26. Kapitel
»Ich sehe leere Champagnergläser«, warnte Kimberly einen der Kellner, »und auf meinen Partys will ich keine leeren Gläser sehen.«
»Jawohl, Madam«, erwiderte der Mann, »ich kümmere mich sofort darum«, und floh aus der Küche, um seine Cristal-Vorräte aufzufüllen.
Bis auf kleine Pannen wie diese hatte Kimberly jedoch das Gefühl, dass die Party sehr gut lief. Der Bürgermeister, seine Gattin und seine Geliebte, auch bekannt als seine Kampagnen-Schatzmeisterin, waren gekommen und hielten in den verschiedenen Ecken Hof. Auch verschiedene Spitzenreporter und Journalisten, einen Haufen hochdotierter Banker und Rechtsanwälte und sogar ein paar Broadway-Stars hatte sie herlocken können. Völlig unmöglich, dass diese Party es nicht auf die Seite sechs schaffen würde, und vielleicht sogar bis in Liz Smiths Kolumne. Wenn dann zufällig auch noch ein paar Spenden für die Kampagne zur Wiederwahl des Bürgermeisters flössen, was schließlich der vorgebliche Grund für diese Party war, nun, dann wäre das auch nicht schlecht.
Während sie von einem Raum zum nächsten schlenderte, ihre Gäste begrüßte und dafür sorgte, dass jeder die Verbindungen knüpfte, um deretwillen er hergekommen war, hielt sie Ausschau, um die Ankunft ihres geheimnisvollen Gastes nicht zu verpassen. Seit sie ihn gestern zum ersten Mal gesehen hatte, musste sie ständig an ihn denken. Mr Arius. Nie zuvor hatte sie einen Mann gesehen, der aussah wie er oder einen so unauslöschlichen und unmittelbaren Eindruck auf sie gemacht hätte. Der Abend war noch jung, aber sie begann sich bereits Sorgen zu machen, dass er womöglich gar nicht auftauchen würde.
Sam hatte sich in eine Ecke des Hauptsalons verzogen, wo er mit zwei, drei der anderen Größen der Immobilienbranche zusammenhockte und zweifelsohne bereits Pläne für einen weiteren Büroturm, ein Einkaufszentrum oder ein Kaufhaus in New Jersey schmiedete. Sie winkte ihm mit drei Fingern zu, als sie an ihm vorbeikam, aber er schien nicht einmal Notiz von ihr zu nehmen.
Andere Männer bemerkten sie sehr wohl, wie sie erfreut zur Kenntnis nahm.
Sie trug ein scharlachrotes schulterfreies Chiffonkleid von Thierry Mugler, das den Rücken frei ließ und an der Seite geschlitzt war. Die Haare hatte sie zu einem strengen Chignon gedreht und mit einer mit Diamanten und Rubinen besetzten Spange in Form eines Regenbogens festgesteckt. Der Bürgermeister persönlich hatte sie länger als nötig festgehalten, als er sie zur Begrüßung geküsst hatte, und Kimberly hatte den besorgten Ausdruck im Gesicht seiner »Schatzmeisterin« gesehen. Mach dir keine Sorgen, dachte Kimberly, heute Abend bin ich auf einen größeren Fisch aus.
Als sie das nächste Mal nachschaute, stand er im Foyer und reichte dem Bediensteten seinen langen schwarzen Kaschmirmantel. Er trug wieder einen dunklen Anzug, und die Augen waren immer noch hinter den runden bernsteinfarbenen Gläsern verborgen. Mit hochgerecktem Kinn wandte er den Kopf um, wie ein blinder Mann, der seine Umgebung zu erspüren versuchte. Kimberly ging auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.
»Ich bin so froh, dass Sie es geschafft haben, Mr Arius«, sagte sie und bot ihm ihre Hand und ihre Wange an.
»Danke. Dass Sie mich eingeladen haben«, sagte er, ergriff ihre Hand, blieb ansonsten jedoch eher reserviert. »Ich freue mich, hier zu sein.«
Was, dachte sie, war nur so merkwürdig und zugleich so verlockend an diesem Mann? Die Art, wie er sprach, in diesem seltsamen Tonfall, als hätte er Englisch nur in der Schule gelernt? Die Art, wie er seine Augen bedeckt hielt? Die Art, wie sich seine Hand anfühlte, so kalt und glatt wie Glas, als er ihre ergriff? Und war da nicht mit einem seiner Finger etwas nicht in Ordnung? Er hatte sogar einen ganz eigenen feinen Geruch an sich, anders als jedes Aftershave, das sie kannte. Sein Geruch wirkte irgendwie organisch, als ginge er direkt von seiner Haut, seinen Haaren und seinem Atem aus.
»Lassen Sie uns hineingehen«, sagte sie. »Ich werde Sie einigen der anderen Gäste vorstellen.« Sie hakte sich bei ihm unter und führte ihn in den nächsten Raum. Ihr kam es vor, als eskortierte sie einen Filmstar, und die anderen Gäste reagierten ebenfalls dementsprechend. Die Menge teilte sich, um sie hindurchzulassen, Gespräche wurden unterbrochen, und jemand fragte laut: »Wer ist der Mann neben Kimberly?« Arius selbst schien vollkommen unberührt von all der Aufmerksamkeit. Wenn er jemandem vorgestellt wurde, war er höflich, ansonsten schwieg er. Er sprach überhaupt sehr wenig. Seine Antworten waren freundlich, aber knapp, und immer ein wenig vage oder ausweichend. Nachdem Kimberly ein halbes Dutzend Mal zugehört hatte, wie er jemanden auflaufen ließ, hatte sie das Gefühl, nicht mehr darüber zu wissen, wo er herkam, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente oder wo er in New York wohnte, als bei seiner Ankunft. Nicht einmal Sam bekam mehr als ein paar Worte aus ihm heraus, und Kimberly wusste sehr gut, wie seine Meinung über ihn sein würde. Längliches weiß-blondes Haar, eine affige Sonnenbrille und die Tatsache, dass seine Frau ihn bei diesem extravaganten Richard Raleigh kennengelernt hatte? Sam würde ihn in einen Topf mit ihrem Friseur, ihrem Innenarchitekten, ihrem Antiquitätenberater und all ihren anderen schwulen Freunden werfen. Und soweit es Kimberly anging, könnte es gar nicht besser kommen.
Es sei denn, es stellte sich als zutreffend heraus. Was der Himmel verhüten mochte.
Was diesen kleinen Mistkerl Ezra betraf, so hatte er bereits seine Pflichtrunde gedreht und sich, soviel Kimberly wusste, sogar beim Bürgermeister dafür bedankt, dass er ihm nach dem Fiasko im UN-Park geholfen hatte, aus dem Gefängnis zu kommen. Jetzt war er nirgends zu sehen, und wenn Kimberly nicht völlig daneben lag, war er wieder auf seinem Zimmer und brütete über seinen nutzlosen Übungen, die er seine »Forschung« nannte.
Der Partyservice schien alles unter Kontrolle zu haben, die Getränke flossen, überall wurden Tabletts mit Kanapees und Appetithäppchen herumgereicht, und im Esszimmer war ein üppiges Bufett aufgebaut. Jedes Mal, wenn sie durchs Foyer ging, öffneten sich die Lifttüren und spuckten eine weitere Handvoll Gäste aus. Sogar die Journalistin Katie Couric ließ sich für eine halbe Stunde blicken, und das, da war Kimberly sicher, bedeutete praktisch, dass die Party morgen irgendwo in den Medien erwähnt werden würde.
Die einzige Person, die sich nicht ausgezeichnet zu amüsieren schien, war ihr mysteriöser Mr Arius. Sie ließ ihn nur widerstrebend allein, aber sie musste ihren Pflichten nachkommen, so dass sie keine andere Wahl hatte, als ihn sich selbst zu überlassen. Wann immer sie ihn erblickte, stand er ganz für sich, hielt ein Champagnerglas in der Hand, das stets voll zu sein schien, schlenderte allein über die Terrasse oder kam herein, um mit tiefem Interesse eine Zeichnung oder Skulptur zu betrachten. Vielleicht war er tatsächlich eine Art ernsthafter Kunstsammler mit einem riesigen Château im Süden Frankreichs, bis unters Dach mit berühmten Gemälden und wunderschönen Statuen gefüllt. Einem plötzlichen Impuls folgend, ging sie zu ihm hinüber, als er gerade ein nichtssagendes kleines Ölbild betrachtete, das Sams erste Frau gekauft hatte. »Sie sind ein echter Kunstkenner, nicht wahr?«
»Ich bewundere Schönheit«, sagte er langsam. »In allen Dingen.«
Hatte sie da gerade eine subtile Ermunterung gehört? »Dann lassen Sie mich Ihnen etwas zeigen, das Ihnen ganz bestimmt gefallen wird.«
Sie drehte sich um, aber er blieb, wo er war. »Folgen Sie mir«, sagte sie und winkte ihn mit dem Zeigefinger heran. »Ich werde schon nicht beißen.«
So unauffällig wie möglich führte sie ihn den Korridor hinunter und dann rasch um die Ecke auf die Schlafzimmertür zu. Dort blieb sie stehen und sagte: »Was jetzt kommt, ist allein für Ihre Augen bestimmt. Selbst mein Mann weiß noch nicht, dass ich es gekauft habe. Ich vertraue Ihnen also mein Leben an.« Sie lachte unbekümmert, aber er lächelte nur höflich.
Sobald er ihr ins Zimmer gefolgt war, schloss sie die Tür hinter sich und sperrte sie, zu ihrer eigenen Überraschung, ab. Was glaubte sie, was jetzt passieren würde? Mitten während ihrer eigenen Party?
Sie ging voran in das riesige Schlafzimmer, vorbei am gewaltigen Himmelbett, dem Louis-Seize-Kleiderschrank, den Scalamandre-Sesseln und in ihr vollkommen privates Reich – ihre Kleiderkammer mit angrenzendem Badezimmer. Sie dachte oft daran, dass die Abmessungen ihres Ankleidezimmers ziemlich genau denen ihres ersten Apartments in New York entsprachen. Und das hatte sie sich sogar noch mit einem anderen Mädchen teilen müssen.
Dieser Raum hatte Sams erster Frau als eine Art Nähzimmer gedient, aber Kimberly hatte ihren Mann überzeugt, dass sie einen eigenen Bereich bräuchte, wo sie ihre Kleider aufbewahren und sich schminken konnte. Sie müsse ganz allein sein können, um sich anzuziehen und für ihn schön zu machen. Daraufhin hatte sie alle alten Möbel rausgeworfen und den Raum mit verspiegelten Wänden und marmornen Flächen im Badezimmer, mit Halogenlampen und Einbauregalen aus Zedernholz im Ankleidezimmer komplett neu einrichten lassen. Aber es war allein Kimberlys Entscheidung gewesen, für den Platz neben ihrem Schminktisch den hinreißenden kleinen Degas zu kaufen. Das Bild stellte eine Frau dar, die gerade aus dem Bad stieg. »Die Eigentümer wollten ihn schon über Sotheby’s versteigern lassen«, gab sie zu, »aber Richard Raleigh, der Gute, konnte sie überreden, ihn stattdessen direkt an mich zu verkaufen.«
Sie blieb davor stehen, wandte sich zu Arius um und hob die offenen Hände. »Ich nehme an, ich muss Ihnen nicht erklären, was Sie hier vor sich haben. Wahrscheinlich können Sie mir sogar mehr darüber erzählen.« Ganz ruhig, sagte sie sich, du hörst dich an wie ein Schulmädchen.
Arius hatte nie zuvor eine solche Arbeit gesehen, aber während er sie anschaute, nahm er auf der Stelle alles auf und ordnete ein, was es darüber zu wissen gab. Die Künste waren schließlich eine der vielen Gaben, die er und seinesgleichen gespendet hatten, so dass es eine Freude war, die unzähligen raffinierten Wege zu sehen, die sie seitdem genommen hatten. Dieses besondere Gemälde vor ihm war offensichtlich ein Degas, eine sehr feine und ausdrucksstarke Arbeit. Mit jeder Sekunde lernte er mehr darüber, und sei es nur der Name des Künstlers, ein Wort oder die Bedeutung eines Blicks. Sein Durst nach mehr war unstillbar.
Den Ausdruck zum Beispiel, den er jetzt auf Kimberlys Gesicht sah, kannte er bereits. Möglicherweise war sie sich nicht bewusst, dass er ihr Bild im Spiegel verschlang, während er vorgab, das Gemälde daneben zu betrachten. Sein Blick war hinter den dunklen Brillengläsern verborgen. Sie sah ihn an, und ihre Miene verriet, dass sie neugierig war, sich zu ihm hingezogen fühlte und Angst verspürte. Sie hatte guten Grund, genau das alles zu empfinden.
Vor langer Zeit, während seiner Zeit der Wache, hatte er diesen Blick häufig gesehen … und seiner Verlockung widerstanden. Zumindest eine gewisse Zeit.
Und danach?
Er hatte Einsamkeit jenseits jeglicher Vorstellungskraft ertragen, eine kalte und öde Nacht, die kein Ende nahm … eine Nacht, die sich bis jetzt niemals vollkommen gelichtet hatte.
Er wandte sich vom Gemälde ab und blickte sie wortlos an. War das also der Anfang?
»Es ist wunderschön, nicht wahr?«, sagte sie mit einem nervösen Flattern in der Stimme.
»Ja.«
»Ich musste es einfach haben.«
Obwohl seine Augen immer noch hinter den bernsteinfarbenen Gläsern verborgen waren, spürte sie die Intensität und Eindringlichkeit seines Blickes. Leicht schwankend trat sie zurück.
»Vielleicht sollten wir zurückgehen.«
Er antwortete nicht.
»Zur Party.« Aber sie versuchte nicht, sich an ihm vorbeizuschieben. Wie angewurzelt stand sie da, und ihr nackter Rücken spiegelte sich an der verspiegelten Wand hinter ihrem Schminktisch.
»Ja«, sagte er.
Aber er sagte es auf so eine Art, dass Kimberly nicht sicher war, was er meinte. Ja, sollten sie zurück zur Party gehen? Oder ja … etwas anderes?
Sie ertappte sich dabei, wie sie unsinnigerweise über seinen Geruch nachdachte. Als sie ihn das erste Mal getroffen hatte, schien er ganz subtil gewesen zu sein, aber jetzt wirkte er wesentlich kräftiger, regelrecht überwältigend.
»Dürfte ich Sie«, sagte sie und stützte sich mit einer Hand am Schminktisch ab, »um einen Gefallen bitten?«
Er nickte.
»Würden Sie für mich Ihre Brille abnehmen?«
»Warum?«
»Ich habe noch nie Ihre Augen gesehen. Ich muss Ihre Augen sehen.«
Er lächelte. Natürlich musste sie das.
Sie lachte freudlos. »Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das klug ist, aber ich möchte es. Dabei habe ich das Gefühl, immer noch nicht zu wissen, wer Sie sind.«
Also würde es tatsächlich der Anfang sein.
Er trat näher, beugte den Kopf über ihren wie ein großer goldener Vogel sich über seine Beute beugt, und nahm die Brille ab. In ihrem Blick sah er Überraschung, Angst … sprachloses Nichtbegreifen.
Er hob die Hände zu ihren Schultern. Ihre Haut war heiß, er spürte das Blut direkt unter der Oberfläche pochen. Er ließ das rote Kleid, leicht wie der Flügel eines Schmetterlings, an ihrem Körper entlang auf den Boden gleiten. Er entfernte die diamantenbesetzte Spange, bis ihr Haar kaskadengleich über ihre nackten Schultern fiel. Er beugte sich tiefer und presste seine kalten Lippen auf ihren Mund und ihre Kehle. Sie roch nach Hyazinthen und streckte sich ihm entgegen.
Er schüttelte die Anzugjacke von den Schultern, öffnete mit einer Hand den Kragen und die Knöpfe darunter. Er sog den heißen Atem ihres Körpers ein, als sie blind mit den Fingern an seinem Gürtel und der Hose nestelte.
In seinem Kopf hörte er das Pfeifen des Windes, das Krachen des Donners. Er erblickte einen Schauer aus Feuer, der, brennenden Pfeilen gleich, tosend aus dem sich endlos ausdehnenden schwarzen Himmel niederging.
Kimberly rutschte zurück gegen die Kante des Schminktischs. Parfumflaschen kippten klirrend auf die Seite, während andere herabfielen und verstreut im dicken Teppich liegen blieben. Sie hörte nur noch das Rauschen ihres eigenen Blutes, roch nur noch einen Sommergarten nach dem Regen, sah nur noch seine Augen, die sie in sich aufsogen wie in einen geheimen Pool aus honigsüßem Licht. Sie schlang die Arme um ihn, berührte seine glatte, makellose Haut … doch was sie spürte, war Eis. Hart und kalt wie die Diamantspange, die auf dem Boden lag. Als seine Hände ihre Brüste umfassten, erbebte sie unter der Berührung.
»Arius …«, hauchte sie verunsichert, »du bist nicht einmal ein …«
Nein, flüsterte er in ihren verwirrten Verstand, das bin ich nicht.
Und dann nahm er sie, wie ein Falke, der herabstürzte, um zu töten. Hilflos spürte sie, wie sie in den immer größer werdenden See seiner Augen gezogen wurde, in das grüne Aroma der vom Regen gewaschenen Blätter. Licht, zu hell, um es zu ertragen, durchflutete das Zimmer, als würde ein Stern explodieren … um sie herum, in ihrem Inneren.
Lieber Gott, dachte sie voller Entsetzen, als das Licht sie umhüllte, umschloss und sie schließlich überwältigte … O mein Gott, was habe ich getan?