Neues Denken auf Russisch
Moskau
1977–1991
1977–1991
Nachdem ich Peking verlassen hatte, ging
ich für ein Jahr an das Center for East Asian Research der
Harvard-Universität, um an einem Buch über China zu arbeiten und
einige Seminare zu geben. Es war ein großer Sprung von Peking nach
Amerika und eine erstaunliche Erfahrung. Hier an der Universität
standen mir unendlich viel mehr Unterlagen zur Verfügung, als ich
in China selbst je hätte bekommen können: Statistiken, Texte der
innerparteilichen Auseinandersetzungen, Leitartikel lokaler
Zeitungen, Politikerbiografien, Veröffentlichungen über
wirtschaftliche Entwicklungen – es gab Unmengen detailliertesten
Materials und erfahrene Professoren und junge Forscher, die es
auswerteten. Mehr an Information über das China der Gegenwart war
vermutlich nirgends auf der Welt auf so engem Raum zu finden. Es
war fast alles da – außer Wissenschaftler, die in den letzten
Jahrzehnten in dem Land gewesen waren. Zu diesem Zeitpunkt waren
die Beziehungen zwischen der Volksrepublik und den USA noch immer so rigide beschränkt, dass
an der großen Harvard-Universität nur ein Professor lehrte, der ein
Jahr im China Maos gelebt hatte, und das war ein Kanadier. Ich
sammelte Material und Unterlagen und verglich die Informationen mit
meinen eigenen Erfahrungen. Bei manchen Themen fand ich
Erklärungen, auf die ich in China nie gestoßen wäre. Doch ich las
auch Arbeiten, die auf komplizierte, theoretische Weise
Zusammenhänge herstellten, die ich aus meinen praktischen
Erfahrungen in chinesischen Betrieben, Bauerndörfern oder
Universitäten vergleichsweise leicht hätte herleiten können.
Es war ein angenehmes und lehrreiches Jahr in
Harvard, aber keine Tätigkeit, die ich für den Rest meines Lebens
weiter betreiben wollte. Ich war eben doch mehr Journalist als
Akademiker und war nach wie vor besonders fasziniert von Russland,
von der großen Sowjetunion. »Geh doch für uns als
Hörfunkkorrespondent nach Moskau. Der alte Breschnew stirbt bald.
Und dann wird es dort spannend«, sagten meine Kollegen vom
Westdeutschen Rundfunk. Ich glaubte das auch oder hoffte es
wenigstens, als ich Ende 1977 wieder in ein Flugzeug nach Moskau
stieg.
Die Sowjetunion schien zu dieser Zeit in
eine Art Halbschlaf gefallen zu sein, ein Zustand, mit dem der alte
Generalsekretär Breschnew und die Mehrheit der Parteiführung
offenbar ganz zufrieden waren. Dramatische Spannungen, wie ich sie
in China erlebt hatte, waren zu Lebzeiten dieser alten Funktionäre
nicht zu erwarten. Während es in Peking Mitte der siebziger Jahre
harte Zusammenstöße und Auseinandersetzungen gegeben hatte, lebten
die Russen in einer Phase der Stagnation, die allerdings, so fanden
viele, auch ihr Gutes hatte. Die sowjetische Propaganda hatte die
brutale Politik der chinesischen Kommunisten dramatisiert und der
Bevölkerung damit so viel Angst eingeflößt, dass viele mit den
mäßigen Verbesserungen im eigenen Land zufrieden schienen oder sich
jedenfalls dem gewaltigen Apparat des Polizeistaats ohne Widerstand
unterordneten.
Als ich mich im Frühjahr 1978 dem Chef des
sowjetischen Fernsehens und Hörfunks Sergej Lapin als Korrespondent
der ARD vorstellte, erinnerte
ich mich an die Begegnung mit ihm während des Regierungsbesuchs von
Willy Brandt. Mehr als kühle Formalität erwartete ich also nicht,
als mich ein Vertreter der Auslandsabteilung in den fünften Stock
und ins Arbeitszimmer Lapins führte. Dass ich als Ausländer
überhaupt die Sicherheitsschleusen passieren durfte, war neu,
unverändert aber war die Gleichgültigkeit, mit der Lapin mich
empfing. Er saß an einem langen Tisch, im Rücken die Fenster, so
dass mir das Licht wie bei einem Verhör ins Gesicht fiel. Er
blickte ständig an mir vorbei, und es dauerte eine Weile, bis ich
mir das erklären konnte: Auf einem der vielen Bildschirme hinter
mir lief ein Eishockeyspiel. Ein russischer Kollege hatte mir zwei
Themen genannt, über die man mit Lapin reden könne: Eishockey und
Goethes Faust. Zu Recht oder zu Unrecht
hatte Lapin den Ruf, ein großer Kenner des Faust II zu sein. Ehe ich aber meine schwachen
Erinnerungen an dieses Theaterstück ins
Spiel bringen konnte, hatte er mit seiner vorbereiteten Belehrung
begonnen. Wie meine Arbeitsmöglichkeiten in Moskau aussehen würden,
hänge auch davon ab, dass Rundfunk und Fernsehen in Deutschland
endlich mit ihrer antisowjetischen Propagandakampagne Schluss
machten, sagte er. Es sei längst an der Zeit, dass die deutsche
Regierung diesem Treiben ein Ende bereite, wenn sie den Wunsch
habe, zum mächtigsten sozialistischen Staat der Welt fruchtbare
Beziehungen zu unterhalten. Ich versuchte sein Bild von durch die
Regierung gleichgeschalteten westdeutschen Medien vorsichtig zu
korrigieren, aber Lapin, der Widerspruch seit Jahren nicht mehr
gewohnt war, reagierte mit wachsendem Ärger. »Wie Sie wissen, bin
ich ein Mitglied der Regierung und des Zentralkomitees der Partei.
Alle wichtigen Mitarbeiter von Rundfunk und Fernsehen gehören der
kommunistischen Partei an. Alle arbeiten zusammen, um im Auftrag
der Partei das Beste für unser Land zu erreichen. Natürlich gibt es
auch bei uns Verrückte, die sich nicht auf die gemeinsame Arbeit
für Partei und Staat einstellen können. Manche von ihnen sind dumm,
die werden entlassen, andere sind bösartig, die werden bestraft,
oder wir verbannen sie ins Ausland. Einige sind richtig verrückt,
die kommen in die psychiatrische Klinik.« Dann wandte er sich
wieder ganz dem Eishockey zu. Der Höflichkeitsbesuch war
beendet.
Zum Glück stieß ich nicht überall auf ein
derart kaltes und abweisendes Klima. Im Grunde war es sogar eine
gute Zeit für einen Journalisten. Unter dem alten Breschnew war
angebrochen, was spöttische russische Kollegen »das goldene
Zeitalter der Stagnation« nannten. Die Re-Stalinisierung, vor der
oft gewarnt wurde, war ebenso wenig gekommen wie eine
Modernisierung des Landes. Moskau war immer noch ein wichtiger
Platz in der Weltpolitik, aber politische Sensationen gingen von
ihm nicht aus. So konnte ich mit Kollegen oder Mitarbeitern der
großen Institute der Akademie der Wissenschaften häufiger und
freier sprechen als in den früheren Sowjetjahren. Meine Bekannten
waren an einer Diskussion über Nachrichten aus dem Westen
hochinteressiert, denn die offizielle Parteilinie wurde nicht mehr
mit derselben Härte durchgedrückt. Das bot ihnen eine Chance zum
Meinungsaustausch und zu einem freieren Umgang mit
Ausländern.
Ich besuchte einige Zeitungs- und
Zeitschriftenredaktionen, um mit Kollegen ins Gespräch zu kommen,
und fand dabei auch jene freundlich und aufgeschlossen, die sich
dicht an der offiziellen Linie hielten. Ganz überrascht war ich,
als mich ein Leitartikler der Regierungszeitung Iswestija auf einem Empfang ansprach. Ich hatte die
Artikel von Alexander Bovin stets mit Interesse gelesen. Sie waren
in Nuancen fühlbar anders als die sonstigen offiziellen
Stellungnahmen, auch kenntnisreicher in Fragen der Außenpolitik und
der Einschätzung westlicher Positionen. Nun war ich erstaunt, als
er mich um einen Gefallen bat: Er habe von meiner Biografie des
Dichters Boris Pasternak gehört. Ob ich ihm das Buch ein paar Tage
leihen könne. Bovin war ein außenpolitischer Berater des
Zentralkomitees und gelegentlicher Redenschreiber des Präsidenten
Breschnew, da hätte er eigentlich Zugang zu einem offiziell nicht
zugelassenen Buch wie meiner Pasternak-Biografie haben müssen. Auch
überraschte mich die Offenheit, mit der er sein Interesse an einem
verbotenen Schriftsteller erkennen ließ. Ich schickte ihm eine
englische Ausgabe des Buches, die er mir eine Woche später
zurückgab. Ihm habe gefallen, dass ich darin mit viel Achtung und
Verständnis über die russischen Dichter und ihr Schicksal
geschrieben hätte. Das war ein anderer Ton, als ich ihn aus
früheren Gesprächen kannte.
Ich merkte, dass das Buch als eine Art
Eintrittskarte zu Gesprächen verschiedenster Art diente. Ohnehin
spielten russische Kollegen häufig darauf an. Viele von ihnen und
besonders ihre Frauen liebten und verehrten den Dichter, an dessen
Grab auf dem Friedhof von Peredelkino immer noch regelmäßig frische
Blumen lagen. Und selbst bei den Mitarbeitern der wirtschaftlichen
und politischen Forschungsinstitute erging es mir so, von denen
mich einige gelegentlich zu Gesprächen einluden. Sie kritisierten
die offizielle Politik nicht direkt, aber ich entnahm ihren Fragen,
dass sie den Mangel an Konzepten zur Reform von Wirtschaft und
Gesellschaft für bedauerlich, ja gefährlich hielten. Dabei ließen
sie durchblicken, dass sie vor allem im Unverständnis der
Parteiführung den Grund für den schlechten Zustand der Wirtschaft
sahen. Ich erfuhr von ausführlichen Studien, die von Instituten der
Akademie der Wissenschaften an die Parteiführung übermittelt, dort
aber nicht weiter erörtert wurden. Ein russischer
Volkswirtschaftler erzählte mir – verbittert und leicht betrunken
–, wie eine seiner wichtigsten Arbeiten durch die Leitung seines
Instituts zusammengestrichen worden sei. Er hatte in einer
zweihundertseitigen Studie die Probleme der sowjetischen und
internationalen Öl- und Erdgasproduktion untersucht und nicht
zuletzt die Schwierigkeiten bei den sowjetischen Exporten
analysiert, die immerhin zu 80 Prozent aus Öl, Gas und Rohstoffen
bestanden. Es war ein sorgfältiger Beitrag zur Auseinandersetzung
über Vor- und Nachteile engerer Wirtschaftsbeziehungen mit dem
Ausland und auch über die angeblich daraus entstehenden
Abhängigkeiten. Fast ein Jahr hatte er an der Studie gearbeitet,
bevor er sie zwei Wochen vor unserem Gespräch beim kommissarischen
Leiter seines Instituts ablieferte. Am Nachmittag vor unserer
Begegnung hatte er sie zurückbekommen: Veröffentlichung genehmigt,
aber um achtzig Seiten gekürzt. Nun sei eigentlich nur ein
statistisches Gerippe übrig geblieben. »Wer das liest, muss mich
für einen stumpfsinnigen Trottel halten«, klagte er. Aber der
Leiter seines berühmten Forschungsinstituts habe bloß gesagt, es
sei doch nutzlos, derartige Überlegungen zur Debatte zu stellen.
Das Institut werde Schwierigkeiten bekommen, weil eine solch
kritische Darstellung die zuständigen Parteifunktionäre verärgern
würde. »Wenn überhaupt, dann liest das höchstens dieser
Gorbatschow.« Es war das erste Mal, dass ich den Namen des jüngsten
Mitglieds des Politbüros Michail Gorbatschow hörte. Der
Wirtschaftswissenschaftler erzählte mir auch von dem Direktor des
Instituts für Weltwirtschaft, der nach einer kritischen Studie aus
seinem Haus vom Zentralkomitee getadelt und dann an die Botschaft
in Kanada versetzt worden sei. So würden die Arbeiten der
Wissenschaftler kastriert, sagte er und entschuldigte sich dafür,
dass er einfach mal Dampf ablassen musste. Er war überhaupt kein
Mann der Opposition und kein Feind der Partei und ihrer Führer.
Aber ihm ging die Heuchelei, mit der eine Diskussion der
vorhandenen Schwierigkeiten unterdrückt wurde, zu weit. Einige
Jahre später sollte er zu einem offenen Kritiker des Systems
werden.
Eine kleine Zahl von Intellektuellen
hatte den Schritt zur offenen Regimekritik schon mehrere Jahre
früher getan. In Moskau demonstrierten am Tag der sowjetischen
Verfassung 1965 ungefähr hundert Menschen auf dem Puschkinplatz und
protestierten insbesondere gegen die Zensur. Unter der Bezeichnung
»Hauptverwaltung für Literatur«, so der Vorwurf, belaste die
Zensurbehörde mit ihren Willkürakten die Arbeit der Künstler und
Schriftsteller. Zensur sei in der Verfassung nicht vorgesehen,
werde nirgends öffentlich mit Namen genannt und sei durch kein
Gesetz gedeckt. Partei und Polizei griffen in den darauffolgenden
Jahren scharf durch, und kritische Intellektuelle wurden in
psychiatrische Krankenhäuser eingeliefert oder in Straflager
verbannt. Seit Ende der sechziger Jahre führten Kritiker des
Regimes eine »Chronik der laufenden Ereignisse«, die über die
Verhaftungen von Dissidenten, die Verfolgung von Christen, Juden
und Moslems sowie über die Unterdrückung nationaler Minderheiten
ebenso berichtete wie von Protesten der Intellektuellen und dem
Elend der kleinen Leute. Die Chronik wäre unbekannt geblieben, wenn
sich im Westen nicht Amnesty International für ihre Verbreitung
eingesetzt hätte.
Die Kampagne gegen die Dissidenten führte im
Laufe der Jahre zu Verhaftungen und Lagerstrafen, angesehene
Wissenschaftler und Schriftsteller wurden ausgewiesen, wie etwa
Alexander Solschenizyn im Jahr 1974, oder in die Verbannung geschickt, wie
Andrej Sacharow sechs Jahre später. Es gab immer weniger kritisch
denkende Menschen, die sich bei einem Schriftsteller wie Lew
Kopelew und seiner Frau treffen konnten – am Ende durften auch
diese beiden 1981 nach einer Deutschlandreise nicht mehr in die
Sowjetunion zurückkehren. Gelegentlich sah ich einzelne Personen
oder kleine Gruppen, die an den Straßenecken nahe den Moskauer
Gerichtsgebäuden warteten, um Dissidenten-Freunden vor deren
Abtransport ins Straflager noch einmal zuzuwinken. Sie standen
scheinbar unbeteiligt da und hofften, ein verurteilter Freund würde
sie sehen können, wenn er in einem Polizeiwagen abtransportiert
wurde. Für uns ausländische Journalisten war es unmöglich, mit
Verhafteten und Verurteilten zu sprechen. Selbst ihre Freunde und
Angehörigen konnten wir meistens schon am Tag nach dem Urteil nicht
mehr kontaktieren.
So stand ich im Mai 1978 gemeinsam mit
amerikanischen Kollegen einen halben Tag lang vor einem Gericht am
Rande Moskaus, wo der Menschenrechtler Juri Orlow sein Urteil
erwartete. Orlows Frau und seine beiden Söhne waren während des
Prozesses im Gerichtssaal gewesen. Nun wollten wir sie mit unseren
Autos vom Gericht zu ihrer Wohnung in der Innenstadt bringen, um
etwas über den Prozessverlauf zu erfahren. Die Orlows saßen kaum in
einem unserer Autos, als drei Pkws mit normalen Moskauer
Nummernschildern unsere Wagen zu rammen versuchten. Daraufhin
bildeten wir eine kleine Kolonne mit Kevin Close von der Washington Post vorn, Irina Orlowa und ihren Söhnen
im mittleren Wagen und mit mir am Schluss. Das machte es unseren
Verfolgern schwerer, uns abzudrängen. Nur knapp vermieden wir dabei
einen schweren Unfall. Kevin Close fuhr mit Vollgas durch den
dichten Innenstadtverkehr, überholte links und rechts und
versuchte, die KGB-Fahrer
abzuhängen. Neben mir saß der Schriftsteller Wladimir Wojnowitsch,
der später zur Emigration nach Deutschland gezwungen wurde, und
schrie aufgeregt und begeistert: »Fahr, Cowboy, fahr!«, während
Close zwischen Lastwagen und Bussen hindurchraste. Dennoch konnten
wir die Verfolger nicht abschütteln, die sich immer näher an uns
herantrauten. Da riss Close seinen Wagen plötzlich nach rechts
herum und fuhr über den Bürgersteig des Kutusowski Prospekts durch
eine schmale Einfahrt zu einem Wohnblock für Ausländer. Der zweite
Wagen unserer Kolonne schoss mit quietschenden Reifen hinterher.
Ich konnte nicht mehr bremsen und fuhr geradeaus weiter, immer noch
verfolgt von den Wagen des KGB.
Nach ein paar Hundert Metern drehten sie ab und verschwanden. Eine
Viertelstunde später kam ich, immer noch außer Atem, in die Wohnung
des Financial Times-Korrespondenten David
Satter, in der Irina Orlowa vor einer Reihe von Journalisten bei
einer kleinen unerlaubten Pressekonferenz den Verlauf des
Prozesstages schilderte. Es habe nur Beschuldigungen und keine
Chance für eine ernste Verteidigung gegeben, berichtete sie, dazu
Beifallsbekundungen für den Staatsanwalt und Beschimpfungen des
Angeklagten durch das ausgewählte Publikum. Ihr Mann habe kein
Reuebekenntnis abgelegt und sei schließlich zu langer verschärfter
Lagerhaft verurteilt worden. Davon sollte die Welt erfahren, meinte
sie, und sie hoffte, die Aufmerksamkeit des Auslands würde zur
Ausweisung ihres Mannes aus der Sowjetunion führen.
Mit den Schriftstellern Jewgeni Popow und Viktor Jerofejew, 1993.
Quelle: Mit Jewgeni Popow und Viktor Jerofejew: Daniel Biskup