Kapitel 2
Kolb wusste, dass die ersten beiden Botschaften angekommen waren. Die Dinge waren jetzt in Bewegung und würden bald schon ihre Wirkung entfalten. Aber er war klug genug gewesen, nicht alles auf einmal umzusetzen. Eine Niederlage konnte einem Mann einen Schlag versetzen, zwei hintereinander ihn frustrieren und eine ganze Serie konnte ihn brechen.
Ein bestimmter Schlag Mensch brach auch, wenn eine große Zahl an Katastrophen zur selben Zeit über ihn kam. Das waren die normalen Leute. Das waren dieselben, die unter der Folter nach den ersten Schlägen alles preisgaben, wenn diese nur intensiv genug waren.
Aber der Mann, auf den Kolb es abgesehen hatte, gehörte zu den besonderen Menschen, zu denen, die anders waren als der große Rest. Männer wie Simon Stark konnte man nur wirklich zerstören, wenn die Einschläge in steigender Intensität über die Zeit verteilt kamen. Heute zwei Tiefschläge, die ihn mitnahmen. Dann, wenn er morgen erwachen und seine Psyche wieder beginnen würde, sich zu regenerieren, gleich die nächsten, heftigeren Schläge.
Aber jetzt war erst mal die Hintergrundstory dran. Kolb musste die Kulisse schaffen, vor der sein Feind zugrunde gehen sollte.
Er öffnete den Koffer, den er seit zwei Tagen unter seinem Hotelbett aufbewahrte, und checkte die Maschine.
Sie war wirklich nichts Besonderes. Weder war sie aufwändig konstruiert, noch außergewöhnlich stark. Aber das war für seinen Zweck auch nicht notwendig. Hier ließ er ebenfalls zunächst noch Luft nach oben.
Kolb kontrollierte ein letztes Mal den Zünder und klappte den Deckel dann wieder zu. Er setzte sich die Perücke auf, zog den Mantel an und schlüpfte in die hohen Schuhe. Bevor er das Zimmer verließ, kontrollierte er sein Outfit ein letztes Mal in dem bodentiefen Spiegel an der Garderobe neben dem Bad.
Mit dem schlampig aufgetragenen Make-up und seiner hochaufgeschossenen Statur wirkte er wie eine schlecht zurechtgemachte Transe. Genau das, was er wollte.
Er grinste sein Spiegelbild kokett an, öffnete die Zimmertür und nahm die Codekarte aus dem Schlitz an der Tür heraus.
***
Kolb hatte nichts gegen Schwule. Überhaupt nicht. Es waren ebenso gute Ziele wie jede beliebige andere Gruppe.
Das große Los hatte die Community nur deshalb gezogen, weil sie heute eine tolle Medienpräsenz haben würde.
In letzter Zeit hatte es offenbar homophobe Äußerungen eines Senators gegeben, was in den Medien – besonders zuerst in den sogenannten sozialen – hohe Wellen geschlagen hatte.
Heute gab es eine große Demo, die mit einer Kundgebung vor dem Rathaus enden sollte. Weil auch die Opposition zu der Demo aufgerufen hatte, war nicht damit zu rechnen, dass die Bannmeile rund um den Regierungssitz durchgesetzt werden würde. Bis dahin würden die Aktivisten aber gar nicht erst kommen.
Kolb kam eine gute halbe Stunde vor Beginn des Demonstrationszuges an der Moorweide an.
»Na, meine Große«, flirtete ihn beim Verlassen des Bahnhofes ein älterer, spießig wirkender Mann an.
»Verpiss dich oder ich brech´ dir die Beine, du Arschficker«, knurrte Kolb. Der Typ starrte ihn ungläubig an und suchte dann das Weite.
Es war wirklich eine Menge los. Die Schwulen konnten schon was auf die Beine stellen, das musste Kolb ihnen lassen.
»Das ist ja wie CSD im Winter hier«, brummte er und schob sich durch die Leute, die an der Ampel warteten, dass sie auf die andere Straßenseite zum Versammlungsort gehen konnten.
Kolb hielt sich drüben angekommen links. Von einer Parkbank aus verschaffte er sich schnell einen groben Überblick über das Gelände. Die Wirkung würde nicht allzu verheerend sein. Alles freies Feld, auch wenn die Menschen dicht an dicht standen. Die Übertragungswagen parkten um das ganze Gelände herum an den Hauptstraßen. Die dazugehörigen Kamerateams bewegten sich größtenteils frei in der Menge. Die waren für seine Zwecke also wertlos, weil nicht berechenbar. Kolb schaute sich weiter um, bis er sah, was er gesucht hatte. Eine Kamera war stationär aufgebaut und auf den Lautsprecherwagen gerichtet, der später die Demo anführen würde. Damit sollte also lediglich die Kundgebung auf der Moorweide gefilmt werden.
Damit hatte Kolb seinen Einsatzraum gefunden. Er stieg von der Bank und bahnte sich seinen Weg in Richtung Lautsprecherwagen. Zwischen all den schrill gekleideten Gay-Aktivisten fiel er in seinem Outfit überhaupt nicht auf. Der Koffer, den er bei sich trug, war klein und unauffällig und mit bunten Tüchern behängt. Einige Meter vor dem Wagen blieb er mitten in der Menge stehen. Es redete gerade irgendein Aktivist, dem die Leute förmlich an den Lippen hingen. Kolb wusste nicht, wer das war, und es interessierte ihn auch nicht. Es war jedenfalls von Vorteil, dass er die Leute so in seinen Bann zog, dass Kolb den kleinen Koffer unbeachtet zwischen seinen Füßen abstellen und sich dann langsam entfernen konnte.
Die Bombe würde vermutlich bis zum Abend unbeachtet dort stehen bleiben, aber eine wesentlich kürzere Zeit würde schon reichen. Zwei Minuten später war Kolb hinter einem Baum neben der stationären Kamera in Position und zählte im Kopf langsam von zweihundert herunter.
Bei zehn griff er in seine Tasche, zog das Prepaid Handy hervor und deaktivierte die Tastensperre. Die Nummer war bereits im Display eingegeben, und dann war er bei null. Ohne weiteres Nachdenken drückte er die Ruftaste. Kolb spürte weder Mitleid noch Bedauern.
Eine Sekunde später detonierte die Bombe zwischen den fröhlichen Protestlern und verwandelte einen Radius von sechs Metern in ein Inferno aus Blut, Fleischfetzen, abgetrennten Gliedmaßen und von Schrapnellen zerfetzten Leibern. Das Epizentrum hatte es absolut verheerend getroffen. Mit jedem Meter Entfernung vom Explosionsherd nahm die Wirkung des Sprengsatzes exponentiell ab. Kaum jemand, der weiter als zehn Meter entfernt stand, wäre verletzt worden – wenn die Panik nicht eingesetzt hätte.
Die Menschen waren wie eine Herde Schafe, in deren Mitte ein Wolf aufgetaucht war. Sie versuchten, auseinander zu rennen, doch im Gedränge konnte niemand rennen. Sie fielen übereinander, trampelten sich gegenseitig nieder und stiegen über gefallene Körper hinweg.
Kolb konnte sehen, wie sich die Panikwelle in alle Richtungen ausbreitete und auch auf ihn zurollte wie ein Brecher in einer engen Bucht.
Deshalb stand er an dem Baum. Er trat einfach dahinter und ließ die Welle von dem massiven Stamm teilen und an ihm vorbei leiten. Von jetzt an war die Stadt in Aufruhr. Sie würden die Islamisten verdächtigen, die Rechten, die Linken – es war völlig egal. Die Botschaft musste schon bald nur bei einem Einzigen wirklich ankommen.
Bei Simon Stark.
***
»Zu dem Bombenanschlag auf eine Demonstration von Homosexuellenverbänden in Hamburg liegen der Polizei bisher noch keine Erkenntnisse über den oder die Täter vor. Bei dem Anschlag starben ersten Berichten zufolge mindestens acht Menschen. Vierundzwanzig wurden verletzt, zwölf davon schwer. Es folgt eine Stellungnahme von Bürgermeister …«
Martinus schaltete den Fernseher aus und blickte fragend in die Runde. Der Leiter der Extremismus-Abteilung des Hamburger Landesamtes für Verfassungsschutz hatte seine Analysten versammelt und erwartete Antworten. Stattdessen blickte er in lauter ratlose Gesichter.
»Verdammt, Leute! Warum haben wir davon nichts mitbekommen? Der letzten Einschätzung nach bestand keine erhöhte Anschlagsgefahr für die Stadt. Keiner unserer V-Leute hat verdächtige Aktivitäten beobachtet. Was ist da schiefgegangen? Hartmann?«
Der angesprochene Analyst erwiderte den bohrenden Blick seines Vorgesetzten gelassen. »Sie wissen so gut wie ich, dass es einen hundertprozentigen Schutz nicht gibt. Außerdem ist es noch viel zu früh für Mutmaßungen. Zum jetzigen Zeitpunkt kann das erst mal jeder gewesen sein, also lassen Sie uns einfach unsere Arbeit machen.«
Martinus wusste, dass sein Kollege Recht hatte. Es war nur verdammt schwer zuzugeben, dass man trotz aller Anstrengungen mit dem Restrisiko leben musste.
»Dann tun Sie das, meine Herren«, rief Martinus und klatschte aufmunternd in die Hände. »Gehen wir an die Arbeit und finden wir raus, was da draußen los ist.«
Als er wenige Minuten später in sein Büro zurückkehrte, blinkte sein Anrufbeantworter.
***
Simon lag auf der Couch und sah fern. Die Beinprothesen hatte er abgelegt. Heute war ein freier Tag, und den hatte er dem Schlendrian widmen wollen. Ein paar gute Filme oder Serien schauen, zwischendurch ein Nickerchen – so hatte er sich den Tag vorgestellt.
Doch jetzt starrte er seit einer Stunde gebannt und ungläubig zugleich auf den Bildschirm und verfolgte die Berichte über den Bombenanschlag. Als es an der Tür klingelte, reagierte er nicht sofort, denn mit seinen Gedanken war er wieder in Afghanistan. Dort hatte er gesehen, was Bomben und Sprengfallen anrichten konnten. Da drüben war es alltäglich gewesen und doch hatte es für ihn nie seinen Schrecken verloren. Den Terror jetzt direkt vor der eigenen Tür zu haben, war allerdings noch einmal etwas ganz Anderes.
Es klingelte erneut. Zusätzlich wurde gegen die Tür gebollert. Simon schreckte aus seinen Gedanken hoch und beeilte sich, in den neben der Couch abgestellten Rollstuhl zu kommen. Er hasste es, Besuchern im Rolli die Tür zu öffnen, aber wenn er erst noch die Prothesen anlegen würde, musste er Angst haben, dass dieser ungeduldige Besucher ihm in der Zwischenzeit die Tür eintrat.
»Ich komme ja schon, lassen Sie meine Tür ganz!«, schrie er ärgerlich und löste die Bremse, nachdem er sich in sein Gefährt geschwungen hatte.
»Martinus, was kann ich für Sie tun?«, fragte Simon erstaunt, als er die Tür geöffnet hatte.
Der befreundete Verfassungsschützer sah abgespannt und gehetzt aus.
»Darf ich reinkommen? Ich muss mit dir reden.«
Simon gab den Weg frei und machte eine einladende Geste. Martinus trat ein und gemeinsam begaben sie sich ins Wohnzimmer. Martinus nahm Platz und sah sich um.
»Wann wirst du endlich diese Junggesellenbude sausen lassen und mit Sophie zusammenziehen?«, fragte er kopfschüttelnd angesichts der Unordnung und Beengtheit, die sie umgab.
Simon lächelte. »Schon zum nächsten Ersten. Wir haben endlich was Passendes gefunden. Und wir denken übers Heiraten nach.«
Martinus strahlte. »Das ist die erste gute Nachricht heute. Ich freue mich wahnsinnig für euch.«
»Sie sind aber nicht gekommen, um über meine Zukunftspläne zu plauschen, nehme ich an. Also raus damit – was ist los?« Martinus hatte ihn noch nie einfach so zu Hause aufgesucht, also musste es ernst sein.
»Natürlich nicht«, bestätigte der und räusperte sich. Er deutete auf Simons Fernseher. »Du siehst ja selbst, was los ist. Bei uns rotieren alle, seit die Meldung kam, aber bisher fischen wir komplett im Trüben.«
Die Sache versprach, interessant zu werden. Simon beugte sich vor und raunte: »Palmer & Stark soll in dem Fall ermitteln?«
Martinus sah ihn an, als habe Simon den Verstand verloren.
»Wovon träumst du eigentlich nachts? Glaubst du im Ernst, der Verfassungsschutz lässt Privatdetektive ermitteln, wenn es um Terrorismus geht?«
Das enttäuschte Simon. Pikiert lehnte er sich wieder zurück und gab sich Mühe, gekränkt auszusehen.
»Oh, das verstehe ich. Solche Stümper wie wir können Ihrer Expertengruppe ja nicht das Wasser reichen. Welche Erkenntnisse hattet ihr doch gleich zu dem Anschlag?«
Statt beleidigt zu reagieren, sah Martinus ihn nur mitleidig an. »Netter Versuch, Simon, aber ich habe ein dickes Fell. Mir sitzen ein paar ziemlich hohe Tiere im Nacken. Da juckt mich dein Zynismus nicht besonders.«
Das ärgerte wiederum Simon. Er schnaubte unwillig und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und was genau willst du dann von mir?«, fragte er gedehnt.
»Deine Expertise«, entgegnete Martinus knapp.
»Welches Wissen kann ich haben, das der Verfassungsschutz nicht selbst besitzt?« Simon wusste, dass Martinus Zugriff auf ein ganzes Rudel von Experten für jede erdenkliche Problematik hatte. Wie er da helfen sollte, ohne zu ermitteln, ging ihm nicht auf.
»Wissen?«, fragte Martinus. »Vermutlich weißt du wirklich nichts, was meine Leute nicht auch wissen, aber es geht um deine Meinung. In diesem Augenblick rennen dutzende Agenten durch die Gegend und zapfen ihre Quellen und Experten an. Es geht darum, möglichst viele Gesichtspunkte in Betracht zu ziehen, verstehst du? Vermutlich wirst du dir ansehen, was ich habe, und mir dann auch nicht helfen können, aber versuchen muss ich es. Das ist mein Job – alles zu tun, was möglich ist.«
»Meine Güte, Martinus, jetzt mal raus damit. Was willst du?«
»Dass du dir die Überreste der Bombe anschaust, sobald wir alle Teile eingesammelt haben.«
Simon schüttelte verständnislos den Kopf. »Du weißt schon, dass ich kein Sprengstoffexperte bin, oder?«
Martinus ließ diesen Einwand nicht gelten. »Aber du hast in deiner Laufbahn auf jeden Fall mehr Sprengfallen und ähnlichen Scheiß gesehen als ich. Du sollst den Fall nicht lösen. Sieh dir einfach die Trümmer an und schau, ob du dazu irgendwelche Ideen hast. Wenn nicht, ist es auch gut – es hängt nichts davon ab.«
Martinus wollte ihn also nur als zusätzliches Paar Augen. Einmal ein paar Metallteile ansehen und dann wieder verschwinden. Er würde nicht weiter einbezogen werden. Das war zwar ziemlich enttäuschend, aber Simon sah keinen Grund, ihm diese Bitte abzuschlagen.
»Einverstanden, ich sehe mir die Sache an. Sei halt nicht enttäuscht, wenn nichts dabei herauskommt.«
Martinus versicherte ihm, dass er keine Wunderdinge von ihm erwartete, und so vereinbarten sie, dass er Simon anrufen würde, sobald die Bombenteile geborgen waren und in der Kriminaltechnik bereitlagen.
Nachdem der Agent gegangen war, legte Simon seine Prothesen an. Ihn hielt es nicht mehr in der Wohnung. Im Fernsehen gab es nur lauter Informationen aus zweiter Hand. Er musste zum Tatort und selbst ein Gefühl für den Fall kriegen. Martinus konnte sagen, was er wollte – Simon war fest entschlossen, in dem Fall mitzumischen. Sein Team hatte das Zeug dazu, das wusste Simon genau.