19. Kapitel

Der Leichnam war bewegt worden. Im Schatten verborgen hatte er zugesehen, wie er zugedeckt und hinausgetragen wurde. Was würden sie mit ihm machen? Warum taten sie all das?

Er wurde unter die blitzenden Lichter gelegt und eilig fortgebracht.

So viele von ihnen. Er konnte es immer noch nicht begreifen. Auf dieser Welt wimmelte es von Leben, überall um ihn herum.

Er atmete ein, schmeckte die Luft. Geschmäcker und Gerüche, die er nicht kannte, die er noch nicht wiedererkannte. Aber bald würde er es können. Er lernte bereits.

Von einem dunklen Winkel aus beobachtete er den Ort, an dem er freigelassen worden war. Wenn er an dieser Stelle freigekommen war, waren vielleicht noch andere hier gefangen.

Andere wie er.

Er hatte zugesehen, wie Männer, immer mehr von ihnen, gekommen und gegangen waren. Sie trugen Werkzeuge und Lichter und überfluteten den Ort mit Wasser. Schließlich wurde der Rauch weniger. Durch Beobachtung lernte er rasch. Und begriff schnell, was sie taten.

So ging es immer weiter, die ganze Nacht lang, und dann ging die Sonne auf, und er hatte sich erneut zurückgezogen, noch weiter in den dunklen Eingang. Er hatte den roten Mantel vor sein Gesicht gezogen. Und gewartet. Einen Wimpernschlag lang, so schien es, hatte er gewartet. Nicht länger. Und dann war es wieder dunkel.

Während seiner Wache hatte er einen Mann kommen sehen, an den Ort, an den jetzt keiner mehr kam, und er hatte ihn wieder gehen sehen. Der Mann war davongerannt, sein Geruch voll Furcht und Trauer, und weil es wieder Nacht war, hatte er ihm mit Leichtigkeit folgen können. Durch die Straßen. Die Lichter. Die Menschen. So viele von ihnen. Und zu einem Ort nicht weit entfernt.

Wo der andere, wie er jetzt wusste, festgehalten wurde.

Derjenige, dem gesagt worden war, sein Leiden sei ein Geschenk.

Derjenige, der noch am Leben war.

Waren das seine Feinde, fragte er sich, oder seine Freunde?

Die Luft. Die Luft hier war schwer und roch stark. Er drehte sich um. Hinter ihm stand ein Zaun mit verdrillten Drähten, gleich einem Käfig, und hinter den Drähten war ein anderer Ort – ein Gebäude. Niemand war darin, das wusste er. Es war aus Steinen gemacht, rot wie sein Mantel, hatte Öffnungen, die mit Holz und glitzerndem, zerbrochenem … Glas bedeckt waren. Glas, das war es.

Er lernte. Er hatte das Wort gehört, die Männer an dem Ort, an dem er befreit worden war, hatten es benutzt. Er hatte nur beobachtet … und zugehört. Einst war Sprache eine Gabe gewesen, die seinesgleichen gespendet hatten. Jetzt, sinnierte er, wurde sie ihm zurückgegeben. Genau so sollte es sein. Es passte.

Die Dämmerung begann sich über den Himmel auszubreiten. Er wandte sich den verdrillten Drähten zu und zog sie auseinander. Mit den schmalen, nahezu perfekten Fingern, an dem nur das Ende des Mittelfingers seiner rechten Hand fehlte. Dann stieg er durch das Loch, das er geschaffen hatte, und in Erde und Wasser. Matsch. Er erklomm die zerbröckelnden Stufen und spähte hinein, durch die rauen Bretter, welche die Fenster verschlossen. Im Inneren sah er Leere. Schatten. Dunkelheit. Einsamkeit.

Alles davon zog ihn an.

Doch noch mehr als das, war es vor allem die Luft an diesem verlassenen Ort, die ihm behagte. Die Luft war alt und erfüllt von Gerüchen, die er kannte … von Blut, Tränen und Tod. Jahrelang war sie davon getränkt worden.

Natürlich bedeutete das nichts im großen Ablauf der Welt. Überhaupt nichts.

Aber in diesem Moment war es gut genug, in dieser seltsamen Welt, in der er erwacht war. Dieser Ort konnte ihm als … Zuflucht dienen. Er lächelte. Das war ein gutes Wort, ein neues Wort, aufgegriffen aus der ihn umgebenden Luft.

Es gab so vieles, sinnierte er, das er haben wollte. Und er hatte vor, es sich zu nehmen.