Kapitel 6

»Verfluchte Bande, was habt ihr vor?« Kolb hatte das Gespräch zwischen dem Türken und dem vom Radar verschwundenen Ragnar mitgehört, aber dann hatten sie das Telefon gewechselt und das verwanzte zerstört. Seither waren außer Ragnar und der Hexe Dawn Widow auch der Türke und seine Brüder außerhalb seiner Kontrolle. Dass Dawn Widow ihn irgendwie gelinkt hatte, war offensichtlich. Über ihr Handy hatte er nicht eine brauchbare Information erhalten. Sie hatte es die ganze Zeit über nie bei sich gehabt. Alles entwickelte sich gegen ihn. Nicht einmal ein Trupp professioneller Killer hatte diese Amateure aufhalten können.

Er konnte auch nicht einfach hingehen und den Job zu Ende bringen, den die anderen verbockt hatten, denn vor Starks Haus war alles voller Polizei.

»Das wird euch leidtun«, grollte er und machte sich auf den Weg, um eine weitere Strafaktion durchzuführen.

»Kleine Fiona, die Welt ist so schlecht«, sang er leise, ohne eine bestimmte Melodie zu meinen.

***

Sie waren auf direktem Weg in Ragnars Geheimwohnung gefahren und hofften einfach, dass sie niemand verfolgt hatte.

In Ragnars Kopf ratterte es unaufhörlich. Innerhalb von Minuten hatte sein Verstand dutzende Handlungsoptionen durchgespielt und wieder verworfen, ehe er sich endlich für eine entschied, die funktionieren konnte.

»Hör zu, Schatz«, sagte er mit eindringlicher Stimme zu Dawn. »Du bleibst hier und wartest auf Frieder und Mehmet und seine Brüder.«

»Nein, du kannst nicht weggehen! Wo willst du denn hin?«, bettelte Dawn und grub ihre Fingernägel in seinen Arm. Ragnar ignorierte den Schmerz, so gut es ging, und zog seine Geliebte fest an seine Brust.

»Nicht doch, bleib ganz ruhig, mein Schatz. Ich verspreche dir, dass alles gut wird. Aber ich muss Fiona holen, verstehst du?«

Dawn riss sich von ihm los und sprang auf. »Fiona? Oh Gott, Kolb wird sie sich schnappen.« Was Dawn gerade erst erkannte, hatte Ragnar schon ins Kalkül gezogen, als er mit Mehmet telefoniert hatte. Er war froh, dass sie von selbst darauf gekommen war.

»Er wird es versuchen, ja. Aber ich werde schneller sein. Wenn Kolb den Überfall auf Mehmets Familie selbst begangen hat und er anschließend auch vor Simons Haus war, dann kann ich es vor ihm zu Fionas Wohngruppe schaffen.«

»Dann los, beeil dich«, schrie Dawn und versetzte ihm einen energischen Stoß.

Statt noch weiter zu reden, sprang Ragnar auf, griff sich einen Autoschlüssel, der in einer Schale auf dem Tisch lag, und stürmte los. Dann besann er sich und drehte sich um. »Adresse und ein paar Details zu dem Haus bitte.«

»Oh Gott, natürlich«, rief Dawn und schlug sich mit der Hand vor die Stirn. Sie gab Ragnar die wichtigsten Infos, und zwei Minuten später raste er mit einem Porsche Boxster aus der Tiefgarage des Wohnblocks, in dem er sein Versteck hatte. Der Wagen hatte gerade mal zweihundert Kilometer runter und war, genau wie die Wohnung, für Notfälle vorgesehen, und wenn das kein Notfall war, dann wusste Ragnar nicht, was überhaupt einer sein sollte.

***

Die Nachbarin, die ihm im Treppenhaus entgegenkam, presste sich mit dem Rücken gegen die Wand, um nicht von Kolb über den Haufen gerannt zu werden. Mit großen Augen starrte sie ihm nach. Auf seinem Rücken trug er die neue Bombe, und wenn die Frau nicht absolut weltfremd war, musste sie auch erkennen, was er da schleppte. Das mit Klebeband befestigte Handy und die aus der Flasche herausragenden Drähte sprachen eine deutliche Sprache. Kolb ignorierte sie. Er hatte weder die Zeit gehabt, die Bombe zu tarnen, noch konnte er jetzt eine Zeugin töten und ihre Leiche verschwinden lassen. Zu viele Baustellen und zu wenig Zeit. Vermutlich würde man ihn fassen, denn er begann, überdeutliche Spuren zu hinterlassen, aber das war jetzt nicht entscheidend. Wichtig war jetzt nur noch, so viel Schaden wie möglich anzurichten.

Das Ding war verteufelt schwer. Auf den letzten Stufen drohten seine Knie unter der Last nachzugeben, doch dann dachte er an Simon. Kolb sah sein grinsendes Gesicht vor seinem inneren Auge, malte sich aus, wie dieser Typ mit der Sozialarbeiter-Schlampe Palmer fröhlich vor sich hin gevögelt hatte, während er, Kolb, von Drecksloch zu Drecksloch und von Land zu Land gehetzt war, um seine Spuren zu verwischen. Stark wurde vom Verfassungsschutz protegiert, während er von denen gejagt wurde. Martinus ausgelöscht zu haben, war ein gutes Gefühl gewesen, wenngleich es nicht eingeplant war. Simon hatte ihn dazu gezwungen, und er zwang ihn auch zu seinem nächsten Schritt.

»Deine Freunde werden dich verfluchen, Stark«, keuchte er und pumpte neue Kraft in seine Muskeln.

Kurz darauf hatte er die Gasflasche in den Laderaum seines Transporters vor dem Haus gewuchtet und setzte sich ans Steuer. Ohne den Blinker zu betätigen oder in den Rückspiegel zu sehen, schoss er aus der Parklücke und zwang einen Mercedes zur Vollbremsung. Kolb sah in seinem Rückspiegel noch, wie hinter ihm drei Autos ineinander krachten, ehe er das Steuer herumriss und mit quietschenden Reifen in die nächste Straße abbog.

»Ich ficke euch alle, ihr Hurenböcke!«, schrie er euphorisch und trommelte mit den Fäusten auf das Lenkrad. Kolb war im Zerstörungsmodus – in diesem Augenblick mehr denn je.

***

Ragnar wusste weder, wie Fiona aussah, noch, wie sie auf ihn reagieren würde. Er hatte sich von Dawn lediglich beschreiben lassen, wo innerhalb des Hauses der Wohngruppe ihr Zimmer lag.

Als er in der ruhigen Seitenstraße ankam, in der das Wohnprojekt lag, war nirgends mehr Licht, außer in einem Zimmer im Erdgeschoss. Dort musste der Aufenthaltsraum der Nachtwache sein. Ragnar konnte nicht einfach klingeln und verlangen, dass man ihm Fiona übergab. Außerdem war es besser, keiner bekam mit, dass sie nicht mehr in ihrem Zimmer war.

Dawn hatte ihm den Tipp gegeben, dass es hinter dem Haus eine Treppe gab, die zu einer schlecht gesicherten Kellertür führte. Er traute sich ohne weiteres zu, das Schloss zu öffnen und auf diesem Weg ins Haus zu gelangen.

Er fuhr einmal bis ans Ende der Sackgasse, wo das Haus der Wohngruppe stand, umkurvte den Wendehammer und hielt circa fünfzig Meter weiter am Kantstein. So würde er nachher, wenn er Fiona hatte, nicht extra wenden müssen und wäre schnell wieder raus aus der Straße.

Er stieg aus und sah sich um. Um diese Zeit war niemand draußen. Die Straßenlaternen leuchteten den Gehweg aus, aber vor den Fenstern der anderen Häuser hingen blickdichte Vorhänge oder Außenjalousien waren heruntergelassen.

Trotzdem rannte er die Straße nicht entlang, sondern bewegte sich so ungezwungen wie möglich, als gehörte er dorthin. Die Einfahrt des Hauses war mit einer Pforte verschlossen. Statt sie zu öffnen und zu riskieren, dass ein schlecht geölter Riegel ihn mit einem lauten Quietschen verriet, flankte er behände darüber hinweg und schlug sich auf der anderen Seite sofort links in die Büsche, als die automatische Außenbeleuchtung ansprang. Atemlos horchte er in die Nacht, ob sich eine Tür oder ein Fenster öffnete, doch offenbar hatte die Nachtwache entweder nichts mitbekommen oder interessierte sich einfach nicht dafür, was draußen vor sich ging. Vermutlich schaltete sich dieses Licht ohnehin mehrmals in der Nacht ein, wenn sich streunende Katzen in den Garten verirrten.

Als er sicher war, dass nichts geschehen würde, wagte er sich wieder hervor und huschte um das Haus herum. Dort war es komplett finster, doch wenigstens der Mond spendete etwas Licht, sodass er zumindest die Treppe erkennen konnte, die direkt vor einem unbeleuchteten Fenster zum Keller hinabführte.

Ragnar zog sein Handy hervor und aktivierte die Taschenlampenfunktion. Dann machte er sich an den Abstieg. Die Stufen waren mit nassem Laub bedeckt und unten am Treppenabsatz türmte es sich so hoch, dass er bis zu den Waden darin versank. Hier hatte schon seit Wochen niemand mehr sauber gemacht. Ragnar nahm an, dass der Keller generell nicht viel genutzt wurde. Die Wohnungen der Betreuten befanden sich im ersten und zweiten Geschoss des Hauses, während im Erdgeschoss Gemeinschaftsräume, Küche und behindertengerechte Bäder sowie das Zimmer für den in der jeweiligen Nacht diensthabenden Betreuer untergebracht waren.

Das waren die Infos, die Dawn ihm mit auf den Weg gegeben hatte. Er besah sich die Tür. Es war eine graue Stahltür mit einem herkömmlichen Bartschloss. Das war schon fahrlässig zu nennen, fand Ragnar und schüttelte den Kopf. Für seine Zwecke allerdings war die Situation ideal.

Binnen Sekunden hatte er die Tür mit dem Spezialwerkzeug geöffnet, das er mitgebracht hatte. Er zog sie gerade so weit auf, dass er sich durch den Spalt hineinzwängen konnte, und schloss sie hinter sich wieder. Von der Außentür bis zum nächsten Raum war nur ein schmaler Trampelpfad frei. Links und rechts türmten sich Kartons und allerlei Gerümpel. Das war der Alptraum eines jeden Brandschutzbeauftragten. Ragnar nahm sich vor, Dawn nahezulegen, sich mal um die Sache zu kümmern, wenn das hier alles vorbei wäre.

Ehe er den Aufgang ins Haus fand, irrte Ragnar noch durch zwei weitere, ebenso chaotische Räume. Nur in dem langen Gang, der sich schließlich bis zu der gesuchten Treppe erstreckte, gab es an den Wänden vernünftig befestigte Regale, in denen Vorräte standen. Obst- und Gemüsekonserven, Toilettenartikel, ein paar Sechserträger Bier, die vermutlich einer der Betreuer hier gebunkert hatte, und diverse andere Dinge waren hier gelagert.

Ragnar hätte Licht anmachen können, doch er entschied sich dagegen. Solange er allein hier unten war, reichte sein Handy. Wenn er gleich mit Fiona wiederkäme, konnte er immer noch den Lichtschalter benutzen.

Vorsichtig schlich er die Treppe hinauf und verharrte einige Augenblicke vor der Tür, die ins Haus führte. Er horchte nach Schritten. Stattdessen hörte er entfernte Geräusche, die auf einen laufenden Fernseher schließen ließen. Behutsam drückte er die Klinke hinab, schob die Tür einen Spalt weit auf und spähte hindurch. Ragnar sah in einen gefliesten Raum und erkannte eine Garderobe, an der mehrere Jacken hingen. Das war also vermutlich der Hausflur.

Auf Zehenspitzen schlich er in den Korridor und versuchte, in alle Richtungen gleichzeitig zu blicken. Rechts von ihm befand sich der Ausgang. Ragnar testete, ob die Tür sich öffnen ließ. Zu seiner Überraschung war sie abgeschlossen.

Wenn es hier brannte, war das Haus eine Todesfalle. Der Betreuer hatte den Schlüssel vermutlich bei sich, aber wenn er, aus welchen Gründen auch immer, im Brandfall nicht in der Lage wäre, zur Tür zu laufen, wären die Bewohner am Arsch.

Er drehte sich um und schlich ins Innere des Hauses. Rechts voraus befand sich der Raum, aus dem das Fernsehgeräusch kam. Unter der Tür hindurch drang Licht in den ansonsten dunklen Hausflur. Ragnar ging auf leisen Sohlen daran vorbei und fühlte sich relativ sicher. Es hätte schon mit dem Teufel zugehen müssen, wenn der Betreuer gerade in diesem Augenblick herausgekommen wäre.

Eine Tür weiter zweigte rechts die Küche ab, und auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors lagen die Toiletten. Geradeaus schloss sich ein großer Gemeinschaftsraum an, den Ragnar aber nicht näher in Augenschein nahm. Sein Interesse galt der Holztreppe, die kurz davor nach oben führte. Fionas Zimmer sollte im ersten Stock auf der rechten Seite sein.

Als er die erste Stufe betrat, beschleunigte sich sein Puls wieder. Eine knarrende Diele konnte immer noch alles verderben. Trotzdem musste er sich beeilen. Je länger er im Haus war, desto größer das Risiko, entdeckt zu werden.

Eine halbe Minute später stand er schweißgebadet und flach atmend vor Fionas Zimmer. Diese Tür war zur Abwechslung nicht zugesperrt, und so stand er eine Sekunde später mitten in einem relativ großzügigen Raum, der aussah, als lebte ein höchstens sechsjähriges Mädchen darin. Die zweckmäßige Einrichtung war durch die in einer Steckdose eingesteckte Notleuchte ebenso gut zu erkennen wie die Manga-Poster an den Wänden und schließlich auch das Bett, in dem friedlich schlafend Dawns jüngere Schwester lag und schnarchte.

»Hallo Fiona«, flüsterte er und hielt sich sofort den Mund zu, als er realisierte, dass er es tatsächlich ausgesprochen hatte. Würde sie in Panik geraten, wenn er sie aus dem Bett hob?

Er musste sich jetzt schnell entscheiden, ob er sie wecken oder einfach hochnehmen sollte. Er entschied sich für die erste Variante, denn wenn sie mitten auf der Treppe auf dem Arm eines Fremden erwachen würde, war die Gefahr groß, dass sie trotz der Introvertiertheit, von der Dawn berichtet hatte, Zeter und Mordio schrie. Also rüttelte er sanft an ihrer Schulter. Zu seiner Überraschung schlug Fiona sofort die Augen auf und sah ihn neugierig an. Das Schnarchen hatte augenblicklich aufgehört und in ihrem Blick konnte Ragnar keine Spur von Müdigkeit entdecken. Es war fast so, als hätte sie den Schlaf nur simuliert. Wer wusste schon, was in ihrem Kopf vorging?

»Ich heiße Ragnar. Ich bin der Freund von Dawn. Ich soll dich ganz lieb von ihr grüßen.«

Bei der Erwähnung von Dawns Namen strahlte die Frau plötzlich herzerwärmend. Die Sache lief besser, als er erwartet hatte.

Plötzlich hörte er einen Automotor aufheulen und Sekunden später quietschten Reifen auf dem Asphalt. Fionas Fenster stand auf kipp, sodass die Geräusche sehr deutlich zu hören waren. Ragnar wusste, dass er jetzt nicht in Panik geraten durfte. Er strich Fiona vorsichtig übers Haar und flüsterte: »Dawn möchte, dass du sie jetzt gleich besuchen kommst. Es ist sehr wichtig und es darf niemand wissen, weil es eine Überraschung für alle werden soll.«

Ragnar erntete einen nachdenklichen Blick. Es wirkte tatsächlich, als wäge die Frau ab, ob sie ihm glauben solle oder nicht. Nach allem, was Dawn erzählt hatte, war das zwar unwahrscheinlich, aber auch nicht ausgeschlossen.

»Bist du einverstanden?«

Fiona richtete sich in ihrem Bett auf, sah ihn eindringlich an und nickte schließlich mit wissendem Gesichtsausdruck.

Ragnar lächelte unsicher, fasste sich dann aber ein Herz und schickte sich an, sie aus dem Bett zu heben. Sofort versteifte sich ihr Körper und ihre Füße strampelten verzweifelt. Bei all dem blieb sie völlig stumm. Damit das auch so blieb, ließ Ragnar sie augenblicklich wieder los.

»Ok, ganz entspannt. Möchtest du lieber selber laufen?«

Sie nickte wieder.

»Gut, das ist kein Problem. Aber du musst ganz leise sein, damit wir keinen aufwecken. Also komm.«

Fiona stand wirklich aus dem Bett auf und ging Richtung Tür. Dass sie nur im Schlafanzug und barfuß war, schien sie nicht zu stören. Da er keine Zeit hatte, sie jetzt noch in ihre Klamotten zu stecken, war ihm das nur Recht.

»He, warte auf mich.« Sie war flink. Wenn sie erst mal in Bewegung war, hielt sie anscheinend nichts mehr zurück. Ragnar beeilte sich, an ihr vorbei zu kommen und die Führung zu übernehmen.

Fiona folgte ihm fast willenlos. Die Treppe und der Weg vorbei an dem Zimmer des Betreuers stellten kein Problem dar. Erst als Ragnar die Kellertür öffnete und hinein ging, blieb Fiona wie angewurzelt stehen.

»Hey, was ist denn?« Plötzlich waren ihre Augen voller Furcht. Sie zitterte am ganzen Leib. Der Keller machte ihr offenbar eine furchtbare Angst. Jetzt war guter Rat teuer.

»Ach verdammt«, seufzte Ragnar, kramte sein Lockpicking Werkzeug wieder hervor und kam von der Kellertreppe zurück in den Hausflur.

»Wenn ich einbrechen kann, kann ich ja auch ausbrechen«, flüsterte er Fiona zu und zwinkerte verschwörerisch.

Er machte sich an dem Schloss zu schaffen und ein paar Sekunden später schnappte es auf – allerdings lauter, als erwartet. Ragnar zuckte zusammen, und als einen Augenblick später der Fernseher im Aufsichtszimmer verstummte, raste sein Herz plötzlich los wie eine Ratte auf der Flucht.

Er schob Fiona unsanft nach draußen und warf einen gehetzten Blick zurück über seine Schulter. Die Tür zum Zimmer der Nachtwache öffnete sich und eine junge, sportlich aussehende Frau in grauer Jogginghose und schwarzem Tanktop trat heraus. Sie schlug mit der flachen Hand gegen den Lichtschalter links neben dem Türrahmen und erblickte Ragnar.

»Wer sind Sie? Bleiben Sie stehen!«, schrie sie ihn energisch an und spurtete aus dem Stand los.

»Au Scheiße«, japste Ragnar, griff sich Fiona und warf sie sich über die Schulter. Sie protestierte stumm, indem sie zappelte wie ein Hering an der Angel, doch er ließ sich dadurch nicht beirren. Er rannte los und hoffte, dass er es schaffen würde. Die Frau, die ihn verfolgte, wäre ihm im Nahkampf sicher überlegen. Sie hatte ausgesehen wie eine Kickboxerin, und Ragnar war eher Minigolfer, was seine Fitness betraf. Zu seinem Glück war Fiona klein und zierlich. Das, in Kombination mit dem Adrenalinkick, erlaubte es ihm überhaupt erst, sie zu tragen.

Bis zur Gartenpforte waren es knapp fünfzehn Meter und ihm war klar, dass er es vielleicht bis dahin schaffen konnte, es aber unmöglich war, mit Fiona auf dem Rücken drüber hinweg zu springen.

»Bleib stehen, du Schwein«, kreischte es hinter ihm. Diese Furie würde ihm die Haut in Streifen vom Leib ziehen, wenn sie ihn in die Finger bekam. Wie von Sinnen rannte er weiter und änderte die Richtung. Jetzt hielt er nicht mehr auf das Tor zu, sondern war plötzlich wieder auf dem Weg hinter das Haus. Dort angekommen entschied er sich blitzschnell, einfach ungebremst in die gut zwei Meter hohe, dicht gewachsene Hecke zu laufen, die vermutlich die Grenze zum Nachbargrundstück darstellte. Mit etwas Glück verbarg sich darin kein zusätzlicher Zaun, an dem er sich die Beine brechen oder sich gleich aufspießen würde.

Beim Eintauchen in den Busch senkte er seinen Kopf, um seine Augen zu schützen, und er rechnete damit, sich blutige Kratzer und ein paar schmerzhafte Prellungen zuzuziehen. Zu seiner Überraschung durchbrachen sie die Hecke, die dünner war als erwartet, ohne nennenswerte Blessuren.

Dafür strauchelte er über die Einfassung einer Sandkiste, die sich nur zwei Meter hinter der Hecke befand, und stürzte mitsamt seiner Passagierin mit dem Gesicht voran in den Spielsand.

Jetzt war die Flucht also vorbei. Gleich würde die sportliche Betreuerin ebenfalls durch die pflanzliche Barriere brechen und ihn schnappen.

Doch niemand kam ihnen nach. Hatte sie die Verfolgung aufgegeben?

Da hörte er plötzlich Stimmen von der anderen Seite. Er verstand zunächst nichts, doch dann schrie die Frau plötzlich panisch auf und ein Schuss krachte durch die Nacht. Instinktiv zog Ragnar Fiona an sich und presste seine Hand auf ihren Mund.

»Heilige Scheiße, was ist da los?«

***

Kolb jagte seinen Wagen in die schmale Wohnstraße und bretterte mit unverminderter Geschwindigkeit bis ans Ende durch, wo er eine Vollbremsung machte und das Auto schlitternd und schleudernd zum Stehen brachte. Das Ausschalten des Motors und das Öffnen der Fahrertür waren ein einziger, geschmeidiger Bewegungsablauf. Er schwang sich aus dem Sitz und lief sofort in gebückter Haltung auf das Haus zu, in dem die behinderte Schwester von Dawn Widow ihr jämmerliches Dasein fristete. Mit einem lautlosen Sprung hechtete er über den Zaun, rollte sich auf der anderen Seite ab und war sofort wieder auf den Füßen. Die Außenbeleuchtung war hier offenbar permanent eingeschaltet und machte es notwendig, sofort Deckung zu suchen, die er in dem Carport rechts vom Hauseingang fand. Dort kauerte er sich zunächst hinter den kleinen Hyundai, der wahrscheinlich jemandem vom Pflegepersonal des Hauses gehörte.

Der Plan war einfach. Er würde einen Zugang zum Haus finden, die Bombe aus dem Wagen holen, sie hineinbringen und den ganzen Laden samt der behinderten Fiona in die Luft jagen. Er blieb zunächst knappe zwei Minuten bewegungslos sitzen und horchte nur in die Nacht.

Kolb sah sich um und entdeckte, dass der Carport noch einen Ausgang nach hinten hatte. Der führte direkt in einen Bereich neben dem Haus, und dort brannte kein Licht. Er entschied sich, auf diesem Weg zur Rückseite des Gebäudes zu schleichen, um dort eine Terrassentür oder ein Fenster aufzuhebeln.

Er wollte sich gerade in Bewegung setzen, als vorn an der Einfahrt Lärm losbrach. Es klang, als würde eine Frau einen Einbrecher verfolgen, jedenfalls schrie sie, jemand solle stehenbleiben. Kolb konnte sich von seinem Standort aus keinen Reim auf diesen Tumult machen. Er war nicht einmal sicher, ob die Geräusche diesem Gebäude oder einem aus der Nachbarschaft zuzuordnen waren. Was auch immer da los war – es würde ihn nicht von seinem Vorhaben abbringen. Er stand auf und lief los. Als er den Carport verließ, zog er zur Sicherheit seine Waffe und hielt sie beim Weiterlaufen im Anschlag.

Nach wenigen Metern kam er an die hintere Hausecke. Von jenseits dieser Mauer waren wieder Geräusche zu hören. Offenbar hatte sich das Geschehen hinter das Gebäude verlagert. Entschlossen bog er um die Ecke und erfasste mit einem Blick, dass eine junge Frau auf das andere Ende des Gartens zurannte. Zu ihrem Pech sah sie allerdings auch Kolb.

Sie bremste ihren Spurt und wirbelte in seine Richtung herum. »Wer sind Sie? Hauen Sie sofort ab«, schrie sie ihn an. Kolb neigte seinen Kopf abschätzend zur Seite und fragte sich für einen Augenblick, was das für eine hysterische Frau war und warum sie mitten in der Nacht so dürftig bekleidet um das Haus herumrannte. Dann verwarf er den Gedanken und richtete seine Waffe auf sie. Er ließ ihr noch eine Sekunde Zeit, um die Situation zu erfassen, weil er es für ein Gebot der Fairness hielt. Wenn sie schon dabei war, ihre letzten Atemzüge zu tun, sollte sie es wenigstens wissen.

»Nein, tun Sie das nicht«, konnte sie noch schreien. Dann drückte Kolb ab und beendete ein weiteres Leben. Danach sah er sich um. Die junge Frau vergaß er binnen Sekunden. Jetzt war nur wichtig, ins Haus zu gelangen.

Kurz darauf hatte er die Kellertür gefunden und erstaunt festgestellt, dass sie nicht verschlossen war. Er trat in das Gewölbe ein und leuchtete mit einer Taschenlampe herum.

»Was für ein Service«, flüsterte er erfreut, als er zwischen all dem Gerümpel, das sich hier stapelte, tatsächlich eine Sackkarre entdeckte. Das würde ihm die mühsame Schlepperei ersparen.

***

Fünf Minuten später war er mitsamt der Bombe zurück im Keller. Er stand jetzt am Fuß der Treppe, die hinauf in den Wohnbereich führte, und horchte. Kolb beschloss, dass es besser wäre, zunächst die Lage zu sondieren, also ging er ohne die Bombe hinauf. Oben angekommen registrierte er zuerst die offenstehende Haustür.

Dann sah er eine weitere offene Tür. Er ging hin und warf einen Blick in das dahinterliegende Zimmer. Ein stummer Fernseher lief und niemand war zu sehen. Jetzt war ihm klar, dass die Frau, die er draußen gesehen hatte, aus dem Haus gekommen war. Aber wen hatte sie verfolgt?

»Scheiße, sag nicht, dass …«, fluchte er leise und rannte los. Er polterte die Treppe hoch und registrierte, als er im ersten Stock angekommen war, dass eine weitere Tür offenstand. Als er hineinsah, entdeckte er das leere Bett. Ihm schwante Böses. Langsam bewegte er sich rückwärts wieder aus dem Zimmer und gab der offenen Tür einen Stoß, sodass sie langsam wieder zufiel.

An der Außenseite entdeckte er, was er befürchtet hatte.

»Verdammte Scheiße«, brüllte er. Auf dem Schildchen aus Holz stand in bunten Buchstaben: Hier wohnt Fiona.

***

Als der Schuss gefallen war und Schritte sich schnell entfernten, war Fiona plötzlich ganz still. Sie begriff anscheinend, dass sie nicht entdeckt werden durften. Ragnar rappelte sich auf und hob Fiona wieder hoch. Dieses Mal wehrte sie sich nicht. Er widerstand dem Impuls, einen Blick durch die Hecke zu werfen, denn im Grunde war ihm klar, was er dort sehen würde. Kolb war da. Dass es so knapp werden würde, hatte Ragnar nicht für möglich gehalten, aber jetzt war es so, und er musste damit klarkommen.

»Alles in Ordnung«, flüsterte er Fiona zu. »Wir spielen fangen mit dem schwarzen Mann. Ganz leise jetzt.«

Fiona sah ihn aus unergründlichen Augen an. Dann führte sie plötzlich einen Finger an ihre Lippen und machte »pssst«. Ragnar war sprachlos. Er hätte schwören können, dass sie kein Wort von dem verstand, was er sagte, aber er hatte sich geirrt.

»Also gut, los geht´s«, sagte er und schleppte Fiona durch den Nachbargarten bis an die Straße. Plötzlich sah er eine Bewegung drüben beim Eingang der Wohngruppe und er duckte sich gerade noch rechtzeitig hinter den auf der Auffahrt abgestellten Volvo. Vorsichtig lugte er um die Ecke und beobachtete, wie Kolb die Pforte öffnete und mit einer Sackkarre zu einem Transporter eilte, der quer auf der Straße stand. Er lud etwas aus dem Fahrzeug aus, packte es auf die Karre und machte sich auf den Rückweg zur Einfahrt. Ragnar konnte nicht sehr gut sehen, aber was Kolb da um das Haus herum karrte, schien schwer zu sein und bedeutete sicher nichts Gutes. Als er um die Ecke verschwunden war, nutzte Ragnar die Gelegenheit und sprang mit Fiona auf.

»Festhalten, Prinzessin«, flüsterte er und spurtete los.

***

Dawn brachte kein Wort heraus, als Ragnar mit Fiona auf dem Arm in der Tür stand. Sie nahm ihm ihre kleine Schwester behutsam ab und sah ihn so voller Liebe und Dankbarkeit an, dass Ragnar sofort Tränen in die Augen schossen. Er hatte es wirklich geschafft. Erst in diesem Moment fiel die ganze Anspannung von ihm ab, denn er realisierte, dass jetzt wirklich alles gut werden konnte.

»Wirf den Rechner an, Mehmet muss bald hier sein«, sagte er mit belegter Stimme.

»Der ist längst an. Wir haben ihn auf dem Schirm«, antwortete Dawn. Dann küsste sie Fiona zärtlich auf die Stirn und stupste sie sanft an. »Warum gehst du nicht ein bisschen spielen? In der Küche ist es schön. Die Geschirrspülmaschine läuft gerade«, flüsterte sie mit Freudentränen in den Augen. Fiona flitzte sofort los und wirkte, als sei all das Verwirrende und Merkwürdige, was ihr gerade widerfahren war, gar nicht passiert.

Ragnar sah Dawn fragend an.

»Sie liebt das Brummen von Geschirrspülern«, erklärte sie. »Fiona kann eine ganze Stunde davor sitzen und sich zu den Geräuschen wiegen. Und jetzt komm mit, ich zeige dir das Monster.«

Ragnar hielt sie zurück. »Das machen wir gleich. Aber zuerst lass uns Sophie herholen.«

Dawn erschrak. »Das hätte ich fast vergessen. Was ist nur los mit mir? Aber wie machen wir das, ohne dass Kolb es mitbekommt? Ihr Handy ist doch sicher auch verwanzt.«

Ragnar lächelte sie an. »Hast du vergessen, dass du Zugriff auf den Trojaner hast? Sperr Kolb doch einfach aus seinem eigenen Netzwerk aus. Das kannst du doch?«

Plötzlich strahlte Dawn über das ganze Gesicht. »Ja, das kann ich wirklich. Du bist genial«, jubelte sie und stürzte zu ihrem Rechner.

»Ich liebe dich, du göttlicher Mann«, rief sie ihm zu, und Ragnar flüsterte: »Ich liebe dich auch, Dawn Widow.«

***

Auf einmal war es, als lichte sich ein Schleier. Die bleierne Schwere des Alkohols war wie weggeblasen, und Simons Verstand begann zu arbeiten, als wäre nichts gewesen.

»Wer will mich zerstören?, murmelte er und dachte konzentriert nach.

»Wer hasst mich, kann Bomben bauen und ist so psychopathisch, dass er Unschuldige umbringen würde, um mich zu treffen?«

Simon ließ die letzten zwei Tage im Zeitraffer Revue passieren. Wo waren Hinweise versteckt, und was übersah er?

»Die Bomben«, murmelte er. »Und Martinus.«

Den Namen des Agenten auszusprechen schmerzte, aber Simon erkannte sofort, dass er der Schlüssel sein konnte. Es musste nicht nur jemand sein, der Simon hasste, sondern auch von seiner Verbindung zu Martinus wusste.

»Bomben, Martinus, Sprengstoff, Hass, Palmer & Stark – wo ist die Verbindung? Komm schon, Simon, gib dir Mühe.«

Er versenkte sich tief in seine Erinnerung und versuchte, sich an die letzten Begegnungen mit Martinus zu erinnern. Er ging jedes Gespräch einzeln durch. Dann plötzlich leuchtete ein Satz vor seinem inneren Auge auf, als hätte ihn jemand in Leuchtbuchstaben an den Himmel geschrieben.

Sag mal, Kolb – der Name kommt mir so bekannt vor. Das war doch der Typ, der dich damals fast abgeknallt hat, als du an der Sache mit den verschwundenen Obdachlosen dran warst, oder? Hatte ich das nicht in deiner Akte gelesen?

Simon riss die Augen auf. Wie hatte er die ganze Zeit so blind sein können? Er hatte Martinus gegenüber doch selbst schon über Kolb gesprochen. Es passte alles: Ein psychopathischer Sprengstoffexperte, der mit Simon noch mehr als eine Rechnung offen hatte, und dessen Spezialität vor allem die Zündung einer Bombe per Handy war.

»Richard Kolb!«, schrie er plötzlich wütend, ohne es gewollt zu haben. Simon zuckte zusammen. »Richard Kolb«, wiederholte er etwas leiser und atmete tief durch. Er spürte, dass er recht hatte, und Hass loderte in seinem Herzen auf wie ein alles verzehrendes Feuer. Endlich wusste er, wer der Feind war.

Nur leider hatte er keine Ahnung, was er jetzt mit dieser Erkenntnis anfangen sollte.

***

»Kommt rein«, sagte Ragnar gedämpft zu Mehmet und seinen Brüdern, als er die Tür öffnete. Stumm folgten sie seiner Einladung, und als sie drinnen waren, stürmte Dawn sofort auf Mehmet zu und fiel ihm um den Hals.

»Es tut mir so leid, so unendlich leid«, flüsterte sie mit erstickter Stimme.

»Danke«, entgegnete Mehmet rau und ließ die Schultern hängen. Hakan und Orhan standen unschlüssig herum und musterten Ragnar. Er sah sie ebenfalls an und kam zu dem Schluss, dass er etwas sagen musste.

»Ihr müsst Mehmets Brüder sein. Ich bin Ragnar. Es tut mir auch von Herzen leid, was eurer Familie angetan wurde, aber ich verspreche euch, dass ihr schon bald eure Rache bekommt.« Der Ältere von beiden streckte ihm die Hand entgegen. »Hakan«, sagte er und nickte ihm zu. Ragnar ergriff die Hand und drückte sie fest.

»Mehmet sagt, du kannst den Hurensohn finden, der das getan hat?«, fragte der Türke und Ragnar nickte entschlossen.

»Nicht ich allein. Wir können das«, antwortete er und deutete auf Dawn, die Mehmet mittlerweile wieder losgelassen hatte.

»Wir können ihn nicht nur finden, sondern wissen bereits, wo er ist«, fuhr Ragnar fort und registrierte, wie in Hakans Augen sofort der Hass aufloderte. »Dann bring uns hin, damit ich ihm die Eier abreißen kann«, knurrte er, doch Ragnar schüttelte den Kopf.

»Eins nach dem anderen, Junge. Er ist noch unterwegs, aber wir verfolgen seine Position in Echtzeit.« Er deutete in Richtung Wohnzimmer. Sofort drängte Hakan sich an ihm vorbei, und der Jüngere, der demzufolge Orhan sein musste, folgte seinem Bruder auf dem Fuß. Ragnar eilte ihnen hinterher. Als er sie einholte, standen sie schon vor dem Laptop, auf dem ein kleiner, blinkender Punkt Kolbs Position anzeigte.

Dawn und er hatten es geschafft, über den Datenstrom, den der von ihnen isolierte Trojaner sendete, Kolbs Handy zu orten. Seitdem sahen sie genau, wo er sich jeweils aufhielt.

»Wer ist der Mann, der unsere Familie ausgelöscht hat?«, fragte Hakan mit bebender Stimme, während er den blinkenden Punkt auf dem Bildschirm anstarrte.

Ragnar war hinter ihn getreten, und auch Mehmet war jetzt da und hing mit ungläubigen Augen am Monitor. Ragnar legte Hakan eine Hand auf die Schulter und sagte: »Er ist ein ehemaliger Elitesoldat, der in einer Einheit gekämpft hat, die unser Freund Simon Stark befehligt hat. Dieser Irre hat dann eines Tages durchgedreht und die anderen Männer des Trupps zu einem Massaker an afghanischen Zivilisten verleitet. Simon hat das nicht verarbeitet und das Militär verlassen.«

Plötzlich räusperte sich im Hintergrund jemand. Alle drehten sich um und Ragnar erblickte Dawn. Sie sah die Männer an, deutete auf die Couchgarnitur und sagte: »Setzen wir uns doch. Ragnar und ich werden euch alles erzählen, was ihr wissen müsst.«

Hakan und Orhan sahen sich an und schienen unschlüssig. »Sie hat Recht, Leute. Lasst die beiden erzählen, dann sehen wir weiter«, mischte sich Mehmet ein, ging voran und setzte sich als Erster hin. Seine beiden Brüder nickten sich ihr Einverständnis zu und folgten Mehmets Beispiel. Ragnar lächelte seine Freundin dankbar an. Sie hatte es geschafft, die Situation kurzfristig zu beruhigen. Zusammen setzten sie sich zu den drei leidgeprüften Brüdern und erzählten ihnen alles, was sie wissen mussten. Mehmet war Simons Geschichte natürlich bekannt, aber alles andere war auch für ihn neu. Die drei hörten atemlos zu, und als sie alles aufgenommen hatten, mussten sie die Fülle an Informationen erst einmal sacken lassen.

Hakan war schließlich der Erste, der die Sprache wiederfand.

»Dieser Kolb hat all das also getan, um einen Keil zwischen euch und ihn zu treiben?«

Dawn und Ragnar nickten.

»Das heißt, Cem, unsere Eltern und all die anderen waren für ihn nur Mittel zum Zweck?« Hakan verstummte und kaute mit geschlossenen Augen auf seiner Unterlippe herum. Dann öffnete er sie wieder und starrte voller Verachtung in Richtung Computer. »Wenn das sein Plan war, hat er schon verloren«, flüsterte er böse.

Dann sah er direkt in Ragnars Augen. »Er will, dass wir euch hassen, weil unsere Familie euretwegen sterben musste. Das wird aber nicht passieren. Nichts von dem, was dieser Hurensohn will, wird passieren.«

Ragnar erwiderte seinen Blick und bekam einen Kloß im Hals, als er realisierte, welche Größe der junge Türke mit diesen Worten bewies.

»Ich danke dir, dass du uns verzeihen kannst«, flüsterte er ergriffen. Doch Hakan verzog verständnislos das Gesicht und antwortete: »Was soll ich euch verzeihen? Ihr seid genauso Opfer dieses Mannes wie wir. Wir kämpfen jetzt zusammen.«

»Wir kämpfen gar nicht«, mischte sich Dawn mit sanfter Stimme ein. Hakan und Orhan drehten ihre Köpfe in ihre Richtung und starrten sie empört an.

»Ihr wollt ihn davonkommen lassen?«, fragte Hakan fassungslos und sprang auf. Doch Dawn hob beschwichtigend die Arme und bedeutete ihm, sich wieder zu setzen.

»Niemand kommt davon. Aber die Sache wird etwas anders laufen müssen, als ihr es euch vorstellt.«

»Mehmet, sag doch auch mal was«, ereiferte sich Orhan und stieß seinen Bruder in die Seite. Doch Mehmet nickte nur nachdenklich und antwortete. »Ich vertraue Ragnar und Dawn. Sie werden es uns erklären.«

Er hob seinen Blick und suchte Dawns. »Werdet ihr doch, nicht wahr?«

Ragnar beobachtete den Blickwechsel zwischen Mehmet und seiner Freundin und war sicher, dass sie die Brüder jetzt überzeugen konnte, ihrem Plan zuzustimmen. Dawn hatte so eine Art, Menschen zu beruhigen, die ihm leider abging. Gespannt wartete er, wie es weitergehen würde.

»Wenn ihr zuhört, erkläre ich es euch.«

***

Sie hatten ausgemacht, dass Martina Abdul in Sicherheit bringen sollte, während Sophie Kontakt zu Simon aufnahm. Doch als sie vor Simons Haus angekommen war, hatte dort ein einziges Chaos geherrscht. Es hatte eine Schießerei gegeben, und das einzig Gute daran war, dass weder Simon noch einer ihrer Freunde unter den Toten waren, die auf der Straße herumlagen.

Danach war sie direkt in die Agentur gefahren in der Hoffnung, dort auf einen der Anderen zu stoßen.

»Das ist ja lustig hier. Erst suchen alle nach Ihnen und jetzt suchen Sie alle anderen.« Sophie versuchte sich zu erinnern, was sie geritten hatte, diesen Jungen einzustellen. In diesem Augenblick hätte sie ihn am liebsten über den Tresen gezerrt und auf die Straße gesetzt.

»Ich versichere Ihnen, dass hier gar nichts lustig ist, Bürschchen. Ich bin immer noch Ihre Chefin und ich kann Sie jederzeit feuern. Also wer war wann hier?«

So kannte Sophie sich gar nicht, und offenbar hatte der Grünschnabel auch nicht mit so einem Ausbruch gerechnet, denn plötzlich wurde er ganz kleinlaut und berichtete ihr gehorsam, wann Simon nach ihr gefragt hatte.

»Oh verdammt, so lange ist das her«, murmelte sie und stürmte weiter in ihr Büro. Sie versuchte jede Telefonnummer, die sie hatte, doch niemand meldete sich. Es schien fast so, als hätte sich der Erdboden aufgetan und alle Mitglieder von Palmer & Stark verschlungen.

»Abdul«, entfuhr es ihr plötzlich. Martina hatte sich nicht gemeldet, dabei hätte sie längst im Heim angekommen sein müssen.

Panisch riss sie ihre Handtasche auf und fischte ihr Handy heraus, um Martina anzurufen. Als sie das Telefon in Händen hielt und das Display einen Anruf anzeigte, wusste sie eine Sekunde lang nicht, was sie tun sollte. Dann besann sie sich und nahm den anonymen Anruf entgegen. Insgeheim fürchtete sie, es wäre Kolb, der ihr sagen würde, dass er soeben Abdul umgebracht hatte, weil sie sich nicht an die Regeln halten wollte.

»Hallo?«, hauchte sie ängstlich und lauschte atemlos.

Von einem Moment auf den anderen fiel eine riesige Anspannung von ihr ab. »Dawn, oh Gott sei Dank! Wo bist du? Wo sind die Anderen?«

»Einen Moment«, sagte die Hackerin. »Ich muss dein Telefon zuerst von einem Trojaner säubern, bevor wie reden können. Frag jetzt nicht, sondern lass mich einfach machen.«

Sophie verstand zwar nicht, hielt aber trotzdem den Mund. Dawn würde schon wissen, was sie tat.

»Gut, jetzt ist das Gerät clean«, meldete sich Dawn nach kurzer Zeit wieder.

Das Gespräch dauerte dann keine Minute. Danach warf sie das Telefon in ihre Handtasche zurück und rannte so schnell, wie sie noch nie gerannt war. Sie hatte eine Adresse bekommen und Dawn sagte, sie könnten den Mann aufhalten, der sie alle bedrohte. Sie hatte auch gesagt, wer es war – Richard Kolb.

***

»Simon Stark, sieh an, sieh an. Ich dachte schon, ich hätte dich verloren, aber dann hast du dein Smartphone ja doch wieder eingeschaltet.«

Simon versteifte sich beim Klang der Stimme, die er sofort erkannte. Langsam wendete er seinen Rollstuhl. Als er Kolb sah, versetzte ihm der Anblick einen Schlag in den Magen. Sein alter Feind, der wahnsinnige Massenmörder und Bombenleger, war nicht allein. An seiner Hand trippelte Abdul über das Pflaster und lächelte scheu, als er Simon erkannte. Unter normalen Umständen wäre es ein Strahlen gewesen, aber der Kleine spürte ganz offensichtlich, dass hier nichts in Ordnung war. Simon bebte vor Wut und Angst zur selben Zeit.

»Lass den Jungen gehen«, presste er hervor und ballte die Fäuste.

»Das werde ich nicht«, erwiderte Kolb heiter. »Weißt du, Simon, du kennst mich doch. Ich habe noch nie einen Auftrag nicht zu Ende gebracht. Das habe ich nie und ich fange heute nicht damit an.«

Simon löste die Bremsen und fuhr langsam auf Kolb zu. »Dann töte mich, wie es damals dein Auftrag war. Danach ist alles in Ordnung für dich. Und jetzt lass den Jungen gehen.«

Kolb schüttelte amüsiert den Kopf und riss Abdul brutal zu sich heran. »Keinen Meter weiter, Stark, sonst reiße ich ihm vor deinen Augen den Kehlkopf raus.«

Sofort hielt Simon an. Der Kerl meinte es ernst.

»Na, geht doch«, brummte Kolb zufrieden. »Selbstverständlich werde ich dich töten, Simon. Aber mittlerweile haben sich ein paar unerledigte Aufträge mehr auf meinem Konto angesammelt, und die muss ich vorher auch noch alle abarbeiten.«

Simon schnaubte verächtlich. »Welche Aufträge sollen das sein? Du hast dich doch seit unserem letzten Treffen nicht mehr aus der Deckung trauen können. Wo warst du? In einem Slum in Nairobi? In einem anatolischen Bergdorf zwischen Ziegen? Nein, du hast von niemandem mehr Aufträge bekommen.«

»In der Tat, du hast mich etwas ausgebremst damals«, erwiderte Kolb nachdenklich und funkelte ihn dann böse an. »Und deshalb hab ich mir selbst ein paar Aufträge gegeben. Nur so zum Spaß und um dich zu ärgern.«

»Die Bomben«, stellte Simon fest. »Hast du sie wirklich nur gelegt, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen? Dafür hast du dutzende unschuldiger Menschen massakriert? Du bist krank, Richard.«

Das traf bei Kolb einen wunden Punkt. Mit einem wütenden Aufschrei legte er Abdul seinen Arm um die Kehle und drückte zu. »Pass auf, wie du mit mir redest, Soldat!«, brüllte er und hob den röchelnden Jungen ein paar Zentimeter vom Boden.

»Nein, ist schon gut, ich entschuldige mich«, schrie Simon entsetzt. »Ich war vorlaut, das tut mir leid. Bitte, lass ihn wieder runter.«

Tatsächlich setzte Kolb den Kleinen wieder ab und lockerte seinen Griff ein wenig. Simon sah, wie sehr sein Kontrahent mit sich kämpfte. Dieser Bombenleger war selbst ein instabiler Sprengsatz, der bei der leichtesten Berührung jederzeit hochgehen konnte. Das hatte Simon gerade deutlich zu spüren bekommen. Noch eine Provokation dieser Art, und Simon hätte Abdul auf dem Gewissen.

Ganz langsam bekam Kolb seine Wut wieder in den Griff. Simon verfolgte atemlos, wie seine Mimik den Kampf zwischen impulsivem Wahnsinn und Selbstbeherrschung widerspiegelte. Der Wahnsinn zog den Kürzeren – wenigstens vorerst.

»Lass uns noch mal von vorne beginnen«, sagte Kolb schließlich mit übertriebener Geduld in der Stimme.

»Hallo, Simon. Ich bin hier, um dich umzubringen.«

***

»Ist er noch am Hafen?«, fragte Orhan von der Rückbank und lehnte sich nach vorne, um einen Blick auf das Display von Ragnars Tablet zu erhaschen, über das sie jetzt das Signal verfolgten.

»Ja, er bewegt sich Richtung Fischauktionshalle. Dem Tempo nach ist er zu Fuß unterwegs.«

Orhan grunzte zufrieden. »Dann haben wir ihn bald. Was machen wir dann? Glaubst du, er ist bewaffnet?«

Ragnar drehte sich zu ihm und Hakan um. »Mit Sicherheit ist er das. Und wir hatten doch schon darüber gesprochen – wir rühren ihn nicht an.«

»Aber was tun wir dann da?«, protestierte Hakan. »Vielleicht erzählst du uns endlich mal, was der Plan ist.«

»Also gut. In meinem Fall ist es nicht nur Kolb, der hinter mir her ist. Es ist auch eine mexikanische Killergang in der Stadt, die nach mir sucht.«

»Nach dir? Warum das denn?«, wunderte sich Orhan.

»Eigentlich wissen die nicht, dass ich es bin, den sie suchen. Sie sind hinter jemandem her der …« Ragnar stockte. Er wollte eigentlich vor Fremden nicht über seine Vergangenheit sprechen, doch Dawn stieß ihn an und zischte ihm zu: »Jetzt zier dich nicht so. Wir sitzen alle im selben Boot, oder nicht?«

Er seufzte. »Eigentlich sind sie hinter jemandem her, der sie um eine Menge Geld erleichtert hat. Sie wissen bloß, dass derjenige in Hamburg ist, aber nicht, wer es ist.«

Jetzt war Orhan erst richtig neugierig geworden. Er beugte sich noch weiter vor und fragte verschwörerisch. »Wie viel ist denn viel Geld?«

»Dreihundertachtzig Millionen Dollar«, sagte Dawn und nahm Ragnar jede Möglichkeit, weiter um den heißen Brei zu reden.

»Dreihundertachtzig Millionen! Heilige Scheiße!«, schrie Orhan und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Du bist so was von tot, Mann!«

»Danke, ich weiß«, grummelte Ragnar und bemühte sich, seiner Freundin nicht an die Gurgel zu gehen. Aber eigentlich hatte sie ja nichts falsch gemacht. Die Jungs da hinten hatten einiges durchgestanden, und das wäre ihnen erspart geblieben, wenn es Palmer & Stark nie gegeben hätte.

»Das ist voll interessant und so, aber was hat das mit dieser Sache hier zu tun?«, mischte sich Hakan wieder ein.

Jetzt drehte sich Dawn zu ihm um und grinste hintergründig. »Das kann ich dir sagen. Wir haben einen schwerbewaffneten Killer, den wir aufhalten müssen, aber keine Waffen. Ragnar hat dafür eine ganze Bande von hochgefährlichen Psychopathen am Hals, die er irgendwie loswerden muss. Unser Plan ist, die beiden zusammenzubringen.«

***

»Da vorne muss es sein. Halt an«, kommandierte Caballero. Der Fahrer ließ den Wagen ausrollen und schaltete den Motor ab. Caballero stieg aus und atmete tief ein. Er sah sich um. Was für ein Hafen das war! Warum belieferte er Deutschland eigentlich nicht direkt mit seinen Drogen? Hier gab es jährlich Millionen Container, und allein diese Stadt war voll von potenziellen Kunden. Er musste unbedingt jemanden anheuern, der den europäischen Markt besser kannte.

Dann besann er sich darauf, warum sie hier waren. Er warf einen prüfenden Blick auf die Halle.

»Werden wir da drinnen ungestört bleiben?«, fragte er seinen Logistikexperten, der jetzt ebenfalls ausgestiegen war und sich zu ihm gesellt hatte.

»Klar, Boss. Habe ich alles doppelt geprüft. Das Ding steht leer und im Umkreis von fünfhundert Metern wird in keinem der Gebäude um diese Zeit gearbeitet.«

Caballero war zufrieden. Er klopfte gegen die Heckscheibe und gab damit das Signal, das die Anderen rauskommen und loslegen sollten. Nacheinander stiegen drei weitere handverlesene Leute seines Kartells aus. Als vierter folgte, mit ein paar Sekunden Verzögerung, ein schmächtiger, ungefähr zwölfjähriger Junge mit schwarzem Haar.

Caballero legte einen Arm um seine schmalen Schultern und deutete auf die Halle. »Das ist heute Nacht dein Arbeitsplatz, Pedro. Ich weiß, du bist ein Virtuose, aber dieses Mal bitte ich dich darum, ganz besonders liebevoll zu sein. Wir fliegen nicht für jeden um die halbe Welt.«

Der Junge nickte kaum merklich und starrte ausdruckslos auf das Gebäude. Natürlich würde er tun, was Caballero von ihm erwartete. Dafür war er geboren worden und dafür hatte er ihn abgerichtet. Die Mühe hatte sich gelohnt. Ganze Clans zitterten davor, diesem Jungen in die Hände zu fallen.

Dann klatschte Caballero in die Hände und rief: »Bringt die Ausrüstung rein und dann treffen wir uns wieder hier. Unser Informant hat uns die Koordinaten geschickt, wo wir das Schwein finden. Heute wird gegrillt, Hombres.«

***

»Ich sagte doch – wenn du mich töten willst, dann mach es einfach. Ich wehre mich nicht.« Simon war nur wichtig, dass Kolb von Abdul abließ. Doch Kolb machte keine Anstalten, ihn gehen zu lassen.

»Nicht so ungeduldig, Soldat. Ich werde natürlich zuerst den Jungen töten, dann zusehen, wie du wahnsinnig wirst, und erst danach bist du dran. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht lasse ich dich mit diesen Bildern im Kopf auch einfach weiterleben. Es sei denn …«

»Was? Was?«, brüllte Simon panisch. »Was soll ich machen? Sag schon!«

Kolb sah aus, als ginge ihm gerade einer ab. Simon hielt es sogar für möglich, dass es nicht nur so aussah.

»Was du tun sollst? Zeig mir, dass du wirklich alles für diesen kleinen Kanaken tun würdest.«

»Das werde ich, versprochen«, wimmerte Simon und rang flehend die Hände.

Kolb zog den Würgegriff jetzt wieder enger zu und grinste wie ein Haifisch.

»Weißt du, was mir noch besser gefallen würde, als dich umzubringen?«, fragte er lauernd.

»Nein, was ist es?«, fragte Simon und schluchzte. Er war zu allem bereit, wenn Kolb nur endlich sagen würde, was er von ihm wollte.

»Wenn du es selbst tust«, flüsterte er so leise, dass Simon ihn kaum hören konnte. »Ich will einmal im Leben sehen, ob ein Mensch wirklich so bescheuert sein kann, sein Leben für die Liebe zu opfern. Ich glaube das ja nicht.«

Das war es also! Um ein Haar hätte Simon erleichtert aufgelacht. Da stand dieser Clown und dachte wirklich, er hätte das Spiel gewonnen. Kolb hätte gar nicht falscher liegen können. Simon löste die Bremsen seines Rollstuhls, blockierte das rechte Rad und gab dem linken einen kräftigen Stoß, sodass er sich um hundertachtzig Grad drehte. Jetzt stand er mit dem Gesicht zum Wasser und lachte lauthals in den Nachthimmel.

»Sieh gut her, Richard«, rief Simon. »Das wird die größte Sensation, die du in deinem Leben gesehen hast. Ein Mensch, der sich für einen anderen opfert. Ich hoffe, du gehst an der Erkenntnis zugrunde, dass es so was gibt.«

Dann drehte er den Kopf nach hinten und suchte Abduls Blick. »Ich habe dich immer lieb gehabt, kleiner Mann. Sei unserer Sophie ein guter Sohn.«

Dann gab er beiden Rädern einen kräftigen Stoß und rollte auf die Kante zu. In diesem Moment riss Abdul die Augen auf und sein Mund öffnete sich zu einem herzzerreißenden Schrei. »Nein, Papa, nicht!«

Er schlug seine kleinen Zähne mit aller Kraft in Kolbs Hand. Der hatte damit nicht gerechnet und schrie vor Überraschung und Schmerz laut auf. Nur für einen Moment lockerte er seinen Griff, doch das genügte Abdul, sich zu befreien und auf Simon zu zu rennen.

Er sah den kleinen Jungen wie in Zeitlupe angerannt kommen, und das Letzte, was Simon spürte, bevor er über die Kante rollte und ins Wasser stürzte, war pures Glück.

Er hat gesprochen. Und er liebt mich.

Dann kippte der Rollstuhl vornüber und eine Sekunde später tauchte Simon Stark in die eisigen Fluten der Elbe ein. Er verbot sich, Schwimmbewegungen zu machen, und ließ sich einfach von seinem Stuhl in die Tiefe ziehen. Kolb würde nachschauen kommen, ob er wieder auftauchte, aber diesen Gefallen würde Simon ihm nicht tun.

Leb wohl, kleiner Abdul. Gib deiner Mama einen Kuss von mir.

***

»Kolb ist am Wasser, hinter den Hallen!«, rief Ragnar und spurtete los. Den Wagen hatten sie am Fischmarkt abgestellt. Die Anderen folgten ihm dichtauf. Als sie noch knapp hundert Meter von dem auf dem Display angezeigten Gebäude entfernt waren, raste auf einmal aus der entgegengesetzten Richtung ein Lieferwagen die Straße hoch, schlitterte dann mit quietschenden Reifen rechts herum und raste durch die Lücke zwischen zwei Hallen hindurch genau dorthin, wo auch das Ziel der sechs Freunde lag. Ragnar bremste ab und ließ die Anderen auflaufen.

»Hey, was ist?«, blaffte Hakan ihn an. »Warum halten wir?«

»Habt ihr den Transporter nicht gesehen? Ich wette, das waren Caballero und seine Leute.«

»So schnell?«, zweifelte Hakan. »Ihr habt denen doch erst vor einer knappen Viertelstunde die Nachricht mit den Koordinaten geschickt. Übrigens super, dass du in der Bank die Nummer abgegriffen hast.«

»Dann waren sie wohl in der Gegend, als sie die Nachricht bekommen haben«, mutmaßte Dawn. »Wie auch immer. Wenn sie es sind, müssen wir uns vorsichtig nähern.«

***

Kolb hielt sich fluchend die Hand und starrte dem kleinen Bastard wütend hinterher. Er konnte es einfach nicht fassen, dass er sich von einem Kind hatte übertölpeln lassen. Was er allerdings jetzt sah, konnte er noch viel weniger fassen. Simon rollte irres Zeug rufend ungebremst aufs Wasser zu, kippte über den Rand und war verschwunden.

»Das gibt es doch nicht«, schrie er fassungslos. »Der Irre hat es wirklich getan.«

Der kleine Junge erstarrte für einige Sekunden. Er konnte es offenbar auch nicht glauben. Dann drehte er sich zu Kolb um, warf ihm einen hasserfüllten Blick zu und rannte seitlich weg. Kolb ließ ihn gewähren. An dem Hosenscheißer war ihm jetzt nichts mehr gelegen. Er hatte seinen Zweck ja erfüllt. Ganz allmählich kam ihm die Erkenntnis, dass er tatsächlich geschafft hatte, was er wollte. Er hatte Simon Stark, den Großartigen, in den Tod getrieben. Und von wegen, in den Tod aus Liebe – das war nur Bullshit, um noch mal einen tollen Abgang zu haben. In Wirklichkeit hatte Kolb ihn gebrochen. Daran zweifelte er keine Sekunde. Er konnte jetzt also beginnen, seinen Triumph zu genießen.

In diesem Augenblick ertönten hinter ihm quietschende Reifen und ein Motor brüllte auf. Kolb drehte sich um und wurde von Scheinwerfern geblendet.

Zuerst dachte er, Starks Freunde wären gekommen, um sich auch noch abschlachten zu lassen. Grinsend zog er seine Waffe hervor und entsicherte sie. Doch als die Türen des Transporters aufgingen, stieg niemand aus, den Kolb kannte. Es waren irgendwelche Latinos. Kolb steckte die Waffe wieder weg. Seinetwegen waren diese Typen wohl kaum hier.

Er winkte ihnen freundlich zu, um sich nicht unnötig verdächtig zu machen. Einer von ihnen winkte zurück und kam zu ihm rüber. Der Mann hatte eine Glatze, eine bullige Statur und Tattoos am Hals und auf den Armen.

»Richard Kolb?«, fragte er leutselig mit starkem, spanischem Akzent. Sofort war Kolb wieder alarmiert. Er griff erneut nach seiner Waffe, doch die Anderen waren schneller. Vier Maschinenpistolen waren plötzlich auf ihn gerichtet.

»Freeze«, schrie ihn einer von den Typen an. Offenbar sprachen sie kein Deutsch. In Kolbs Kopf ratterte es. Wer waren die? Was wollten die von ihm?

***

Keine Minute, nachdem der Transporter verschwunden war, quietschten wieder Reifen und ein Lichtkegel fiel aus der Durchfahrt zwischen den Hallen auf die Straße. Ragnar und die Anderen, die schon knapp vor der Durchfahrt angekommen waren, pressten sich gegen die Halle und ließen den Wagen an sich vorbei fahren. Anschließend entfernte er sich mit rasender Geschwindigkeit.

»Los jetzt, weiter«, rief Sophie und rannte los. Alle anderen folgten ihr. Was immer Kolb hier gewollt hatte – es musste wichtig gewesen sein.

Doch als sie hinter der Halle ankamen, war da nichts.

»Sackgasse, lasst uns wieder abhauen«, fluchte Ragnar und drehte um, doch Sophie hielt ihn zurück. »Warte, siehst du das?«

Sophie war sich nicht sofort sicher, weil die kleine Gestalt, die hinter einem Müllcontainer hervorkam, in der Dunkelheit kaum zu erkennen war. Doch Sekunden später trat der kleine Mensch in den Lichtkegel einer Laterne, und für Sophie gab es kein Halten mehr.

»Abdul«, schrie sie schrill und spurtete los.

Er wirkte verängstigt, was kein Wunder war, aber etwas in seinem Blick ließ bei Sophie die Alarmglocken klingeln. Als sie ihn fast erreicht hatte, blieb Abdul stehen und schrie mit schriller Stimme. »Papa Simon! Papa Simon da!« Er deutete mit zitterndem Finger in Richtung Hafenbecken.

Sophie erreichte ihn eine Sekunde später und wollte ihn in die Arme schließen, doch er wehrte sie ab, riss sich los und rannte aufgeregt zum Wasser. Immer wieder schrie er »Simon, Papa Simon, Hilfe, Hilfe.«

Sophie kauerte in der Hocke und starrte ihm mit offenem Mund nach. »Er spricht«, flüsterte sie ungläubig. Diese Tatsache war so überwältigend, dass die Botschaft in den Worten zuerst gar nicht zu ihr durchdrang. Erst, als sie plötzlich Ragnar, Frieder und die drei Brüder an dem Kleinen vorbei spurten und ins Wasser hechten sah, wachte sie aus ihrer Trance auf und realisierte, was los war.

»Simon?« Die Erkenntnis durchfuhr sie wie ein elektrischer Schlag. Sophie sprang auf, stolperte in ihrer Panik über die eigenen Beine, fiel hin und kämpfte sich wieder hoch. Dann sprintete sie wie von Sinnen zu der Stelle, von wo aus die Männer ins Wasser gesprungen waren. Hätte sich Dawn ihr nicht in den Weg gestellt und sie aufgehalten, wäre sie einfach blindlings weiter gerannt und ebenfalls ins Hafenbecken gestürzt.

»Sophie, nicht! Wir müssen ihnen von hier oben helfen, damit sie es wieder raus schaffen«, redete Dawn beschwörend auf sie ein. Gehetzt blickte Sophie ihre Freundin an und konnte nichts erwidern. In ihrem Kopf ratterte es bereits. Wenn Simon wirklich da unten war, wie lange befand er sich dann schon unter Wasser? War er schon tot? Alles drehte sich in einem unaufhaltsamen Gedankenstrudel.

»Wir haben ihn«, kam plötzlich von irgendwoher eine Stimme.

»Komm, wir müssen ihnen helfen«, herrschte Dawn sie an und rüttelte an ihrer Schulter. »Reiß dich jetzt zusammen!«

Das wirkte. Sophie verstand auf einen Schlag, worum es nun ging und was sie mit Dawn zu tun hatte. Sie sahen über die Kaimauer nach unten. Dort paddelten Ragnar und Frieder keuchend vor Anstrengung und schneidender Kälte und hielten gemeinsam den Kopf eines leblosen Körpers über Wasser. Mehmet, Orhan und Hakan schwammen ebenfalls dort unten, kamen aber jetzt erst bei den beiden anderen an, um ihnen zu helfen. Dass es Simon war, konnte Sophie nur erahnen, weil die Freunde ihr die Sicht immer wieder verdeckten.

Die Kaimauer war viel zu hoch, um ihnen von oben die Hände reichen und sie heraufziehen zu können. Sophie sah sich um. Einige Meter weiter war eine Sprossenleiter an der Wand befestigt. Sie führte bis ins Wasser.

»Da rüber«, schrie Sophie ihnen zu. »Da kommt ihr raus. Haltet durch!«

Ragnar orientierte sich in die angegebene Richtung und sah, was sie meinte. »Kommt Leute, da ist eine Leiter. Wir schaffen das.«

Mit letzten Kräften erreichten sie kurz darauf die schmale, senkrecht an die Wand montierte Leiter. Sophie legte sich mit den Füßen zum Wasser auf den Bauch und schob sich, die Beine voran, vorsichtig über den Rand. Sie angelte mit den Füßen so lange herum, bis sie eine Leitersprosse fand. Dann ging alles ganz schnell, und schon war sie auf dem Abstieg. Über die Schulter sah sie nach unten. Sie musste sich jetzt irgendwie mit dem Gesicht zum Wasser drehen, ohne abzurutschen und hineinzustürzen. Mit zitternden Knien und dem Mut der Verzweiflung schaffte sie es. Wie sie es allerdings fertigbringen sollte, in dieser Haltung Simon entgegenzunehmen und ihn auch noch nach oben zu ziehen, wusste sie beim besten Willen nicht.

»So geht das nicht«, rief Ragnar dann auch von unten. »Dreh dich wieder um und halte dich gut fest.«

Sophie tat, was er verlangte, und beobachtete dann wieder über die Schulter, was unten im Wasser vor sich ging. Sie wünschte, die Jungs wären nicht alle kopflos ins Hafenbecken gesprungen, sondern hätten sich aufgeteilt. Es wäre hilfreich gewesen, einen oder zwei von ihnen jetzt hier oben bei sich zu haben.

Sie sah, wie Ragnar es mit Frieders Hilfe schaffte, sich Simon auf den Rücken zu laden. Er würde sich dort aber nicht festhalten können, denn er war ohne Bewusstsein. Doch auch dafür fanden die Männer eine Lösung. Frieder zog seinen Pullover aus und den Gürtel aus der Hose. Auch Ragnars Gürtel zog er ab. Sophie ahnte, was sie vorhatten und hoffte nur, dass sie ihren Plan umsetzen konnten, ehe die Kälte ihre Muskeln lähmte. Entweder retteten sie Simon, oder alle würden ertrinken.

Eine Minute später hatten sie es tatsächlich geschafft und aus den Gürteln mitsamt dem Pullover ein Art Rettungsgeschirr geknotet, in das sie Simons Körper einhängten. Jetzt konnte Ragnar versuchen, mit ihm auf dem Rücken die Leiter hinaufzusteigen. Er brüllte vor Anstrengung, als er begann, sich aus dem Wasser zu ziehen. Frieder war direkt unter ihm und drückte von unten nach Leibeskräften. Mehmet und seine Brüder paddelten derweil hinter ihm herum, ohne helfen zu können. Mehr als einer konnte sich nicht unter Ragnar auf die Leiter stellen und anschieben. Es war eine quälend langsame und kräftezehrende Prozedur, aber weder Ragnar noch Frieder würden aufgeben. Das konnte Sophie deutlich in ihren Gesichtern lesen.

Sie ließ ihr rechtes Bein baumeln und schrie. »Nimm mein Bein, Ragnar. Ich ziehe dich ein Stück hoch. Dawn, nimm meine Hand!«

Sie blickte nach oben und sofort erschien das Gesicht der Hackerin, die sich liegend über den Rand der Kaimauer geschoben hatte. »Greif sie«, rief Dawn und reckte ihren Arm Sophie entgegen. Die ließ mit der rechten Hand die Sprosse los und packte Dawns Handgelenk, so fest sie konnte. Einen Sekundenbruchteil später wurde von unten ihr Fuß ergriffen, und hätte sie in diesem Moment nicht bereits den zusätzlichen Halt von Dawn gehabt, hätte der Ruck sie von der Leiter und hinunter ins Wasser gerissen.

»Uuuh,« entfuhr es ihr, doch sie nahm sich zusammen. Es war zwar ein Gefühl, als zerrte ein ganzer Sattelschlepper an ihr, doch loslassen würde sie auf keinen Fall. Der Zug wurde noch eine Sekunde lang stärker und hörte dann ebenso plötzlich auf, wie er gekommen war.

»Danke, das hat geholfen«, schnaufte Ragnar unter ihr. Ein Blick hinunter verriet ihr, dass Ragnar die erste Hilfe dazu genutzt hatte, sich mit Simon vollends aus dem Wasser und auf die Leiter zu ziehen. Er hatte jetzt mit beiden Händen und Füßen festen Halt.

»Klettere hoch, ich schaffe den Rest«, rief Ragnar. Sophie beeilte sich, den Weg freizumachen, und kraxelte, so schnell sie konnte, wieder nach oben.

Kurz darauf saßen sie alle auf dem Pflaster um Simon herum. Ragnar, Frieder und die Brüder hockten zitternd und keuchend auf dem Hosenboden, während Sophie bereits mit der Wiederbelebung begonnen hatte. Nach zwei Minuten löste Dawn sie ab.

»Wir brauchen einen Rettungswagen«, platzte es plötzlich aus Sophie heraus. Das ganze Adrenalin und die Panik hatten ihr dermaßen den Verstand vernebelt, dass sie noch gar nicht auf diese naheliegende Idee gekommen war.

Hektisch suchte sie nach ihrer Handtasche und fand sie ein paar Meter weiter, wo sie sie vorhin achtlos hatte fallen lassen. Sie öffnete den Reißverschluss und holte ihr Handy raus.

Als sie es aktivierte, sah sie, dass in der Zwischenzeit über zwanzig Anrufe von Martina eingegangen waren.

»Um Himmels willen«, rief sie. Martina hatte sie vollkommen vergessen. Sie hatte sich ja auf den Weg gemacht, um Abdul aus dem Heim zu holen. Sie musste in heller Panik sein, weil sie ihn nicht vorgefunden hatte.

Ein Prusten, gefolgt von würgendem Husten riss sie aus ihren Gedanken.

»Wir haben ihn wieder«, schrie Dawn euphorisch. Die Klammer, die sich um Sophies Brustkasten gelegt hatte, löste sich augenblicklich. Sie sprang auf und eilte zu Simon, der sich am Boden wand und immer noch hustete.

»Mein Schatz«, rief sie und warf sich neben ihm auf das Pflaster. Sie hätte ihn am liebsten umklammert und mit Küssen übersät, aber er brauchte Platz zum Atmen.

In diesem Moment meldete sich das Handy erneut. Martina versuchte wieder, sie zu erreichen. Sophie nahm den Anruf entgegen und griff nach Simons Hand. Sofort verkrampften sich seine Finger um ihre. Nie hatte sich seine Berührung so fantastisch angefühlt wie in diesem Moment.

»Martina, ich bin dran. Nein, nein, beruhige dich, Schatz. Es ist alles in Ordnung. Abdul ist bei mir. Es geht ihm gut. Uns allen geht es gut. Ich rufe dich wieder an, OK«.

Sie legte das Telefon zur Seite und beugte sich zu Simon hinab, der jetzt die Augen geöffnet hatte und sie ansah.

»Abdul?«, fragte er mit einer Reibeisenstimme.

»Er lebt und ist munter«, flüsterte sie und strich ihm liebevoll über die Stirn.

Simon schloss erleichtert die Augen und lächelte.

»Kolb«, sagte er und machte die Augen wieder auf.

Sophie hob den Kopf und sah Ragnar unsicher an.

Er machte ein ernstes Gesicht und bedeutete ihr, ein wenig Platz zu machen. Daraufhin robbte er näher an Simon heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Simon drehte ihm den Kopf zu. »Was ist mit Kolb?«

»Er kommt nicht mehr wieder«, flüsterte Ragnar.

Sophie hörte, dass er einen Kloß im Hals hatte, als er das sagte. Ragnar hatte sich nicht leicht damit getan, Kolb diesen Monstern auszuliefern. Mehmet und seine Brüder dagegen waren sofort von der Idee begeistert gewesen. Nur ihnen zuliebe hatte Ragnar sich dazu durchgerungen, denn sie hatten so viel verloren, dass sie unbedingt ein bisschen Genugtuung brauchten.

Sophie beugte sich zu Ragnar und flüsterte ihm ins Ohr. »Es ist OK: Wir haben das Richtige getan.«

Er sah sie elendig an und sagte. »Du hast ja keine Ahnung, was die mit ihm machen. Gerade jetzt geht er durch eine Hölle, die ein Mensch sich nicht vorstellen kann.«

Er hatte laut gesprochen, sodass auch Simon ihn hören konnte.

»Das ist der Unterschied zwischen uns und Leuten wie Kolb«, krächzte er. Alle Blicke wandten sich Simon zu.

»Wie meinst du das?«, fragte Ragnar unsicher.

»Wir zweifeln auch dann, wenn wir im Recht sind. Die Bösen dagegen kennen keinen Zweifel – nie und unter keinen Umständen.«

»Aber wie soll ich damit leben?«, fragte Ragnar. Eine Träne rann ihm übers Gesicht.

»Mit unserer Hilfe«, hauchte Simon. »Wir sind deine Freunde. Wir fangen dich auf. Ich weiß, dass das funktioniert.«

»Woher?«, fragte Ragnar zweifelnd.

Simon zwinkerte ihm zu und flüsterte: »Weil ich noch lebe.«