im OP-Kittel, gerade herein. Schweiß stand ihm auf der Stirn, und er wischte sich die Hände mit einem Papierhandtuch ab.

»Stimmt irgendetwas nicht?«, platzte Carter heraus.

Der Arzt hob die Hände. »Im Moment ist alles in Ordnung.«

»Aber da war etwas?«

Abbie stand auf, die offene Handtasche griffbereit. Sie kannte Dr. Weston gut, schließlich hatte sie Beth empfohlen, sich an ihn zu wenden.

»Ja«, gab Dr. Weston zu, »aber jetzt ist alles in Ordnung. Warum setzen wir uns nicht?«

Wie betäubt ging Carter zum Sofa und setzte sich neben Abbie. »Ich bin ihre beste Freundin«, sagte sie zum Arzt, während er sich einen Stuhl heranzog. »Sie können mir alles erzählen.«

»Ja, ich weiß.« Als er saß, schaute er Carter an und sagte: »Ich will Ihnen nichts vormachen, es war ein hartes Stück Arbeit.«

»Ich weiß, dass es zu früh gekommen ist, aber …«

»Ja, einmal das. Aber bei ihrer Frau sind noch weitere Komplikationen aufgetreten. Sie bekam einen plötzlichen Fieberschub …«

»Ist das ungewöhnlich?«

»Ja, besonders in dieser Höhe. Wir mussten uns beeilen und einen Kaiserschnitt machen, damit wir anschließend ihre Körpertemperatur wieder runterbringen konnten. Wir haben ihr ein fiebersenkendes Mittel gegeben und sie kurz in ein Eisbad gelegt.«

»Und jetzt?«

»Ihre Temperatur ist wieder unter Kontrolle Aber sie hat eine Menge Blut verloren.«

»Brauchen Sie eine Spende?«, sagte Abbie. »Ich könnte Ihnen auf der Stelle etwas geben.«

»Danke, aber Beth hat eine sehr seltene Blutgruppe, AB negativ. Glücklicherweise hat sie zwei Konserven Eigenblut gespendet. Wir haben beide gebraucht.«

»Aber jetzt geht es ihr gut?«, fragte Carter stockend.

»Ja, es geht ihr gut, und sie ruht sich aus.«

»Und das Baby?«

Jetzt lächelte Dr. Weston. »Dem Baby geht es ebenfalls gut. Er ist geradezu perfekt.«

»Kann ich sie jetzt sehen?«, fragte Carter.

»Ja, natürlich«, sagte Dr. Weston und erhob sich. »Aber seien Sie gewarnt – sie wird sich noch eine Weile ziemlich benommen fühlen.«

Carter stand auf, aber Abbie sagte: »Geh du allein. Ich besuche sie morgen.« Erneut wühlte sie in ihrer Tasche herum, bis sie schließlich ihr Handy herausfischte. »Ich rufe Ben an und erzähle ihm die gute Neuigkeit.«

»Okay«, sagte Carter und berührte ihre Hand. Als sie zu ihm emporschaute, lag in ihrem Blick etwas Trauriges und Unergründliches.

»Grüß sie ganz lieb von mir«, sagte sie.

»Mach ich.«

»Das erste Zimmer links«, sagte Dr. Weston, »aber versuchen Sie, nicht zu lange zu bleiben. Sie hat einiges durchgemacht.« Mit dem Ellenbogen drückte er auf den Türöffner in der Wand, und die Tür zur Station öffnete sich für Carter.

»Ach ja«, sagte Carter, kurz bevor er hineinging, »danke übrigens. Für alles.«

»Es war mir ein Vergnügen«, sagte Dr. Weston. »Noch nie habe ich mich so sehr gefreut, so gründlich danebengelegen zu haben.«

Allmählich fühlte Carter Erleichterung in sich aufsteigen. Im Stillen hatte er sich seit Monaten vor dieser Nacht gefürchtet, aber jetzt, da sie gekommen und fast vorüber war, begannen seine düsteren Vorahnungen endlich zu verblassen. Er hatte einen Sohn, einen normalen Sohn, einen perfekten Sohn, und Beth würde wieder gesund werden.

Er konnte Beths leicht lallende Stimme hören, wie sie etwas über Eiscreme sagte. Als er in der Tür zum Zimmer stehen blieb, lachte eine Krankenschwester.

»Möchtest du ein Eis?«, fragte er Beth.

»Nein«, antwortete die Schwester, »sie sagte, sie möchte in Eiscreme baden.«

»Das lässt sich einrichten«, sagte er und trat näher ans Bett.

Nachdem die Schwester gegangen war, streckte Beth eine Hand aus. Das Plastikarmband des Krankenhauses baumelte an ihrem Handgelenk. Im anderen Arm hielt sie ein kleines Bündel in einer blauen Decke. Sie sah erschöpft, aber glücklich aus.

»Darf ich dir Joseph Cox vorstellen?«, sagte sie.

Einhellig waren sie zu dem Schluss gekommen, ihn nach Russo zu benennen.

Carter trat ans Bett, ergriff ihre feuchte Hand und blickte auf seinen neugeborenen Sohn hinunter. Es gab nicht viel zu sehen, nur ein winziges rotes Gesicht, zusammengekniffene Augen und ein paar feine Löckchen aus blondem Haar auf dem Kopf. Trotzdem war es das Wunderbarste, das er je gesehen hatte.

»Ist er nicht wunderschön?«, fragte sie.

»Ja«, sagte Carter, »genau wie seine Mutter.« Er verschwieg ihr, dass er sich an das Ei eines Triceratops erinnert fühlte, das er einmal ausgegraben hatte und das genauso groß gewesen war wie der Schädel seines Babys. Mittlerweile hatte er gelernt, dass es besser war, gewisse Dinge für sich zu behalten.

»Möchtest du ihn mal halten?«

»Aber sicher«, sagte er, obwohl er es gar nicht war. Sie hielt ihm das hellblaue Bündel hin, und er legte es in seine Armbeuge. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er etwas so vorsichtig angefasst.

»Puh, bin ich kaputt«, sagte Beth mit einem lauten Seufzer, während Carter seinen Sohn wiegte. Das Baby wog sogar noch weniger, als er erwartet hätte. Es wog fast nichts.

»Wie viel bringt er auf die Waage?«, fragte er.

»Sie haben es mir gesagt«, sagte sie, die Augen halb geschlossen. »Aber ich habe es vergessen.«

Langsam ging Carter zum Fenster, immer noch mit dem schlafenden Baby im Arm.

»Tust du mir einen Gefallen?«, bat Beth. Sie hatte die Augen jetzt ganz geschlossen. »Kannst du das Fenster aufmachen? Es ist so heiß hier drin.«

»So heiß nun auch wieder nicht«, sagte Carter. »Vielleicht solltest du einfach eine Weile schlafen.«

»Nur einen Spalt. Ich brauche unbedingt frische Luft.«

Er besah sich das Fenster und stellte fest, dass es sich mit einer Kurbel öffnen ließ. Mit der freien Hand nahm er den Griff und öffnete das Fenster ein paar Zentimeter weit.

»Das ist gut«, sagte Beth und schob sich das Laken von den Schultern. »Ich kann atmen.«

Vorsichtig schaukelte Carter das Baby, das sich in seinen Armen zu regen begann. Auf der anderen Straßenseite, hoch oben auf einem Stahlträger des Villager-Gebäudes, meinte er eine Bewegung gesehen zu haben.

Ein Bauarbeiter, so weit oben, zu dieser Uhrzeit? Im Dunkeln?

Das Baby greinte, und Beth streckte die Arme aus. Carter gab ihn zurück, dann beugte er sich vor und hauchte Beth einen Kuss auf die Stirn. Ihre Haut war immer noch warm. Sie schnurrte leise mit geschlossenen Augen.

»Schlaf ein bisschen«, sagte er. »Ich besuche dich morgen wieder.«

Er drehte sich um und spähte noch einmal angestrengt aus dem Fenster. Erneut suchte er mit Blicken das Stahlskelett auf der anderen Straßenseite ab.

Aber jetzt sah er kein Zeichen von irgendjemandem. Das vorhin musste eine Täuschung im Mondlicht gewesen sein.

Er wollte nicht, dass im Zimmer Zugluft herrschte, und begann, das Fenster zu schließen. Doch Beth murmelte: »Ach, lass es doch auf … das Geräusch ist so schön.«

Welches Geräusch?, dachte Carter. Doch dann hörte er es ebenfalls.

Glocken. In der Ferne läuteten Kirchenglocken. Er blickte auf die Uhr. Es war viertel nach zehn. Der Großteil der Stadt lag im Dunkeln.

Er ließ die Jalousien herunter. Als er zurück zum Bett schaute, schliefen Beth und das Baby tief und fest.