20. Kapitel
Carter hatte nie zuvor eine Trauerrede geschrieben, schon gar nicht für jemanden, den er so wenig gekannt hatte wie Bill Mitchell. Was es noch schwerer machte, war natürlich die Tatsache, dass er ihn nicht besonders gemocht hatte. Und jetzt war es seine Aufgabe, Bills Tugenden zu loben und, so vermutete er, über die vielversprechende Zukunft zu sprechen, die vor ihm gelegen hatte. Das Labor, in dem der Juniorprofessor ums Leben gekommen war, hatte Carter persönlich eingerichtet, und aufgrund der Umstände seines Todes und der Zeitungsartikel wurde allgemein angenommen, dass sie nicht nur Arbeitskollegen, sondern auch gute Kumpel gewesen waren. Nachdem Mitchells kurzes Leben ein so entsetzliches Ende genommen hatte, war es völlig unmöglich, dass Carter etwas anderes behauptete.
Das letzte Mal hatte er seinen dunkelblauen Anzug zu dem Fakultätsdinner getragen, bei dem er offiziell den Kingsley-Lehrstuhl übernommen hatte. Bei dieser Gelegenheit war er schon nervös genug gewesen, doch zumindest hatte niemand von ihm verlangt, mehr zu tun, als sich auf ein Podium zu stellen, gnädigerweise eine Ehrenplakette entgegenzunehmen und den versammelten Professoren und Verwaltungsangestellten für die ihm erwiesene große Ehre zu danken. Jetzt musste er nicht nur eine Rede halten, er musste auch dafür sorgen, dass die Erinnerung an einen Kerl in Ehren gehalten wurde, der sich selbst umgebracht und gleichzeitig Carters Freund bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt hatte. Und das alles nur, weil er seine Finger nicht von Apparaten lassen konnte, von deren Bedienung er keine Ahnung hatte.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich je damit fertig werde«, hatte er Beth anvertraut.
»Du musst aufhören, so zu denken«, hatte sie geantwortet und versucht, ihn zu beruhigen. »Es war ein Unfall. Ein furchtbarer Unfall, und niemand hat einen höheren Preis dafür gezahlt als Bill Mitchell.«
»Erzähl das Joe.«
Carter hatte sich ein paar Notizen über Mitchells Begeisterung für seine Arbeit gemacht, die Hingabe, mit der er die Studenten an der NYU unterrichtet hatte, seine Vorliebe für Rap-Musik, und er hoffte, dass er das alles an Ort und Stelle zu einem überzeugenden Ganzen würde zusammenbasteln können. Würde er auf einer Kanzel stehen? Hinter einem Rednerpult? Wo?
Fast in letzter Minute verließen sie die Wohnung, und als sie das Bestattungsinstitut der O’Banion Brothers erreichten, hatte sich in der Gedenkkapelle bereits eine erkleckliche Anzahl Trauergäste eingefunden. Carter wurde Bills Eltern vorgestellt, mit denen er bereits am Telefon gesprochen hatte. Sie waren ein phlegmatisches Paar aus dem Herzen von Queens und wirkten verständlicherweise noch völlig verstört. Bills Witwe Suzanne stellte ihm noch weitere Familienmitglieder vor. Anschließend nahm sie ihn beiseite und dankte ihm dafür, dass er sich bereit erklärt hatte, die Trauerrede zu halten.
»Ich weiß, dass Bill sehr zu Ihnen aufgeblickt hat«, sagte sie. Sie war eine blasse Blondine, an diesem Tag womöglich noch blasser als sonst, mit fast unsichtbaren Wimpern. »Er sprach immer von Ihrer Arbeit auf Sizilien, und wie Sie es geschafft haben, sich einen Namen zu machen.«
Jetzt fühlte sich Carter noch mieser.
»Und ich weiß, dass er sich auf den Tag gefreut hatte, an dem Sie beide zusammen an einem Projekt arbeiten würden.« Eine Träne erschien in ihrem Auge, und sie tupfte sie mit einem zusammengeknüllten Taschentuch weg. »Ich schätze, das war es, was diese Katastrophe ausgelöst hat. Er konnte einfach nicht warten.« Die Tränen begannen zu fließen. »Das war so typisch für Bill. Er konnte nie auf irgendetwas warten.«
Ein gequälter Schluchzer schüttelte sie, und Carter legte ihr instinktiv den Arm um die Schultern, was es nur noch schlimmer zu machen schien. Ehe er recht wusste, was er tat, hatte er sie an sich gezogen, und sie schluchzte in sein Jackett. Beth warf ihm einen mitfühlenden Blick zu und schlenderte davon, um mit einem der anderen Fakultätsmitglieder zu reden, die zur Trauerfeier gekommen waren. Ein paar Minuten später bat der Bestatter, zu Carters großer Erleichterung, die Trauergäste, Platz zu nehmen.
Ganz vorn in der kleinen Kapelle stand der Sarg auf einer mit rotem Stoff behängten Tragbahre. Der Deckel war natürlich geschlossen. Carter hatte gehört, dass Mitchells Körper von der Explosion in Stücke gerissen worden war. Einige Teile waren, ebenso wie Stücke seiner Kleidung oder seine Schuhe, überhaupt nicht wiedergefunden worden. Als Suzanne stockend ins Mikrophon sprach, das am Rednerpult befestigt war, fragte Carter sich, wie viel von ihrem Mann genau eingesammelt und wie die Teile für die Beerdigung vorbereitet worden waren. Er begriff, dass es makaber war, was er da tat, aber angesichts seines Berufs war es vielleicht auch nicht weiter überraschend. Knochen waren sein Job, sogar sein Spitzname bezog sich darauf, und vielleicht war es die einzige Möglichkeit, mit so etwas Bizarrem umzugehen, indem er es mit dem gewohnten Abstand betrachtete.
Nachdem Bills Witwe fertig war, stand sein Vater auf, um ein paar Worte zu sagen. Langsam las er sie von einem zerknitterten Stück Papier ab, und Carter hatte den Eindruck, dass er sie ebenso mühevoll aufgeschrieben hatte. Er war nicht der Typ, um über seine Gefühle oder Erinnerungen zu sprechen, und es nun bei der Trauerfeier seines eigenen Sohnes vor all diesen Fremden tun zu müssen, war sicherlich mehr, als er bewältigen konnte.
Carter war als Nächster an der Reihe, und er verstand seine Aufgabe so, dass er für die große Welt sprechen und allen versichern sollte, dass Bill auch in der akademischen Welt respektiert und bewundert worden war. In den heiligen Hallen der Wissenschaft, in denen er gehofft hatte, sich einen Namen zu machen. Als Carter das Podium betrat, dachte er, dass er dank Bills Frau endlich ein Thema für seine Rede gefunden hatte. Als sie gesagt hatte, dass Bill niemals warten konnte, dass er stets versucht hatte, die Dinge zu beschleunigen, hatte sie ihm ein Stichwort geliefert, mit dem er alles andere verknüpfen konnte.
Bill Mitchell, begann Carter, sei ein junger Mann in ständiger Eile gewesen. »Er hatte es bereits weit gebracht. Er war eines der jüngsten Mitglieder des Fachbereichs und zweifelsohne das wissbegierigste, und er war bereits dabei, in Rekordgeschwindigkeit noch größere Leistungen zu vollbringen.« Während er sprach, erwärmte er sich langsam für seine Aufgabe. Je länger er sprach, desto lieber mochte er den armen Kerl. Außerdem stellte er fest, dass die Erfahrung, eine Trauerrede zu halten, einer Vorlesung vor Studenten im Hörsaal verdächtig ähnelte. Mittlerweile war das Reden in der Öffentlichkeit für ihn zur zweiten Natur geworden. Während er aus dem Stegreif auf die vielen Tugenden und Erfolge von Bill Mitchell zu sprechen kam, konnte er sich sogar in der Kapelle umschauen und registrieren, wer alles da war, wen er kannte und wen nicht.
Eine Menge Leute aus dem Fachbereich waren gekommen, einschließlich des Leiters Stanley Mackie, zusammen mit ein paar anderen Gesichtern, die er hin und wieder auf dem Campus gesehen hatte. Dann waren da Mitchells Verwandte und Freunde, die er natürlich nicht kannte. Ein Typ, der zu keiner der beiden Gruppen zu gehören schien, saß ganz für sich allein auf einer der letzten Bänke. Er trug einen zerknitterten blauen Anzug sowie einen schwarzen Rollkragenpullover und sah aus, als hätte er seit einer Woche nicht geschlafen. Er hatte etwas so Feierliches und Zurückhaltendes an sich, dass Carter nach genauerem Nachdenken zu dem Schluss kam, dass er für das Bestattungsinstitut arbeiten musste. Er hatte das Aussehen eines professionellen Trauergastes.
Carter beendete seine Rede mit den Worten, dass er Bills Gegenwart im Labor der Fakultät immer vermissen würde, und »ohne Bill, der mich stets auf dem Laufenden hielt, werde ich nie wieder wissen, wer gerade an der Spitze der aktuellen Musikcharts steht«. Er sagte es mit einem traurigen, wehmütigen Lächeln, das von mehreren Leuten in den Bankreihen erwidert wurde. Dann faltete er seine Notizen zusammen und verließ das Podium. Dabei bemerkte er, dass der Typ ganz hinten aufstand und leise die Kapelle verließ. Vielleicht hatte er noch andere Pflichten, oder er musste eine andere Trauerfeier mit seiner tieftraurigen Anwesenheit beglücken. Carter nahm wieder Platz, und Beth nickte ihm verstohlen zu, um ihn wissen zu lassen, dass er seine Sache gut gemacht hatte.
Nachdem die Trauerfeierlichkeiten vorüber waren, begaben sich alle in das Vestibül, wo Kaffee und Kuchen bereitstanden. Carter fand sich Ellenbogen an Ellenbogen neben Stanley Mackie wieder, der seine Tasse unter den Zapfhahn einer silbernen Kaffeemaschine hielt. Während der Kaffee lief, sagte er: »Freundliche Worte, aber ein schwacher Trost.«
Carter wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Er hatte bereits persönlich mit dem Fachbereichsleiter gesprochen, doch er hatte keine Ahnung, wie viele Scherereien ihm noch bevorstanden.
Mackie hob seine Tasse und starrte Carter über den Rand hinweg an. »Das Büro des Unipräsidenten hat mich gebeten, einen unterschriebenen schriftlichen Bericht des Unfalls einzureichen. Ich werde mich um das Begleitschreiben kümmern, aber ich möchte, dass Sie den Bericht schreiben und in allen Einzelheiten darlegen, was Sie eigentlich in Ihrem sogenannten Labor getrieben haben und was dabei schiefgegangen ist.«
Er hatte auch schon in früheren Diskussionen von Carters »sogenanntem Labor« gesprochen, und Carter merkte, dass Mackie sich von dem ganzen Projekt distanzierte. Auf einmal hatte Carter das vollkommen allein ausgebrütet, und er, der Leiter, hatte kaum etwas davon mitbekommen. Im Stillen fragte Carter sich, wie Mackie die Ausgaben aus dem Geldtopf des Fachbereichs erklären wollte, für die Scheinwerfer, den Transport des Lasers und so weiter. Doch die belastenden Dokumente waren vermutlich längst vergraben, geschreddert und gelöscht. In seinem Begleitbrief würde Mackie zweifelsohne jeden Rest von Verantwortung abstreiten oder verschleiern. Am Ende würde Carter derjenige sein, an dem alles hängenblieb.
»Ich will den Bericht bis nächsten Mittwoch in meinem Büro haben«, sagte Mackie und entfernte sich, als wollte er nicht dabei gesehen werden, dass er zu viel Zeit in Carters Gesellschaft verbrachte.
Obwohl er jetzt eigentlich einen ordentlichen Schluck aus der Bar hätte gebrauchen können, füllte Carter seine Tasse mit Kaffee aus der Kaffeemaschine.
»Sie haben eine gute Rede gehalten, Professor.«
Noch ehe er sich umgedreht hatte, wusste Carter, dass es Katie Coyne war, seine Musterschülerin. Er hatte sie in der Kapelle gesehen.
»Danke. Ich hoffe, ich muss so etwas nie wieder machen.«
Sie trug einen Jeansrock und ein sorgfältig gebügeltes Arbeitshemd. Vielleicht war es das ordentlichste Outfit, das sie zusammenbekam.
»Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie gekommen sind«, sagte er.
»Bill Mitchell war letztes Semester der Tutor in einem Seminar, das ich belegt hatte.«
Das hatte Carter nicht gewusst.
»Deshalb denke ich, dass ich ihn ziemlich gut kannte. Ich war sogar auf seiner Halloweenparty und habe mich dort mit Ihrem Freund, Professor Russo, unterhalten.« Sie blickte auf ihre Füße hinunter und sagte dann zögernd: »Wie geht es ihm? Ich habe gehört, dass er bei dem Feuer ziemlich schwer verletzt wurde.«
»Ja, das stimmt. Er liegt im St. Vincent’s Hospital, auf der Intensivstation.«
»Wird er wieder gesund?«
»Ja, er wird durchkommen. Aber es wird eine ganze Weile dauern.«
»Können Sie ihm Grüße von mir ausrichten? Ich meine, wenn er sich überhaupt an mich erinnert. Und wenn er wieder fit genug ist, glauben Sie, er würde sich freuen, wenn ich vorbeikäme und ihm einen Besuch abstattete?«
»Das wäre großartig. Ich weiß, dass er sich freuen würde.« Dass Katie seine klügste Studentin war, hatte er schon immer gewusst, aber jetzt ahnte er, dass sie auch die netteste war.
Beth machte ihm von der anderen Seite des Raumes aus Zeichen, wo sie mit einem von Carters Kollegen aus der Fakultät sprach. Mit dem Mund formte sie die Worte Sollen wir gehen?, und Carter nickte. Er nahm einen letzten Schluck Kaffee und stellte die Tasse auf den Tisch. »Ich sehe Sie morgen«, sagte er zu Katie. Sie saß in seiner Frühvorlesung.
Doch auf dem halben Weg die Treppe hinunter lauerte ihm Bills Frau, oder besser gesagt Witwe, auf. »Ich hasse es, das zu fragen«, sagte sie, »aber hätten Sie vielleicht noch Zeit, mit zum Trauergottesdienst zu kommen?«
Carter war sich nicht sicher, wovon sie sprach – war er nicht gerade bei einer Trauerfeier?
»Die eigentliche Beerdigung«, sagte sie. »Sie findet in einer halben Stunde statt und wird nicht länger als fünfzehn Minuten dauern.«
Beth murmelte Carter zu: »Ich muss zurück zur Galerie, oder Raleigh bringt mich um.«
»Ich verstehe«, sagte Suzanne ernst zu ihr, »und vielen Dank, dass Sie gekommen sind.« Dann wandte sie sich erneut an Carter. »Aber Bills Familie war von Ihrer Rede so gerührt. Ich weiß, dass es ihnen eine Menge bedeuten würde, wenn Sie dabei wären. Sie könnten mit uns zum Friedhof fahren.«
Sie deutete auf eine Mietlimousine, die bereits am Straßenrand wartete.
Carter fühlte sich in der Falle. Wie sollte er so eine Bitte abschlagen?
Beth beantwortete die Frage für ihn. »Wir sehen uns dann zu Hause«, sagte sie. »Ich bin gegen halb acht wieder da.«
Während Beth die Straße überquerte, um ein Taxi heranzuwinken, das sie zur Galerie bringen würde, wurde Carter genötigt, zu Suzanne und Bills Eltern in die wartende Limousine zu steigen. Erst als er eingekeilt auf der Rückbank saß und der Wagen anfuhr, fragte er sich, wo der Friedhof sich wohl befand. Sein Herz sank, als Bills Dad davon erzählte, wie es war, als Bill in Forest Hill aufgewachsen war. Dort hatte er Autofahren gelernt, auf den ruhigen Straßen des örtlichen Friedhofs. Als der Fahrer der Limousine den Midtown Tunnel ansteuerte, fand Carter sich damit ab, dass er nach Queens, irgendwohin weit draußen unterwegs war.
Die Fahrt dauerte gar nicht so lange, aber Carter kam es vor wie eine Ewigkeit. Schließlich passierten sie das Tor des Greenlawn Friedhofs und fuhren zu einer offenen Grabstelle, die zwischen diversen anderen bereits belegten Gräbern eingezwängt war. Carter konnte es kaum abwarten, von der Rückbank zu kriechen, sich zu strecken und die frische Luft zu atmen. Obwohl er sich auf einem Friedhof befand.
Ein paar Wagen hielten hinter ihnen an, und Leute vom Bestattungsinstitut stiegen aus. Carter wusste nicht, wie viele dieser Beileidsbekundungen er noch ertrug, und entfernte sich ein paar Schritte, um Kopf und Lungen freizubekommen. Der Boden war festgestampft, und das Gras, das noch übrig war, war braun und verkümmert. Bei flüchtiger Musterung schienen die Grabsteine allesamt irische oder italienische Familiennamen zu tragen, manche hatten Sterbedaten vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Auf einer kleinen Anhöhe blieb er stehen und sah sich um. Kilometerweit erstreckte sich der Friedhof in alle Richtungen. Hier und dort standen verstreut ein paar schwarze Bäume, deren nackte Zweige verloren über marmornen Mausoleen hingen. Nicht weit von ihm entfernt legte eine ältere Frau einen Kranz auf einem Grabstein nieder. Im Licht der späten Nachmittagssonne hob sich in der Ferne eine hochgewachsene Gestalt mit rotem Mantel vom Horizont ab. Sie verschwand hinter einem massiven Grabstein, auf dem ein trompetender Engel stand. Der Wind seufzte, hob das tote Laub an und blies es gegen Carters Beine.
Er sollte besser umkehren. Nicht, dass irgendjemand noch glaubte, er würde der eigentlichen Beerdigung nicht beiwohnen wollen.
Unten am offenen Grab war der Sarg auf eine Art mechanische Vorrichtung gestellt worden, die ihn in die Grube senken würde. Der Priester, der jetzt einen schwarzen Überzieher und Galoschen trug, stand am einen Ende des offenen Grabes. Eine weiße Stola lag um seinen Hals drapiert, und in der Hand hielt er ein Buch mit dem Titel Die häufigsten Gebete. Suzanne, Bills Eltern und mehr als ein Dutzend Leute hatten sich versammelt und stampften gelegentlich mit den Füßen auf, um sich warm zu halten. Der harte karge Boden schien die Kälte regelrecht abzustrahlen.
Der Priester dankte ihnen allen dafür, dass sie gekommen waren. Dann, als spürte er ebenfalls die Auswirkungen des Wetters, öffnete er rasch das Buch und begann zu lesen. Während er sprach, hielt Carter den Kopf gesenkt, aber er konnte es sich nicht verkneifen, hin und wieder aufzuschauen. Die meisten Trauergäste hielten den Kopf gesenkt und den Blick zu Boden gerichtet, doch einige starrten auch einfach in die Ferne. Bills Mom betete leise, aber innig, die Worte mit, die der Priester laut vorlas. Glaube, dachte Carter nicht zum ersten Mal, musste eine wunderbare Sache sein. In Momenten wie diesen musste er eine ungeheure Hilfe sein. Aber das war etwas, das er in seinem Leben nie gekannt hatte, und er wusste, dass er es nie erleben würde. War es nicht Kardinal Newman gewesen, der gesagt hatte, wenn die Kirche dich mit sechs Jahren kriegt, hat sie dich für den Rest deines Lebens? Wenn das stimmte, war Carter außer Gefahr. Keine Kirche, egal welcher Richtung, hatte ihn bisher in die Finger bekommen.
Der Priester las immer noch, in einem gleichmäßigen, wenn auch etwas hastigen Rhythmus. Erst jetzt bemerkte Carter die schwarze Limousine, die auf der anderen Seite der Böschung stand. Der Fahrer, ein stämmiger, älterer Mann, saß auf dem Vordersitz und blätterte in einer Zeitung. Weder diesen Mann noch den Wagen hatte Carter zuvor auf der Trauerfeier gesehen.
»Erde zu Erde, Asche zu Asche …«, sagte der Priester, und diese Worte hatte selbst Carter schon oft gehört.
Bills Mom sprach sie laut mit. Ihr Mann hatte seinen Arm schützend um ihre Schultern gelegt.
»Staub zu Staub; in der sicheren Gewissheit …«
Irgendwann auf dem Friedhof zu landen, dachte Carter. Aber wenn das ein Trost war …
»… der Wiederauferstehung zum ewigen Leben.« Der Priester schloss das Buch und sagte: »Amen.«
Die anderen murmelten ebenfalls »Amen«. Bills Mom stieß einen gedämpften Klagelaut aus, und ihr Mann drückte sie an sich. Jemand gab das Zeichen, und Stück für Stück wurde der Sarg in die Erde hinabgelassen. Unwillkürlich fühlte Carter sich an die Ausgrabungen in der Knochengrube auf Sizilien erinnert. Die Erde dort hatte ausgesehen wie hier, die Farbe von nassem Kaffeesatz, und am Boden, ebenfalls wie hier, lagen nur Knochen.
Eine Minute später war alles vorbei. Die Trauergäste verabschiedeten sich voneinander und zerstreuten sich. Suzanne kam zu Carter herüber und sagte: »Sie können mit der Limousine zurück in die Stadt fahren, aber wir müssen zuerst zum Haus von Bills Eltern und sie dort rauslassen.«
Es war Carter gar nicht in den Sinn gekommen, dass nicht jeder direkt zurück nach Manhattan fahren würde, und sein erster Gedanke war: Wo bekomme ich ein Taxi her? Innerhalb des Friedhofs war das natürlich unmöglich, und er hatte keine Ahnung, wo er sich eigentlich befand.
»Ja, sicher«, murmelte er und überlegte immer noch, welche andere Möglichkeit er hatte. »Aber ich will die Familie wirklich nicht stören. Sie wollen jetzt sicherlich allein sein.« Er suchte bereits mit Blicken die übriggebliebenen Autos ab, um zu sehen, ob er vielleicht bei irgendwem mit zurück in die Stadt fahren könnte. Ein grauer Toyota fuhr gerade los, und der einzige Wagen, der noch übrig war, war der schwarze Lincoln. Ein junger Mann stand jetzt daneben. Es war der Typ von der Trauerfeier, der so aussah wie ein professioneller Trauergast, und er schaute sogar direkt in Carters Richtung.
»Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment«, sagte er zu Suzanne. Das war vielleicht seine letzte Chance. »Ich bin gleich wieder da.«
Als Carter zum Lincoln hinüberging, riss der Trauergast die Augen auf. Vielleicht hatte das Bestattungsinstitut ihn als eine Art Kontrolleur geschickt, dachte Carter, nur für den Fall, dass bei der Beerdigung irgendetwas schiefging.
»Gehören Sie zufällig zu O’Banion Brothers?«, fragte Carter.
Der Mann machte ein ziemlich verwirrtes Gesicht. »Nein.«
»Es ist nur so, ich brauche eine Mitfahrgelegenheit zurück nach Manhattan, und ich wollte wissen, ob Sie vielleicht in die Richtung fahren.«
Die Augen des Mannes leuchteten auf, als sei er gerade mit einem völlig unerwarteten Geschenk überrascht worden. »Ja! Aber natürlich! Ich kann Sie absetzen, wo immer Sie wollen.«
»Danke.« Das war mehr, als Carter gehofft hatte. »Lassen Sie mich nur schnell Bills Familie Bescheid sagen, dass Sie mich mitnehmen.«
Überaus erleichtert ging Carter zurück und erklärte es Suzanne, die ihrerseits ebenfalls erleichtert wirkte. Vielleicht hätte die Familie für die Extrafahrt mit der Limo zahlen müssen.
Als er zum Lincoln zurückkehrte, bemerkte er in diskretem Abstand zwei Arbeiter mit Schaufeln. Totengräber, die darauf warteten, ihre Arbeit zu Ende zu bringen.
»Ich bin Carter Cox«, sagte er und streckte dem Mann die Hand entgegen, der ihn in die Stadt mitnahm.
»Ezra Metzger«, erwiderte dieser. Er deutete auf den Wagen. »Bitte.«
Carter stieg auf der einen Seite ein, während Ezra zur anderen ging und sich beinahe vor Begeisterung die Hände rieb. Vielleicht, dachte Ezra, wendete sich das Blatt jetzt doch zu seinen Gunsten. Erst gestern war er nach dem Tumult im UN-Park gegen Kaution und unter der Auflage, dass Sam und Kimberly für ihn bürgten, aus dem Gefängnis entlassen worden. Und heute bekam er eine Exklusivaudienz bei dem Mann in New York, mit dem er am dringendsten sprechen wollte.
»Das ist mein Onkel Maury«, sagte Ezra, als der Fahrer sich auf dem Vordersitz umdrehte.
»Nett, Sie kennenzulernen«, sagte Maury. »Und, wo sollen wir Sie rauslassen?«
»Irgendwo in Manhattan wäre fein«, erwiderte Carter. »Aber je näher am St. Vincent’s Hospital, desto besser.« Er hatte Joe heute noch nicht besucht.
»St. Vincent also«, sagte Maury. »Ich werde mir ein Spiel anhören, wenn ihr nichts dagegen habt«, fügte er hinzu und schaltete das Radio ein. Carter fragte sich, ob das ihre Methode war, um sich auf dem Rücksitz ungestört unterhalten zu können. Nicht, dass er glaubte, es gäbe irgendeine Veranlassung dazu.
Während der Wagen die gewundenen Wege über den Friedhof entlangfuhr, fragte Carter Ezra, woher er Bill Mitchell kannte.
»Tut mir leid, ich kannte ihn gar nicht.«
»Oh. Dann Sind Sie also ein Freund der Familie?«
»Nein, auch nicht. Ich habe aus der Zeitung von der Trauerfeier erfahren. Mein eigentliches Interesse bestand, wie ich zugeben muss, darin, Sie zu treffen.«
»Mich? Warum?«
»Weil ich von dem Unfall in Ihrem Labor gelesen habe und sehr neugierig bin, was genau geschehen ist. Ich denke, Sie werden es besser wissen als jeder andere.«
»Sind Sie ein Brandermittler?«, fragte Carter, obwohl die vornehme Limousine nicht gerade dafür sprach.
»Nein.«
»Ein Reporter?«
»O nein. Ich habe selbst in vielen Labors gearbeitet, zuletzt im Nahen Osten, und ich bin immer neugierig, wenn so ein grässliches Missgeschick geschieht wie bei Ihnen.« Im Moment bestand noch keine Veranlassung, Mr Cox seine wahren Gründe anzuvertrauen. »Darf ich fragen, was für eine Arbeit Sie genau in Ihrem Labor erledigten, als das Feuer ausbrach?«
Wer war dieser Typ? Und sollte er diese Frage beantworten? Der Wagen passierte die Friedhofstore, und nachdem Carter noch ein paar Sekunden darüber nachgegrübelt hatte, glaubte er nicht, dass es noch groß schaden konnte, wenn er ihm antwortete. Jeder denkbare Schaden war bereits angerichtet. »Professor Russo und ich sind Paläontologen, und wir haben an einem Fossil gearbeitet.«
»Zusammen mit dem verstorbenen Mr Mitchell?«
Carter zögerte, dann sagte er: »Bill war eigentlich nicht befugt, sich dort aufzuhalten.«
Ezra schien zu begreifen, was er meinte. »Ich verstehe. Experimente können leicht schiefgehen, wenn die falschen Leute ihre Finger im Spiel haben.«
Für Carter hörte es sich an, als spräche er aus Erfahrung.
»Aber dürfte ich Sie vielleicht fragen«, sagte Ezra und fuhr so vorsichtig und höflich fort, wie er konnte, »an was für einem Fossil Sie und Professor Russo arbeiten?«
Carter schaute aus dem Fenster auf die anderen Autos, die jetzt an ihnen vorbeiflitzten. »Gearbeitet haben. Es wurde durch die Explosion und das Feuer komplett zerstört. Und jetzt werden wir niemals wissen, was es war.«
»Nach was hat es denn ausgesehen?«
Das war eine gute Frage, und unwillkürlich sah sich Carter erneut mit dem Thema konfrontiert. Es war das bittersüße Gefühl, das einen überkam, wenn man über eine alte Flamme sprach. »Der größte Teil war noch in einem Steinblock eingeschlossen, aber nach dem, was wir gesehen haben, könnte es ein Exemplar aus der Familie der Raubvögel gewesen sein.«
»Also ein Dinosaurier?«
Jetzt wusste er, dass der Typ kein rivalisierender Paläontologe war. »Wahrscheinlich. Alles, was wir sehen konnten, war seine Hand, oder besser gesagt Klaue, und ein Teil einer Extremität.«
Ezra schien fasziniert von dieser Information. »Das ist komisch«, sagte er.
»Was?«
»Sie haben zuerst Hand gesagt. Als sei es Ihnen menschlich vorgekommen.«
Das konnte Carter nicht leugnen. Das Fossil hatte ihn ständig auf seltsame Gedanken gebracht. Ganz zu schweigen von diesem bizarren Gefühl, das Fossil sei irgendwie wärmer als der umgebende Stein. Er erinnerte sich noch gut an den Tag, als er die Probe von der ausgestreckten Kralle genommen hatte.
»Interessieren Sie sich deswegen so dafür?«, fragte Carter und riet ins Blaue hinein. »Sind Sie Anthropologe?«
»Im weitesten Sinne des Wortes kann man das vermutlich schon sagen. Ich widme mich dem Studium der Menschheit.« Ezra schien das ein fairer Kompromiss zu sein und ein müheloser Weg, um Carters Neugier zu befriedigen. »Ich bin sehr interessiert an der Frage, wie wir hierhergekommen sind, und warum.«
»Klingt so, als würden Sie sich dem Thema sehr kosmisch annähern«, sagte Carter. War dieser Typ ein bisschen … abgedreht? Langsam fragte er sich, ob er gleich etwas über Außerirdische hören würde, die den Menschen die Geheimnisse des Pyramidenbaus beigebracht hätten.
»Da stimme ich Ihnen zu. Ich habe in der Tat eine sehr kosmische Sichtweise«, sagte Ezra, »obwohl ich weiß, dass Sie diesen Begriff spöttisch gemeint haben.«
Himmel, hatte Carters Tonfall ihn verraten, oder war der Typ einfach überempfindlich? Carter musste sich ermahnen, dass Ezra, selbst wenn er ihm vielleicht etwas merkwürdig vorkam, nicht dumm war. Im Gegenteil, seine Züge strahlten Scharfsinn und Brillanz aus. »Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht beleidigen.«
»Schon gut«, erwiderte Ezra, obwohl er offensichtlich verärgert war. Er wandte das Gesicht ab. Sein Profil erinnerte Carter an einen Wüstenfalken, mager, frei und hungrig. Ezra beobachtete den Kontrolleur an der Mautstelle, der gerade dem Fahrer sein Wechselgeld herausgab.
Schweigend fuhren sie durch den Tunnel. Carter fühlte sich schlecht, weil er den Mann, der ihn mitgenommen hatte, beleidigt hatte. Als sie den Tunnel hinter sich gelassen hatten, versuchte Carter die Stimmung im Wagen aufzulockern, indem er Ezra fragte, wo er wohnte.
»East Side«, lautete die knappe Antwort.
»Allein?«
»Nein.« Wenn es eine gute Sache gab, die sich aus Ezras Sicht aus den Verwicklungen vor der UN ergeben hatte, dann war es die Auflage des Gerichts, dass er jederzeit unter seiner derzeitigen Adresse erreichbar sein musste. Kimberly hatte sich totgeärgert – eines der wenigen Dinge seit langem, die Ezra aufrichtiges Vergnügen bereitet hatten.
Aber Ezra begriff, dass er es sich im Moment nicht leisten konnte, weiter beleidigt zu sein oder diesen Carter irgendwie zu verstimmen. Zumindest nicht, bis er genügend Informationen aus ihm herausgeholt hatte, um jeden Zweifel und alle Fragen zu klären, die er vielleicht noch hatte. Gab es eine Verbindung zwischen dem, was in jener Nacht im Labor vorgefallen war, einem Labor, in dem ein seltsames Fossil peinlich genau untersucht wurde, und den Glocken, die in jeder Kirche der Stadt geläutet hatten?
»Ich muss einmal um den Block fahren«, meldete sich Maury, »um zur Krankenhausauffahrt zu kommen«, doch Carter, der es eilig hatte, aus dem Wagen auszusteigen, sagte: »Kein Problem, Sie können mich gerne auf der anderen Straßenseite rauslassen.«
Maury zuckte die Achseln und parkte den Wagen vor einem leerstehenden Gebäude genau gegenüber vom Haupteingang des Krankenhauses.
»Danke fürs Mitnehmen«, sagte Carter zu Ezra, der sich endlich wieder zu ihm umwandte und fragte: »Wird Mr Russo hier behandelt?«
»Ja.« Das war nicht schwer zu erraten. »Ich gehe hoch zur Intensivstation, um zu sehen, wie es ihm geht.«
Carter öffnete die Tür und stieg aus. Doch ehe er fortgehen konnte, war Ezra über die Rückbank gerutscht und hatte das Fenster heruntergelassen.
»Eine Sache noch«, sagte er.
»Ja?« Jetzt, wo er aus dem Wagen raus war, fühlte Carter sich wie befreit.
»Hat Ihr Kollege Ihnen etwas darüber erzählt, egal wie seltsam es auch sein mag, was an jenem Abend im Labor passiert ist? Über die Explosion? Das Feuer? Das Fossil?«
»Nicht viel«, sagte Carter. »Sie müssen verstehen, dass sein Zustand immer noch sehr schlecht ist. Ich weiß, dass sie einen Laser benutzt haben, und der Strahl hat eine Höhle erwischt, in der Gas im Felsen eingeschlossen war. Das war die Ursache für den Unfall.«
»Sind Sie sich sicher, dass das alles war?«, frage Ezra. »Mehr hat er nicht gesagt?«
Carter haderte mit sich, ob er mehr sagen sollte. Er wollte nur noch weg, aber andererseits hatten Ezras Fragen und dieser flehentliche Blick etwas an sich, das ihn zögern ließ.
Und Ezra sah es. »Was ist es? Sagen Sie mir, was Sie denken.«
»Also gut. Er erwähnte etwas, das Sie vielleicht interessieren könnte«, sagte Carter, während Ezra am offenen Fenster wartete. »Sie müssen allerdings bedenken, dass er im Delirium lag und bis zum Anschlag mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt war, als er das sagte …«
»Sagen Sie es mir.«
»Er behauptete, das Fossil sei lebendig geworden.«
Einen Moment lang blieb Ezras Gesicht ausdruckslos, dann röteten sich die Wangen, und er schlug mit der geballten Faust gegen die Innenseite der Autotür. »Ich wusste es.«
Jetzt war die Reihe an Carter, überrascht zu sein. »Sie wussten es?«
Ezra kritzelte etwas auf ein Stück Papier und reichte es Carter durch das Fenster. »Das ist meine Nummer, aber ich nehme nie ab. Rufen Sie an und hinterlassen Sie Ihre Nummer bei der Haushälterin.«
Haushälterin?
»Wir müssen uns unterhalten«, sagte Ezra, »viel länger.« Er lehnte sich zurück, den Blick geradeaus gerichtet. Im Verkehrsstrom tat sich eine Lücke auf, und der Wagen fuhr davon.
Während Carter auf Grün wartete und den verschwindenden Rücklichtern des Lincoln nachsah, fiel sein Blick zufällig auf ein riesiges Schild auf dem schäbigen Grundstück hinter ihm. In großen Lettern stand darauf:
HIER ENTSTEHT IN KÜRZE THE
VILLAGER.
26 STOCKWERKE
LUXUS-
GENOSSENSCHAFTSWOHNUNGEN.
Und darunter, in ebenso großen Lettern:
EIN PROJEKT DER METZGER COMPANY, INC.
Warum klingelte es plötzlich bei ihm? Er brauchte einen Moment, um eins und eins zusammenzuzählen, aber hatte Ezra nicht gesagt, sein Familienname sei Metzger? Konnte es sein …?
Die Ampel sprang um, und Carter überquerte die Straße. Mit wem genau hatte er gesprochen? Und noch wichtiger: Wie um alles in der Welt konnte Ezra Metzger, ja, er war sicher, dass das sein Name war, wie konnte er vorher, so wie er behauptete, von Russos wirrem Gerede über das lebendig gewordene Fossil gewusst haben?