Kapitel 3

War er ein Feigling oder ein Ehrenmann?

Ragnar verzweifelte an sich selbst. Loyalität war für ihn ein hohes Gut, aber er war alles andere als ein Held. Er hatte eine scheiß Angst, und es sah so aus, als würde sie gewinnen.

Er nahm das gerahmte Foto vom Regal und sah es wehmütig an. Das war das einzige Bild, auf dem sie alle drauf waren. Sie hatten es eine Woche nach Abschluss ihres ersten Falles machen lassen. Eigentlich sollten bei dem Shooting nur Bilder für eine Imagebroschüre entstehen, doch dann hatte Sophie den Fotografen beiseitegenommen und ihn überredet, noch ein paar extra Aufnahmen zu schießen. Herausgekommen waren Bilder, die sie nicht als Ermittler und Kollegen, sondern als Freunde zeigten. Die Verbundenheit untereinander sah man auf diesem Foto jedem einzelnen an. Ragnar liebte es.

Am glücklichsten von allen sah Simon aus. Ragnar war klar, dass er und die anderen die Familie waren, die ihm so lange gefehlt hatte. Im Grunde ging es den meisten von ihnen so. Das Team war die Familie. Und sollte man nicht bereit sein, für die Familie zu sterben?

Ragnar legte einen Finger auf das Foto und strich darüber. »Es tut mir leid«, flüsterte er und kämpfte gegen die Tränen an. »Verzeih mir, Simon. Ich wünschte, ich wüsste einen anderen Weg.«

Dann stellte er das Foto wieder weg und kämpfte gegen den Impuls an, Dawns Bild von seinem Schreibtisch zu holen. Wenn ihn der Gedanke, Simon zu verraten, schon erschütterte, würde es ihn mit Sicherheit wahnsinnig machen, jetzt über seine und Dawns Zukunft nachzudenken. Was, wenn es keine gab? Nein, das durfte er nicht denken. Er würde sie später holen, und dann würden sie gemeinsam im Untergrund leben, wenn es nicht anders ging. Vorausgesetzt, sie würde zustimmen.

Hör auf, an Dawn zu zweifeln, du Idiot, befahl er sich ärgerlich.

Er nahm sich zehn Minuten, um das Nötigste zu packen. Dann verließ er die Wohnung. Die Schlüssel nahm er nicht mit, denn hierher würde er nicht mehr zurückkehren. Er hatte andere Wohnungen – solche, von denen niemand wusste. Sie stammten aus seinem alten Leben, und in das musste er jetzt zurückkehren.

***

Fiona hatte den Schock weitaus besser verkraftet als erwartet. Aber wer wusste schon genau, was in diesem Kopf vor sich ging? Dass sie nicht einmal eine klare Vorstellung davon hatte, wer sie war, gehörte zu den Dingen, die Dawn nie wirklich würde begreifen können. Wie konnte man leben, ohne sich darüber im Klaren zu sein, wer man war?

Die Nachricht in dem Umschlag hatte Dawn jedenfalls eines deutlich vor Augen geführt: Fiona war ihre Achillesferse, und irgendjemand hatte sie gefunden.

Sie hatte sich gerade an den Rechner gesetzt, um die Aufzeichnungen ihrer Überwachungskameras im Treppenhaus und im Fahrstuhl zu checken, als ihr Handy klingelte. Ein Blick aufs Display verriet ihr, dass Simon dran war.

Mit einem Kloß im Hals drückte sie den Anruf weg und schaltete es ganz ab.

»Sorry, süßer, es tut mir leid«, flüsterte sie. Sie würde es ihm noch sagen, aber jetzt war sie dazu einfach nicht in der Lage.

***

Der Ort des Geschehens war weiträumig abgesperrt, was Simon auch nicht anders erwartet hatte. Von der Straße aus konnte er zwar die Tatortermittler bei der Arbeit sehen, aber das meiste spielte sich hinter Sichtblenden ab.

Zahlreiche Fernsehteams waren immer noch vor Ort und interviewten sich mittlerweile gegenseitig, weil es hier einfach nichts Neues mehr zu berichten gab.

Er sah sich konzentriert um und bemühte sich, zu denken, wie der Attentäter gedacht haben könnte. Dann schloss Simon die Augen und versuchte, sich in die Situation kurz vor der Explosion zu versetzen.

»Der Platz ist brechend voll«, flüsterte er kaum hörbar. »Ich suche einen Ort für die Bombe. Ich kann sie nicht vorher deponiert haben, weil es ein freies Gelände ist. Man kann dort nichts verstecken. Ich bin also hier, während die Veranstaltung läuft.«

Vor seinem inneren Auge füllte sich die Moorweide mit hunderten Menschen. Jedem Einzelnen sah man an, dass er dazugehörte. Sie hatten sich herausgeputzt, trugen Buttons, Plakate und Transparente. Viele hatten Trillerpfeifen, Trommeln und andere Lärminstrumente dabei. Am Rande standen die schaulustigen Normalbürger.

»Ich muss mich unter die Leute mischen und darf nicht auffallen.«

Er sah im Geiste an sich herab und stellte sich vor, dass er ein knappes Kleid und hochhackige Schuhe wie eine Dragqueen trug. »Wo das Ausgefallene normal ist, fällt das Normale auf. Ich bin jetzt unsichtbar. Ich betrete den Platz. Wo habe ich die Bombe?«

Ohne die Überreste gesehen zu haben, konnte Simon nur raten, welcher Bauart der Sprengsatz entsprach, und somit auch, wie groß er gewesen sein musste. Davon wiederum hing ab, wie er transportiert werden konnte.

»Die Bombe ist nicht groß. Ich will nicht so viele wie möglich töten. Ich hätte hier leicht Dutzende auf einen Schlag umbringen können. Also was will ich?«

Das Bild der Explosion, das wieder und wieder im Fernsehen gezeigt worden war, stieg in ihm auf. Das waren nicht die verwackelten Aufnahmen einer zufällig eingeschalteten Handykamera. Die Bilder waren gestochen scharf, weil sie von einer Fernsehkamera stammten. Man sah, dass die Explosion nicht von einem Selbstmordattentäter ausgelöst worden war. Sie schien aus dem Nichts zu kommen.

»Ich wollte perfekte Bilder. Ich muss die Bombe in Szene setzen.«

Er drehte sich in seiner Vision um und sah einen Übertragungswagen mit einer Kamera davor.

»Hast du das auch gesehen, du Arschloch? Ich wette, das hast du.«

Simon öffnete die Augen wieder und starrte unverwandt zu der Stelle, wo die Kamera gestanden haben musste, die den Anschlag aufgezeichnet hatte. Er ging dorthin, ohne genau zu wissen, was er zu finden hoffte, aber da dieser Bereich außerhalb der Absperrung lag, konnte er ihn wenigstens erreichen.

Dort angekommen suchte Simon den Boden ab. Er fand Reifenabdrücke, die ihm die Position des Übertragungswagens zum Zeitpunkt der Explosion verrieten. Um den ungefähren Standort der Kamera zu ermitteln, bildete er aus Daumen und Zeigefingern beider Hände ein Quadrat und simulierte damit den Sucher einer Kamera. Simon rief sich die Fernsehbilder noch einmal detailliert ins Gedächtnis, um den genauen Blickwinkel zu finden. Als er der Meinung war, den Bereich eingegrenzt zu haben, ging er auf dem Rasen in die Knie.

Er fuhr mit den Fingern langsam durch den niedergetrampelten Rasen und folgte ihnen mit konzentriertem Blick. Tatsächlich fand er die Spuren, die das Kamerastativ hinterlassen hatte.

Simon richtete sich wieder auf und überprüfte sein Ergebnis mit dem improvisierten Sucher.

»Passt. Das war der Blickwinkel der Kamera.«

Simon wusste, dass das wichtig war. Er kam nur nicht darauf, warum. Er musste zurück in den Kopf des Attentäters – wieder denken, wie er gedacht hatte. Er schloss die Augen erneut und versuchte wieder, sich an die Stelle seines Gegners zu versetzen. Ja, so sah er diesen Terroristen – als seinen Feind.

»Ich weiß jetzt, wohin die Kamera filmt, also weiß ich, wo meine Bombe hochgehen muss. Ich gehe durch die Menge, gekleidet wie ein Paradiesvogel. Ich trage die Bombe in einem Rucksack, Paket oder Koffer bei mir. Ich setze sie zwischen den Leuten ab und verschwinde.«

Simon riss die Augen auf. »Wohin bist du gegangen, Bursche? Ich wette dorthin, von wo du gut sehen konntest, was du anrichtest. Und nicht zu weit – du musst die Bombe ja noch auslösen.«

Plötzlich war Simon sicher, dass er gerade ganz dicht an der Stelle stand, von wo der Attentäter die Explosion ausgelöst und beobachtet hatte.

Wieder schloss er die Augen und sah, was der Attentäter gesehen haben musste. Ein bunter Haufen Menschen bevölkerte die Wiese mitten in der Stadt. Alle waren auf einen Redner fixiert, der die Stimmung anheizte. Dann, von einem Augenblick auf den nächsten, war alles anders. Ein ohrenbetäubender Knall zerriss die friedliche Stimmung. In einiger Entfernung stieg ein Feuerball auf und Menschen flogen regelrecht durch die Luft. Die Leute rings um das Epizentrum wurden zusammengestaucht, als die Druckwelle auf die Wand aus Leibern traf. Wer jetzt noch stand, wollte nur noch eines – weg.

Simon sah Hunderte panisch fliehender Menschen auf sich zurasen. Sie waren vollkommen blind in ihrer nackten Angst und trampelten sich gegenseitig zu Boden, wo die Schwächsten unter der Stampede der über sie wegbrandenden Leiber zermalmt wurden. Instinktiv trat er einen Schritt zur Seite und fand sich hinter dem stabilen Stamm eines Baumes wieder.

Simon stoppte den Film in seinem Kopf und verglich das Gesehene mit der Realität.

Er stand wirklich hinter einem Baum. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er sich genau dort befand, wo der Bombenleger vor ihm gestanden hatte. Ein kalter Schauer durchfuhr seinen Körper. Er konnte die Präsenz des Bösen geradezu spüren.

Simon schüttelte sich und hastete ein paar Schritte weiter, raus aus dem Schatten der Bäume, die hier in einer Reihe am Rande der Tesdorpstraße standen. Simon zwang sich zur Ruhe und verlangsamte sein Tempo, während er wieder auf den Bahnhof Dammtor zuging.

»Ich weiß, wo du gestanden hast«, flüsterte er und kniff entschlossen die Augen zusammen. »Dann können Ragnar und Dawn dich auch finden. Warte nur, ich bin dir schon auf den Fersen.«

Voller Vorfreude auf die anstehenden Ermittlungen zog er sein Handy hervor und wählte Dawns Nummer. Nach ein paar Sekunden wurde sein Anruf weggedrückt. Simon stutzte.

»Wird den falschen Knopf erwischt haben«, erklärte er sich selbst und versuchte es erneut.

Der gewünschte Gesprächspartner ist zurzeit nicht zu erreichen. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt erneut.

»Ernsthaft?« Simon starrte das Telefon ungläubig an. So etwas kannte er von Dawn Widow nicht. Selbst ihre Mailbox war deaktiviert.

»Komm schon, Dawn, was soll das? Ich habe hier einen fetten Fisch an der Angel.«

Da es sinnlos war, es noch einmal zu probieren, entschied er, es dann eben zuerst bei Ragnar zu versuchen. Er suchte seine Nummer und rief an.

Als auch Ragnar nicht ranging, musste Simon grinsen. Jetzt ergab die Sache einen Sinn. Die beiden Turteltauben waren zusammen und wollten keine Störung. Er steckte das Handy weg und lachte. Er schätzte, wenn er ihnen zwei Stunden geben würde, müsste es reichen. Danach würde er einfach bei Ragnar auf der Matte stehen.

»Seht zu, dass ihr fertig werdet. Ich komme vorbei.«

***

Wären nicht in der ganzen Wohnung die Vorhänge offen gewesen, hätte Simon gedacht, er sei einfach zu früh aufgetaucht. Doch ganz offensichtlich war niemand zu Hause. Ragnar hätte ihm sonst geöffnet.

Er wollte gerade wieder gehen, als sich die Haustür öffnete und Ragnars Nachbarin, Frau Blaschek, herauskam. Simon hatte sie schon ein paarmal gesehen. Immer, wenn Ragnar Besuch bekam, stand Frau Blaschek wie zufällig plötzlich im Treppenhaus. Entweder wollte sie gerade zum Briefkasten oder den Müll runterbringen. Sie war einfach ein neugieriges, einsames Weib. Ragnar nahm es ihr nicht krumm, also hatte Simon es auch nicht getan.

»Sie sind doch der Bekannte von …« begann die Frau, doch Simon fiel ihr ins Wort.

»Genau, Frau Blaschek, ganz genau. Und nun entschuldigen Sie mich, mein Freund scheint nicht da zu sein.«

Damit drehte er sich um und wollte gehen, doch die Alte hielt ihn am Arm zurück.

»Sie können jetzt nicht gehen«, rief sie. »Wenn Ihr Freund nicht da ist, müssen Sie wenigstens seine Tür wieder zumachen.«

Simon drehte sich fragend um. »Seine Wohnungstür ist offen?«, fragte er skeptisch.

Frau Blaschek nickte eifrig.

»Stellen Sie sich vor: Ich will zum Einkaufen, schließe meine Wohnungstür ab und drehe mich um. Da sehe ich es. Das macht er sonst nie. Ich habe dann gerufen, ob jemand zu Hause ist, aber keiner hat geantwortet. Das ist doch leichtsinnig, finden Sie nicht?«

»Warum machen Sie sie dann nicht einfach selbst zu?«

»Na, hören Sie mal, das steht mir doch gar nicht zu«, entrüstete sich die alte Frau. »Wenn das nun doch Absicht war, wird er nachher noch böse mit mir. Aber trotzdem sollten Sie mal nachschauen, so als guter Freund.«

Simon seufzte. »Schon in Ordnung, Frau Blaschek, ich kümmere mich drum. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«

Damit drängelte er sich an ihr vorbei in den Hausflur. Als er gerade die Treppe hinaufgehen wollte, stutzte er und ging zurück zur Haustür.

»Frau Blaschek«, sagte er und winkte die Nachbarin heran. »Ist das Schloss schon länger defekt?« Er deutete auf den Schließmechanismus, den offenbar jemand gewaltsam ausgehebelt hatte.

»Um Gottes willen«, rief Frau Blaschek und schlug theatralisch die Hände über dem Kopf zusammen. »Waren das Einbrecher?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Simon genervt. »Also ist das gestern noch nicht gewesen, richtig?«

Blaschek sah ihn mit großen Augen an. »Nein, selbstverständlich nicht. Das wäre mir doch aufgefallen. Oh Gott, oh Gott, wenn ich mir vorstelle, was alles hätte passieren können. Ich bin eine alleinstehende Frau. Wenn der mich …«

Simon wollte nicht hören, was die alte Schachtel sich da ausmalte. Er ließ sie einfach stehen und spurtete die Treppe hinauf.

Als er oben war, stand Ragnars Tür tatsächlich offen. Simon näherte sich vorsichtig. Dieses Schloss war unversehrt. Ob die Einbruchsspuren unten vielleicht gar nichts mit dem hier zu tun hatten? Andererseits hatten die Einbrecher es vielleicht eilig gehabt und wollten nicht zu lange am Schloss der Außentür herumspielen. Draußen konnte ja immer jemand vorbeikommen.

»Ragnar? Bist du da?« Simon bekam keine Antwort, also betrat er die Wohnung. Es war schnell klar, dass sein Freund weg war. Nicht einfach abwesend, sondern weg. Viele seiner Klamotten fehlten, im Bad standen keine Pflegeutensilien mehr und der Kleiderhaken im Flur war leer. Es sah aus, als wäre Ragnar einfach verreist, ohne vorher jemandem Bescheid zu geben. Aber wie war das möglich? Er hatte keinen Urlaub beantragt und niemandem erzählt, dass er wegwollte. Dann kam Simon in die Küche.

Der kleine Küchentisch war bis auf einen Briefumschlag leer.

Er ging näher heran und sah, dass sein Name darauf stand. Plötzlich hatte er ein ganz ungutes Gefühl. Hastig riss er ihn auf und begann zu lesen.

Simon, mein Freund,

ich schätze, du wirst derjenige sein, der diesen Brief findet. Du wunderst dich sicher, dass ich nicht zur Arbeit komme und nicht erreichbar bin. Leider kann ich dir nichts sagen, außer, dass wir uns nicht wiedersehen werden. Ich beende meine Arbeit für Palmer & Stark.

Bitte suche mich nicht und mach dir keine Vorwürfe. Du hast nichts falsch gemacht.

Es grüßt dich dein Freund Ragnar.

PS: Es tut mir wirklich leid.

Simon ließ den Zettel zu Boden fallen und setzte sich wie betäubt auf den einzigen Stuhl im Raum. Das ergab für ihn überhaupt keinen Sinn. Was sollte das denn heißen, ihn nicht suchen? Bedeutete das, Ragnar war abgetaucht? Was war dann mit Dawn? Sie würde er doch nicht auch verlassen. Aber erwähnt hatte er sie zumindest nicht. Was zur Hölle war in diesen Mann gefahren?

»Ragnar, ich verstehe dich nicht«, flüsterte er deprimiert.

***

»Es ist nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen, Frau Palmer«, erklärte die Sachbearbeiterin geduldig. »Eine Adoption ist keine Kleinigkeit, und nicht jedes Paar kommt automatisch in Frage.«

»Aber wir werden heiraten und zusammenziehen. Das ist alles bereits beschlossen. Und wir haben jetzt schon regelmäßig Umgang mit Abdul. Außer uns kennt er doch niemanden in Deutschland.« Sophie war entschlossen, zu kämpfen. Sie wollte diesem Jungen ein Zuhause geben, und keine Bürokratie der Welt würde sie aufhalten.

»Sie meinen, Sie haben regelmäßigen Umgang mit Abdul. Für Ihren zukünftigen Mann gilt das aber nicht.« Die Sachbearbeiterin blickte von der Akte auf und sah Sophie über den Brillenrand hinweg an. Der Blick hatte etwas eindeutig Tadelndes, was Sophie wütend machte. Sie durfte sich aber keinesfalls provozieren lassen, also schluckte sie den Ärger hinunter und zwang sich zu einem Lächeln.

»Nur, weil es nicht in den Akten steht, heißt das nicht, dass Herr Stark keinen Kontakt zu Abdul hat. Ich bin zwar diejenige, die ihn aus dem Heim abholt, aber Simon, also Herr Stark, stößt später immer zu uns, und dann unternehmen wir alles gemeinsam.«

»Das hätten Sie dokumentieren müssen. Wie soll ich sonst wissen, was der Fall ist und was nicht? Ich bitte Sie also, bis zu unserem nächsten Treffen genau darüber Buch zu führen, was Sie wann mit Abdul alleine unternehmen und was zusammen mit Ihrem Verlobten. Außerdem müssen wir ohnehin die Eheschließung und den Bezug Ihrer gemeinsamen Wohnung abwarten, um den Entscheidungsprozess weiterzuführen. Das wäre dann für heute alles. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch, Frau Palmer.«

Damit war für die Frau vom Jugendamt das Gespräch offenbar beendet, denn sie wendete sich wieder ihren Akten zu. Sophie schluckte ein paar saftige Erwiderungen hinunter und stand auf. Grußlos verließ sie das Büro und stapfte wütend durch die Behördenflure.

Zwei Minuten später stand sie vor dem Gebäude und kämpfte dagegen an, in Tränen auszubrechen. Niemand hatte ihr versprochen, dass es leicht werden würde.

»Reiß dich verdammt noch mal zusammen, Sophie Palmer«, ermahnte sie sich. Das half fürs Erste. Sophie nahm ihr Telefon aus der Handtasche und wählte Simons Nummer.

»Hallo Schatz. Ich komme gerade vom Amt. Du kennst das ja – verdammte Bürokraten. Nein, nichts Neues. Wir müssen nachweisen, dass wir uns zusammen um den Jungen kümmern, das war es dann an Neuigkeiten. Was? Wie meinst du das, weg? Wo ist er denn hin?«

Sophie hatte gedacht, sie hätte die deprimierendste Nachricht des Tages, doch was Simon ihr gerade erzählte, war um einiges niederschmetternder.

»Ist gut, lass uns bei mir zu Hause sprechen. Ja, ich fahre jetzt direkt hin. Wann kommst du? In zwei Stunden? Ja, das ist gut. Ich liebe dich.«

Sie beendete das Telefonat und musste sich erst einmal sammeln. Was war nur in Ragnar gefahren? Er konnte sich doch nicht einfach so absetzen und seine Freunde im Stich lassen.

Da muss etwas passiert sein, schoss es ihr durch den Kopf. Dawn wird wissen, was los ist.

Sophie überlegte. Wenn Simon in zwei Stunden bei ihr sein wollte, hatte sie jetzt noch Zeit, Dawn einen Besuch abzustatten und sie zu fragen, was um alles in der Welt in ihren Lover gefahren war.

***

Simon hatte es kaum zu hoffen gewagt, doch Dawn war tatsächlich zu Hause und sie öffnete ihm sogar die Haustür. Auch den Aufzug schickte sie ihm runter. Warum war sie dann nicht gleich ans Telefon gegangen? Simon hätte sich den Weg hierher dann sparen können.

Der Lift kündigte seine Ankunft durch einen dezenten Gongschlag an und die Tür glitt auf. Simon trippelte nervös von einem Fuß auf den anderen, während sich die Tür wieder schloss und der Fahrstuhl losfuhr. Er hatte tausend Fragen an Dawn. Sie musste etwas von Ragnars Plänen mitbekommen haben.

Die Hackerin wartete direkt vor der Kabine auf ihn. Als er ihren zerknirschten Blick sah, war er vollkommen sicher, dass er richtig lag. Sie hatte es gewusst. Er trat heraus und wollte gerade die Hand zur Begrüßung ausstrecken, als Dawn sich umdrehte und von ihm weg eilte. Simon kam es vor, als fliehe sie vor ihm, doch nach ein paar Schritten blieb sie schon wieder stehen und verharrte, wobei sie ihm weiterhin den Rücken zugewandt hatte.

Er räusperte sich. »Also schön, Dawn. Raus mit der Sprache. Ich sehe genau, dass du mir etwas zu beichten hast.«

Jetzt drehte sie sich langsam zu ihm um. Den Blick hielt sie gesenkt, aber dennoch konnte Simon erkennen, dass ihr Tränen über das Gesicht liefen. Anscheinend nahm sie Ragnars überraschendes Verschwinden noch tragischer als er. Das konnte nur bedeuten, dass er allein gegangen war – ohne sie mitzunehmen.

»Ja, es stimmt. Ich habe dir etwas zu sagen«, flüsterte sie mit zitternder Stimme. Simon trat an sie heran und legte einen Arm um ihre Schulter.

»Ist schon gut, Kleines. Ich weiß es schon. Du kannst ja nichts dafür. Ich will nur verstehen, warum.«

Dawn sah ihn an, und sofort war Simon klar, dass sie keine Ahnung hatte, wovon er sprach.

»Was weißt du? Du kannst es gar nicht wissen«, sagte sie. Simon war vollkommen verwirrt und dann bekam er Angst. Worauf wollte Dawn hinaus, wenn nicht auf Ragnar?

Er nahm seinen Arm wieder von ihr und trat einen Schritt zurück. Er musterte sie eindringlich und fragte schließlich mit trockenem Mund. »Was ist los, Dawn?«

Sie erwiderte seinen Blick und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Ich höre bei Palmer & Stark auf«, antwortete sie. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte die Treppe zu ihrem Computerzimmer hinauf. Sekunden später hörte Simon eine Tür knallen. Es folgte das Geräusch eines Schlüssels, der zweimal im Schloss umgedreht wurde. Dann herrschte Stille. Simon blieb völlig verstört zurück. Er stand für ein paar Minuten einfach nur da, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Dann schlurfte er mit hängenden Schultern zurück in den Fahrstuhl und fuhr hinunter.

Vor dem Haus orientierte er sich nach links und wäre beinahe mit Sophie zusammengestoßen, die im Laufschritt den Gehweg entlang rannte.

»Simon!«, rief sie überrascht und erschrocken zugleich. Er hielt sie fest und verhinderte, dass sie zu Boden stürzte. Er war mindestens so verblüfft, wie sie aussah.

»Was tust du hier?«, fragte er sie.

»Das frage ich dich«, entgegnete sie, und Simon sah ein, dass er keine Antwort bekommen würde, wenn er sich nicht als Erster erklärte.

»Ich wollte Dawn fragen, was mit Ragnar los ist. Sie hatte nicht auf meine Anrufe reagiert. Und du?«

»Ich auch«, antwortete Sophie mit perplexem Gesichtsausdruck. »War sie denn da?«

Simon nickte und machte ein trauriges Gesicht.

»Dann lass dir nicht alles aus der Nase ziehen«, drängte Sophie. »Was hat sie gesagt?«

»Dass sie auch raus ist«, flüsterte Simon.

***

»Ich finde das unheimlich«, sagte Sophie. Sie hatten sich in einen Schnellimbiss um die Ecke zurückgezogen, um zu reden.

»Vor allem schien sie von Ragnar gar nichts zu wissen«, stimmte Simon zu. »Ich bin zwar nicht dazu gekommen, sie zu fragen, aber ich bin sicher, sie hätte nicht nur von sich gesprochen, wenn sie ihn mit gemeint hätte.«

»Ich finde, wir sollten noch einmal zusammen zu ihr gehen. Sie ist doch unsere Freundin. Wenn sie in Schwierigkeiten ist, müssen wir ihr helfen«, sagte Sophie.

»Natürlich machen wir das. Ich brauche sie auch unbedingt für ein paar Ermittlungen«, stimmte Simon zu und biss sich gleich darauf auf die Lippe. Er wollte doch niemandem davon erzählen, bis er mehr wusste. Natürlich war Sophie sofort ganz Ohr.

»Was für Ermittlungen?«, fragte sie scharf. »Ich weiß nichts von einem neuen Auftrag. Worum geht es?«

»Ach, vermutlich gar nichts«, wiegelte Simon ab. »Ist noch gar nicht spruchreif, und Martinus will sowieso, dass wir uns raushalten.«

»Martinus? Warum redet er mit dir und nicht mit mir?« Simon gratulierte sich im Stillen dazu, sich noch weiter in den Schlamassel geredet zu haben.

»Also gut, du Quälgeist, du wirst sowieso keine Ruhe geben.«

Simon erzählte ihr von Martinus’ Besuch und seiner Bitte an ihn, einen Blick auf die Bombentrümmer zu werfen, wenn sie geborgen wären. Von seinem Besuch des Tatortes sagte er vorsichtshalber nichts.

»Und wozu brauchst du dann Dawn?«

Ihre Cleverness war einer der Gründe, weshalb er diese Frau liebte. Allerdings konnte diese Eigenschaft auch sehr lästig sein, wenn man versuchte, ihr etwas vorzumachen.

»Also, das ist so … ja, na ja, weißt du …«, stotterte er, während er verzweifelt über eine glaubhafte Ausflucht nachdachte. Tatsächlich fiel ihm in letzter Sekunde noch etwas ein. »Sie sollte mir helfen, das Internet nach Bombenbauplänen zu durchsuchen und die dann mit dem Sprengsatz zu vergleichen, der am Dammtor benutzt wurde.«

Sophie sollte nicht wissen, dass er mit Dawns Hilfe direkt in die Ermittlung einsteigen wollte, statt nur die Bombe für Martinus zu begutachten.

Das schien ihr einzuleuchten, denn sie nickte zustimmend.

»Ja, das wäre auf jeden Fall eine gute Idee gewesen. Vielleicht können wir sie ja noch umstimmen. Aber ich denke, für heute lassen wir es gut sein.«

»Finde ich auch«, stimmte Simon zu.

»Wir haben ja jetzt schon geredet«, wechselte Sophie das Thema. »Wäre es OK für dich, wenn ich dann gleich noch mal bei Abdul vorbeifahre? Wir können uns dann ja heute Abend sehen.«

Simon lächelte und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. »Na sicher, lauf schon los. Der Kleine soll sich doch an seine zukünftige Mama gewöhnen.«

»Willst du nicht mitkommen?«, fragte sie. »Die Schrulle vom Amt würde sich freuen. Ich kann das auch dokumentieren«, sagte sie und zog lachend eines der Formulare aus der Handtasche, die ihr die Sachbearbeiterin mitgegeben hatte.

»Morgen gehen wir zusammen«, versprach Simon. »Ich warte zu Hause auf den Anruf von Martinus. Allmählich sollten sie die Bombensplitter ja alle zusammen haben.«

***

»Was ist denn mit dir passiert?«

Sophie strich dem kleinen Abdul fassungslos über das schwarze Haar. An einer Stelle links oben am Kopf klaffte eine Lücke, als habe jemand mit einem elektrischen Langhaarschneider an ihm herumgemacht.

Abdul sah sie nur aus seinen unergründlichen, braunen Augen an. Er redete immer noch nicht, und wenn er nicht bald bei Martina, Sophies alter Freundin, in psychologische Betreuung käme, würde er vermutlich nie damit anfangen. Das Jugendamt hatte es immer noch nicht geschafft, ihm eine Therapie zu besorgen, sträubte sich aber gleichzeitig dagegen, Sophies und Simons Vorschlag auch nur in Erwägung zu ziehen.

»Eines Tages werde ich dich sprechen hören, mein Kleiner«, sagte sie liebevoll und strich noch einmal nachdenklich über die kahle Stelle an seinem Kopf.

»Frau Palmer, schön, dass Sie schon wieder hier sind«, erklang die Stimme von Abduls Betreuer Martin. »Die wenigsten Kinder bekommen so häufig Besuch wie Abdul«, schob er hinterher. »Heute schon zwei Mal. Das macht die anderen Kinder richtig neidisch.«

Sophie war alarmiert. »Was meinen Sie mit zwei Mal? Wer war denn noch hier?«

»Ein Bekannter von Ihnen, Frau Palmer. Er war aber nur ganz kurz da. Ist nach fünf Minuten wieder verschwunden.«

»Wer war das?«, fragte sie scharf. »Ich weiß von keinem Bekannten, der Abdul besuchen wollte. Warum lassen Sie Fremde zu ihm?«

Martin hob abwehrend die Hände. »Hey, ich weiß es doch auch nicht. Es stand im Schichtbuch, als ich kam. Meine Kollegin, die ich abgelöst habe, hat den Besuch protokolliert. Die müssen Sie fragen, nicht mich.«

Sophie fasste es nicht. Das war in ihren Augen der Gipfel der Schlamperei. »Wo finde ich diese Kollegin?«, wollte sie wissen.

»Sie hat Feierabend. Ihre Adresse kenne ich nicht. Wenn Sie morgen Vormittag wiederkommen, können Sie die Dame hier direkt fragen.«

Sophie ließ es gut sein. Sie hatte nicht vor, sich ausgerechnet mit Martin zu streiten. Er hatte als einer der Wenigen einen guten Draht zu Abdul. Sophie war froh, dass er hier arbeitete. Die Kollegin würde sie sich morgen zur Brust nehmen.

Sie spielte noch eine halbe Stunde im Spielzimmer mit Abdul und verabschiedete sich dann schweren Herzens bis zum nächsten Tag. »Bis morgen, mein Sonnenschein. Du bist das Allerwichtigste auf der Welt für mich. Für dich tue ich einfach alles.«

***

Sophie schloss ihre Wohnungstür auf und schaute als Erstes auf die Wanduhr, die im Flur hing. Bis Simon kam, hatte sie noch eine halbe Stunde Zeit, die sie zum Aufräumen nutzen konnte. Sie fing im Schlafzimmer an und schüttelte die Bettdecken auf. Wenn Simon über Nacht blieb, sollte es in diesem Raum wenigstens ordentlich und gemütlich sein. Sie entschied sich spontan, noch zwei Duftkerzen aufzustellen und Streichhölzer daneben zu legen. So konnte sie später im Handumdrehen eine romantische Atmosphäre schaffen.

Der Geschirrspüler in der Küche war schnell ausgeräumt, und im Wohnzimmer war so weit alles in Ordnung. Weil es draußen schon dunkel war, beschloss sie, die Rollläden auch hier herunterzulassen. Im Schlafzimmer hatte sie das bereits erledigt.

Sie trat an die Balkontür heran, neben der sich der Schalter für die Jalousie des nächstgelegenen Fensters befand, und stutzte.

»Was ist das denn?«

Von außen klebte ein großer, brauner Briefumschlag an der Scheibe der Balkontür. Sophie runzelte die Stirn.

Sie öffnete sie die Tür und löste ihn von der Scheibe. Ohne Umschweife riss sie ihn auf und spähte hinein. Da es auf dem Balkon schon zu dunkel war, um etwas zu erkennen, nahm sie ihn mit hinein und setzte sich damit an den Esstisch. Sophie drehte den Umschlag mit der Öffnung nach unten und schüttete den Inhalt auf die Tischplatte. Heraus fielen zwei Bögen aus Pappe. Der eine war in schmuckloser Computerschrift beschrieben und auf dem anderen war etwas mit Klebeband befestigt, das Sophie nicht sofort zuordnen konnte. Bei näherem Hinsehen erkannte sie jedoch, dass es sich um eine Haarsträhne handelte – eine schwarze.

Sophie verkrampfte sich sofort der Magen. »Abdul, wer hat dir das angetan?«, flüsterte sie erschrocken und befühlte das ihr so vertraute Haar zärtlich. Sie wusste, dass sie nur die Nachricht lesen musste, die auf dem anderen Karton stand, um zu erfahren, was das bedeutete, aber sie fürchtete sich davor.

Sie würde einfach auf Simon warten. Er konnte das genauso gut lesen wie sie.

Das hältst du nicht durch, flüsterte ihr Verstand, und damit hatte er leider recht. Sophie spürte genau, dass sie es nicht schaffen würde, den Brief noch länger zu ignorieren. Vielleicht blieb ihr gar keine Zeit mehr, um etwas viel Schlimmeres zu verhindern, als den Raub einiger Haare.

Sophie erschrak über sich selbst. War sie denn verrückt geworden, die Augen zu verschließen, obwohl Abdul in Gefahr sein konnte?

Sie nahm die Botschaft zur Hand und las.

***

Sophie las die Nachricht jetzt zum vierten Mal und konnte immer noch nicht glauben, dass sie wirklich ernst gemeint war.

Sie fragen sich, was mit dem Haar des kleinen Abdul passiert ist? Nun, Sie halten es in Ihren Händen.

Wer ich bin? Das spielt für Sie keine Rolle. Alles, was Sie verstehen müssen ist: Ich komme jederzeit an den Jungen ran. Ich hätte ihm auch ein Ohr nehmen können oder einen Finger, aber ich bin kein sadistischer Irrer.

Was mich zu dem bringt, was ich von Ihnen verlange: Verlassen Sie Simon Stark. Brechen Sie auf allen Ebenen mit ihm. Lösen Sie die Agentur Palmer & Stark auf und verschwinden Sie dahin, wo er Sie nicht findet. Telefonieren Sie nicht mit ihm, schicken Sie ihm keine E-Mails und zeigen Sie ihm vor allem nicht diesen Brief.

Nehmen Sie auch zu keinem Ihrer Freunde Kontakt auf. Sprechen Sie mit einem aus der Firma, stirbt derjenige.

Wenn Sie alles tun, was ich verlange, geschieht Abdul nichts. Ich beobachte Sie und sehe alles. Glauben Sie es lieber. Verstoßen Sie gegen eine meiner Forderungen, hole ich mir den Jungen. Und dann bekommen Sie ihn zurück – Stück für Stück.

Sie sind ein kluges Mädchen, deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass Sie alles ganz genau verstanden haben. Seien Sie ab jetzt auch ein braves Mädchen, dann hören Sie nie wieder von mir.

Andernfalls … nun, Sie wissen es.

 

Der Brief war nicht unterschrieben und offenbar mit einem herkömmlichen Drucker hergestellt worden.

Das ist ein Scherz. Bloß ein kranker, perverser Witz.

Doch Sophie wusste tief in ihrem Herzen, dass es ernst war. In ihrem Kopf lief wieder und wieder die ewig gleiche Schleife aus Schreckensbildern, verzweifelten Fragen und wirren Gedanken ab.

Was sollte sie tun? Sie konnte doch nicht den Mann verlassen, den sie liebte. Er würde daran zerbrechen und sie auch. Aber noch schlimmer war, dass sie dann auch Abdul aufgeben musste. Sie allein würde ihn niemals bekommen. Also wie, um alles in der Welt, sollte sie auch nur in Erwägung ziehen, diesem Irren zu gehorchen? Was glaubte er denn, wer er war?

Du bist egoistisch. Bleibe stur und du bekommst vielleicht einen Ehemann und einen Sohn. Aber kannst du auch damit leben, wenn dann wirklich passiert, was dieser Brief androht?

Sophie verfluchte die Stimme der Vernunft in ihrem Kopf. Sie wollte nichts davon hören.

Du musst ihn aufgeben, um ihn zu beschützen.

»Neiiiin«, schrie sie schrill und schlug sich mit beiden Fäusten gegen die Schläfen, als könne sie die Stimme dadurch zum Schweigen bringen und die Wahrheit ändern, die sie aussprach.

Dann plötzlich lief es ihr eiskalt den Rücken herunter.

Simon. Er ist schon auf dem Weg hierher.

Ein Teil von ihr wünschte sich, dass es genau jetzt an der Tür klingeln würde. Wenn Simon schon hier wäre, gäbe es die Möglichkeit nicht mehr, ihn zu hintergehen. Er würde sehen, dass mit ihr etwas nicht stimmte, und herausbekommen, was es war. Und dann würde er tun, was er am besten konnte – sie beschützen und die Monster zur Strecke bringen, die ihr diese höllische Angst einjagten.

Dann fiel ihr Blick wieder auf den Papierbogen mit der schwarzen Haarsträhne und für eine Sekunde glaubte sie, blutige Haut daran kleben zu sehen. Dann war die Vision wieder weg, aber die Botschaft war klar. Sie musste hier fort, bevor Simon da war. Später konnte sie wiederkommen, doch jetzt durfte sie nicht hierbleiben.

 

***

Martinus hatte tatsächlich angerufen. Simon hörte den Anrufbeantworter ab und fragte sich, warum der Mann vom Verfassungsschutz dem Festnetz immer noch mehr vertraute als dem Mobilfunk. Vermutlich gefiel Martinus die Idee einfach nicht, seine Nachrichten irgendeinem Server anzuvertrauen, statt sie auf ein Gerät zu sprechen, das nur der Besitzer abhören konnte. Jedenfalls war Martinus entzückt gewesen, als er in Simons Wohnung damals den analogen Anrufbeantworter entdeckt hatte. Seither rief der Agent ihn nur noch dann auf dem Handy an, wenn es gar nicht anders ging.

Die Untersuchung des Anschlagsortes war abgeschlossen und Simon sollte vorbeikommen, sobald er Zeit fände, um die Bombenfragmente in Augenschein zu nehmen, die sie gefunden hatten.

Er sah auf die Uhr und entschied, den Besuch in der Kriminaltechnik auf morgen zu verschieben. Martinus selbst war um diese Zeit sicher schon längst zu Hause, und außerdem war er mit Sophie verabredet.

Beim Gedanken an einen gemütlichen Abend und möglicherweise eine heiße Nacht mit seiner Geliebten machte sich ein wohliges Gefühl in seinem Bauch breit. Er merkte, dass er lächelte, und wusste, dass er dabei vermutlich wie ein grinsender Idiot aussah. Er checkte den Ladezustand seiner Beinprothesen und entschied, neue Brennstoffzellen einzusetzen. Als er die Entsorgungseinheit anschloss, um die toxischen Abfallprodukte der alten Zellen aufzunehmen, kam ihm ein beunruhigender Gedanke. Was, wenn Ragnar wirklich nicht wiederkam? Woher sollte er dann Nachschub bekommen? Diese Zellen konnte man nicht einfach irgendwo kaufen. Ragnar hatte sie zusammen mit den Hightech-Prothesen entwickelt. Und wo er schon mal bei dem Thema war – wer würde seine Beine von jetzt an warten und reparieren? Er konnte damit nicht einfach ins nächste Sanitätsgeschäft gehen, und wo Ragnar das machte, wusste er nicht. Sicher gab es Ressourcen, auf die er zugreifen konnte - Labore, Werkstätten, Spezialmaschinen - aber jemand wie Ragnar behielt solche Dinge für sich.

Seiner gerade noch blendenden Laune versetzte das einen empfindlichen Tiefschlag. Nachdem er ein paar Minuten über düsteren Gedanken gebrütet hatte, riss er sich zusammen. Da er heute nichts mehr ändern konnte, würde er sich auch nicht den Abend davon verderben lassen.

»Schluss jetzt, Simon! Heute ist heute«, ermahnte er sich streng. Dann erledigte er den Batteriewechsel, wie er ihn nannte, routiniert und zog sich danach um. Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel zeigte ihm erstens, dass er gut aussah, und zweitens, dass das dämliche, entrückte Grinsen bereits zurückkehrte. Sofort wischte er es sich aus dem Gesicht und setzte einen finsteren Blick auf. »Kein Honigkuchenpferd, Soldat. Wir wollen da draußen doch nicht unangenehm auffallen.«

Er hielt genau drei Sekunden durch. Dann blinzelte er seinem Spiegelbild verschmitzt zu und wandte sich ab. Das Grinsen würde ohnehin wiederkommen – kein Grund, sich das auch noch anzuschauen.

***

Nachdem Simon zum dritten Mal geklingelt hatte, war er sicher, dass Sophie tatsächlich noch nicht zu Hause war. Sie konnte sich natürlich mal wieder nicht von Abdul losreißen, dachte Simon und kramte in seiner Jackentasche nach dem Wohnungsschlüssel. Beide hatten schon lange Schlüssel zur Wohnung des jeweils anderen, aber Simon zog es immer noch vor, nicht völlig unvermittelt in Sophies Privatsphäre hineinzuplatzen.

Er hatte allerdings auch keine Lust, noch länger im Treppenhaus herumzustehen. Sophie hätte ohnehin nichts dagegen, denn anders als er hatte sie keinerlei Hemmungen, ihren Schlüssel zu Simons Wohnung zu benutzen.

Wir werden heiraten, da solltest du keine Angst haben, mich bei irgendwas zu überraschen, Simon. Wenn wir erst zusammenwohnen, wird es nicht lange dauern, bis wir sogar die Klotür offenlassen, wenn wir drauf sitzen, hatte Sophie erwidert, als er ihr versprochen hatte, den Schlüssel nur in Ausnahmefällen zu benutzen.

Also schloss er auf und trat ein. Sofort umfing ihn dieses Gefühl der Nähe und Geborgenheit, das ihm Sophie immer gab, wenn sie bei ihm war. Hier, in ihrem Zuhause, musste sie dafür nicht einmal anwesend sein.

Da war dieser spezielle Geruch, den ihre Kleidung verströmte. Simon wusste, welches Waschmittel und welchen Weichspüler sie benutzte, aber er war sicher, dass keine andere Frau genau wie Sophie riechen würde, wenn sie das gleiche verwendete. Ein guter Teil dieses Duftes musste von ihr selbst kommen. Simon hängte seine Jacke auf und stellte seine Schuhe auf den Feudel hinter der Tür. Dann ging er durch den Flur und warf einen sehnsüchtigen Blick ins Schlafzimmer.

Die heruntergelassenen Jalousien und die aufgestellten Kerzen versprachen eine Nacht ganz nach seinen Wünschen. Er lächelte und ging in die Küche.

Bis Sophie kam, konnte er sich noch kurz ein Brot schmieren und ein Glas Wasser trinken. Als er beides hatte, ging er damit ins Wohnzimmer und setzte sich auf das kleine Sofa. Die Kissen darauf dufteten auch nach ihr. Simon ließ sich zur Seite kippen und bette seinen Kopf auf eines davon.

Dann merkte er, dass er viel erschöpfter war, als er gedacht hatte. So ein freier Tag signalisierte dem Körper, dass er sich jetzt holen konnte, was er sonst nicht ausreichend bekam – Schlaf.

»Weck mich, wenn du zu Hause bist, Sophie«, flüsterte er schläfrig.

Zwei Minuten später war er im Reich der Träume.