Kapitel 4
Nächster Tag
***
Simon öffnete die Augen und kniff sie sofort wieder zu. Ein grelles Licht hatte ihn geblendet. Unwillig knurrend richtete er sich auf und saß ein paar Sekunden mit hängenden Schultern und leerem Kopf einfach nur da.
Als er sich langsam wieder daran erinnerte, wo er überhaupt war, sah er auf und stellte fest, dass er offenbar die ganze Nacht verschlafen hatte. Auf die Stelle, an der eben noch sein Kopf auf dem Kissen gelegen hatte, fiel jetzt ein Lichtstrahl. Die Sonne schien draußen, und nur die Balkontür gewährte ihren Strahlen Einlass, weil vor allen anderen Fenstern die Jalousien heruntergelassen waren.
»Warum hast du mich nicht geweckt?«, rief Simon beleidigt. Er ging davon aus, dass Sophie nach Hause gekommen war, ihn schlafend vorgefunden hatte und selbst ins Bett gegangen war. Sie hätte ihn ruhig zu sich holen können, dachte er.
»Sophie?«
Die antwortete nicht. Das wurde ja immer schöner. Simons Laune sank weiter.
»Schläfst du noch oder bist du beleidigt und sprichst nicht mehr mit mir?«
Da Sophie es weiterhin vorzog, zu schweigen, rappelte Simon sich mühsam auf, um im Schlafzimmer nach ihr zu sehen und ein bisschen Schönwetter zu verbreiten. Sie war sicher enttäuscht gewesen, ihn selig schlummernd in Klamotten auf der Couch vorzufinden, statt nackt in ihrem Bett.
»Wer schmollt denn da im Dunkeln?«, flötete Simon, als er die angelehnte Tür zum Schlafzimmer sanft aufstieß.
Als er sah, dass das Bett leer war, konnte er zuerst nicht begreifen, was los war. Simon schüttelte sich und ging zum Bad. Natürlich, sie musste unter der Dusche stehen oder auf dem Klo sitzen. Nur leider schien kein Licht unter der Badezimmertür hindurch. Es war offensichtlich, dass Sophie nicht da war. Trotzdem klopfte Simon eigensinnig gegen die Tür. »Duschst du? Sophie? Sophie!«
Er drückte die Klinke hinunter und sprang ins Bad. Sie musste da drin sein. Das gelöschte Licht war nur ein Spaß – ganz bestimmt.
Auch leer.
Sofort kamen ihm Ragnar und Dawn in den Sinn. Sollte Sophie etwa auch …?«
Nein, das war nicht denkbar. Sophie würde ihn niemals hängen lassen.
»Ihr muss was passiert sein«, rief Simon aufgeregt, als gäbe es jemanden, dem er das mitteilen musste. Aufgeregt hetzte er zur Garderobe und holte sein Handy aus der Jackentasche.
»Au Kacke«, fluchte er, als sich herausstellte, dass der Akku bei gerade noch drei Prozent stand. Er konnte nur beten, dass der Saft noch für ein Telefonat reichte. Simon rief seine Kontakte auf und klickte auf Sophies Eintrag. Der Anrufaufbau hatte gerade begonnen, als sich das Telefon einfach abschaltete.
»Nein, komm schon, du Scheißding«, schrie er es an, doch natürlich ließ sich das Gerät nicht erweichen. Es war und blieb tot.
Wenn Sophie nicht hier war, wo konnte sie sein?
»Die Agentur«, rief er und warf sich in Rekordzeit in Jacke und Schuhe. Sekunden später stürzte er schon die Treppen hinunter.
***
Niemand war im Büro. Simon eilte wieder nach vorne zum Empfangstresen von Hilfebus e.V., Sophies anderem Projekt, mit dem Palmer & Stark sich eine Büroetage teilte. Heute saß ein neuer Freiwilliger vorn, den Simon bisher noch nicht kennengelernt hatte.
»Hallo, ich bin Simon Stark, Sophie Palmers Partner bei Palmer & Stark. War sie heute schon hier?«
Der junge Mann sah ihn mit großen Augen an. »Wer?«
»Lemmy Kilmister. Meine Güte, Sophie Palmer natürlich – Ihre Chefin!«
»Äh, war noch nicht hier, heute. Warum?«
Simon verlor langsam die Geduld. »Weil – ich – sie – suche!«, schrie er lauter als beabsichtigt. Dann winkte er genervt ab und stürmte wieder zur Tür.
»Und wer ist dieser Kilmister?«, rief ihm der begriffsstutzige Freiwillige noch hinterher, doch das ignorierte Simon. Er gab seinen Prothesen die Sporen und flog die Treppen geradezu hinunter. Draußen rannte er noch knappe zweihundert Meter wie von Sinnen weiter, ehe er sich besann und langsam austrudelte. Er wusste ja nicht mal, wohin er wollte.
»Erst Ragnar, dann Dawn und jetzt Sophie. Wo seid ihr alle hin? Was macht ihr mit mir?«, flüsterte er.
***
»Hey, Bruderherz, da bist du ja«, rief Cem gut gelaunt und winkte Mehmet schon von weitem zu.
Ihre kleine Schwester würde bald heiraten. Mehmet war deswegen seit Wochen schon ganz aus dem Häuschen, denn wenn er etwas liebte, waren das erstens seine Geschwister und zweitens türkische Hochzeiten. Heute hatten sich die vier Brüder Mehmet, Cem, Hakan, und Orhan verabredet, um zu shoppen. Jeder brauchte einen neuen Anzug und dazu passend ein Paar elegante Schuhe.
»Ich bin nicht zu spät. Ihr seid alle zu früh«, sagte Mehmet lachend, als er die anderen nacheinander umarmte.
»Aber nur fünf Minuten, das zählt nicht«, entgegnete Cem und lachte ebenfalls.
»Arzu wünscht sich vier stattliche, gut gekleidete Männer auf ihren Hochzeitsfotos. Also let´s suite up, Jungs«, rief Orhan, Mehmets jüngster Bruder, gutgelaunt.
Die nächsten drei Stunden verbrachten die jungen Männer mit Shopping. Die größten Schwierigkeiten, einen passenden Anzug zu finden, hatte Mehmet. Er war kein Anzug-Typ und hatte an jedem Modell etwas auszusetzen.
»Ich sehe aus wie ein Pinguin, Jungs. Das könnt ihr mir nicht antun.« Er sah sich unglücklich im Spiegel an und seufzte. Seine Brüder rollten derweil genervt mit den Augen. Schließlich sprach Cem als Ältester der vier ein Machtwort.
»Du nimmst den jetzt, oder du gehst nackt. Kannst es dir aussuchen. Meine Güte, da ist es ja leichter, mit unserer vierzehnjährigen Cousine und zehn ihrer Freundinnen einkaufen zu gehen.«
Hakan und Orhan stimmten lebhaft zu.
»Also schön«, lenkte Mehmet ein. »Wenn ihr meint, dass das so geht.«
»Ja, meinen wir«, kam es dreistimmig zurück.
Zwanzig Minuten später saßen die Brüder erschöpft, aber zufrieden beim Mittagessen in einem türkischen Restaurant am Altonaer Bahnhof. Sie tranken Tee und waren mittlerweile bei den Nachspeisen angekommen.
»Das war ein guter Tag für die Familie«, rief Cem und prostete seinen Brüdern mit dem Teeglas zu. Alle hatten prall gefüllte Einkaufstüten mit neuen Schuhen, Utensilien für die Feier, die sie spontan ausgesucht hatten und noch ein paar andere Einkäufe, die vorher nicht geplant gewesen waren, unter den Stühlen stehen. Ihre Anzüge hatte der Chef des Hauses an sich genommen und sie in seiner Wohnung direkt über dem Restaurant säuberlich aufgehängt. Man kannte sich und man half sich. So war das hier im Viertel.
»Macht mir keine Schande, ihr Welpen. Ich gehe mal für türkische Tiger«, sagte Cem und erhob sich von seinem Stuhl.
»Türkische Tiger gibt es nicht«, lästerte Orhan vorlaut.
»Meinst du, das weiß ich nicht? Aber wenn es türkische Tiger geben würde, wären es die allerstärksten und edelsten Tiger. Kapiert?«
Die drei jüngeren Geschwister warfen sich amüsierte Blicke zu, während Cem so würdevoll davonstolzierte, wie er konnte.
Manchmal war Cem das, was man einen türkischen Macho nennen mochte, aber seine Brüder verehrten ihn – auch Mehmet.
Nach fünf Minuten begann Mehmet, sich zu wundern. Nach zehn Minuten machte er sich Sorgen. Orhan und Hakan waren in ein Gespräch über Fußball vertieft und bekamen von Cems ungewöhnlich langer Abwesenheit nichts mit.
»Wo gehst du hin?«, fragte Hakan, ohne wirklich interessiert zu wirken, als Mehmet aufstand.
»Nur mal sehen, wo Cem steckt. Nicht, dass ihm das Essen nicht bekommen ist.«
Mehmet durchquerte das Restaurant und musste dabei mehrmals anhalten, weil an einigen Tischen Bekannte von ihm saßen. Hier im Altonaer Kiez kannte man sich innerhalb der türkischen Community, wenngleich der Zusammenhalt früher noch wesentlich stärker gewesen war. Als er die Tür öffnete, kam ihm ein Mann entgegen, der ihn ziemlich rüde beiseite drängte.
»He, pass doch auf, Alter«, rief Mehmet wütend, doch der Typ hielt den Kopf gesenkt und reagierte nicht. Er eilte einfach weiter und verschwand in Richtung Ausgang, wo Mehmet ihn aus den Augen verlor.
»Idiot«, brummte Mehmet und schüttelte den Kopf. Dann betrat er endlich den Sanitärbereich und schaute sich um. An den Pissoirs stand Cem schon mal nicht, also musste er in einer der Kabinen sein.
»Cem? Wo steckst du? Bist du reingefallen?«
Keine Antwort.
Jetzt machte Mehmet sich wirklich Sorgen. Insgesamt gab es nur fünf Kabinen. Geschlossen war nur eine davon, und bei der war die Tür lediglich zugezogen, aber nicht von innen verriegelt worden. Zaghaft klopfte Mehmet an diese Tür. Wieder gab es keine Reaktion. Mit einem Kloß im Hals und Schweiß auf der Stirn drückte er schließlich die Klinke hinunter und versuchte, die Tür zu öffnen. Doch nachdem sie ein kleines Stück aufgegangen war, stieß sie gegen ein Hindernis und ließ sich nicht weiter aufdrücken.
»Cem, was …« Mehmet warf sich gegen die Tür, doch es ging nicht. Jetzt erst kam er auf die Idee, durch den entstandenen Spalt einen Blick in die Kabine zu werfen. Er wollte es gerade tun, als er unter der Tür Blut hindurchsickern sah.
Das ist kein Blut. Nein, kann nicht sein. Mehmet wollte sich selbst überzeugen, dass alles nicht so war, wie es schien, doch der Blick durch den Türspalt machte diese Hoffnung schlagartig zunichte. Cem lag zusammengekrümmt vor der Toilettenschüssel und rührte sich nicht. Seinen Kopf konnte Mehmet nicht sehen, weil sein Bruder mit den Füßen zur türabgewandten Seite lag und der Oberkörper somit von der Tür verdeckt wurde.
Mehmet verlor fast den Verstand und verfiel in Panik. Immer wieder warf er sich jetzt gegen die Tür, ohne darauf zu achten, dass er seinem Bruder damit die Beine hätte brechen oder ihn sonst wie verletzen können. Dabei schrie er immer wieder, »Hilfe, so helft mir doch. Hilfe!«
Sekunden später stürzten die ersten Leute, alarmiert von Mehmets Schreien, in den Raum. Es war schließlich der Restaurantchef, der ihn von hinten an den Schultern packte und von der Tür wegzog. Einer der Kellner spähte derweil ins Innere der Kabine und sah, was los war.
»Da liegt einer drin, Chef«, schrie er aufgeregt.
»Tür aushebeln«, befahl dieser daraufhin. Gleich darauf machten sich der erste Kellner und ein weiterer seiner Kollegen daran, die Tür aus den Angeln zu heben. Zwei andere hielten Mehmet fest, der tobte und schrie. Mittlerweile waren auch Orhan und Hakan da, doch der Chef des Hauses war umsichtig genug, zwei weitere Bedienungen anzuweisen, die beiden nicht hineinzulassen.
»Ruft einen Krankenwagen!«, brüllte der Mann, der als Erster bei Cem war und seinen Puls fühlte. »Den hat einer abgestochen. So eine Sauerei.«
Mehmet versuchte immer noch, sich zu befreien und zu seinem großen Bruder zu gelangen, doch seine Kräfte verließen ihn. Aus seinem Schreien wurde ein heiseres Krächzen, seine Beine sackten weg und sein ganzer Körper fühlte sich plötzlich an, als hingen zentnerschwere Säcke daran. Das Schreien seiner Brüder nahm er immer weniger wahr. Alles drehte sich jetzt, und er begriff noch, dass Cem tot war, ehe er endgültig wegtrat.
***
Auch diese Botschaft war überbracht. Wenn er erst mal in Fahrt war und begonnen hatte, eine To-Do Liste abzuarbeiten, war Kolb nicht zu stoppen. Das Messer, das er bereits an der Kleidung des Türken gründlich abgewischt hatte, trug er, in ein Handtuch gewickelt, im Hosenbund bei sich. Nachdem er aus dem Restaurant raus war, hielt er sich rechts und mischte sich unter die Reisenden am Bahnhof. Gerade wurde ein Autozug nach Zürich beladen. Dazu war ein Teil der Fernbahnplattform für die Autos und Motorräder abgesperrt, die nacheinander auf die Waggons gefahren wurden. Dadurch entstand zwischen dem Bahnhofseingang und den weiter hinten gelegenen Bahnsteigen auf Höhe des Zeitungsladens ein Engpass, in dem sich die Leute drängelten.
Kolb tauchte in die Menge ein und hielt seinen Kopf die ganze Zeit weiterhin gesenkt. Bahnhöfe waren wegen der dort nahezu lückenlosen Kameraüberwachung ein Alptraum für jeden, der anonym bleiben musste, aber wenn man genau wusste, welches Objektiv wohin zeigte, konnte man sich dennoch wie ein Phantom hindurchbewegen. Als er das Gebäude auf der anderen Seite verließ und in die sich anschließende Fußgängerzone verschwand, waren seine Spuren so gut wie verwischt. Das Messer würde er nicht entsorgen wie irgendein Amateur, der nach seiner Tat in Panik verfiel. Wozu auch? Niemand kannte ihn oder wusste auch nur, dass er im Land war. Im Zusammenhang mit dem Toten würde nichts in seine Richtung deuten. Die Tatwaffe irgendwo wegzuwerfen, konnte ihm nur schaden. Irgendjemand fand irgendwann alles. Was nicht in fremde Hände gelangen durfte, behielt man also besser bei sich.
Nach weiteren zwanzig Minuten erreichte er sein Auto. Er stieg ein, drehte den Zündschlüssel und klappte die Sonnenblende vor sich herunter.
Auf die Innenseite hatte er ein Foto geklebt. Es zeigte Simon Stark. Auf diesem Bild grinste er noch. Er hielt seine Schlampe im Arm und winkte ausgelassen in die Kamera, während sie vor einem mit Girlanden geschmückten Firmenschild posierten. Palmer & Stark stand darauf. Kolb hatte es bei diesem Ragnar mitgehen lassen, der davon noch einen ganzen Haufen in seiner Kommode im Schlafzimmer hatte.
»Bald grinst du nicht mehr, Kamerad«, flüsterte er.
***
Mehmet erwachte aus seiner Bewusstlosigkeit, als er gerade auf einer Trage in einen Krankenwagen bugsiert wurde.
»Lasst mich raus hier«, schrie er und richtete sich auf. Ein Sanitäter versuchte, ihn zu beruhigen und ihn sanft zurück auf die Liege zu drücken, doch Mehmet war nicht zu stoppen.
»Finger weg, Mann. Wo ist Cem? Was ist mit ihm?«
Weil er keine Antwort bekam, sprang er auf und stürmte aus dem Rettungswagen hinaus.
Vor dem Restaurant sah er seine Brüder mit zwei Polizisten sprechen. Beide sahen genauso mitgenommen aus, wie er sich fühlte. Er rannte zu ihnen und drängte die Polizisten zur Seite. Alle drei fielen sich weinend in die Arme und gaben sich gegenseitig Halt.
Wie hatte dieser schöne Tag nur eine so unheilvolle Wendung nehmen können? Mehmet schwor sich, den, der das getan hatte, zur Strecke zu bringen.
»Ich bringe ihn um«, schluchzte er Hakan ins Ohr. »Ich habe mächtige Freunde, du wirst schon sehen.«
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»Nicht mehr lange, und die Weihnachtsmärkte machen wieder auf«, sagte Frieder gut gelaunt zu seiner Kommilitonin, neben die er sich in der Mensa gesetzt hatte. Statt zu antworten, sah sie ihn an, als hätte er ihr vorgeschlagen, für eine kurze Nummer aufs Klo zu verschwinden.
»Sehe ich aus, als würde ich mich mit dir unterhalten wollen?«, fuhr sie ihn an.
Frieder zuckte schuldbewusst zusammen und nuschelte: »Tschuldigung, ich wollte nicht …«
»Nee, wollen sie alle nicht«, keifte die junge Frau. »Was sind wir denn für euch? Freiwild? Könnt ihr Testosteronaffen immer nur ans Ficken denken?«
Jetzt wurde es Frieder zu viel. Er legte das Besteck zur Seite und stand demonstrativ auf. »Du solltest dich mal zu einer Gesprächstherapie durchringen. Wer immer gleich ans Ficken denkt, hat meiner Meinung nach ein ernstes Problem.«
Damit wendete er sich ab und ließ sie sitzen. Was machte er nur immer falsch mit den Frauen? Wenn er wirklich was von ihnen wollte, ignorierten sie ihn oder wollten eine platonische Freundschaft, und wenn er lediglich Smalltalk beabsichtigte, unterstellten sie ihm sowas wie diese Furie gerade eben.
»Leckt mich doch alle am Arsch«, zischte er frustriert und marschierte aus dem Gebäude. Auf dem Campus herrschte reges Treiben, aber Frieder hatte keine Augen dafür. Die Uni war toll – die Leute, die hier rumliefen, weniger. Frieder hatte mit den meisten von denen nichts gemein. Sie sahen ihn als Streber, Sonderling, Nerd oder Idioten. Er hätte sich höchstens mit den wirklichen Sonderlingen, Nerds und Idioten zusammentun können, aber da gab es ein Problem – er war nichts davon und hätte auch zu ihnen nicht gepasst.
Frieder seufzte und überlegte, was er nun tun sollte. Da ihm nichts Besseres einfiel, beschloss er, zu Palmer & Stark zu gehen und nach neuen Aufträgen zu fragen. Frieder hatte dort als Einziger den Status eines freien Mitarbeiters statt einer Festanstellung. Er selbst hatte es so gewollt, und Sophie hatte zugestimmt.
Um nicht mit der Tür ins Haus zu fallen, rief er vorher im Büro an. Da niemand abnahm, sprach er auf den Anrufbeantworter. »Hi Sophie, hier Frieder. Ich wollte mal vorbeikommen und nach Arbeit fragen. Da ich dich nicht erreiche, fahre ich jetzt einfach mal los. Bis nachher.«
***
Dieser Student war die einzige echte Unbekannte in Kolbs Gleichung. Er hatte mal eine Freundin gehabt – Ex-Nutte, so viel hatte Kolb herausgefunden – aber die war tot. Abgemurkst, weil dieser Junge zusammen mit Simon Stark seine Nase in Angelegenheiten gesteckt hatte, die ihn nichts angingen. Für Kolb war das ärgerlich, denn so sehr er auch gesucht hatte, war es ihm nicht gelungen, einen Menschen zu finden, der diesem Jüngelchen wirklich nahestand und nicht zu Simons Truppe gehörte.
Kolb beobachtete, wie er sich vom Campus entfernte und die Schlüterstraße entlang ging. Er würde ihm nicht folgen. Laut seinen Recherchen verfügte dieser kleine Pisser über keine besonderen Fähigkeiten und arbeitete nur nebenher für Stark. Selbst wenn Simon ihn an seiner Seite hätte, würde das nichts ändern. Sollte sich wider Erwarten doch herausstellen, dass dieser Frieder seinem Freund mehr Halt gab, als es Kolb recht sein konnte, würde er ihn eben kurzerhand liquidieren. Nicht besonders originell, aber es würde seinen Zweck erfüllen. Diese Brillenschlange war ein Niemand. Kein Grund, seine Kräfte an ihn zu verschwenden.
Trotzdem war es gut, dass er sich noch einmal einen unmittelbaren Eindruck von dem Jungen gemacht hatte.
»Hast Glück gehabt, Kleiner. Du bist kein Gegner«, rief Kolb ihm hinterher. Ein paar Studenten sahen sich irritiert nach ihm um, gingen dann aber schnell weiter. Der junge Frieder war schon außer Hörweite und entschwand jetzt um die nächste Kurve.
Kolb lächelte zufrieden. Die Karten waren ausgeteilt. Das Spiel konnte beginnen.
***
»Wo sind denn alle?«
Mehmet war noch vom Bahnhof aus direkt mit dem Taxi ins Schanzenviertel zum Büro von Palmer & Stark gefahren. Seine Brüder hatten darauf bestanden, dass er mit ihnen zu den Eltern gehen und ihnen beistehen sollte, doch er hatte widersprochen.
»Cem wurde ermordet, versteht ihr? Wer das getan hat, muss dafür bezahlen. Aber ich und meine Kollegen müssen handeln, solange die Spuren noch heiß sind. Damit helfe ich Vater und Mutter viel mehr. Es gibt eine Zeit zum Weinen und es gibt eine Zeit zum Handeln. Jetzt muss ich handeln.«
Mit diesen Worten hatte er sich von seinen am Boden zerstörten Brüdern Hakan und Orhan verabschiedet und war zum nächsten Taxistand gelaufen. Mehmet hatte kein Problem, sofort einen ehemaligen Kollegen ausfindig zu machen, den er aus seiner erst kurz zurückliegenden Zeit als Taxifahrer kannte. Mehmet konnte ihn schnell überreden, ihn zu fahren und den Fahrpreis anzuschreiben. Er hatte kein Geld mit. Cem hatte an diesem Nachmittag alles bezahlt.
Der Neue am Tresen schien nicht die hellste Kerze auf der Torte zu sein, denn er starrte Mehmet nur mit offenem Mund an.
»Die Belegschaft von Palmer & Stark«, erklärte Mehmet geduldig. »Meine Kollegen. Um diese Zeit müssten sie alle schon hier sein.«
Jetzt hellte sich die Miene des jungen Mannes etwas auf. »Frau Palmer und Herr Stark?«
»Ja, genau. Und noch ein paar andere«, bestätigte Mehmet.
»Herr Stark war gerade hier und hat das Gleiche gefragt wie Sie. Frau Palmer war noch nicht hier und sonst auch keiner.«
Das war extrem ungewöhnlich. Wären sie alle im Außeneinsatz, wüsste er das. Vor allem Simon würde es wissen.
»Hat Herr Stark Ihnen gesagt, wo er hingeht?«, drängte Mehmet.
»Nee«, antwortete sein Gegenüber und schüttelte den Kopf.
»Verdammt noch mal«, fluchte Mehmet verzweifelt. Er brauchte unbedingt die Hilfe seiner Freunde, sonst war er aufgeschmissen.
»Und Herr Kilmister ist auch nicht hier gewesen«, plapperte der Dummkopf unvermittelt weiter.
Mehmet sah ihn verständnislos an. »Was?«
»Herr Kilmister. Der Herr Stark hat zuerst nach ihm gefragt.«
Ja klar, und nach Janis Joplin, Glen Frey und Michael Jackson vermutlich auch, dachte Mehmet, während er diesem Dummkopf im Geiste den Stempel Idiot verpasste.
»Tja, der Herr Kilmister ist tot«, sagte Mehmet schulterzuckend. »Da wird Herr Stark wenig Glück haben.«
»Oh, tut mir sehr leid«, sagte der Junge betreten.
»Schon gut«, winkte Mehmet ab. »Ich muss jetzt Herrn Stark suchen. Einen schönen Tag noch. Und suchen Sie sich einen Job ohne Kundenkontakt.«
Damit war Mehmet wieder draußen. Wo sollte er nur suchen?
»Hey Mehmet, altes Haus.«
Endlich ein bekanntes Gesicht. Mehmet atmete erleichtert auf, als er Frieder die Straße entlang auf sich zukommen sah. Er würde wissen, wo alle abgeblieben waren.
»Frieder, schön dich zu sehen. Wo sind die Anderen?«
Doch Frieder zuckte nur mit den Schultern, und sofort sank Mehmets Stimmung wieder ins Bodenlose.
»Ich bin hergekommen, weil ich nach neuen Aufträgen fragen wollte und telefonisch niemanden erreicht habe.«
Mehmet war erleichtert, dass er nicht der Einzige war, der keine Ahnung hatte, was die Kollegen so trieben. Trotzdem musste er immer noch extrem schlecht aussehen, denn Frieder sah ihn besorgt an.
»Sag mal, du hast doch was? Ist was passiert?«
Mehmet schluckte. Das große, schwarze Loch, das eben noch vom Adrenalin vernebelt gewesen war, riss wieder auf und saugte ihm alle Kraft aus.
»Mein Bruder ist tot«, hauchte er kaum hörbar, und dann stieg ein Zittern in ihm auf, das in Sekunden von seinem ganzen Körper Besitz ergriff, bis es ihn schließlich schüttelte wie eine Palme im Orkan.
»Sie haben ihn umgebracht«, schrie er verzweifelt mit brechender Stimme. Frieder bekam ihn gerade noch an der Taille zu fassen, ehe er zusammenklappte.
Frieder erwies sich als wundervoller Freund, indem er Mehmet einfach nur im Arm hielt, während sie eine Viertelstunde lang auf dem Boden saßen und Mehmet sich an seiner Schulter ausweinte. Frieder stellte keine Fragen und drängte ihn auch nicht, sich zu beruhigen. Er ließ es einfach zu.
Nach einer Weile schaffte es Mehmet, sich einigermaßen zu fassen. Er konnte schließlich nicht den ganzen Tag hier herumheulen und nichts tun.
»Es geht wieder. Ich muss jetzt etwas unternehmen«, sagte er und stand auf.
»Du meinst, wir müssen was unternehmen«, korrigierte ihn Frieder, der sich ebenfalls erhob und seinem Freund tief in die Augen blickte.
»Du hilfst mir?«, fragte Mehmet ungläubig.
»Wobei auch immer. Ja, ich helfe dir. Wir sind Freunde, schon vergessen? Und jetzt komm. Ich bringe dich erst mal nach Hause. Da nimmst du eine Dusche, trinkst einen Kaffee und dann quatschen wir.«
***
Frieder war schon häufig bei Mehmet zu Gast gewesen. In der Wohnung deutete kaum etwas auf die Wurzeln ihres Bewohners hin. Kein orientalisch anmutender Nippes, keine Bilder aus der alten Heimat und auch sonst nichts echt Türkisches. Die Möbel von der Stange, die Wände schlicht mit weißer Raufaser tapeziert und eine einsame Fuchsie auf dem Fensterbrett im Wohnzimmer. Man konnte es spartanisch nennen.
Frieders Wohnung sah dagegen aus wie ein orientalischer Basar.
Das Geräusch der Dusche verstummte. Mehmet war also fertig. Gleich würde er ihm erzählen, was genau geschehen war.
Da fiel Frieders Blick auf einen Haufen Prospekte im Zeitungsständer neben dem Fernseher.
»Endlich mal was Türkisches«, sagte Frieder halblaut und erfreut zu sich selbst. Er sah schon von seinem Platz aus, dass es Prospekte für einen Türkei-Urlaub waren. Er ging hin, nahm den Stapel aus dem Ständer und ging damit zurück zu seinem Platz.
Frieder war noch nie am Bosporus gewesen, stellte sich die Landschaft dort aber wunderschön vor. Er würde sich die Zeit, bis Mehmet kam, einfach damit vertreiben, sich die schönen Bilder in den Katalogen anzusehen und davon zu träumen, eines Tages dorthin zu reisen.
Da sah er plötzlich, dass zwischen den bunten Prospekten noch ein Briefumschlag steckte. Er war weder adressiert, noch deutete sonst etwas darauf hin, dass es sich um etwas Persönliches handeln könnte.
»Vielleicht eine Gewinnspielkarte«, murmelte Frieder erregt. Er hatte schon oft gesehen, dass in Zeitschriften solche weißen Umschläge steckten, in denen sich dann Teilnahmekarten für Preisrätsel verbargen. Warum sollte das nicht auch bei Reisekatalogen so sein? Er würde reinsehen und dann Mehmet fragen, ob er selbst teilnehmen wolle. Falls nicht, würde er die Chance natürlich gerne selbst nutzen.
Also zog Frieder das Papier aus dem Kuvert und schaute es sich an.
Noch ehe er begriffen hatte, dass dieser Brief nicht im Mindesten für seine Augen gedacht war, hatte er die Zeilen überflogen und war im Bilde.
Frieder merkte, wie sein Kreislauf in den Keller sackte. Wie sollte er das Mehmet beibringen? Er wusste davon ganz offensichtlich noch nichts. Oder doch? Er hatte doch gesagt, sie hätten ihn umgebracht. Hieß das nicht, dass er wusste, mit wem er es zu tun hatte? Frieder hatte keine Ahnung. Wenn Mehmet aber völlig ahnungslos war, konnte dieser Brief ihn endgültig umhauen.
Die Badezimmertür wurde geöffnet und das Geräusch der Schritte verriet, dass Mehmet auf direktem Weg ins Wohnzimmer war. Frieder legte den Brief neben sich auf die Couch und setzte sich dann drauf. Er musste erst noch weiter nachdenken, wie er damit umgehen sollte. Eines war ihm allerdings jetzt schon klar – warum niemand im Büro war.
Mehmet hatte nichts bemerkt und setzte sich auf einen Stuhl, der an der Heizung am Fenster stand.
»Ich sitze hier, wenn es OK ist. Ich friere so.«
Frieder verstand das nur zu gut. Auch ihn plagte eine Gänsehaut, aber das musste er vorerst verbergen.
»Na klar, Kumpel. Und jetzt sprich dir alles von der Seele. Was ist genau passiert?«
Und Mehmet erzählte. Er begann damit, wie er seine Brüder getroffen hatte, und endete mit seinem vergeblichen Besuch in der Agentur. Zwischendurch geriet er immer wieder ins Stocken. Besonders die Stelle, an der er seinen toten Bruder gefunden hatte, nahm ihn extrem mit.
Doch schließlich hatte er auch das geschafft.
Frieder war geschockt. Der Nachricht, die er unter seinem Hintern verbarg, hatte er zwar schon in etwa entnehmen können, was geschehen war, aber die Erzählung seines Freundes war noch viel schlimmer als das, was er sich vorgestellt hatte. Sein erster Impuls nach dem Lesen war, Mehmet den Brief zu verschweigen und seinerseits Simon zu Rate zu ziehen. Das Kontaktverbot galt ja nicht für ihn, und wenn Simon erst einmal auf einer Fährte war, hätte der Unbekannte keine Zeit mehr, seine Drohung in die Tat umzusetzen.
Jetzt musste er einsehen, dass diese Idee ein großer Haufen Scheiße war. Wie konnte er seinen guten Freund im Unklaren darüber lassen, dass ein Damoklesschwert über seinem Kopf hing? Wollte er denn verantwortlich sein, wenn es zur Katastrophe kam? Nein, er musste es Mehmet erzählen.
»Es tut mir so leid«, sagte Frieder und nahm Mehmets Hand. »Ich …«, begann er, doch dann versagte seine Stimme. Frieder räusperte sich und nahm einen neuen Anlauf. Er musste es hinter sich bringen.
»Ich habe etwas zwischen deinen Katalogen gefunden«, sagte er schließlich und zog langsam den Umschlag hervor. »Ich wollte nicht schnüffeln«, entschuldigte er sich.
»Schon gut«, entgegnete Mehmet schwach. »Was ist das?« Er klang nur mäßig interessiert. »Ich habe den ganzen Werbekram vorhin aus dem Briefkasten gezogen. Der Umschlag war mir dazwischen gar nicht aufgefallen.«
»Ich lasse es dich lesen, wenn du versprichst, dich nicht aufzuregen«, entgegnete Frieder und kam sich sofort sehr dumm vor. Nicht aufregen? Mehmet würde ausflippen, und zwar völlig zu Recht. Zunächst nahm er den Umschlag allerdings ohne besonderes Interesse entgegen und sah Frieder fragend an. »Was ist da drin?«
»Es hat damit zu tun, was deinem Bruder angetan wurde«, antwortete Frieder. Es kam ihm nicht leicht über die Lippen, aber er musste Mehmet unbedingt dazu bringen, zu lesen. Sein Freund starrte ihn mit aufgerissenen Augen an, als verstehe er nicht. Vermutlich tat er das wirklich nicht.
»Lies es, dann begreifst du.«
Nervös zerrte Mehmet an dem Kuvert. Es gelang ihm nicht gleich, die Nachricht herauszufingern, denn seine Hände zitterten wieder. Schließlich fetzte er den Umschlag einfach auf und hätte die Nachricht dabei um ein Haar gleich mit zerstört.
»Sachte, ganz ruhig«, versuchte Frieder, ihn zu beschwichtigen.
»Ich bin aber nicht ruhig«, blaffte Mehmet und las. Frieder hätte erwartet, dass sein Freund schon während der Lektüre bleich werden oder völlig ausflippen würde, doch das geschah zunächst nicht. Mehmets Gesichtsausdruck war konzentriert, als müsse er eine Bedienungsanleitung verinnerlichen. Wahrscheinlich weigerte sich sein Verstand, die Tragweite des Gelesenen anzuerkennen. Als er fertig war, saß er zunächst einige Augenblicke mit leerem Gesicht da.
»Mehmet?« Diese Stille war Frieder unheimlich.
Er ließ den Zettel sinken und glotzte Frieder mit leeren Augen an. In seinen Mundwinkeln nahm Frieder ein leichtes Zucken wahr und sein Blick verlor von Sekunde zu Sekunde diese furchtbare Starre. Mehmets Mimik kehrte zurück, und was Frieder da aufkeimen sah, war blanke Wut.
»Mehmet, nicht ausflippen. Lass uns nachdenken, was wir tun können«, appellierte Frieder, obwohl er wusste, dass das wohl zu viel erwartet war. Jeden Moment würde Mehmet völlig ausrasten, und Frieder wusste nicht, wie er damit umgehen sollte.
Stattdessen beugte sich der ehemalige Taxifahrer ganz langsam nach vorne und blickte Frieder lange tief in die Augen, ehe er mit kalter, aber ruhiger Stimme sagte: »Ich lasse mir vom Mörder meines Bruders nichts verbieten. Dieser Hurensohn ist schon tot – er weiß es nur noch nicht.«
Das war genau die Reaktion, die Frieder befürchtet hatte. Sie fiel zwar weniger impulsiv aus als erwartet, aber es würde schwer werden, ihn davon abzubringen.
»Ich verstehe dich gut«, sagte Frieder vorsichtig. »Aber tu jetzt nichts Unüberlegtes. Deine anderen Brüder leben noch. Sie darfst du nicht gefährden.«
»Ich bin kein Idiot«, sagte Mehmet scharf und sprang auf.
»Natürlich nicht. Ich meinte nur …«, versuchte Frieder, zu beschwichtigen.
»Du plapperst nur«, rief Mehmet verächtlich. »Cem ist tot, verstehst du? Und er bedroht den Rest meiner Familie. Soll ich mich verstecken wie ein Feigling? Mein großer Bruder würde mich verachten, wenn ich seine Ehre nicht wiederherstellen würde.«
Jetzt sprang auch Frieder auf. Er musste seinen Freund bremsen, auch wenn er dafür grob werden musste.
»Ich plappere? Du müsstest dich mal hören, Mann. Wie so ein scheiß Macho-Türke von der Straße. Feigheit, Ehre, Familie – das ist alles Bullshit. Da ist ein Killer unterwegs, von dem wir überhaupt nichts wissen. Du willst ihn killen? Prima, dann sag mir erst mal, wie du ihn finden willst.«
»Palmer & Stark kann ihn finden«, verteidigte sich Mehmet.
»Von da kamst du doch gerade erst«, erinnerte Frieder ihn. »Hast du mal darüber nachgedacht, warum niemand dort war?«
Mehmet verstand offenbar nicht, also wurde Frieder deutlicher. »Du sollst dich von Simon fernhalten. Deshalb wurde Cem ermordet. Bleibst du nicht weg von ihm, wird dieser Kerl weiter deine Liebsten ermorden. Es geht also um Simon, nicht um dich, kapiert? Hast du mal darüber nachgedacht, dass du vielleicht nicht der Einzige bist, der bedroht wird?«
Schlagartiges Verstehen spiegelte sich auf Mehmets Gesicht wider. »Du meinst …?«
»Dass jemand versucht, Simon zu isolieren, um ihn allein zu erwischen? Ja, das glaube ich«, bestätigte Frieder. Das auszusprechen, bemerkte er, ließ die ganze Sache noch ungeheuerlicher erscheinen, als wenn man nur darüber nachdachte.
»Aber was tun wir dann?«, fragte Mehmet verzweifelt und wütend zugleich. »Wir können Cems Mörder doch nicht davonkommen lassen. Und wir dürfen Simon nicht im Stich lassen.«
»Ich weiß es nicht«, gab Frieder zu. »Aber wir denken uns was aus. Koch uns noch einen Tee. Wir müssen Kriegsrat halten.«
***
Drei Tassen Tee später hatten sie einen Plan – oder etwas, das einem Plan zumindest ähnelte.
»Also gut, ich fasse mal zusammen«, sagte Frieder. »Wir wissen nicht, wer für den Mord verantwortlich ist. Wir haben keine Ahnung, ob noch andere von uns solche Drohungen erhalten haben, aber es ist mehr als wahrscheinlich. Du darfst weder Simon noch jemanden aus dem Team kontaktieren, also hoffen wir mal, dass unser Treffen noch nicht aufgeflogen ist.«
Mehmet nickte und rieb sich die Schläfen. Er wirkte sehr angeschlagen, das Denken fiel ihm ganz offensichtlich unendlich schwer, was Frieder ihm nicht verübeln konnte. Er sollte jetzt eigentlich trauern dürfen, aber stattdessen musste er einen Schlachtplan entwerfen und gleichzeitig mit dem Gedanken klarkommen, dass jeder Fehler, den sie machten, weiteres Unheil nach sich ziehen konnte. Er atmete tief durch und sagte: »Wir wissen, dass du keine Drohung erhalten hast. Außerdem glaube ich nicht, dass er mich nach dem Mord an meinem Bruder schon wieder beobachtet.«
»Aber sicher sein kannst du nicht«, mahnte Frieder. »Er könnte Leute dafür engagiert haben.«
Mehmet sah ihn böse an. »Von irgendwas müssen wir ausgehen, oder? Wenn er weiß, dass wir gerade zusammen sind, ist sowieso alles zu spät, also lass mich bitte davon ausgehen, dass wir wenigstens noch eine Chance haben.«
Mehmet hatte Recht. Spekulieren brachte sie jetzt nicht weiter. »Also, was tun wir?«
»Er hat mir nicht verboten, mich mit meinen Brüdern zu treffen, richtig?«
Frieder nickte.
»Dann rede ich mit Hakan. Er soll die ganze Familie informieren. Sie müssen sich vorbereiten.«
Frieder gefiel es nicht, welche Richtung das Ganze nahm. »Was hast du vor? Du willst doch nichts Dummes machen?«
»Dummes? Ich will meine Leute nicht im Ungewissen lassen, verstehst du?«
Doch Frieder ließ sich nicht abspeisen. »Worauf denn vorbereiten?«, bohrte er nach. »Ihnen geschieht doch nichts, wenn du die Füße stillhältst.«
Mehmet wurde wütend. »Und worüber reden wir dann hier überhaupt? Ich dachte, wir wollen etwas unternehmen. Wir sitzen hier zusammen, weil wir uns einig waren, dass wir Simon nicht hängen lassen können.«
»Aber du hast doch vor, ihn zu kontaktieren. Warum solltest du sonst deine Familie warnen? Ja, wir wollten überlegen, was wir tun können, denn das, was wir am liebsten tun würden, geht nicht – mit Simon reden.«
»Aber meine Brüder können keinen Geist aufspüren.«
»Das könnte auch Simon nicht«, warf Frieder ein. »Wenn, dann wäre das ein Job für Dawn, vielleicht auch für Ragnar. Aber für die gilt dasselbe – du darfst sie nicht kontaktieren.«
»Ach Scheiße«, schrie Mehmet und schlug mit der Faust gegen die Wand. »Ich muss etwas unternehmen, sonst werde ich verrückt.«
Es war offensichtlich, dass Mehmet das nicht nur symbolisch meinte. Er musste seinem Freund etwas anbieten, um ihn davon abzubringen, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen.
»Hör mir zu, ich übernehme das.«
Mehmet war irritiert. »Was übernimmst du? Entschuldige, ich mag dich, aber sei doch mal ehrlich. Du bist fast noch ein Kind, und bei jeder Schlägerei würdest du den Kürzeren ziehen. Was willst du denn tun?«
Diese Kränkung schluckte Frieder runter, weil er es sich nicht leisten konnte, sich jetzt aus dem Konzept bringen zu lassen und weil er Mehmet seinen aufgewühlten Zustand zugutehielt. »Bisher fliege ich unter dem Radar dieses Irren. Gut, ich sehe zu Hause noch mal nach, ob ich nicht auch so eine Grußkarte bekommen habe, aber ich glaube es nicht. Es gibt niemanden, mit dem er mich erpressen könnte.«
»Und dann?«, fragte Mehmet ungeduldig.
»Ich werde mit jedem der anderen unauffällig Kontakt aufnehmen. Ich habe da schon ein paar Ideen. Da will uns jemand auseinanderdividieren, aber das dürfen wir nicht zulassen. Ich werde mit Dawn und den anderen im stillen Kämmerlein nach einer Spur suchen. Sobald wir die haben, können wir auch Simon mit ins Boot holen. Und natürlich deine Brüder.«
»Meine Brüder, ja.« Der Gedanke gefiel Mehmet. Ihm die Aussicht auf Blutrache zu geben, schien Frieder ein guter Schachzug zu sein.
»Was tue ich bis dahin?« Mehmet hatte offenbar akzeptiert, dass sein junger Freund von jetzt an die Richtung vorgab. Frieder atmete erleichtert auf.
»Du tust das, was jetzt angebracht ist. Trauere um deinen Bruder und kümmere dich um deine Familie. Du solltest jetzt bei ihnen sein.«
***
Das Erste, was er machte, bevor er auch nur einen Schritt in Richtung seines neuen Zufluchtsortes tat, war eine genaue Analyse seines Handys. Die nahm er in einem Hotelzimmer direkt um die Ecke seiner Wohnung vor. Ragnar unterschätzte seinen Gegner nicht eine Sekunde. Wer immer es war – er hatte es geschafft, einen der größten Drogenbosse Mexikos aufzuspüren und ihn für seine Zwecke einzuspannen. Wenn so jemand es darauf anlegte, Simon ans Bein zu pinkeln, würde er auch dafür sorgen, dass es funktionierte.
Er hatte das Smartphone an denselben Rechner angeschlossen, auf dem er auch das Video angesehen hatte. Dieser alte Laptop war das einzige technische Gerät, das er außer seinem Handy mitgenommen hatte. Die nötige Diagnosesoftware lud er von einem USB-Stick. Ragnar benutzte ein Tool, das ihm ein Freund beim letzten Hacker-Kongress im Messe- und Kongresszentrum gezeigt und kostenlos überlassen hatte. Es war wesentlich mächtiger als die Apps, die Otto Normalverbraucher benutzte.
Minutenlang starrte Ragnar unbeweglich auf den Bildschirm, bis ein leises Piepsen ertönte. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Mit einer Mischung aus Faszination und Grauen starrte er auf den Diagnosebericht.
»Oh, mein Gott«, flüsterte er. Nach dem, was er da las, hatte jemand sein Telefon in eine Überwachungsmaschine verwandelt. Wer auf der anderen Seite saß und den Datenstrom abschöpfte, konnte auf das Mikrofon, die Kamera, sämtliche Sensoren und alle Einstellungen zugreifen. Ragnar beglückwünschte sich zu der Weitsicht, das Handy vor der Diagnose in den Flugmodus zu schalten und die SIM-Karte zu entfernen. Wäre es ins Netz eingeloggt gewesen, hätte der Angreifer mitbekommen, dass er aufgeflogen war.
Ragnar packte das Gerät und holte aus, um es gegen die Wand zu schmettern, doch dann besann er sich gerade noch rechtzeitig.
»Nein, du Bastard. Ich habe eine bessere Idee.«
Ragnar nahm das Handy und brachte es ins Wohnzimmer. Dort schaltete er den Fernseher ein und legte das Telefon auf den Tisch. Danach schob er die SIM-Karte zurück in das Gerät, entsperrte sie und schaltete den Flugmodus wieder aus.
»Oh Klasse, alle James Bond Filme hintereinander«, sagte er laut und bemühte sich, begeistert zu klingen. Dann schlich er sich in den Flur, öffnete die Tür, hängte das Bitte nicht stören Schild von außen auf und zog sie draußen wieder leise hinter sich ins Schloss. Er ließ alles dort, auch seine Jacke. Dieses Zimmer war verbrannt, aber er hatte Zeit gewonnen.
***
Es war keine gute Idee, noch jemanden in diesen Alptraum hineinzuziehen. Es war sogar ausgesprochen egoistisch und grausam, aber Dawn hatte keine Wahl. Sie brauchte eine Verbündete, und ihre Freunde von Palmer & Stark fielen alle aus, da war der Brief unmissverständlich.
Sie atmete noch einmal tief durch und drückte dann den Klingelknopf. Hinter der Tür bellte ein Hund los, als hätte er den Verstand verloren. Dawn verdrehte amüsiert die Augen. Das war Pawlow, der völlig verzogene Dackel von Martina.
»Hör auf, du Plage der Menschheit«, hörte Dawn ihre Freundin in der Wohnung schimpfen. Als sie die Tür öffnete, verwandelte sich ihr genervter Gesichtsausdruck binnen Sekunden in ein strahlendes Lächeln.
»Daaaawn, ist das schööön!«, kiekste sie wie ein Backfisch und fiel ihr um den Hals. Manchmal war Martina enthusiastischer als an gewöhnlichen Tagen.
Eigentlich war Martina eine alte Freundin von Sophie, doch seit sie Simon geholfen hatte, sein Kriegstrauma zu überwinden, und ein paar gefährliche Situationen mit dem Team durchgestanden hatte, war die Psychologin auch für Dawn eine Vertraute geworden.
»Du meine Güte. Hast du wieder deine Happyness-Meditation gemacht?«, fragte Dawn lachend, während sie sich bemühte, Martinas Umklammerung so weit zu lösen, dass sie wieder frei atmen konnte.
»Ja, merkt man das?«, fragte sie freudestrahlend zurück.
»Nicht, solange Pawlow dich nervt«, feixte Dawn.
Martina verdrehte die Augen. »Dieses Vieh würde selbst den Dalai Lama aus der Ruhe bringen. Ich bin auch nur ein Mensch. Aber jetzt komm doch rein.«
Wenig später saßen sie in der Küche, tranken grünen Tee und schwiegen sich an. Dawn hatte ihr von dem Anschlag auf Peter Demiac erzählt und ihr das Foto und den Brief gezeigt, die sie an ihrer Fahrstuhltür gefunden hatte.
»Du musst zur Polizei«, brach Martina schließlich das Schweigen. »Er schreibt nicht, dass du nicht zur Polizei gehen darfst.«
Dawn stutzte. Das stimmte sogar. Aber dann winkte sie ab. »Ach komm schon, glaubst du wirklich, das wäre innerhalb der Spielregeln, die er sich vorstellt? Wenn ich ihn irgendwie in die Enge treibe, wird er handeln. Das ist kein Schachspiel mit feststehenden Regeln.«
Martina nickte nachdenklich. »Du hast wahrscheinlich Recht. Aber darf ich dich etwas Persönliches fragen, bevor wir weiter überlegen?«
Dawn ahnte, worauf Martina hinaus wollte. »Du möchtest wissen, warum ich dir nie von Fiona erzählt habe?«
Doch Martina schüttelte den Kopf. »Nein, das wundert mich nicht. Wir kennen uns noch nicht lange. Ich möchte wissen, warum du nie irgendwem von ihr erzählt hast. Hast du Schuldgefühle gegenüber deiner Schwester?«
Dawn dachte darüber nach. Eine echte Antwort hatte sie nicht, denn sie selbst hatte sich das nie gefragt.
»Nein, ich konnte nichts für den Unfall«, sagte sie schließlich. »Mein Vater ist gefahren und er kam mit meiner Mutter ums Leben, während Fiona …«, sie schluckte. »Während Fiona davonkam – obwohl ich das am Anfang nicht so gesehen habe. Ich dachte, das Leben müsse für sie die Hölle sein. Mit der Zeit habe ich aber gelernt, dass jedes Leben lebenswert sein kann. Auch Fionas.«
In Dawns Augen schimmerten schon wieder Tränen auf. Martina bemerkte das und streichelte ihre Hand. »Es ist gut, dass du darüber redest. Was ist mit Fiona passiert? War sie schon immer so, oder …?«
»Nein, nicht immer«, unterbrach Dawn. Jetzt hatte sie das Bedürfnis, alles zu erzählen, und das tat sie.
»Fiona hat ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Sie lag drei Monate im Koma, die Prognose lautete dauerhaftes Wachkoma. Heute hat sie keinen körperlichen Einschränkungen mehr, nachdem sie alles wieder mühsam lernen musste. Geblieben sind allerdings geistige Schäden. Sie weiß weder, wer sie ist, noch wo und wann sie sich gerade befindet. Auch mich erkennt sie nicht als ihre Schwester. Sie denkt, die Frau, die sie immer besucht, sei Dawn Widow, eine Figur aus einem Fantasy-Comic, den einst ihre erste Jugendliebe für sie gezeichnet hatte. Fiona war vierzehn Jahre alt, als sie zusammen mit unseren Eltern im Auto verunglückte. Seither kümmere ich mich um sie.«
Jetzt ließ Dawn den Tränen freien Lauf. Sie bekam keinen Weinkrampf und sie schluchzte auch nicht. Die Tränen rollten einfach über ihr Gesicht, während sie mit leerem Blick durch Martina hindurchsah. Die Psychologin drückte ihre Hand jetzt noch fester. Mit der anderen strich sie ihr über die Wange und wischte dabei eine Träne weg.
»Und seitdem nennst du dich so – Dawn Widow? Das ist eine traurige Geschichte, aber sie hat auch etwas Schönes«, sagte Martina mit warmer Stimme.
»Was soll daran schön sein?«, fragte Dawn mit verletzter Stimme. »Meine kleine Schwester kennt sich nicht mehr und mich erst recht nicht. Sie weiß nichts mehr von unserer Vergangenheit. Wir können keine Geschichten teilen, uns gemeinsam an unsere Eltern erinnern oder sonst etwas machen, das normale Geschwister tun.«
»Und doch habt ihr eine so enge Bindung zueinander. Es ist doch nicht wichtig, ob sie in dir ihre Schwester sieht oder eine Heldin aus einem Comic. Es zählt ganz allein, dass sie dich meint – wer immer du in ihren Augen auch sein magst. Sie liebt dich, Dawn. Du wirst geliebt und du erwiderst diese Liebe, und das meine ich mit schön.«
So hatte Dawn das noch nie gesehen. Martina war eine kluge und einfühlsame Frau, und sie hatte Recht. Die Hackerin lächelte gerührt und umarmte die Psychologin. »Danke, das gibt mir viel Kraft«, flüsterte sie. Dann löste sie die Umarmung wieder, setzte sich aufrecht hin und wischte sich energisch das Gesicht ab. »Aber jetzt ist Schluss mit der Gefühlsduselei. Ich muss meine Schwester beschützen, also lass uns einen Plan machen«, sagte sie entschlossen. Martina nickte ebenso entschieden. »Dann los. Ich bin an deiner Seite. Was machen wir also?«
***
»Ausgerechnet Bond«, brummte Kolb angewidert. »Das passt zu diesem kleinen Möchtegern.«
Er stand von seinem Drehstuhl auf und streckte sich. Einem gemütlichen Fernsehabend zuzuhören, war nicht nötig. Kolb warf noch einen prüfenden Blick auf die Anzeige des getrackten Handys. Es befand sich da, wo es sein sollte – in der Wohnung dieses Freaks. Sollte sich das ändern, würde es einen Alarm geben. Bis dahin konnte er sich mit anderen Dingen befassen.
Im Bastelzimmer wartete sein nächstes Baby auf ihn. Da er von Stark immer noch nichts gehört hatte, war es wohl nötig, eine weitere Duftmarke zu setzen. Kolb ging zu seiner kleinen Werkbank und streichelte zärtlich über die modifizierte Propangasflasche. Die auf der Flasche angegebenen elf Kilo überschritt die Bombe mittlerweile deutlich. Sie war nicht mehr mit Gas gefüllt, sondern mit Sprengstoff und Nägeln. Wieder nicht sehr raffiniert, aber mit wesentlich mehr Bums als die letzte. In einem Koffer konnte er sie natürlich nicht transportieren, dazu war sie deutlich zu groß, und zu schwer sowieso.
Kolb pfiff vergnügt vor sich hin, als er den Kleiderschrank öffnete und die frisch gereinigte Security Uniform herausnahm. Sich einzuschmuggeln, wäre gar nicht so einfach gewesen, wenn es um ein bestimmtes Event gegangen wäre. Stattdessen hatte er in einer renommierten Firma aus der Branche als Objektschützer angeheuert, ein paar Monate für sie gearbeitet und sich dann ein lohnendes Ziel ausgesucht. Heute war es soweit.
Als er sich umgezogen hatte, überprüfte er noch einmal den Zünder, nahm die Sackkarre, lud die Bombe darauf und warf eine Umzugsdecke drüber. Dann verließ er mit seiner tödlichen Fracht das Versteck.
***
»Guten Morgen Simon. Schön, dass du kommst«, begrüßte ihn Martinus und erhob sich von seinem Stuhl. Simon blieb in der Tür zu Martinus’ Büro stehen, weil der Agent bereits auf dem Weg zu ihm war. »Von mir aus können wir gleich rüber in die Kriminaltechnik.« Mit diesen Worten griff er sich seine Jacke vom Haken an der Tür.
»Hallo Martinus«, entgegnete Simon. »Sie haben es aber eilig. Kein Kaffee zur Begrüßung?«
»Sorry, aber ich habe einen Arsch voll Arbeit zu erledigen. Wenn du Kaffee brauchst, trink ihn unterwegs.« Martinus holte Simon einen Thermobecher von seinem Schreibtisch. »Kannst meinen haben. Jetzt aber los.«
Eine halbe Stunde später stand Simon an einem großen Tisch, auf dem eine unüberschaubare Anzahl von Trümmern ausgebreitet lag. Auf den ersten Blick war es ein reines Chaos. Simon war es ein Rätsel, wie die Spezialisten es überhaupt fertigbrachten, am Tatort zu entscheiden, was einmal zur Bombe gehört hatte und was nicht. Da er nicht wusste, wonach er schauen sollte, ließ er zunächst das Gesamtbild auf sich wirken. Danach schaute er sich nacheinander jedes Teil aufmerksam an. Er überließ es seinem Instinkt, zu entscheiden, wo es sich lohnen könnte, genauer hinzusehen.
»Was sagt dir das?«, fragte Martinus nach einigen Minuten, doch Simon war ratlos.
»Das ist ein Haufen Schrott. Ich sehe gar nichts.«
Martinus schnaubte ungeduldig. »Komm schon, das kannst du besser. Geh davon aus, dass die Vorarbeit gründlich gemacht wurde. Alles, was du da siehst, waren Bestandteile der Bombe. Die Trümmer sind von innen nach außen so angeordnet, wie sie auch in dem Sprengsatz verbaut waren. Ganz außen sind die Schrapnelle, mit denen das Scheißding gespickt war.«
Mit diesen neuen Informationen trat Simon zwei Schritte zurück und betrachtete die Sache noch einmal neu. Tatsächlich verstand er plötzlich den Aufbau der Vorrichtung.
»Das muss der Bombenkörper gewesen sein«, dachte er laut und deutete auf ein paar verbogene Stücke Metall. »Das ist Edelstahl, denke ich.« Simon blickte auf und wandte sich an Martinus. »War das etwa eine Kochtopfbombe?«
Martinus hob erstaunt die Augenbrauen. »In der Tat denken unsere Experten das. Du kennst sowas?«
»Die Taliban kennen das«, entgegnete Simon. »Und in Boston, beim Anschlag auf den Marathon, wurde so eine verwendet. Ein Schnellkochtopf wird mit Sprengstoff, oft Schwarzpulver, und Schrapnellmaterial wie Kugellagerkugeln, Nägeln und Ähnlichem gefüllt. Das ist die quick and dirty Variante einer Bombe. Zünden kann man das Ganze dann mittels einer Eieruhr.«
»Diese Bombe wurde mit einem Handy gezündet«, warf Martinus ein.
»Das geht natürlich auch. Ist nur aufwändiger und eher was für Profis«, antwortete Simon. »Im Grunde ist es also völlig unmöglich, diese Art von Sprengsatz zu verhindern. Jeder kann sie herstellen. Im Internet gibt es Anleitungen dafür.«
Überraschter hätte Martinus gar nicht aussehen können. Er trat an den Tisch heran und betrachtete die Trümmer. »Die Experten haben es mir erklärt, und deswegen kann ich es auch erkennen«, sagte er schließlich. Dann sah er Simon schräg von der Seite an. »Aber wer hat es dir erklärt? Das lernt man auch beim Bund nicht in der Grundausbildung, und Sprengstoffexperte warst du ja nicht.«
Simon bemerkte, dass er schwitzte. Vor seinem inneren Auge sah er sich in den afghanischen Bergen in einem Camp auf dem staubigen Boden sitzen. Er hockte dort mit den Männern seiner Einheit, und alle hörten einem Mann zu.
»Richard Kolb«, nuschelte Simon leise.«
»Was hast du gesagt?«, fragte Martinus. »Sprich doch bitte so, dass ich dich hören kann.«
»Was? Ach so, entschuldigen Sie, ich war in Gedanken.«
Martinus winkte gütig ab. »Kein Problem. Also, was wolltest du sagen?«
»Ich habe in Afghanistan von diesem Bombentyp gehört. Der Sprengstoffexperte unserer Einheit hat ihn in einem seiner Vorträge erwähnt.«
»Vorträge?«, hakte Martinus nach. Das schien ihm seltsam vorzukommen.
»Nichts Offizielles natürlich. Aber Sie können sich nicht vorstellen, wie langweilig Krieg oft ist. Die meiste Zeit verbringt man mit Warten und mit dem Zurücklegen der Wege zwischen den geheimen Einsatzzielen. Da muss man irgendwie die Zeit totschlagen.«
»Mit Vorträgen? Hatten Sie keine Spielkarten oder Pornohefte?«
Agenten vom Verfassungsschutz hatten offenbar ihre eigene Vorstellung von Freizeitgestaltung, mutmaßte Simon und grinste humorlos. »Sie haben anscheinend nicht viel Erfahrung mit langen Missionen in der Fremde. Aber egal – jedenfalls haben wir uns abwechselnd über unsere Spezialgebiete informiert. Kolb hat über Bomben und Sprengfallen gesprochen, ich über Nahkampf und Taktik, und wieder andere über Notfallmedizin, Funkfrequenzen und Satellitennavigation, Präzisionswaffen, Verhandlungsführung und so weiter. Das war nicht einfach nur Zerstreuung. Wir mussten jederzeit den Verlust eines jeden von uns kompensieren können. Wenn der Sani erschossen wird, müssen Sie ja trotzdem noch irgendwie die Verwundeten versorgen.«
Martinus nickte verständig. Dann fiel ihm plötzlich etwas ein. »Sag mal, Kolb – der Name kommt mir so bekannt vor. Das war doch der Typ, der dich damals fast abgeknallt hat, als du an der Sache mit den verschwundenen Obdachlosen dran warst, oder? Hatte ich das nicht in deiner Akte gelesen?«
Simon verzog gequält das Gesicht. Die Erinnerung daran war nicht besonders angenehm. Er war Kolb, der für diese Nazi-Brut den Auftragskiller gegeben hatte, zwar entkommen, aber der war anschließend untergetaucht. Aus dem Verkehr hatte Simon ihn leider nicht gezogen.
»Ja, das war dieser Typ«, bestätigte Simon. »Der ist wahrscheinlich heute noch sauer auf mich.«
Bei den letzten Worten hatte Martinus kaum noch zugehört, sondern hektisch in seinen Hosentaschen gekramt. »Sorry, mein Handy vibriert. Ich muss kurz rangehen«, entschuldigte sich der Agent und nestelte das Telefon umständlich aus der linken vorderen Tasche seiner Anzughose.
»Martinus hier, was gibt es? Ja, verstehe. Keine näheren Angaben über das Ziel? Scheiße! Gut, ich komme sofort.«
Er steckte das Handy wieder ein und sah plötzlich sehr gestresst aus. Er drängte an Simon vorbei in den Korridor.
»Ich muss weg. Es gibt eine allgemeine Gefährdungslage.«
Simon horchte auf. »Hat es was mit unserem Mann zu tun?«, rief er Martinus hinterher.
»Bombendrohung ohne Angabe eines Zieles. Und es ist nicht unser Mann. Es gibt kein unser.« Dann trat Martinus auch schon in den Fahrstuhl und winkte Simon noch einmal abwesend zu, ehe sich die Tür schloss. Jetzt war er verschwunden, und Simon kam sich benutzt vor. Er ging noch einmal zurück in den Raum mit den Bombenfragmenten, um seine Sachen zu holen und zu verschwinden.
Wenn man Edelstahltöpfe nimmt, ist die Wucht größer. Die meisten nehmen aber Emaille oder Aluminium. Ist leichter dranzukommen. Wenn man es aber wirklich ernst meint, kommt man an Edelstahl nicht vorbei.
Simon hätte sich diese Stimme am liebsten aus dem Kopf geprügelt. Dieser Kolb war weg und Geschichte. Warum musste er sich jetzt wieder in seinen Kopf drängen?
»Edelstahl«, sagte er plötzlich laut, ohne es gewollt zu haben. Irritiert sah er sich noch einmal die Trümmer an. Es war eindeutig Edelstahl gewesen. Und dann erkannte Simon noch etwas. Es sah aus wie das Bruchstück eines Displays.
Diese Bombe wurde mit einem Handy gezündet.
Als Martinus das erwähnte, war Simon einfach darüber hinweggegangen. Jetzt aber schien es ihm plötzlich bedeutsam. Warum, wusste er allerdings nicht genau. Er hatte nur plötzlich ein merkwürdiges Gefühl im Magen. Normalerweise wollte ihm sein Körper mit diesem Gefühl sagen, dass Gefahr drohte.
»Was übersehe ich?« Er starrte angestrengt auf die Fragmente, doch die abschließende Erkenntnis stellte sich nicht ein. Er hatte aber auch keine Zeit mehr, darüber nachzugrübeln. Er musste irgendwie einen Bombenanschlag verhindern. Er nahm sein Handy und wählte die Nummer von Martinus, bekam aber nur die Mailbox dran.
»Hier ist noch mal Simon. Ich werde nicht untätig rumsitzen, wenn da draußen ein Irrer unterwegs ist, der Unschuldige umbringt. Ist mir egal, was Sie davon halten, aber ich hänge mich an den Fall dran. Wenn ich was weiß, melde ich mich wieder.«
Tatsächlich wusste Simon gar nichts. Weder, wer der Bombenbauer sein konnte, noch, was er als Nächstes tun sollte, um ihm auf die Spur zu kommen. Ehe er weiter darüber nachdenken konnte, rief Martinus zurück. Simon ging ran und war darauf gefasst, sich eine Predigt von Martinus anhören zu müssen. Stattdessen sagte der Agent. »Hör zu, ich weiß, dass es dich in den Fingern juckt, dich einzumischen. Ich kann dich gut verstehen. Aber von jetzt an hältst du dich raus.«
Simon wollte gerade antworten, doch war das Gespräch auch schon beendet. Martinus hatte einfach aufgelegt.
»Scheiße«, schrie er verzweifelt. Das war einfach nicht fair. Das Monster musste gestoppt werden.
Simon ließ alles liegen und stehen und rannte los.
***
Wenn seine Vermutung richtig war, konnte es extrem gefährlich sein, Dawn direkt zu kontaktieren. Frieder hätte natürlich einfach zu ihr fahren und dort klingeln können, aber wenn sie ebenfalls eine solche Nachricht bekommen hatte wie Mehmet, musste er damit rechnen, dass sie unter Beobachtung stand.
Deshalb schlich er seit einer geschlagenen Stunde in den Straßen rund um Dawns Wohnung um die Häuser und überlegte, wie er vorgehen sollte.
»Was kann ich machen? Denk nach, Frieder, streng deinen Kopf an«, murmelte er vor sich hin, als er zum mittlerweile dritten Mal durch den Sternschanzenpark lief, um anschließend am Bahnhof rechts abzubiegen und von dort in Richtung Rote Flora zu gehen. Seine unterschwellige Hoffnung war, dass er Dawn rein zufällig über den Weg laufen könnte, wenn er sich nur lange genug in ihrem Viertel herumtrieb. Sie musste ja schließlich auch mal einkaufen gehen. Wirklich daran glauben tat er jedoch nicht.
Plötzlich sah er Sophies Freundin Martina, die Psychologin, die Simon damals geholfen hatte. Sie kam ihm direkt entgegen und war noch gute dreißig Meter entfernt, als sie auch ihn entdeckte. Frieder winkte ihr lebhaft zu, schien sie damit aber aus irgendeinem Grund zu verschrecken. Sie machte eine Geste, die Frieder nur so deuten konnte, dass er sich abregen solle. Dann schaute sie demonstrativ weg, steuerte die nächste Parkbank an und setzte sich.
Frieder war unsicher, was sie jetzt von ihm erwartete. Sollte er verschwinden oder weitergehen? Er blieb unschlüssig stehen. Da sah er, wie Martina verstohlen zu ihm herüberschaute und ungeduldig wirkte. Offenbar wollte sie von ihm, dass er zu ihr ging, also lief er hin.
»Setz dich und frag mich nach einer Zigarette«, zischte sie, ohne ihn anzusehen. Sie wirkte nervös. Frieder rauchte zwar nicht, aber er verstand, was das sollte. Er setzte sich neben sie, sah zu ihr rüber und fragte: »Entschuldigung, haben Sie eine Zigarette für mich?«
»Ja, selbstverständlich«, sagte sie laut und zog theatralisch eine Packung Kippen aus der Handtasche. Sie hielt ihm die Schachtel hin und er nahm sich eine. Während Frieder die Zigarette noch unschlüssig zwischen den Fingern rollte, hielt Martina ihm schon ein Feuerzeug hin.
»Ich rauche doch gar nicht«, flüsterte er, doch Martina blieb hart. »Das gehört zur Tarnung. Rauch jetzt.«
»Tarnung, ja klar«, murmelte er und ließ sich achselzuckend Feuer geben.
»Nur paffen«, zischte Martina ihm noch zu, doch da war es bereits zu spät. Frieder hustete nach dem ersten Zug, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. »Meine Güte, wer macht sowas denn freiwillig?«, rief er angewidert, während Martina sich verschreckt nach allen Seiten umsah.
»Oh bitte, du lässt uns noch auffliegen. Versuche, dich zusammenzureißen«, flehte sie verzweifelt. Doch Frieder hatte genug und warf die Zigarette weg.
»Was soll denn dieses Theater?«, fragte er genervt. »So, wie du dich aufführst, machst du dich erst recht verdächtig.«
»Du verstehst das nicht, Frieder. Ich muss sehr vorsichtig sein, weil …«
»Weil Dawn einen Drohbrief bekommen hat, in dem sie aufgefordert wird, sich von Simon fernzuhalten und Palmer & Stark zu verlassen?«, riet Frieder, und hoffte, sich damit nicht zu weit aus dem Fenster gelehnt zu haben.
Martinas Gesicht erstarrte. Sekundenlang sagte sie gar nichts und Frieder hätte schwören können, dass sie nicht einmal atmete, doch dann bekam sie sich doch noch in den Griff. »Woher weißt du das?«, flüsterte sie mit zitternder Stimme. »Wenn du es weißt, dann …«
»Weil Mehmet auch so eine Nachricht bekommen hat«, unterbrach Frieder sie. »Und ich wusste es nicht, sondern habe es mir nur gedacht. Dawn war nicht erreichbar und im Büro war heute auch niemand. Und jetzt treffe ich dich in der Nähe von Dawns Wohnung.«
Martina schloss die Augen und schluckte. Dann sah sie Frieder wieder an und sagte: »Hier geht etwas Böses vor sich. Wir müssen etwas tun.«
Frieder nickte mit düsterem Gesicht. »Ja, müssen wir. Aber ich habe eine scheiß Angst.«
»Ich auch, Frieder. Ich auch.«
***
»Ich bin Simon Stark und ich muss zu Martinus«, rief er aufgebracht, doch der Wachmann ließ ihn nicht passieren.
»Gehen Sie nach Hause, sonst nehme ich Sie in Gewahrsam«, drohte er und legte eine Hand an sein Holster. Simon wich einen Schritt zurück. Der Typ schien extrem nervös zu sein. Wahrscheinlich hatte man die höchste Alarmstufe ausgerufen und das Wachpersonal zu erhöhter Vorsicht ermahnt.
»Sind Sie neu hier?«, fragte Simon vorsichtig. »Wenn ja, müssen Sie Herrn Martinus aber trotzdem kennen. Bitte rufen Sie ihn an und sagen ihm, dass Simon Stark hier ist und ihn sprechen muss. Er wäre sehr verärgert, wenn er später erfährt, dass Sie mich wieder fortgeschickt haben. Wollen Sie das etwa?«
Der Wachmann wirkte verunsichert. Simon sah förmlich, wie es in seinem Kopf ratterte. Ihn jetzt noch weiter unter Druck zu setzen, wäre riskant gewesen, also wartete er ab, zu welchem Entschluss der arme Kerl kommen würde.
»Martinus, sagten Sie?«
Simon nickte geduldig.
»Also gut, ich rufe an. Aber Sie rühren sich nicht. Sie bleiben genau da stehen.«
Simon tat ihm den Gefallen. Der nervöse Sicherheitsmann holte sein Funkgerät hervor und vergewisserte sich bei seinem Vorgesetzten. Wenige Sekunden später entspannte sich der Mann sichtlich. Er winkte Simon zu sich heran.
»Ist in Ordnung, Sie können hochfahren. Martinus erwartet Sie. Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten.«
Simon nickte ihm aufmunternd zu und eilte dann zum Aufzug. Kurz darauf stand er auf dem Korridor, in dem Martinus sein Büro hatte, und sah sich aufmerksam um. Niemand rannte aufgeregt auf den Fluren hin und her, kein hektisches Stimmgewirr klang aus den Büros, und auch sonst deutete nichts auf eine ernste Gefährdungslage hin. Letztlich war der Verfassungsschutz eben auch nur eine deutsche Behörde, und Behörden lieben nun mal geregelte Abläufe. Effizienz funktionierte ohne Hektik einfach besser.
»Simon, was tust du hier?«, rief Martinus, der gerade mit vier weiteren Männern und zwei Frauen aus einem Raum, ein paar Meter den Flur rauf, kam. »Ich will helfen. Du weißt, ich kann nützlich sein. Also bitte, Martinus.«
Der Agent sah sich um. Dann fasste er Simon am Ellenbogen und zog ihn zu den Waschräumen.
»Wir reden da drin. Eine Minute, mehr nicht«, raunte Martinus ihm zu und bedeutete Simon, ihm zu folgen.
Als sie drinnen waren, zog Martinus die Tür zu und kontrollierte alle Toilettenkabinen, ob sich jemand darin aufhielt. Dann wandte er sich an Simon. »Also ist dir doch noch etwas zu der Bombe von der Moorweide eingefallen?«, fragte er ihn gespannt.
Doch Simon schüttelte den Kopf. »Nein, es geht nur um die neue Bombe. Ich will euch helfen.«
Martinus schlug mit der flachen Hand auf eines der Waschbecken und fuhr Simon ärgerlich an: »Was habe ich dir gesagt, Simon? Ich werde Palmer & Stark sicher nicht in eine offizielle Ermittlung des Hamburger Verfassungsschutzes einbinden. Geht es nicht in deinen Kopf, dass ihr Zivilisten seid?«
»Ihr hattet auch keine Skrupel, mich zu erpressen, eine Neonazigruppe zu infiltrieren, erinnerst du dich? Also komm mir nicht mit Zuständigkeiten und solchem Blödsinn. Ich hab mehr als einmal meinen Arsch riskiert, um für euch die Kartoffeln aus dem Feuer zu holen«, warf er dem Agenten wütend an den Kopf. Er hatte nicht vor, hier unverrichteter Dinge wieder abzuziehen.
»Das war damals ein Deal, von dem du auch was hattest«, blaffte Martinus zurück. »Wir hätten dich auch in den Knast gehen lassen können.«
Jetzt schlug Simon zur Abwechslung mit der Faust gegen die Wand. »Du sturer Bock, erinnere dich lieber mal, wem du es zu verdanken hast, dass du auf deinem Posten hockst.«
Das hatte gesessen. In der Tat waren es Simon, Sophie und die anderen gewesen, die Martinus bei einem Fall, der schon etwas zurücklag, so gut hatten aussehen lassen, dass man ihm die Leitung der Abteilung für Extremismusbekämpfung übertragen hatte.
»Das ist nicht fair, und das weißt du auch«, presste er hervor. Simon wusste selbst, dass es nicht die feine Art war, Martinus auf diese Weise bei seiner Ehre zu packen, aber er ließ ihm ja keine andere Wahl. Er sah ihn schweigend an und hob die Augenbrauen, als wolle er sagen und was machen wir jetzt aus dem Schlamassel?
»OK, jetzt mal angenommen, ich lasse euch mitmischen – was könnte Palmer & Stark denn schon tun? Ihr habt doch auch keine Erkenntnisse. Oder etwa doch?« An diesem Punkt schien etwas im Kopf des Agenten Klick zu machen. »Warte mal, hat Dawn Widow vielleicht …«
»Dawn ist nicht mehr im Team«, unterbrach er Martinus barsch.
»Was soll das heißen?«, fragte der entgeistert.
»Sie hat sozusagen gekündigt«, sagte Simon gedämpft und ließ die Schultern hängen. »Ragnar hat auch das Handtuch geworfen«, fügte er hinzu. »Palmer & Stark existiert nicht mehr.«
***
»Ich finde, wir sollten zur Polizei gehen«, schlug Martina vor, doch wie zuvor Dawn, wollte nun auch Frieder nichts davon wissen. »Was erzählen wir denen denn? Das, was passiert ist vielleicht? Dann gehen sie als Erstes zu Simon, um ihn dazu zu befragen, und das bekommt der Briefschreiber womöglich mit. Willst du schuld sein, wenn Fiona und Mehmets anderen Brüdern was passiert?«
Martina hob ratlos die Hände. »Und was schlägst du stattdessen vor?«
Frieder rückte dichter an sie heran und dämpfte seine Stimme zu einem Flüstern. »Wir beide müssen Augen und Ohren für Dawn, Mehmet und Simon sein. Wenn sie keinen Kontakt zueinander haben dürfen, müssen wir dafür sorgen, dass sie ihn dennoch haben können, ohne dass es jemand merkt.«
Martina führte jetzt ihrerseits ihre Lippen an Frieders Ohr. »Toller Plan, aber du vergisst etwas«, flüsterte sie.
»Was wäre das?«
»Du bist einer von denen, zu denen sie keinen Kontakt haben dürfen, du Schlaumeier.«
Frieder machte den Mund auf, um etwas zu erwidern, schloss ihn jedoch gleich wieder. Dagegen war einfach nichts zu sagen. Er hatte sich vorgemacht, außen vor zu sein, weil er selbst nicht bedroht wurde, aber er hatte nicht bedacht, was Martina so scharfsinnig erkannt hatte.
»Dann sind wir am Arsch«, seufzte er.
»Wer sagt das?«, fragte Martina und setzte sich aufrecht hin. »Bin ich denn niemand? Ich kann zu Simon gehen und ihm alles erzählen. Und Dawn kann ich auch weiterhin treffen.«
Frieder sah sie skeptisch an. »Du? Aber das ist gefährlich. Du bist keine aus dem Team und für solche Situationen nicht ausgebildet.«
Frieder erntete einen mitleidigen Blick. »Aber du bist natürlich ein mit allen Wassern gewaschener, harter Hund. Mach dich doch bitte nicht lächerlich, Kleiner. Also keine Widerrede – du gehst nach Hause und lässt mich machen. Danach melde ich mich wieder bei dir.«
Dem hatte Frieder nichts entgegenzusetzen. Martinas Ton duldete keinen Widerspruch, und außerdem war ja alles richtig, was sie sagte.
»Also gut, einverstanden. Aber du rufst mich an.«
»Ja, versprochen.«
»Und ... Martina?«
»Ja?«
»Sei bitte verdammt vorsichtig.«
***
»Du da mit der Sackkarre. Komm mal rüber hier.«
Kolb drehte sich nach der herrischen Stimme um und sah einen untersetzten, kleinen Wichtigtuer mit Klemmbrett, der ihn zu sich heranwinkte wie ein Hundetrainer irgendeinen Köter. Gleichmütig schwenkte er die Karre herum und trottete betont langsam zu dem fetten Idioten hin.
»Was gibt´s denn, Boss?«, fragte er gelangweilt und tat dabei, als würde er auf einem Kaugummi herumkauen.
»Ist das die Eisskulptur fürs Buffet?«
Kolb sah den Typen an, als hätte der nicht alle Tassen im Schrank. »Glauben Sie, ich transportiere eine Eisskulptur ohne Kühlung auf ´ner Sackkarre? Ehrlich? Und überhaupt bin ich hier Security und kein Kellner.«
»Sag doch einfach nein, du Klugscheißer. Und was hast du da?«
Kolb hatte nicht vor, die Frage zu beantworten. Er wollte den Spinner nur schnell loswerden und ihn nicht misstrauisch machen. Deshalb stellte er eine Gegenfrage.
»Und die Eisfigur ist echt fürs Buffet? Wieso ist die noch nicht da? Wenn meine Firma den Auftrag hätte, wäre alles glatt gelaufen, kannste glauben, Chef. Wir können auch Logistik.«
Der Angestellte des Multiplex-Kinos fuhr sich aufgebracht mit der freien Hand durch seinen schütteren grauen Haarkranz und schnaubte. »Eine verfluchte Sauerei ist das. Wir haben heute Premierenpublikum und die Presse im Haus. Der Marketing-Chef vom Filmverleih hängt mich an den Eiern auf, wenn hier was nicht klappt.«
»Wird schon werden, Mann«, sagte Kolb in aufmunterndem Ton und hob die rechte Hand zu einem lässigen Abschiedsgruß. »Ich muss dann auch mal. Sonst hängt mein Chef nämlich mich an den Eiern auf, weißte.«
Der Dicke winkte resigniert ab und reckte seinen Kopf wieder gehetzt in alle Richtungen. »He, du da! Bist du der mit der Skulptur?« Und schon rannte das schwitzende Nervenbündel los und kümmerte sich nicht mehr um Kolb.
Er kippte seine Sackkarre wieder an und setzte seinen Weg fort. Er war jetzt im Foyer im Erdgeschoss. Rechts vom Eingang befand sich ein zum Haus gehöriges Burgerrestaurant, das bereits gut gefüllt war.
Wäre auch ein schönes Ziel gewesen, dachte Kolb bedauernd und ging weiter zu dem gläsernen Aufzug. Sein Ziel lag im Obergeschoss, wo sich die Eingänge zu den zwölf Kinosälen befanden. An der Aufzugtür hing das Plakat für den neuen Action-Blockbuster, der heute in diesem Kino mit einer pompösen Premierenparty vorgestellt wurde.
Stahlharte Revanche – Hollywood war gestern stand in reißerischen, roten Großbuchstaben darauf. Das wirkte zwar für Kolbs Geschmack etwas trashig, aber es zog die Leute an. Keine Hollywood-Produktion, sondern der neueste Film des deutschen Action Shootingstars Marlene Tesch. Kolb musste zugeben, dass diese Amazone absolut heiß war. Es tat ihm fast schon leid, dass auch sie heute anwesend sein würde.
Dann glitt die Fahrstuhltür auf. Kolb schob die Sackkarre hinein und ließ sich mit seiner tödlichen Fracht nach oben fahren.
Dort angekommen sah er, dass sich bereits knapp einhundert Gäste vor dem großen Saal tummelten, wo das Catering aufgebaut war. Er sah auf die Uhr und verglich das aktuelle Geschehen mit dem vom Veranstalter vorgesehenen Zeitplan. Der Redner stand noch nicht auf dem Podest. Das Ganze hatte also bereits jetzt einen Verzug von fünf Minuten. Kolb beglückwünschte sich still dafür, sich abermals gegen einen Zeitzünder entschieden zu haben.
Er wartete bei den Spielautomaten gegenüber dem Aufzug und beobachtete die Leute weiter. Im Moment sahen sie sich alle immer wieder neugierig in alle Richtungen um. Wäre er jetzt dort hinübergegangen, hätten ihn Dutzende Besucher bewusst wahrgenommen und würden sich auch später an ihn erinnern können.
Nach weiteren drei oder vier Minuten tauchte dann endlich der angekündigte Redner auf. Laut Plan musste das der Chef des Verleihes sein, der den Film in die Kinos brachte. Alle Gäste des Events drehten sich zu ihm um und achteten auf nichts anderes mehr. Das lag weniger daran, dass die Rede interessant zu werden versprach, als an der Erwartung der Leute, dass nach ein paar einleitenden Worten auch die Hauptdarstellerin dazukommen würde.
Kolb beschloss, dass der Zeitpunkt ideal sei, und schob mit der Karre los. Der Kreis der Zuhörer war auf der bühnenabgewandten Seite des Raumes durch das Buffet begrenzt. Die Speisen waren auf langen Tafeln angerichtet, von denen bodenlange, weiße Tischdecken hinab hingen. Unter dem Tisch genau in der Mitte lag die Stelle, von der aus die Bombe ihre optimale Wirkung entfalten würde, hatte Kolb errechnet. Unauffällig näherte er sich der Szenerie und behielt dabei immer die Menge im Auge. Sekunden später war er an Ort und Stelle, zog das Tuch von der präparierten Gasflasche und bugsierte sie von der Sackkarre. Kolb ging in die Hocke, hob auf seiner Seite der Tafel das Tischtuch hoch und schob die Flasche langsam und vorsichtig unter die Tischplatte. Als sie komplett darunter verschwunden war, klappte er das Tuch wieder zurück, stand auf und schaute scheinbar interessiert zu dem Redner hinüber.
»Und jetzt, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Gäste, freue ich mich außerordentlich, Ihnen ankündigen zu dürfen: die wunderbare Marlene Tesch.«
Jubel brandete auf und Sprechchöre ertönten, als die neue Ikone des deutschen Action-Kinos durch den Vorhang nach vorne trat, der den Eingang zum Kinosaal verdeckt hatte.
Kolb verdrückte sich in diesem Augenblick wieder zurück in Richtung Aufzug. Dort angekommen ließ er die Sackkarre achtlos stehen und eilte einige Meter weiter zu den Toiletten. Die Splitterwirkung der Bombe war zu stark, als dass er sich gefahrlos in Sichtweite der Explosion hätte aufhalten dürfen. Die Sanitärräume dagegen würden ihm genügend Schutz bieten.
Drin stand ein etwa zwölfjähriger Junge am Waschbecken. Ansonsten war niemand da. Der Junge sah ihn an, und Kolb wusste, dass der Kleine sich später an ihn würde erinnern können. Seine Wachschutzuniform machte ihn zu außergewöhnlich für einen Jungen dieses Alters, um ihn einfach schnell wieder zu vergessen.
»Hey, du verpasst gerade Marlene Tesch«, raunte er dem Kleinen verschwörerisch zu.
»Au Mann, kacke«, rief der und warf hektisch das Papierhandtuch weg.
»Der beste Platz ist vor dem Buffet-Tisch in der Mitte«, rief er ihm nach. »Da kann sie dich auch sehen.«
Kolb hatte keinen Zweifel, dass der Junge seinem Rat folgen würde. Marlene Tesch zu sehen, war zweifellos der Burner. Selbst von ihr gesehen zu werden dagegen der Jackpot für jeden bekloppten Fan. Damit war das Zeugen-Problem gelöst.
Kolb schloss sich in einer der hinteren Kabinen ein und zog sein Handy hervor.
***
»Was meinst du damit, Palmer & Stark existiert nicht mehr? Willst du mich verarschen?« Martinus war fassungslos. Doch Simon konnte nur betrübt den Kopf schütteln.
»Es ist leider wahr. Zuerst ist Ragnar von der Bildfläche verschwunden. Alles, was ich von ihm noch gefunden habe, war diese Nachricht.« Simon kramte den verknitterten Zettel aus seiner Hosentasche und überreichte ihn Martinus, der ihn gleich las.
»Was ist denn in den Jungen gefahren? Hattet ihr Streit?«
»Nein, da war nichts«, versicherte Simon. »Aber es geht noch weiter. Ich dachte, Dawn könnte mir sagen, was mit ihrem Freund los ist. Aber als ich sie zu Hause aufsuchte, war sie ganz merkwürdig. Alles, was ich noch aus ihr rausbekommen konnte, war, dass sie ebenfalls das Handtuch schmeißt. Es gab keine Erklärung von ihr. Stattdessen hat sie mich einfach stehen lassen und sich in einem Zimmer eingeschlossen.«
Martinus schaute betroffen zu Boden. »Es gibt bestimmt eine Erklärung dafür. Die werden sich schon wieder beruhigen«, versuchte der Agent zu trösten, aber Simon wehrte ab.
»Das glaube ich nicht. Das Schlimmste wissen Sie ja noch gar nicht. Sophie ist auch verschwunden.«
Simon war aufgewühlt. Darüber zu sprechen, machte alles irgendwie noch viel schlimmer. Jetzt konnte er es sich selbst nicht mehr schönreden. Er musste sich an einem der Waschbecken festhalten, weil ihm schwindelig war. Martinus legte ihm tröstend eine Hand auf den Rücken und sagte:
»Das tut mir wirklich leid, Simon. Aber jetzt muss ich meine ganze Aufmerksamkeit dem Fall widmen, das verstehst du doch.«
Simon nickte. »Natürlich. Mach dir keine Gedanken, ich komme klar. Aber bitte lass mich dir helfen. Ich muss mich dringend ablenken, sonst drehe ich noch durch.«
Martinus rang ganz offensichtlich mit sich. Simon wusste ja, dass sein Freund keinen Außenstehenden wie ihn in die Ermittlungen einbeziehen wollte, aber Simon kannte auch die weiche Seite von Martinus. Es würde ihm schwerfallen, einem Freund, der so deprimiert war, etwas abzuschlagen. Also wartete Simon gespannt.
»Hör zu, du weißt, dass ich das eigentlich nicht machen kann, aber wie du schon sagtest – ich schulde dir was.«
»Also beziehst du mich mit ein?« Simon sah ihn hoffnungsvoll an und Martinus seufzte.
»Du gibst sowieso keine Ruhe. Und ehe ich dich unbeaufsichtigt lasse und du dich sowieso einmischst, habe ich dich lieber im Blick. Also komm kurz mit in mein Büro. Ich informiere dich über den Stand der Dinge.«
Martinus schloss die Tür hinter sich und bedeutete Simon, sich zu setzen, als sie dort ankamen. Dann platzierte er sich ihm gegenüber und drehte Simon den Monitor seines Rechners zu.
»Das ist ein Scan der Bombendrohung. Was hältst du davon?«
Simon las sich das Schriftstück durch. Es war knapp gehalten und mit einem handelsüblichen Drucker hergestellt worden, soweit er das beurteilen konnte.
»Die Drohung kam schriftlich? Wer war der Adressat?«
Martinus rang mit sich. Etwas an der Frage schien ihm unangenehm zu sein.
»Martinus, kommen Sie schon. An wen war das Schreiben gerichtet? Ist es bei einer Zeitung eingegangen? Bei der Polizei? Sagen Sie schon.«
»Herrgott noch mal, es war an mich adressiert«, rief er aufgebracht und sprang von seinem Stuhl auf. Er drehte Simon den Rücken zu und massierte sich die Schläfen. Simon sagte nichts, um seinen Freund nicht noch mehr aufzuregen. Er musste ganz offensichtlich erst einmal durchatmen. Nach einer Weile drehte sich Martinus wieder um und setzte sich zurück auf seinen Stuhl.
»Es ergibt überhaupt keinen Sinn, und bevor du fragst: Nein, ich habe keine Ahnung, was das zu bedeuten hat.« Der Gesichtsausdruck des Staatsschützers hatte in diesem Moment etwas Beleidigtes, fast schon Bockiges. Martinus nahm die Sache persönlich. Simon konnte das gut verstehen.
»Das ist beunruhigend für dich, aber es sagt auch etwas über den Täter«, meinte Simon schließlich. »Er muss in einer besonderen Beziehung zu dir stehen, wenn er die Nachricht an dich persönlich geschickt hat. Hat er doch, oder verstehe ich das falsch?«
»Nein, du hast richtig verstanden. Da stand nicht an den Verfassungsschutz, sondern mein Name auf dem Umschlag.«
»Habt ihr den Brief untersucht? Fingerabdrücke, DNA?«
»Natürlich haben wir. Aber komplette Fehlanzeige.«
Simon dachte nach. Selbstverständlich konnte jeder herausfinden, wer die Abteilung für Extremismusbekämpfung beim Hamburger Verfassungsschutz leitete, aber es war doch extrem ungewöhnlich für Terroristen, sich an eine konkrete Person bei den Ermittlungsbehörden zu wenden.
»Gab es nach dem ersten Anschlag kein Bekennerschreiben?«, fragte Simon weiter.
»Sollte man meinen«, antwortete Martinus. »Aber auch hier – Fehlanzeige. Das ist für politischen oder religiösen Extremismus völlig uncharakteristisch. Solche Typen führen Anschläge eigentlich aus, um auf sich und ihre Sache aufmerksam zu machen.«
»Vielleicht ein Schwulenfeind«, mutmaßte Simon. »Es könnte doch sein, dass die Tat an sich für den Attentäter Statement genug ist. Möglicherweise ist es jemand, der hinter seiner Sache zurücksteht.«
Martinus hielt ganz offensichtlich nichts von dieser Theorie, und selbst Simon erschien sie jetzt, nachdem er sie ausgesprochen hatte, nicht mehr wirklich überzeugend.
»Dann muss es mit dir persönlich zu tun haben«, folgerte Simon. Er wendete sich noch einmal dem Bild des Drohschreibens zu.
Es hat angefangen und es ist lange nicht vorbei. Eine weitere Bombe wird heute noch zur Explosion gebracht. Sie werden es nicht verhindern können, aber Sie werden dann wissen, dass man mich ernstnehmen muss.
»Das ist so nichtssagend«, stellte Simon konsterniert fest. »Selbst psychopathische Einzeltäter sind normalerweise größere Plaudertaschen als dieser Typ. Von echten Terrororganisationen ganz zu schweigen.«
Martinus sah angespannt auf die Uhr. »Verstehst du jetzt, was mein Problem ist?«, fragte er Simon. »Wir haben einen entschlossenen Täter, einen unmittelbar bevorstehenden Anschlag und kaum Erkenntnisse. Wir werden es nicht verhindern können. Da kannst du auch nichts tun.«
Es war in der Tat zum Verzweifeln, fand Simon. Hier zu sitzen und darauf zu warten, dass irgendwo in der Stadt Menschen von einer Bombe zerfetzt wurden, war niederschmetternd.
»Was ist mit einer Warnung an die Öffentlichkeit?«
Martinus schloss die Augen und flüsterte: »Abgelehnt. Der Bürgermeister will keine Panik. Dieser Idiot wird sich noch wünschen, nie geboren zu sein, wenn er am Explosionsort durch das Blut der Opfer waten muss. Und bei Gott, ich werde ihn persönlich dorthin schleifen.«
Simon verstand die Frustration des Agenten sehr gut, aber sich davon lähmen zu lassen, war auch keine Option.
»Sind Sie Ihre alten Fälle schon durchgegangen?«, wollte Simon wissen. »Gibt es da jemanden, der für solche Anschläge in Frage kommt?«
»Simon, das habe ich doch sofort überprüft, was glaubst du denn? Nein, mit einem Sprengstoffexperten habe ich mich noch nie angelegt.«
Das war also auch eine Sackgasse. Das Handy vibrierte in Simons Hosentasche, aber er achtete nicht drauf. Es musste doch irgendeinen Anhaltspunkt geben, um den nächsten Anschlagsort zu bestimmen.
Wieder vibrierte es in seiner Tasche. Genervt zog er das Telefon hervor. Eine Kurznachricht war eingegangen.
Gehen Sie mal wieder ins Kino. Der neue Film von Marlene Tesch. Bombenstimmung garantiert.
»Scheiß Werbung«, schnaubte er und stopfte das Handy zurück in die Jeans.
***
Ob er es hinterher verstehen würde? Kolb hoffte, dass er nicht zu subtil gewesen war.
»Du wirst es schon begreifen, Simon«, flüsterte er belustigt und schloss die Nachrichten-App. Es war jetzt Zeit für den Anruf.
***
Marlene Tesch wartete schon fünf Minuten hinter dem Vorhang darauf, dass der Laudator sie nach vorne rief. Sie hatte Lampenfieber. Öffentliche Auftritte lagen ihr einfach nicht. Vor der Kamera im Studio war alles OK, aber sie war keine Theater-Mimin. Live-Publikum behagte ihr nicht. Durch einen Schlitz konnte sie vorher schon sehen, was gleich auf sie zukommen würde. Sie musste sich unbedingt von dieser Masse anonymer Gesichter ablenken, die voller Vorfreude waren.
Sie sah über die Köpfe hinweg in Richtung Rolltreppen und Fahrstuhl. Dabei blieb ihr Blick kurz an einem Security-Mann hängen, der hinter einem der Buffet-Tische auftauchte wie ein Maulwurf aus dem Boden.
Was hat der denn unter dem Tisch zu suchen?
Ungewöhnliche Details fielen ihr auf. Sie hatte Wahrnehmungstraining absolviert, um sich auf ihre Rolle als ehemalige Elite-Agentin vorzubereiten. Die Produktionsfirma hatte weder Kosten noch Mühen gescheut und einen Experten angeheuert, der früher CIA-Agenten ausgebildet hatte. Dieser Mann hatte ihr eine völlig neue Art beigebracht, ihre Umgebung wahrzunehmen, und diese neue Wahrnehmung sagte ihr, dass der Typ nicht koscher war. Ob er etwas stehlen wollte? Es war auch möglich, dass es sich um einen irren Stalker handelte oder einen nicht geladenen Pressemann, was natürlich die harmloseste Erklärung gewesen wäre.
Nachdem der Typ wieder stand, hielt er sich nur noch wenige Sekunden hinter dem Buffet auf. Dann entfernte er sich rasch in den rückwärtigen Teil des großen Saales, von dem aus die Eingänge zu den Kinoräumen abgingen. Tesch verfolgte ihn noch bis zu den Toiletten, doch dann wurde sie abgelenkt, weil der Verleihchef sie nun dem Publikum ankündigte. Mechanisch trat sie hinter dem Vorhang hervor und setzte ein einstudiertes Lächeln auf, während es in ihrem Kopf noch ratterte. Ein Gutes hatte das Auftauchen dieses merkwürdigen Security Mannes gehabt – ihr Lampenfieber war völlig in den Hintergrund getreten.
Ihr schlug lautstarke Verehrung entgegen, als sie ins Scheinwerferlicht trat. Einige Sekunden hielt ihre Entrückung noch an, doch dann traf sie die ganze Wucht der Zuneigung ihrer Fans. Jeder Gedanke an Stalker, Diebe und andere zwielichtige Gestalten wurde zur Seite gedrängt. Dafür kehrte die Nervosität jetzt mit Macht zurück.
Verkrampft lächelnd stand sie da und blickte hilfesuchend zu dem Redner hinüber, der ihre missliche Lage erkannte und sofort beschwörend die Arme hob, um die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zu ziehen.
»Bitte, einen Augenblick Ruhe. Ich habe eine Ankündigung zu machen«, rief er, und tatsächlich wurde es gleich still. Alle Blicke hefteten sich erwartungsvoll auf ihn, was Marlene Tesch eine kleine Verschnaufpause verschaffte. Sie ließ ihren Blick noch einmal schweifen, um die Nervosität wieder abzuschütteln, da sah sie einen etwa elf- oder zwölfjährigen blonden Jungen von den Toiletten her kommend auf die Menschenmenge zu rennen, die vor Marlene Tesch stand. Der Kleine hatte vor Aufregung gerötete Wangen und er trug das brandneue Promotion-Shirt des Films. Eindeutig einer ihrer jüngeren, aber umso fanatischeren Fans. Sie musste lächeln, als sie ihm zusah, wie er sich hinter der letzten Reihe durchquetschte und schließlich vor der Mitte des üppig gedeckten Buffets stehen blieb. Da die Ansprache, die gerade lief, ihn nicht sonderlich zu interessieren schien, lenkte der kleine Mann sich mit einem anerkennenden Blick auf die aufgefahrenen Speisen ab.
Tesch musste sich ein lautes Auflachen verkneifen, als sie ihn dabei beobachtete, wie er einen Hähnchenschenkel stibitzte und herzhaft hineinbiss. Doch er hatte wohl unterschätzt, wie fettig diese war, denn als er die Keule in Rekordzeit verspeist und den abgenagten Knochen zurück auf die Platte gelegt hatte, besah er sich ratlos seine verschmierten Hände. Aber er wusste sich zu helfen und griff beherzt nach der langen, strahlend weißen Tischdecke, die fast bis auf den Boden hing.
Tesch sah sich die Szene amüsiert an, doch dann blieb ihr plötzlich das Glucksen im Halse stecken. Unter der gelupften Tischdecke sah sie etwas, das nur auf den ersten Blick wie eine gewöhnliche Gasflasche aussah. So ein Ding hatte sie selbst zu Hause für einen großen Gasgrill im Einsatz, nur mit dem Unterschied, dass an ihrem erstens kein Handy mit Panzertape befestigt war, und daran auch kein Gewirr an Drähten von eben diesem Handy in den Verschluss der Flasche führte.
Sofort tauchten die Fernsehbilder von dem feigen Anschlag auf der Moorweide vor ihrem inneren Auge auf. Sie öffnete den Mund und wollte schreien, wollte all diese Menschen warnen, doch da erklang ein Klingelton. Er kam von dem Handy an der Gasflasche. In diesem Moment wurde alles vollkommen ruhig um Marlene Tesch herum. Alle Geräusche schienen zu verstummen. Sie hörte den Redner nicht mehr, auch das zweite Klingeln des Handys nicht. Alles bewegte sich in absoluter Zeitlupe. Das letzte, was sie denken konnte, war, geh da weg, Kleiner.
Im nächsten Augenblick detonierte die Flasche und verwandelte das Foyer in ein Inferno. Das wahnsinnige Krachen zerriss Marlene Tesch die Trommelfelle, Millisekunden, bevor sie erst von Dutzenden scharfkantiger Schrapnelle und dann von der mörderischen Druckwelle getroffen wurde. Immer noch lief alles wie in Zeitlupe vor ihr ab. Sie konnte grauenvoll deutlich sehen, wie der Körper des kleinen Jungen regelrecht zerfetzt wurde, ehe seine Überreste vom Feuerball verschluckt wurden. Fast zeitgleich erwischte es die Menschen, die in der letzten Reihe standen. Sie wurden wie von einer gigantischen Faust in die vor ihnen Stehenden geschossen und dabei von einem wütenden Schwarm kleinster Metallteile durchsiebt. Aus dem Buffet-Tisch wurde ein Wirbelsturm aus Holztrümmern, die sich ebenfalls in tödliche Geschosse verwandelten. Der Feuerball dehnte sich explosionsartig aus und verschlang alles im Umkreis einiger Meter. Marlene Tesch wurde wie eine Puppe nach hinten geschleudert. Es fühlte sich an, als würde sie von einem gigantischen Tennisschläger gegen die Wand gedroschen.
Das ist der Tod, der Tod, ich sterbe jetzt, heilige Maria Mutter Gottes …
Und dann war es vorbei.
***
Es klopfte an der Tür und beide wussten instinktiv, was das zu bedeuten hatte. Nach einer Anstandssekunde trat unaufgefordert ein Mitarbeiter ein und sah Martinus mit einem Ausdruck in den Augen an, der jeden Zweifel sofort eliminierte.
»Wo und wie viele Opfer?«, fragte Martinus dann auch nur mit bebender Stimme.
»Multiplex Kino Othmarschen bei der Premiere vom neuen Marlene Tesch Film. Noch keine Informationen zur Zahl der Opfer.«
»Gottverdammter Bastard«, stöhnte Martinus. »Geht es noch schlimmer? Also los. Alle aufsitzen, wir müssen da hin.«
»Ich veranlasse das, Chef«, murmelte der Überbringer der schlechten Nachricht und verschwand wieder.
»Das verfluchte Schwein hat uns tatsächlich keine Chance gelassen«, grollte Martinus, doch Simon hörte schon nicht mehr hin. Die Nachricht hatte ihm einen Schlag in die Magengrube versetzt – zuerst, weil er es absolut nicht glauben konnte, und dann noch einen, als er es schließlich glauben musste. Simon fingerte sein Handy wieder aus der Tasche und rief die SMS noch einmal auf, die er vor einigen Minuten bekommen hatte.
Gehen Sie mal wieder ins Kino. Der neue Film von Marlene Tesch. Bombenstimmung garantiert.
Das war unter keinen Umständen ein grausamer Zufall. Mit dieser SMS hatte ihm der Attentäter gesagt, wo die Bombe hochgehen würde. Aber warum um alles in der Welt ihm?
Alles drehte sich plötzlich um ihn. Ragnar, Dawn, Sophie, die SMS – was geschah nur gerade mit seiner Welt?
»Ich muss jetzt los, Simon. Ich melde mich bei dir, aber du musst jetzt gehen. Ich kann dich da nicht mit hinnehmen«, sagte Martinus und eilte zur Garderobe.
»Simon kommst du bitte?«
»Was? Ja, natürlich«, antwortete er abwesend und erhob sich wie in Trance. Er trottete hinter Martinus her, der bereits ungeduldig im Türrahmen stand und auf ihn wartete. Auf dem Flur wurde der Agent schon von zwei seiner Mitarbeiter erwartet, und gemeinsam spurteten sie zum Fahrstuhl, sobald Martinus sein Büro abgeschlossen hatte.
»Du findest ja allein raus«, rief er Simon noch im Weggehen zu. Dann war er mit seinen Männern im Lift verschwunden und Simon blieb allein zurück. Sekunden später meldete sich wieder sein Handy. Er warf einen langen Blick auf das Display, auf dem stand: Premiere des neuen Tesch-Films: ein Feuerwerk der guten Laune.
Sekunden später ging eine weitere Nachricht ein: Wir sehen uns bald, Simon Stark.
Das war alles. Er steckte das Handy weg und ging völlig betäubt in Richtung Treppenhaus, öffnete die Glastür und trottete kraftlos die Stufen hinunter. Er hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte, oder was der Bombenleger ausgerechnet von ihm wollte. Simon war an einem Punkt angelangt, an dem ihm alles zu viel wurde. Seine Freunde verließen ihn nach und nach, Sophie war fort, und er war zum Spielball von etwas geworden, das er nicht verstand und auf das er keinen Einfluss hatte. Es war zum Ausrasten, und genau das tat er in diesem Moment. Er blieb stehen, ballte die Fäuste und ließ seinem aufgestauten Frust freien Lauf.
»Ich werde dich kriegen, du verdammtes Arschloch«, brüllte er und traktierte das Treppengeländer völlig von Sinnen mit Schlägen und Tritten, bis er sich endlich wieder beruhigen konnte.
Keuchend lehnte er sich an die Wand und stellte fest, dass er dem Geländer mit den Tritten seiner Hochleistungsprothesen ziemlich zugesetzt hatte. Zwei Metallstreben waren verbogen und die Verankerung des Handlaufes war an einer Stelle aus der Wand gebrochen.
»Ey, was ist da los?«, brüllte jemand von oben durch das Treppenhaus. Dann waren eilig polternde Schritte zu hören. Simon raffte sich auf und rannte weg. Für Erklärungen und Entschuldigungen hatte er jetzt einfach keine Kraft. Sollte Martinus ihm halt eine Rechnung über den Schaden schicken.
***
Die Frage, ob sie zuerst zu Sophie oder zu Dawn gehen sollte, war nicht leicht zu beantworten, doch letztlich entschied sich Martina für Dawn. Erstens wohnte sie ohnehin um die Ecke, und zweitens konnte Martina sicher sein, dass sie zu Hause war, da sie sich erst vor kurzem am Bahnhof getrennt hatten, nachdem sie gemeinsam Martinas Zuhause im selben Stadtteil verlassen hatten.
»Martina, du schon wieder?«, klang es erstaunt aus der Gegensprechanlage, als Dawn ihr den Fahrstuhl runter schickte.
»Es ist alles viel größer«, sprudelte es aus Martina heraus, als sie aus dem Fahrstuhl in Dawns Appartement trat. »Es betrifft nicht nur dich, sondern auch Mehmet, und wahrscheinlich auch Sophie und Ragnar«, sprach sie weiter, ohne Dawn eine Atempause zu gönnen.
»Wovon redest du eigentlich?«, fragte die Hackerin dazwischen, als Martina eine kurze Atempause machte. Die drehte sich mit einer dramatischen Geste zu ihr um und rief: »Von einer Verschwörung gegen Simon. Jemand versucht, ihn fertigzumachen, und du musst herausfinden, wer dahintersteckt.«
Dawns Blick sprach Bände. Offenbar dachte sie, ihre Bekannte wäre übergeschnappt. Martina sah ein, dass es in den Augen der Hackerin ziemlich wirr klingen musste, was sie da gerade von sich gegeben hatte, und lachte. »Entschuldige, du weißt nicht, wovon ich spreche. Ich erkläre es dir.«
Martina berichtete Dawn ausführlich von ihrer Begegnung mit Frieder und davon, was der ihr über Mehmet erzählt hatte.
»Und deswegen glauben wir, dass jemand Simons Leben zerstören will. Das dürfen wir nicht zulassen.«
Dawn nickte bedächtig. »Natürlich müssen wir ihm helfen. Aber ich habe Angst um Fiona. Ich kann nichts riskieren.«
»Das musst du ja auch nicht«, versicherte ihr Martina. »Weder du noch Mehmet müsst gegen das verstoßen, was der Erpresser von euch verlangt. Dafür sind Frieder und ich da. Wir halten die Verbindung zwischen euch aufrecht, überbringen Nachrichten und helfen, wo wir können. Als Nächstes müssen wir Simon finden und ihn einweihen.«
Dawn sah immer noch ängstlich und skeptisch aus, aber Martina meinte, auch einen Anflug von Wut oder Trotz in ihrem Gesicht zu erkennen.
»Gib dir einen Ruck, Mädchen. Freunde müssen einander doch helfen«, raunte Martina ihr eindringlich zu.
»Was soll ich tun?«, fragte Dawn, nachdem sie noch einige Sekunden mit sich gerungen hatte. »Sag mir bitte, dass es einen Plan gibt.«
Martina zuckte mit den Schultern und grinste verlegen. »Nun, der Plan war, dich ins Boot zu holen. Alles Weitere wird sich finden. Wollen wir zusammen nachdenken?«
***
In der Wohnung war alles noch so, wie Ragnar es vor einem Jahr zurückgelassen hatte. Die spärliche Möblierung war ebenso wie der Laminatfußboden blitzeblank, weil er über einen Strohmann eine Haushälterin dafür bezahlte, einmal die Woche sauber zu machen. Die Eigentumswohnung war eine von drei sicheren Unterkünften, die Ragnar sich in den letzten Jahren geschaffen hatte. Einerseits musste er das Geld, das er auf seinen virtuellen Raubzügen erbeutet hatte, anlegen und andererseits brauchte er die Möglichkeit, jederzeit unterzutauchen, falls ihm jemand auf die Spur gekommen wäre. Im Grundbuch stand eine Holding, die er mit einer gestohlenen Identität auf den Caymans gegründet hatte. Es war nach menschlichem Ermessen unmöglich, das Ganze zu ihm zurückzuverfolgen. Weder Simon noch Dawn wussten von seinem Schattenreich, zu dem neben den drei Wohnungen noch diverse Wertpapierdepots, eine Hightech-Schmiede, vier Autos, eine Lagerhalle und nicht weniger als vierzehn gefälschte Identitäten gehörten.
Er stellte beruhigt fest, dass niemand den kleinen, biometrisch gesicherten Safe angerührt hatte, der unsichtbar in die Wand im Badezimmer eingelassen war. Ragnar hielt seinen Finger vor den Scanner, und mit einem leisen Surren entriegelte sich das Schloss.
Er griff hinein und holte einen großen Umschlag mit Ausweisdokumenten heraus. Im Tresor dieses Verstecks bewahrte er allein fünf seiner vierzehn Identitäten auf. Er sah sich einen Personalausweis nach dem anderen an und entschied sich für den dritten.
»Hallo, Gustav Isaksson«, sagte er entschlossen und sammelte die anderen, zu diesem Namen gehörenden Papiere zusammen. Einen Führerschein, den Reisepass mit Stempeln aus den USA und drei afrikanischen Staaten, seine Geburtsurkunde, ausgestellt im schwedischen Lund, Kredit- und Girokarten, einen Büchereiausweis und Kundenkarten von verschiedenen Supermarktketten.
Als Letztes nahm er den fingierten Lebenslauf für diesen Namen heraus, legte die Dokumente, die zu den anderen vier Scheinidentitäten gehörten, zurück in den Safe und schloss sie wieder ein.
Mit den Unterlagen begab er sich zu dem kleinen Küchenklapptisch, setzte sich auf den billigen Holzstuhl ohne Sitzauflage und vertiefte sich in die Aufzeichnungen.
Gustav Isaksson, geboren in Lund. Im Alter von sechs Jahren mit den Eltern Adrian und Ida Lund nach Deutschland gekommen und zunächst vier Jahre in Frankfurt am Main gelebt, wo er die Grundschule und eine Reihe von Deutschkursen absolvierte. Anschließend Umzug der Familie nach Hamburg Horn. Gustav besuchte dort das Gymnasium und studierte im Anschluss Kommunikationselektronik und Informatik.
Das war genau die richtige Vita für das, was er vorhatte.
Zusätzlich würde er noch ein paar andere Dokumente benötigen, aber er wusste schon, wie er das bewerkstelligen würde.
»Du lieferst mich nicht ans Messer von Vincenter Pablo Caballero. Wer immer du bist – ich finde dich und dann mache ich dich fertig.«
***
»Wenn ich das richtig sehe, gibt es nur diese Briefe und keine elektronischen Spuren, die man verfolgen könnte«, fasste Dawn die gesammelten Erkenntnisse zusammen. »Kannst du mir sagen, wo ich da ansetzen soll?«
Martina war ebenso ratlos. Aber sie wollte nicht aufgeben.
»Wenn ich eines von dir gelernt habe, dann, dass es immer einen Weg gibt, an Informationen zu kommen. Du musst einfach alles noch einmal durchgehen, dann findest du bestimmt einen Ansatzpunkt«, ermutigte sie ihre Freundin.
Dawn legte ihre Stirn in Falten und dachte konzentriert nach. Es war faszinierend, ihr beim Denken zuzusehen. Sophie hatte einmal versucht, ihr zu erläutern, was Dawn genau tat, doch weder verstand Sophie es gut genug, um es nachvollziehbar zu erklären, noch verfügte Martina über ein besonders ausgeprägtes, technisches Verständnis. Die Ergebnisse, die Dawn erzielte, waren allerdings gerade deshalb so faszinierend. In Martinas Augen kam das, was Dawn tat, echter Magie ziemlich nahe.
»Es gäbe eine winzige Chance«, murmelte die Hackerin plötzlich und stand auf.«
»Wo gehst du hin? Was machst du?« Martina war ganz aus dem Häuschen.
Dawn antwortete nicht, sondern öffnete eine Schublade in ihrem Wohnzimmerschrank und nahm ein Papier heraus.
»Ist das der Brief? Was hast du damit vor?« Martina war aufgesprungen und drängte sich hinter Dawn, um einen Blick auf das Dokument zu werfen.
»Er ist es, nicht wahr? Nützt dir das was?«
»Wenn du mich mal durchlässt, finde ich es heraus«, antwortete Dawn und wartete geduldig, bis bei Martina der Groschen fiel.
»Oh, ich stehe dir im Weg. Entschuldige, wie dumm von mir.« Sie machte einen Schritt zur Seite, ließ Dawn durch und zwang sich, ihr nicht gleich wieder an den Fersen zu kleben. Stattdessen beobachtete sie von dort aus weiter, wo sie stand.
Dawn legte das Dokument flach auf die Arbeitsfläche ihres Stehpultes, an dem sie abends oft noch Unterlagen sichtete, ohne nochmals nach oben in ihren richtigen Arbeitsbereich gehen zu müssen.
Dann sagte sie wie zu sich selbst: »Verdunkelung aktivieren«, woraufhin sich die elektrischen Außenjalousien vor den beiden Fenstern schlossen und die Raumbeleuchtung erlosch. Nach weniger als zwanzig Sekunden war es dunkel im Zimmer. Martina konnte die Hackerin nur noch sehen, weil etwas Licht aus der oberen Wohnebene über die Treppe in den Raum fiel.
»Das sollte für unsere Zwecke genügen«, verkündete Dawn zufrieden, und Martina fragte sich, welche das wohl sein sollten – ihre Zwecke. Dann beobachtete sie ihre Freundin weiter.
Sie nahm etwas zur Hand, das für Martina wie eine Leuchtstoffröhre aussah. Dieser Eindruck schien sich zu bestätigen, als Dawn einen kleinen Schalter an der Seite der Röhre betätigte und sie nachtblau zu leuchten begann.
Dawn hielt diese Leuchte jetzt direkt über das Papier und starrte darauf. Nach einigen Sekunden grummelte sie etwas vor sich hin und zog eine kleine Schublade auf. Daraus entnahm sie etwas, das Martina nicht gleich zuordnen konnte, doch als die Hackerin das Ding über den Kopf zog, ging ihr ein Licht auf.
»Ist das eine Cyber-Brille?«, rief sie aufgeregt.
»Genau. Das ist ein Prototyp, den Ragnar entwickelt und mir geschenkt hat. Da ist eine leistungsstarke Zoom-Funktion eingebaut, und genau das brauche ich jetzt.«
»Aha«, sagte Martina und konnte sich trotzdem keinen Reim darauf machen.
»Komm rüber, ich erkläre es dir.«
Martina ließ sich nicht zweimal bitten. Endlich durfte sie ihrer Neugierde nachgeben. Sie war gerade zwei Schritte weit gekommen, als Dawn triumphierend jubelte: »Yes, danke Göttin!«
»Was ist los, was ist denn?«, rief Martina und rannte Dawn vor Aufregung gegen den Rücken.
»Hey, pass auf meine alten Knochen auf, die werden noch gebraucht. Also Folgendes: Mir ist eingefallen, dass vor uns schon ganz andere Leute erkannt haben, dass es wünschenswert wäre, auch Gedrucktes zu seinem Urheber zurückverfolgen zu können, und nicht nur Mails oder andere elektronische Spuren. In der Folge hat zunächst das FBI in den USA damit begonnen, zahlreiche Druckerhersteller dazu zu drängen, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Wenig überraschenderweise haben sich die meisten von ihnen breitschlagen lassen, was dazu geführt hat, dass heute die meisten Druckermodelle eine unsichtbare Signatur bei jedem Dokument mitdrucken, anhand derer man die Gerätenummer und somit, über den Umweg über den Händler, oft auch den Besitzer ermitteln kann.«
Martina war skeptisch. »Wie soll denn das gehen – eine unsichtbare Signatur?«
»Das kann ich dir zeigen«, entgegnete Dawn und zog ihre Cyber-Brille ab. »Setz sie auf und guck selbst«, ermunterte die Hackerin sie. Während Martina sich abmühte, die Brille richtig anzulegen, dozierte Dawn weiter. »Die Signatur erfolgt mittels kleinster, gelber Tracking-Punkte oder durch ein unsichtbares Wasserzeichen. Letzteres sieht man nur unter Schwarzlicht.«
»Die Röhre«, erinnerte sich Martina. »Das ist Schwarzlicht?«
»Genau. Und wenn du jetzt bitte einmal dort in die linke obere Ecke des Blattes schaust, siehst du es auch.«
Martina sah es tatsächlich. »Das ist ja erschreckend. Also schlimm genug, dass die Amis das machen, aber was haben solche Geräte auf dem deutschen Markt zu suchen?«
Dawn lachte bitter. »Globalisierung der Warenströme. Das lässt sich nicht verhindern. Ich bin sogar ziemlich sicher, dass unsere Regierung auch gar nichts dagegen hat. Aber sei es drum. Für uns ist das gerade Gold wert.«
Natürlich freute es Martina, dass Dawn so guter Dinge war, doch je länger sie durch die Vergrößerungsbrille auf das kryptische Wasserzeichen starrte, desto skeptischer wurde sie.
»Aber was nützt uns das jetzt?«, fragte sie schließlich. »Mir sagen diese Hieroglyphen jedenfalls nichts.«
»Lass mich nur machen«, antwortete Dawn. »Für jeden Normalo wäre an dieser Stelle Schluss. Er hätte zwar den Druckertyp und die Gerätenummer, aber mit der Information kann man nichts anfangen, wenn man keinen Zugriff auf das Warenwirtschaftssystem des Herstellers hat.«
»Und du hast diesen Zugriff?«, wunderte sich Martina.
Dawn grinste geheimnisvoll. »Ich werde ihn in ungefähr zehn Minuten haben. Und dann sehen wir, welche Informationen in dem zugehörigen Datensatz noch stecken. Ein Traum wäre es natürlich, wenn das Gerät online direkt beim Hersteller gekauft worden wäre. Dann hätten wir sofort einen Namen und eine Adresse.«
Sie wandte sich wieder der Tastatur zu und begann, in atemberaubendem Tempo darauf zu tippen. Martina schluckte ihre nächsten Fragen herunter und ließ die Computerexpertin machen. Sie konnte sie später immer noch stellen.
Am Ende dauerte es knapp zwanzig, statt der angekündigten zehn Minuten, bis sich Dawn zufrieden in ihrem Drehstuhl zurücklehnte und die Hände hinter dem Kopf verschränkte.
»Da wären wir«, sagte sie zu Martina und nickte in Richtung Monitor. Die Psychologin kam näher und betrachtete den Bildschirm eingehend.
»Da steht, an welchen Händler das Gerät ausgeliefert wurde und wann das war«, stellte sie fest. Dawn nickte enthusiastisch. »Ja, ist das nicht toll?«
Martina wusste nicht, was daran so großartig sein sollte. Sollten sie jetzt in diesen Elektronikmarkt fahren und die Verkäufer fragen, wer in den letzten drei Monaten einen solchen Drucker gekauft hatte? Die würden sie auslachen.
Dawn bemerkte wohl ihr bekümmertes Gesicht und legte einen Arm um ihre Schulter. »Hey, wer wird denn aufgeben? Glaubst du wirklich, dass ich keinen Pfeil mehr im Köcher habe?«
»Meinst du etwa …«, stammelte sie hoffnungsvoll.
»Ja, meine ich«, entgegnete Dawn überzeugt. »Es wird wahrscheinlich ein paar Stunden dauern, aber ich bin sicher, dass die Spur hier noch nicht endet. Auch das Kaufhaus erfasst sämtliche Geschäftsvorgänge. Ich knacke deren System, und dann sehen wir ja, wer genau dieses Gerät gekauft hat.«
»Wenn derjenige mit Karte bezahlt hat«, bremste Martina Dawns Optimismus. »Das kannst du ja nicht wissen.«
Dawn sah sie mitleidig an. »Wer bezahlt denn bitte einen Drucker in bar?«
»Vielleicht jemand, der seine Spuren verwischen will«, mutmaßte Martina.
»Wir werden es ja sehen, sagte Dawn und wendete sich wieder dem Rechner zu. »Das hier wird eine ganze Weile dauern. Geh du in der Zwischenzeit los und versuche, einen von den Anderen aufzutreiben – am besten Simon. Es wird Zeit, dass er erfährt, was los ist.«
***
Das Chaos war perfekt und Martinus steckte mittendrin. Direkt vor dem Eingang des Gebäudes ging nichts mehr. Die Rettungsarbeiten waren im vollen Gange. Tote und Verletzte wurden herausgetragen und teilweise bereits im Foyer und auf dem Platz vor dem Kino versorgt.
»Wir kommen noch nicht rein«, informierte ihn ein Mitarbeiter, der mit einem Feuerwehrmann gesprochen hatte.
»Die Helfer sind selbst erst seit einer Viertelstunde hier und brauchen freie Bahn für die Rettungsmaßnahmen. Außerdem könnte Einsturzgefahr bestehen. Das muss erst geklärt werden.«
»Wir müssen da rein, bevor sämtliche Spuren vernichtet sind, verdammt noch mal«, polterte Martinus übel gelaunt. »Ich kann Sie nicht zwingen, aber ich gehe jetzt da rein«, schob er hinterher und ließ seinen zaudernden Mitarbeiter einfach stehen.
Martinus hielt seinen Dienstausweis gut sichtbar vor die Brust und bahnte sich einen Weg durch das Gedränge an der mittlerweile aufgeklappten Drehtür vorbei, die ins Innere führte.
Niemand hielt ihn auf und keiner fing eine Diskussion mit ihm an. Man ging ihm einfach aus dem Weg und ließ ihn gewähren. Vermutlich scherte es die Feuerwehrleute und Rettungssanitäter tatsächlich nicht, wer hier herumlief, solange sie ungehindert ihre Arbeit machen konnten.
Nur als Martinus sich anschickte, die abgeschaltete Rolltreppe hinaufzusteigen, stellte sich ihm ein junger Mann in Feuerwehruniform in den Weg.
»Sie können nicht nach oben. Es besteht Einsturzgefahr.«
Martinus sah dem jungen Mann fest in die Augen und fragte: »Sind Ärzte oben? Kümmert sich jemand um die Opfer?«
»Natürlich, wir tun alles, was wir können«, sagte der Feuerwehrmann.
Da legte Martinus ihm seine Hand auf die Schulter und sagte leise: »Dann lassen Sie mich auch alles tun, was ich kann. Sie helfen den Opfern, ich sorge dafür, dass es nicht anderswo noch mehr gibt. Und jetzt aus dem Weg.«
Der Andere nickte und gab den Durchgang frei. »Ist wirklich hässlich da oben. Kriegen Sie die Schweine!«
Genau das hatte Martinus vor. Er betrat die Rolltreppe und ging langsam hoch. Während er eine Stufe nach der anderen nahm, atmete er tief ein und aus. Er hatte eine gewisse Vorstellung davon, was ihn dort oben erwartete, und er bereitete sich innerlich darauf vor.
Die Bilder, die sich ihm darboten, als er dort war, trafen ihn dennoch mit voller Wucht. Stöhnende und weinende Menschen mit teilweise grauenvollen Verletzungen, die auf dem nackten, von Trümmern übersäten Boden von heillos überlasteten Sanitätern versorgt wurden, lagen zwischen Körpern und Teilen von toten Körpern.
Doch am schlimmsten war das Blut. Es war praktisch überall. Martinus wurde schlecht, aber er musste dagegen ankämpfen.
»Ich kotze nicht zwischen die Opfer – auf gar keinen Fall«, ermahnte er sich und kämpfte gegen den Würgereflex an.
An einem der Verkaufstresen für Popcorn sah er eine junge Frau, vielleicht knappe zwanzig Jahre alt, die dem äußeren Anschein nach unverletzt war. Sie war blass und starrte mit leeren Augen zu Boden. Kurzentschlossen ging er zu ihr.
Martinus stellte sich neben sie und neigte den Kopf, um ihr ins Gesicht sehen zu können.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte er sanft. Die junge Frau löste ihren Blick vom Boden und sah ihn unverwandt an.
»Ich heiße Martinus und ich will herausfinden, wer das hier angerichtet hat. Sind Sie unverletzt? Brauchen Sie Hilfe?«
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf und atmete zitternd aus.
»Sind Sie von der Polizei?«, wollte sie wissen. Die Worte waren mehr gehaucht als gesprochen, doch es war gut, dass sie überhaupt auf ihn reagierte.
»Staatsschutz«, entgegnete er. »Ich sorge dafür, dass so etwas nicht noch einmal geschieht. Können Sie mir sagen, was passiert ist?«
Das Mädchen brachte keinen Ton heraus. An ihrem Gesicht konnte er ablesen, dass sie versuchte, sich gegen die Bilder zu wehren, die sich in ihr Gedächtnis eingebrannt haben mussten. Natürlich fiel es ihr schwer, darüber zu reden, aber Martinus brauchte Anhaltspunkte.
»Wie heißen Sie?«, fragte er und nahm vorsichtig ihre Hand.
»Larissa«, antwortete sie und sah auf seine Hand, die ihre hielt. »Können Sie das wirklich? Diese … Monster finden?«
»Wenn Sie mir helfen, stehen die Chancen sehr gut«, sagte er und schämte sich, lügen zu müssen. Es war sehr unwahrscheinlich, dass sie etwas gesehen hatte, das ihn weiterbrachte, aber irgendwo musste er anfangen.
»Ich habe mir Cola über die Hose geschüttet«, flüsterte sie.
Martinus verstand nicht. »Was haben Sie?«
»Ich wollte es rausreiben, aber ich hatte keine Taschentücher. Da bin ich auf die Toilette, Papiertücher holen«, fuhr sie fort.
Jetzt verstand Martinus auch, warum sie den Anschlag unversehrt überlebt hatte – durch einen rettenden Zufall.
»Sprechen Sie weiter«, ermunterte er sie. »Was haben Sie gemacht, als Sie die Explosion gehört haben?«
Ihre Hand drückte seine jetzt fester – so fest, dass sich ihre Nägel in seinen Handrücken gruben, doch Martinus ignorierte den Schmerz und blieb ganz bei ihr.
»Es war so ungeheuer laut. Alles hat gebebt. Ich dachte, das Kino stürzt ein, aber das ist nicht passiert. Danach war es ganz still, aber nur kurz. Dann kamen die Schreie – furchtbare, unmenschliche Schreie.«
An dieser Stelle versagte ihre Stimme und sie begann, zu hyperventilieren. Martinus sah sich hektisch um und entdeckte hinter dem Tresen einen Stapel unbenutzter Popcorntüten. Er lehnte sich hinüber und angelte sich eine davon.
»Okay, Larissa, atmen Sie da rein«, sagte er so ruhig wie möglich und stülpte ihr die Öffnung der Tüte über Mund und Nase. »Und jetzt einatmen …« Die Tüte zog sich zusammen, als Larissa gierig Luft einsog. »Und ausatmen«, dirigierte Martinus weiter. »Jetzt wieder ein – sehr gut machen Sie das. Und aus.«
Zuerst expandierte und kollabierte die Papiertüte noch in einem beängstigend schnellen Tempo, doch nach und nach beruhigte sich die Atmung der jungen Frau tatsächlich. Martinus war sehr froh, dass diese Methode wirklich half. Bisher hatte er das nur in Filmen gesehen und es eigentlich für Mumpitz gehalten.
»Geht es wieder?« Martinus nahm die Tüte weg und sah Larissa besorgt an.
»Ja, es wird gehen. Danke.«
»Was haben Sie gesehen, als Sie aus dem Toilettenraum kamen?«, setzte Martinus die Befragung fort und hoffte, dass die junge Frau nicht gleich wieder die Fassung verlor. Doch anscheinend hatte sie zunächst das Gröbste hinter sich, denn sie sprach jetzt, ohne zu stocken, und konzentrierte sich dabei sichtlich.
»Ich hatte noch die Papiertücher in der Hand, als ich herauskam. Es war ganz staubig – so sehr, dass ich nicht sehr weit sehen konnte. Von rechts kamen diese Schmerzensschreie, aber ich konnte niemanden erkennen, als ich hinsah.«
Das war sehr gut. Sie erinnerte sich visuell. Martinus musste dieses Fenster der geistigen Klarheit bei ihr ausnutzen. Deshalb fragte er dazwischen: »Haben Sie überhaupt jemanden gesehen? Vielleicht bei der Rolltreppe oder beim Fahrstuhl?«
Sie runzelte die Stirn und ihr Blick wanderte nach links oben. Martinus wusste, dass Menschen unbewusst diese Blickrichtung wählten, wenn sie sich an etwas Gesehenes zu erinnern versuchten.
»Die Rolltreppe konnte ich auch nicht sehen. Auch nicht den Fahrstuhl. Aber aus dem Männerklo kam jemand.«
»Sind Sie sicher?« Martinus war elektrisiert. Hatte er hier eine Spur?
»Ja, da war ein Mann. Er sah aus wie … na, so mit Uniform. Einer, der aufpasst.« Sie rang nach dem richtigen Wort.
»Ein Security-Mann«, half Martinus ihr. Sie nickte dankbar.
»Ja genau, Security. Aber er war komisch.«
»Was meinen Sie damit? Was stimmte nicht mit dem Mann?«
»Er war so … ruhig, irgendwie.«
»So als ginge ihn das Ganze gar nichts an?«, fragte Martinus atemlos und war jetzt sicher, hier eine echte Spur zu haben.
»Ja, das habe ich auch gedacht«, bestätigte sie. »Er war gar nicht überrascht oder erschrocken.«
Das war alles, was Martinus wissen musste. Er winkte einen der Sanitäter heran und übergab Larissa in seine Obhut. »Bringen Sie die Dame sicher hier raus. Ich verlasse mich auf Sie«, gab er dem Retter noch mit auf den Weg, ehe er sich umsah und die Decke absuchte. Dann sah er, wonach er Ausschau gehalten hatte und griff zum Telefon.
»Martinus hier. Sichern Sie die Überwachungsbänder und sichten Sie zuerst die Aufzeichnungen vom Bereich vor den Sälen fünf bis neun. Da muss ein Typ drauf sein, der nach der Explosion die Herrentoilette verlässt. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie es haben.«
Martinus beendete das Gespräch und ging zu der Stelle, wo die Bombe hochgegangen sein musste. Die Spurensicherung war bereits eingetroffen und die letzten Verletzten wurden soeben abtransportiert.
»Können Sie schon etwas sagen?«, rief er dem Leiter der Kriminaltechnik zu, den er zwischen den Trümmern der kleinen Bühne entdeckt hatte.
»Schwarzpulverbombe mit Nägeln und Kugellagerkugeln. Das Behältnis könnte eine Campinggasflasche gewesen sein.«
»War ja zu erwarten«, grunzte Martinus. In diesem Moment meldete sich erneut sein Handy. Dieses Mal hörte er nur zu, ohne zu reden.
»OK. Machen Sie hier weiter. Ich muss runter zu den Computerleuten«, verabschiedete sich Martinus von dem Kriminaltechniker und spurtete los. Er konnte gar nicht schnell genug von diesem Ort verschwinden, und das lag nur zum Teil daran, dass seine Leute den Attentäter auf den Bändern entdeckt hatten.
***
Es war ein Risiko gewesen, Martinus zu folgen, denn an normalen Tagen war es so gut wie unmöglich, sich unerkannt an ihn dranzuhängen. Aber heute war er auf der Jagd und rechnete nicht damit, dass ihm jemand auf den Fersen war. Dass dieser Agent ein Problem werden konnte, war Kolb schon klar geworden, als der nach dem ersten Anschlag bei Simon aufgetaucht war.
Er wollte sich Simon offenbaren, sobald die Zeit reif war. Was er nicht wollte, war, von den Ermittlungsbehörden enttarnt zu werden, und offenbar waren sie dicht dran. Kolb hatte die Kamera in dem Moment bemerkt, als er nach der Explosion den Toilettenraum verlassen hatte. Dieses Scheißding war noch nicht da gewesen, als er das Gebäude ausgekundschaftet hatte. Vielleicht war es erst später ganz neu installiert worden, oder das Ding war ausgerechnet an diesem Tag zur Reparatur abgenommen worden. Letztlich war der Grund aber egal. Er war in Großaufnahme auf diesem Band, wie er blöde glotzend direkt in die Kamera starrte. Als er das realisiert hatte, musste er seinen Fluchtplan kurzerhand über den Haufen werfen und vor Ort bleiben.
Der Feuerwehrmann, dessen Uniform er jetzt trug, lag mit gebrochenem Genick im Kofferraum eines Autos. Kolb hatte ihn kurzerhand aufgebrochen und den Toten darin entsorgt. Bis man die Leiche fand, würde er längst erledigt haben, worauf es ankam.
In dieser Kostümierung konnte er unbehelligt zurück ins Gebäude und den Staatsschützer im Auge behalten. Dieser Martinus schien ein echter Bluthund mit guten Instinkten zu sein. Jedenfalls steuerte er zielsicher ausgerechnet auf die kleine Nutte zu, die ihn beim Verlassen seines Verstecks gesehen hatte. Wenig später reckte der Kerl auch schon seinen Kopf in die Luft, wie ein Wolf, der Witterung aufnahm, und blieb mit seinem Blick an genau dieser einen, verdammten Kamera hängen. Jetzt wusste der Typ, dass, wer immer nach der Explosion auf diesem Band erschien, derjenige der Attentäter sein musste.
Wenig später war er dann nach einem Telefonat davongestürmt. Kolb war hinterhergerannt und jetzt stand er hinter dem Van mit getönten Scheiben, in dem dieser Martinus verschwunden war, nachdem er drei Mal an die Hintertür geklopft hatte. Kolb atmete ruhig und kontrolliert. Er zog seine Makarov PM und lud durch. Er war schon immer der Meinung gewesen, dass das Tragen einer Pistole eine gute und richtige Angewohnheit war. Heute bestätigte sich das wieder einmal.
Kolb trat an die Tür heran und klopfte. Den Rhythmus hatte er sich präzise gemerkt. Vor dem dritten Klopfer kam eine genau eineinhalb Mal so lange Pause wie zwischen den ersten beiden. Geheimdienstler waren so verdammt leichte Beute, wenn man wusste, wie sie tickten.
Im Innern rumorte es kurz, und dann wurde die Tür auch schon geöffnet. Kolb sah ein kurzes Aufblitzen des Wiedererkennens in den Augen des Mannes, der ihm geöffnet hatte, ehe er ihn in den Wagen stieß und selbst hinterhersprang. Kolb erfasste die Situation im Innern in Sekundenbruchteilen. Mit Martinus waren insgesamt vier Personen anwesend – drei Männer und eine Frau. Der Typ, den er von der Tür weggestoßen hatte, war zu Boden gegangen, während Martinus gerade den beiden Technikern über die Schulter schaute. Auf dem Monitor erkannte Kolb ein Standbild mit seinem Gesicht in Großaufnahme. Er war keine Sekunde zu früh. Er ließ den Agenten keine Zeit zum Reagieren. Als ersten richtete er den liegenden Mann mit einem Schuss ins Gesicht hin. Der im geschlossenen Wagen infernalisch laute Knall lähmte die drei anderen für entscheidende Augenblicke, die Kolb nutzte, zunächst Martinus ins Visier zu nehmen und abzudrücken. Die Frau und ihr Kollege von der Technik waren einen Wimpernschlag später dran. Während Martinus mit einem Treffer in der Brust zusammensackte, traf Kolb die noch Sitzenden präzise in den Kopf. Binnen weniger Momente hatte sich das Überwachungsfahrzeug in ein Schlachthaus verwandelt. Die verrenkten und blutüberströmten Körper von vier Menschen, die eben noch geatmet hatten, lagen vor Kolb. Die Elektronik-Konsolen und der Boden waren mit Blut besudelt, und an der Seitenwand lief etwas herab, von dem Kolb annahm, dass es Hirnmasse war. Da er keinen Schalldämpfer verwendet hatte, konnte er den Anblick nicht lange genießen. Er musste weg. Vorher löschte er aber noch die verräterischen Aufnahmen und zerstörte die Computerkonsole.
Als er aus der Hecktür sprang, sah er, wie Polizisten und Rettungskräfte in einiger Entfernung vor dem Kino aufgescheucht umherliefen. Sie hatten die Schüsse natürlich gehört, schienen sie aber keiner Richtung zuordnen zu können. Kolb drückte sich um den Wagen herum und überquerte, durch die Karosserie abgeschirmt, die kleine Straße, an der er abgestellt war, und schlug sich auf der anderen Seite in die Büsche. Zehn Minuten später erreichte er den Parkplatz einer nahegelegenen Kleingartenkolonie und stieg in seinen Wagen. Langsam, aber sicher wurde es sehr einsam um Simon Stark.
***
Martinus würde ausrasten, wenn er sich am Tatort sehen ließe. Simon hatte allerdings nicht vor, sich erwischen zu lassen. Alles aus der Ferne zu beobachten, genügte ihm schon. Als er vor dem Gebäude, in dem Martinus sein Büro hatte, in ein Taxi gestiegen war, hatte er sich beherrschen müssen, dem Fahrer nicht die Anweisung zu geben Folgen Sie diesem Wagen. Erstens war das hier kein billiger Krimi, und zweitens hätte Martinus eine direkte Verfolgung leicht bemerken können.
Also hatte er den Taxifahrer schier zur Verzweiflung gebracht, indem er ihn ständig nötigte, langsamer zu fahren, plötzliche Spurwechsel vorzunehmen und aus heiterem Himmel abzubiegen.
»Ich zahle die Fahrt, Sie tun, was ich möchte«, hatte er dem Chauffeur an den Kopf geworfen, als der sich über diesen Schwachsinn, wie er es nannte, beklagt hatte.
Auf diese Weise schaffte es Simon, immer drei bis vier Fahrzeuge hinter Martinus zu bleiben und nicht zu dicht an ihm dran zu hängen. Absetzen ließ er sich auf dem Parkplatz eines Supermarktes um die Ecke vom Kino. Von dort aus ging er das letzte Stück zu Fuß.
Zunächst war alles so, wie Simon es erwartet hatte. Dutzende von Einsatzfahrzeugen standen herum, einige noch mit eingeschaltetem Blaulicht. Rettungsärzte, Polizisten und Feuerwehrleute machten angespannt, aber professionell ihre Arbeit, und ein Heer von Schaulustigen drängelte sich an den Absperrungen. Es gab zivile Ermittler, die diese Gaffer filmten und fotografierten, weil nicht ausgeschlossen werden konnte, dass sich der Attentäter unter sie gemischt hatte, um die Folgen seines Tuns aus der Nähe zu beobachten.
In diesem Durcheinander wagte Simon es, sich unter die Leute zu mischen. Wie schon auf der Moorweide hatte er auch jetzt keine Ahnung, was genau er zu finden hoffte. Fürs Erste genügte es ihm, zu sehen, was der Täter gesehen hatte – das Gebäude und die Umgebung. Irgendetwas würde das in seinem Verstand schon auslösen, und wenn nicht, so hätte er es doch wenigstens versucht.
Er erreichte gerade die Menschentraube am Absperrgitter und wollte sich hineindrängen, als in schneller Folge vier Schüsse durch den allgemeinen Lärm krachten. Einige der Leute zuckten erschrocken zusammen, doch die meisten sahen sich nur irritiert um, wenn sie überhaupt reagierten. Eine Handvoll Polizisten, die vor dem Haupteingang postiert waren, reckten alarmiert ihre Hälse und versuchten, sich darüber klar zu werden, woher das gekommen war.
Simon war der Einzige, der dieses mehrfache Krachen sofort als Schüsse aus einer Handfeuerwaffe identifiziert hatte. Auch die Richtung, aus welcher der Schall kam, erkannte er ohne Mühe.
»Scheiße«, schnaufte er und rannte los. Es war meist absolut fatal, wenn man am Ort eines Anschlags kurz darauf Schüsse hörte. Das konnte darauf hindeuten, dass das Attentat noch nicht zu Ende war und sich die Täter immer noch in der Nähe aufhielten, um weiteres Unheil anzurichten. Zahlreiche Terrororganisationen im Nahen Osten hatten sich darauf spezialisiert, solche mehrstufigen Anschläge durchzuführen. Erst gab es eine Explosion, die bereits einige Menschen in den Tod riss, und dann, wenn die Helfer und Rettungskräfte eintrafen und mit ihrer Arbeit begannen, folgte der zweite, viel verheerendere Schlag.
Simon hetzte quer über einen gepflasterten Platz auf die enge, am Kino vorbeiführende Straße zu, die gleich darauf eine weitere Fahrbahn, die vom angeschlossenen Parkhaus her kam, kreuzte und nach knapp fünfzig Metern hinter einer scharfen Kurve verschwand. Aus dieser Richtung waren die Schüsse gekommen. Das Erste, was Simon dort sah, war ein am Bordstein abgestellter Transporter mit getönten Scheiben. Sekunden später erreichte er den Wagen und stoppte abrupt, als er blutige Fußabdrücke auf dem Asphalt unter der Hecktür entdeckte. Die Tür selbst war geschlossen, doch darunter sickerte mehr Blut hindurch und rann bis zur Stoßstange hinab, von wo es auf die Straße tropfte.
Simon packte den Griff und riss die Tür auf. Was er drinnen sah, jagte ihm einen kurzen, aber intensiven Schauer über den Rücken. Für Sekunden stiegen die alten Bilder vom Massaker in dem afghanischen Dorf, bei dem er Zeuge gewesen war, wieder in ihm auf. Doch ehe sie ihn mit sich reißen konnten, stoppte er sie mit der Technik, die Martina ihm einst beigebracht hatte. Das Hier und Jetzt stabilisierte sich wieder vor seinen Augen, und er war in der Lage, auf die grausige Szenerie zu schauen, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren – dachte er jedenfalls.
Dann sah er, wer da zwischen den drei anderen Toten in seinem Blut lag.
»Martinus!«, schrie er heiser und entsetzt. Simon sprang in den Laderaum des Vans, landete auf allen vieren und kroch durch den See aus Blut, der den Boden bedeckte, zu seinem Freund.
»Hey, mach doch keinen Scheiß! Martinus, bitte!« Er tastete nach seinem Puls und musste das letzte bisschen Selbstbeherrschung aufbringen, um sich darauf zu konzentrieren, auch das kleinste Anzeichen von Leben wahrzunehmen, wenn es denn da wäre. Er schaffte es nicht. Simon war sich einfach nicht sicher.
»Hilfe«, brüllte er. »Einen Arzt! Agent am Boden.«
Dann zerrte er den leblosen Körper aus der Ecke, in der er lag, zum Heck, um ihn aus dem Wagen zu schaffen. Es war nicht gut, dass Martinus hier in seinem eigenen Blut zwischen seinen toten Kollegen lag. Das war unwürdig.
»Oh Gott, was ist denn hier passiert«, schrie eine sich überschlagende Stimme von draußen. Dann hörte Simon ein würgendes Geräusch und Augenblicke später erbrach sich jemand. Simon stieß den jungen Polizisten, dem es den Magen umgedreht hatte, unsanft beiseite, als er mit Martinus auf dem Arm aus dem Van stieg. »Arzt, Scheiße noch mal!«
Seine Stimme versagte und er ging auf die Knie, um seinen Freund sanft auf den Asphalt zu legen. Sekunden später war er von Rettungssanitätern und einem Notarzt umringt. Jemand zog ihn von Martinus fort, legte ihm eine Rettungsdecke um und redete mit ihm. Zu Simon drang nichts durch. Er glaubte zu spüren, dass er nie wieder in die Realität zurückfinden würde, und das Schlimmste daran war, dass ihm das keine Angst machte, sondern tröstlich erschien.
***
Um eine Gefahr zu eliminieren, musste Ragnar sich wohl oder übel in eine noch größere begeben. Entschiede er sich dagegen, hätte er für alle Zeiten sein Schicksal aus den Händen gegeben.
Er stand vor dem Gebäude der exklusiven Privatbank Teege und Partner in der Nähe des Hamburger Rathauses und ging noch einmal alles durch. Die Chancen, dass sein Plan funktionierte, standen schätzungsweise bei dreißig zu siebzig gegen ihn. In dem Anzug, den er sich einst extra hatte anfertigen lassen, fühlte er sich so unwohl, dass er auffliegen würde, sobald er einem echten Schlipsträger da drinnen begegnete. Diese Unsicherheit musste er also dringend ablegen.
»Ich bin ein harter Hund und mit allen Wassern gewaschen«, machte er sich Mut, denn genau das war seine Rolle. Wenn sie ihm die nicht abkauften, war nicht nur sein ganzer Plan nutzlos, sondern auch sein Leben in Gefahr. Ragnar straffte seinen Körper, zog die Lesebrillenattrappe aus de Jackett, setzte sie auf und packte seine Laptoptasche fester. Dann überwand er die letzten Zweifel und betrat das Gebäude. Die Eingangshalle war einschüchternd. Sämtliche Grundsätze des modernen Business-Designs wurden hier konsequent ignoriert und würden hier auch nie Einzug halten. Hier erzählte alles von hanseatischer Tradition, von Verbindungen zu altem Geldadel und von Macht, die auf sehr altem Reichtum gründete. Marmor war das vorherrschende Material. Selbst der
Empfangstresen war daraus gefertigt. Die links und rechts davon nach oben führenden Prunktreppen waren mit goldenen Handläufen versehen, und die Stufen waren mit rotem, tadellos gepflegtem Teppich ausgelegt. Man hatte den Eindruck, in einem Regierungssitz aus der Kolonialzeit gelandet zu sein, und nicht in der Zentrale einer global agierenden Bank, die eine der am besten gehüteten Kundenlisten der Welt ihr Eigen nannte.
»Kann ich Ihnen helfen?« Ragnar zögerte keine Sekunde und ging strammen Schrittes und mit professioneller Blasiertheit im Gesicht auf die Frau zu, die ihn angesprochen hatte.
Sie war hinter ihrem Tresen hervorgekommen und erwartete ihn mit kühlem Blick. Sie gab sich keine Mühe, zu verbergen, dass sie in Ragnar einen unbefugten Eindringling in ihr Reich sah. Es war eine hagere Frau, sicher um die sechzig Jahre alt, mit einem Gesicht wie ein Greifvogel. Wache, aber hart dreinschauende Augen lagen hinter einer typischen, länglich-ovalen Sekretärinnenbrille, über deren Rand sie ihn musterte. Die hochgeschlossene, weiße Bluse mit Rüschen über der Knopfleiste rundete das Bild ab. Die Dame hatte einen Stil, den sie vermutlich seit vierzig Jahren konsequent durchzog.
»Gustav Isaksson. Ich habe einen Termin mit Ihrem Herrn Teege. Ich hoffe doch, er ist da, denn ich hatte eine lange Anreise.« Ragnar hoffte, herablassend genug geklungen zu haben.
»Herr Doktor Teege hat mich informiert«, antwortete sie gedehnt und betonte den von Ragnar bewusst weggelassenen Titel. »Ich bin etwas überrascht, Sie hier zu sehen. Doktor Teege hatte Sie meines Wissens darauf hingewiesen, dass er Ihre Terminanfrage zu gegebener Zeit erwägen würde. Eine Zusage dürften Sie noch nicht erhalten haben.«
Jetzt kam es darauf an, noch kaltschnäuziger, arroganter und elitärer aufzutreten als dieser Wachhund. Das war ein Test, ob er es wert war, empfangen zu werden, das war ihm klar.
»Wenn Ihr Chef nicht der letzte Teege in einer langen Ahnenreihe aus Bankdirektoren in seiner Familie sein möchte, sollte er mich empfangen. Der Klient, in dessen Auftrag ich komme, gedenkt, eine nennenswerte Summe bei Ihrem Institut anzulegen.«
Ein spöttisches Lächeln huschte über das Gesicht der Sekretärin. »Unter nennenswerten Summen verstehen wir möglicherweise etwas anderes als Ihr Klient«, sagte sie schnippisch. »Eine Betreuung durch das Bankhaus Teege und Partner ist ohnehin nur auf Empfehlung eines langjährigen Kunden möglich. Ich fürchte, Sie haben Ihre Reise umsonst gemacht, Herr Isaksson.«
Damit hatte Ragnar gerechnet. Dass es kein Spaziergang werden würde, hatte er einkalkuliert und er war darauf vorbereitet.
»Sehen Sie, Gnädigste, mein Klient ist sicher niemand, der um Termine ersucht und auf Audienzen wartet. Wir sind es gewohnt, Gehör zu finden, und das werden wir auch hier.«
Der Blick, den er dafür erntete, wirkte vordergründig vernichtend, konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ragnar einen Treffer gelandet hatte. Er erkannte Unsicherheit in ihrem Gesicht.
»Hören Sie, ich weiß nicht, welche Erziehung Sie genossen haben, oder ob Sie überhaupt eine Vorstellung davon besitzen, wer wir sind, junger Mann. Aber ich versichere Ihnen …«
»Ich habe eine sehr genaue Vorstellung davon, wer Sie sind«, unterbrach Ragnar sie. »Teege und Partner ist eines der größten Geldwäscheunternehmen weltweit. Zu Ihren Kunden zählen sämtliche südamerikanischen Drogenkartelle, die italienische Mafia, diverse Diktatoren und Prominenz aus aller Herren Länder, die Schwarzgelder verstecken müssen. Wir sind über Sie im Bilde, und genau deshalb sind Sie unter Umständen auch der richtige strategische Partner für uns.«
Jetzt war es mit der Contenance der Dame vorbei. Sie schnappte empört nach Luft und wurde krebsrot im Gesicht. Dann zischte sie: »Verlassen Sie auf der Stelle die Bank.«
Doch Ragnar rührte sich nicht vom Fleck.
»Sie verkennen Ihre Situation, Teuerste, stellte er belustigt fest. »Mein Klient bietet Ihnen nicht nur an, sein Vermögen zu betreuen. Das würde er übrigens ohnehin nur tun, wenn ich vorher meinen Job gemacht habe. Darüber hinaus bietet er Teege und Partner die Möglichkeit, Ihre Geschäfte zukünftig überhaupt noch weiter führen zu können. Ohne uns hätte das nämlich sehr bald ein Ende – ein recht hässliches übrigens.«
»Lassen Sie den Herrn doch bitte in mein Büro, Fräulein Petersen«, ertönte plötzlich eine sonore Männerstimme von oben. Ragnar sah die rechte der beiden Prachttreppen hinauf. Oben stand ein Mann um die Fünfzig in legerer Golfkleidung, mit einem gepflegten Schnauzbart und einer Designer Baseballkappe auf dem Kopf.
»Bitte folgen Sie mir«, murmelte Frau Petersen, die jetzt endlich einen Namen bekommen hatte, und ging voran. Ragnar folgte ihr zufrieden. Der Banker war bereits vorausgegangen, als sie im Obergeschoss ankamen. Petersen führte Ragnar in einen Seitentrakt. Als sie um die nächste Ecke bogen, sah Ragnar den Mann von eben bereits durch eine offene Tür in einem geräumigen Büro an einem mächtigen Schreibtisch sitzen. Die Sekretärin lieferte ihn ab und schloss im Hinausgehen die schweren Türen hinter sich. Ragnar und der Banker waren jetzt allein in dem Zimmer.
»Setzen Sie sich doch, Herr Isaksson«, ermunterte ihn der Mann und deutete auf einen gediegenen Ledersessel im Kolonialstil. Doch Ragnar grinste nur mitleidig und rührte sich nicht.
»Mit wem habe ich das Vergnügen, wenn ich fragen darf? Doktor Teege sind Sie jedenfalls nicht.«
Ragnar erntete einen irritierten Blick. »Woher wollen Sie das wissen?«, fragte der andere zurück. Er musste wirklich verwirrt sein, denn jemand, der den Bankdirektor noch nie persönlich getroffen hatte, konnte nicht wissen, wie er aussah, da er penibel darauf achtete, auf keinem Foto aufzutauchen. So wahrte er einerseits die Aura der Unnahbarkeit und lebte andererseits sicherer. Ragnar hatte es trotzdem geschafft, an ein aktuelles Bild zu kommen. Teeges Privatrechner war erheblich weniger aufwändig geschützt als das System der Bank, zu dem Ragnar trotz intensivster Bemühungen bisher keinen Zugang bekommen hatte. Das war der Grund, aus dem er heute hier war.
»Das ist vertraulich, und deswegen werde ich auch nur mit Ihrem Boss persönlich darüber sprechen. Sie müssen nur eines wissen: Keines der Geheimnisse Ihres Hauses ist so sicher, wie Sie es sich erhoffen. Und jetzt bringen Sie mich zu Teege. Ich habe meine Zeit auch nicht gestohlen.«
»Ich verstehe nicht. Wie können Sie …?«
»Nehmen Sie den verdammten Hörer in die Hand und melden Sie mich!«, herrschte Ragnar ihn an. Er hatte ihn da, wo er ihn haben wollte, das war in seinem Gesicht deutlich zu sehen. Tatsächlich griff der gerade noch so selbstsichere Banker jetzt zum Telefon und drückte eine Kurzwahltaste, während er Ragnar nicht aus den Augen ließ. War er nicht sogar ein bisschen blass geworden? Ragnar musste sich ein überlegenes Grinsen verkneifen.
»Herr Direktor, der Besucher … ja, genau der. Ich weiß, aber … Nein, ich kann ihn nicht einfach wegschicken. Sie müssen mit ihm reden. Ja, das sage ich als Ihr Sicherheitschef. Vertrauen Sie mir.«
Augenblicke später legte er den Hörer auf und machte ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Er erhob sich, schlich zu Tür und bedeutete Ragnar, ihm zu folgen. »Der Herr Direktor erwartet Sie, Herr Isaksson«, murmelte er zerknirscht.
Ragnar wurde aus dem Seitentrakt wieder hinaus zurück in Richtung Treppenaufgang geführt, den sie links liegen ließen, um am anderen Ende in einen weiteren Seitentrakt abzubiegen. Etwa zehn Meter weiter in dem nun folgenden Gang blieb der Sicherheitschef des Hauses Teege und Partner unvermittelt stehen und wendete sich der Wand zu. Ragnar wusste zunächst nicht, was das sollte, doch als der Banker sein Gesicht ganz dicht an die Wand hielt, schwante ihm, was vor sich ging.
Tatsächlich glitt plötzlich ein Teil der Wand zur Seite und gab eine Fahrstuhltür frei.
»Eine biometrisch gesicherte Geheimtür. Ich bin durchaus beeindruckt«, sagte Ragnar trocken und reckte einen Daumen in die Höhe. »Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte er den vermeintlichen Banker, während sie gemeinsam auf den Aufzug warteten. »Jurek«, kam die knappe Antwort. Offenbar war Sicherheitschef Jurek kein Freund von Smalltalk.
Ein dezentes Klingeln durchbrach die unangenehme Stille und die Tür öffnete sich rumpelnd. Ein technisch völlig antiquierter Aufzug, der sich hinter einer Hochsicherheitstür verbarg - das war praktisch ein Gleichnis für die ganze Bank. Sie stiegen ein und ließen sich eine Etage höher fahren. Dort ging unter abermaligem Rumpeln die Tür wieder auf und Ragnar wartete, dass sein neuer Kumpel Jurek voranging.
»Ich fahre wieder runter«, beschied dieser ihm, als Ragnar ihn fragend ansah. »Der Direktor wünscht, unter vier Augen mit Ihnen zu sprechen.«
Ragnar war das recht. Er konnte zwar nicht sicher sein, ob er wirklich ein Gespräch oder eine Kugel in den Kopf bekommen würde, aber dieses überschaubare Risiko musste er eingehen. Er hatte ja klargemacht, dass er im Auftrag eines Herren hier war, der sein eventuelles Verschwinden bemerken und gegebenenfalls ahnden würde. Zumindest musste Teege davon ausgehen, dass es so war.
»Einen schönen Tag noch«, verabschiedete Ragnar sich von Jurek und trat aus dem Fahrstuhl hinaus. Sofort schloss sich hinter ihm die Wand vor der Aufzugtür, und er wusste nun, dass er hier nur wieder rauskäme, wenn Teege danach war, ihn gehen zu lassen. Jetzt schnürte es ihm doch ein wenig die Kehle zu.
»Keine Panik aufkommen lassen, alles ist cool«, flüsterte er, um sich zu beruhigen. Wahrscheinlich wurde er bereits beobachtet. Dass keine Kameras zu sehen waren, hieß nicht, dass keine da waren. Ragnar sah sich konzentriert um. Der Boden war mit teuren Perserteppichen und Brücken ausgelegt. Darunter war er, wenig überraschend, ebenfalls aus Marmor. Die Wände waren mit aufwändig gefärbten Seidentapeten ausgestattet. Bilder hingen keine daran. Das zugrundeliegende Farbschema war von royalem Rot beherrscht, das in Kombination mit den dunklen Holzvertäfelungen an der Decke ein klaustrophobisches Gefühl in Ragnar auslöste. Das völlige Fehlen von Fenstern in diesem schmalen Korridor verstärkte diesen Eindruck noch. Ragnar ging davon aus, dass sich diese Räumlichkeiten im inneren, straßenabgewandten Teil des Gebäudes befanden. Vermutlich musste man in so einem Bunker residieren, wenn man Kunden vom Schlag eines Vincenter Pablo Caballero hatte.
Er wusste nicht recht, was er jetzt tun sollte. Warten, oder den Korridor erkunden, bis er eine Tür mit Teeges Namensschild fand? Ragnar entschied sich für Letzteres, weil er dadurch in der aktiven Position blieb, statt einfach über sich verfügen zu lassen.
Zunächst ging er rechts herum, traf aber nach einigen Metern nur auf einen Knick im Gang, hinter dem sich der Eingang zu einer kleinen Küche befand. Angesichts der sterilen Sauberkeit, die dort herrschte, war es unwahrscheinlich, dass der Bankdirektor diesen Raum nutzte.
Er verließ die Sackgasse und lief den Korridor in entgegengesetzter Richtung entlang. Auf der anderen Seite erwartete ihn abermals eine Ecke, hinter der wieder kein Büro steckte. Dort war einfach gar nichts. Ragnar stand vor einer Wand. Er kam sich vor wie eine Ratte in einem dieser Labyrinth-Experimente, und das machte ihn wütend.
»Hören Sie auf mit dem albernen Versteckspiel, Teege. Wenn Sie mich zwingen, unverrichteter Dinge zu verschwinden, veröffentlicht morgen ein großes Nachrichtenmagazin ein Best-Of Ihrer Kundenliste.«
Er war sicher, dass Teege ihn hören konnte. Ein Sicherheitsfanatiker dieser Couleur hatte mit unter Garantie überall Mikrofone, Bewegungssensoren, Kameras und anderes Spielzeug verbaut. Er stand jetzt wieder vor der Stelle, an der sich die getarnte Fahrstuhltür befand, und drehte sich langsam und wachsam im Kreis, wobei er versuchte, die Augen überall gleichzeitig zu haben. Gerade, als er mit dem Gesicht zur Fahrstuhlwand blickte, zischte es direkt hinter ihm und er wirbelte herum, als sei hinter seinem Rücken eine Bombe explodiert.
Alles klar, nur eine Tür. Bloß ´ne blöde Tür. Puh.
Teege hatte diese Tarnvorrichtungen offenbar im Dutzend billiger bekommen und überall eingebaut. Ein Wunder, dass er die kleine Küche nicht ebenfalls hinter einer solchen Blende versteckt hatte.
Direktor Teege stand auf dem erstaunlich schmucklosen Emailleschild an der ebenfalls sehr zweckmäßigen Tür. Ragnar wartete nicht darauf, dass man ihn hereinrief. Er drückte die Klinke und öffnete die Tür.
»Tolles Spielzeug haben Sie da. Aber lassen Sie uns über professionellen Schutz reden«, sagte Ragnar und trat ein.
***
»Ich fahre mit«, beharrte Simon, als ihn zwei Agenten davon abhalten wollten, zu Martinus in den Rettungswagen zu steigen. »Er ist mein Freund und ich lasse ihn nicht allein fahren.«
Die beiden Anzugträger sahen sich an, zuckten mit den Schultern und gaben den Weg frei. »Wenn Sie ein Freund sind, ist es OK. Ihren Ausweis brauchen wir bitte noch.«
Simon klopfte seine Taschen ab und fand seine Ausweismappe nach einigem Suchen in einer Innentasche seiner Jacke. Er überreichte dem Älteren der beiden das gewünschte Dokument und wartete ab.
»Sie sind Simon Stark?« Der Mann schien beeindruckt.
»Ich fürchte ja. Wieso? Ist das ein Problem?«
»Überhaupt nicht. Sie sind bei uns so eine Art lebende Legende. Martinus verbreitet Ihre Heldentaten im ganzen Haus. Er ist sehr stolz, Sie als inoffiziellen Mitarbeiter geworben zu haben.«
Simon meinte, sich verhört zu haben. Inoffizieller Mitarbeiter? Das hätte Martinus so passen können. Aber wenn er den gelegentlichen Einsatz von Palmer & Stark auf diese Weise besser vor seiner Behörde rechtfertigen konnte, war es Simon eigentlich egal.
»Danke Jungs«, entgegnete er kurz angebunden und stieg in den Wagen. Sofort, nachdem er Platz genommen hatte, wurden die Türen geschlossen und der RTW setzte sich mit Blaulicht und Sirene in Bewegung. Simon ließ die Ärzte ihre Arbeit machen und beobachtete ihre Bemühungen bang wartend von seinem Klappsitz aus.
»Wenn er es bis in die Klinik schafft, hat er noch eine Chance«, sagte einer der beiden. Simons Magen krampfte sich zusammen. Nach all den Tiefschlägen, die schon auf ihn eingeprasselt waren, würde er den Tod seines Freundes nicht verkraften.
Es bis in die Klinik schaffen – das sollte doch machbar sein. Immerhin stand das Altonaer Krankenhaus keine fünfhundert Meter Luftlinie von hier. Dem Umstand war es auch geschuldet, dass unmittelbar nach dem Anschlag zahlreiche Unfallmediziner vor Ort gewesen waren.
»Gibt es Angehörige, die wir benachrichtigen können?«, fragte einer der Ärzte und drehte sich zu Simon um.
»Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht«, musste Simon zugeben und wurde sich erst jetzt bewusst, wie wenig er über den Mann wusste, den er einen Freund nannte.
»Ich habe mir nie die Zeit genommen, ihn danach zu fragen.«