Sechsmal um die Ecke oder dreimal geradeaus?
Jugend im
Nationalsozialismus
1933–1945
1933–1945
»Was wollt ihr? Sechsmal um die Ecke oder
dreimal geradeaus?«, fragte der bullige, große Junge meinen Freund
Karlchen und mich, während wir den beiden Gruppen von Jungen
zuschauten, die sich auf der Straße versammelt hatten. Wir,
Karlchen, der Sohn des Gemüsehändlers, und ich, Sohn eines Arztes
im Arbeiterviertel Hamburg-Hamm, verstanden die Frage nicht. Die
Jungen scheuchten uns fort, und wir machten auch, dass wir
wegkamen. »Das sind große Jungs, die wollen sich hauen«, sagte
meine Mutter später nur.
»Sechsmal um die Ecke oder dreimal geradeaus« –
erst viele Jahre später verstand ich den Sinn der Worte, als ich
über die Anfangszeit der Hitlerherrschaft las: Sechsmal um die
Ecke, das bezog sich auf das Hakenkreuz. Dreimal geradeaus, das
waren die drei Pfeile, das Symbol der Eisernen Front, zu der sich
Sozialdemokraten, liberale Demokraten und Leute der Zentrumspartei
zusammengeschlossen hatten, um den Nazis auf der Straße –
vergeblich – Widerstand zu leisten.
Keine sechs Jahre alt, wusste ich damals nicht,
was damit gemeint war. Zu Hause wurde in der Familie über Politik
selten gesprochen, schon gar nicht mit den Kindern. Mein Vater war
ein Naturphilosoph, ein Arzt mit künstlerischen Neigungen, der viel
las und manchmal aquarellierte, sich jedenfalls nicht über
politische Themen ausließ und mit dem ich später nach der Trennung
meiner Eltern auch nur wenig Kontakt hatte. In der Schule, einer
protestantischen Privatschule, hielt sich der Klassenlehrer auf
Distanz zum Nationalsozialismus, Politik war auch hier kein Thema.
Von meinen Mitschülern kamen so gut wie keine Fragen, von den
Erwachsenen gab es keine Antworten.
Seltsam, dass dennoch manche Bruchstücke aus
den Gesprächen der Erwachsenen in meinem Gedächtnis haften
geblieben sind. Einmal, es muss im Jahr 1934 gewesen sein, war ein
offizieller Besuch des Führers und Reichskanzlers in Hamburg
angekündigt, und ich schaute mit meinem Vater vom Dachboden unseres
Hauses auf die Einfallstraße, über die Hitlers Kolonne kommen
sollte. »Wenn man ein Zielfernrohr hätte, könnte man ihn von hier
erschießen«, sagte mein Vater, als er mich durch die Luke
herabblicken ließ. Aber er erklärte seine Bemerkung nicht, und als
Hitler vorbeifuhr, standen wir schon nicht mehr am Fenster. Die
Worte meines Vaters hatten sich mir tief eingeprägt. Ich war sechs
Jahre und wusste noch nicht recht, wer Hitler war. Aber ich
verstand schon, dass die Erwachsenen eine Frage nach ihm nicht
beantworten wollten. Das Schweigen blieb bis zur Niederlage und
sogar darüber hinaus. Und je weniger Antworten ich erhielt, umso
mehr Fragen bedrängten mich.
Hitler war schon vier Jahre an der Macht, als
ich zum ersten Mal direkt in Kontakt mit dem Nationalsozialismus
kam. Meine Eltern hatten sich getrennt, und ich sollte in ein
Internat. Um die Aufnahmebedingungen zu erfüllen, musste ich dem
Jungvolk, der NS-Organisation
für die Zehn- bis Vierzehnjährigen, beitreten. Ich war zwar erst
neun Jahre alt und damit eigentlich ein Jahr zu jung, wurde aber
trotzdem in eine Hamburger Jungvolkeinheit eingegliedert, wo ich
dann einige Male zum Exerzieren erschien, ohne viel Verständnis,
worum es ging, und mit wenig Verbindung zu den anderen Jungs, die
Arbeiterkinder waren und mit mir nichts anfangen konnten. Ich hatte
keine Lust, in Reih und Glied anzutreten und mir von einem älteren
Jungen sagen zu lassen, dass meine schwarzen Schuhe nicht gut genug
geputzt seien. Den Sinn des Strammstehens und Herummarschierens
verstand ich nicht. Nur einmal hat es mir gefallen, als wir beim
Vorbeimarsch eines Reichswehr-Regiments zuschauen durften: Die da
so zackig marschierten, waren die »Ratzeburger Jäger«. Ich hatte in
den Ferien auf dem Lande Jäger und Förster bewundert. So wie die
wollte ich auch einmal werden, aber dass es zwei grundverschiedene
Arten von Jägern gab – die einen im Wald, nahe den Tieren, die
anderen in Militärkolonnen –, hatte ich nicht verstanden. Wie auch
immer: Ich gehörte nun zum Jungvolk, hatte eine Uniform – sehr
kurze schwarze Hose, schwarze Filzbluse – und konnte damit im
Internat erscheinen.
Das Landerziehungsheim Marienau in der
Lüneburger Heide war in den zwanziger Jahren als eine »Freie
Schulgemeinde« gegründet worden, eine höchst liberale Variante der
Erziehungsreform, bei der sich Lehrer und Schüler regelmäßig zur
»Schulgemeinde« versammelten, um über Fragen des Schullebens, ja
sogar über das Verhalten von Lehrern und ihre Anstellung
abzustimmen. Als ich 1937 aufgenommen wurde, gab es diese
Abstimmungen allerdings nicht mehr. Die meisten älteren Schüler,
die den Geist der Schule mitgeprägt hatten, waren abgegangen. Jetzt
lebten noch rund sechzig Kinder und Jugendliche in dem Internat.
Viele von ihnen stammten aus liberalen Familien Hamburgs und
Berlins, viele ihrer Eltern arbeiteten bei Film und Presse oder als
Kaufleute mit Beziehungen zum Ausland.
Kurz vor meiner Ankunft hatte Max Bondy, der
Gründer und Leiter des Landerziehungsheims, ein Jude, auf Druck der
nationalsozialistischen Behörden seine Schule verkaufen müssen. Der
neue Direktor, Bernhard Knoop, und die Lehrer, die mit ihm gekommen
waren, stießen bei den älteren Schülern auf erbitterten Widerstand.
Sie machten Knoop zur Zielscheibe harter Kritik, erzählten etwa von
offiziellen Schreiben der Schule, die mit »Heil Hitler«
unterzeichnet waren. In Wirklichkeit war der neue Leiter eher
bürgerlich und christlich-konservativ orientiert. Er und
befreundete Pädagogen wollten im politischen Umbruch wenigstens
einen Teil der Tradition der Landschulheimbewegung bewahren, auch
wenn klar war, dass die Freiheit und Eigenständigkeit
Schulgemeinschaften unter dem Druck der Behörden nicht erhalten
werden konnten. Stattdessen mussten sich die betreffenden Internate
nun als »Deutsche Heimschulen« durchschlagen.
Mit meinen neun Jahren war ich der Jüngste und
musste sogar eine Klasse überspringen, damit man mich aufnehmen
konnte. Ich musste mich gegen die Älteren durchboxen, wenn nötig in
Keilereien, die mir den Ruf eintrugen, ein Spezialist für die
»Nierenschere« zu sein. Wenn es mir zu viel wurde, verschwand ich
im Wald, baute mir Höhlen und beobachtete Vögel und Rehe. Es kam
vor, dass ich ein verlorenes Jungtier mit auf mein Zimmer nahm und
durchfütterte, bis ich einen Förster fand, der es großziehen
wollte. Man gab mir deshalb den Spitznamen »Waldläufer«. In der
Schule hatte ich mit dem Unterrichtsstoff kaum Schwierigkeiten. Ein
paar Lehrer fanden mich frech, weil ich manchmal widersprach, aber
im Großen und Ganzen wurde ich von Pädagogen, die ich achtete,
ebenfalls mit freundlichem Respekt behandelt. In einem der
Zeugnisse hieß es bezeichnenderweise: »Gerd ist höflich, aber
unzugänglich.«
Es machte mir keinen Spaß, die aktuellen
politisch gefärbten Romane über Weltkrieg und nationalen
Freiheitskampf zu lesen. Die einzige Lehrerin, die aus der
Gründungszeit in der Schule verblieben war, machte mich zum Glück
auf einige Bücher in den obersten Regalen der Bibliothek
aufmerksam. Und so entdeckte ich nicht nur Emil
und die Detektive, sondern auch andere Bände aus der Zeit vor
1933 und die Lust am Lesen überhaupt. Später kamen auch Gedichte
hinzu. Ich war dreizehn oder vierzehn Jahre alt, als ich manchmal
zusammen mit einigen anderen Schülern Lyrik las – allerdings nicht
die offiziell gefeierte von Hanns Johst oder Hans Baumann, sondern
den »Cornet« von Rilke oder »Der Tor und der Tod« von
Hofmannsthal.
Es gab einige Lehrer, deren Gehabe mich
ärgerte, aber auch andere, deren frische und lebhafte Art mir gut
gefiel. Zwei Kunstlehrerinnen bewunderte ich sehr. Ich liebte es,
wenn sie nachmittags oder abends nach dem Unterricht mit mir über
die Bilder sprachen, die ich während der Zeichenstunde gemalt
hatte. Beide waren vor 1933 erfolgreiche freie Künstlerinnen
gewesen. Was sie mir außerhalb des Unterrichts zeigten, war eine
Kunst, die von den Nazis als »entartet« abgestempelt wurde:
Picasso, Nolde, Barlach, Rohlfs. Ohne ein Wort über die heroische,
militaristische Kunst des Dritten Reichs oder über Politik im
Allgemeinen zu verlieren, gaben sie mir ihren Widerwillen gegen das
NS-System zu erkennen. Als
Dreizehnjähriger beeindruckte mich solch unausgesprochener
Widerstand. Aber offene politische Opposition, so viel begriff ich
nun, konnte man von ihnen nicht erwarten oder erlernen, nur eine
Haltung eindeutiger Ablehnung.
Als älterer Schüler hatte ich den Auftrag, mich
um die Schüler aus den beiden Unterklassen zu kümmern – mit dem
Titel »Kornett«, in dem gewissermaßen ein Anflug von Disziplin und
Rilke mitschwang. Wenn die »Kleinen« zu Bett gebracht waren,
unterhielt ich mich oft mit zwei Frauen, die als Erzieherinnen
diese Gruppe der jüngsten Schüler betreuten. Sie sprachen mit mir
offener über den politischen und geistigen Zwang durch den
Nationalsozialismus. Eine der beiden hat später bis zum Ende des
Kriegs die Mutter von Christoph Probst, einem der hingerichteten
Studenten der Weißen Rose, betreut, von der anderen erfuhr ich mehr
als zwanzig Jahre danach, dass ihre Mutter jüdische Schulkinder und
Familien vor den Nazis gerettet hatte und heute in Yad Vashem von
den Israelis als »Gerechte unter den Völkern« geehrt wird. Ihr Sohn
wiederum hatte sich geweigert, Offizier zu werden, war einem
Todesurteil knapp entkommen und in einem Strafbataillon gefallen.
Manchmal erwähnten die beiden Frauen in knappen Worten auch, dass
Juden in Deutschland »abgeholt« und in Lager gesteckt würden. Als
ich die Jüngere einmal bei ihrer Mutter in Hamburg besuchte,
schnappte ich eine verstörende Bemerkung auf. Die Mutter erzählte
von einer Hamburger Schriftstellerin, einer Jüdin, die zwei Tage
vorher abgeholt worden sei. »Wohin?«, fragte die Tochter. »Nach
Theresienstadt«, war die Antwort. Daraufhin die Tochter: »Gott sei
Dank, das ist ja nicht das Schlimmste.« Ein paar Tage zuvor hatte
sie im Gespräch mit mir erwähnt, dass Juden aus Deutschland
zwangsweise in ein Ghetto in der Tschechoslowakei umgesiedelt
würden, nach Theresienstadt. Als ich nun fragte, was es denn noch
Schlimmeres gebe, bekam ich keine Antwort mehr. Erst später
verstand ich, dass sie mich und sich vor unvorsichtigen Bemerkungen
schützen wollte – so wie im Sommer 1943, als sie mich in Hamburg unerwartet
anrief: »Die Amerikaner sind auf Sizilien gelandet.« Ich
antwortete, ohne nachzudenken: »Gott sei Dank, endlich.« – »Ja,
endlich, jetzt können unsere Soldaten sie schlagen und vernichten«,
gab sie geistesgegenwärtig zurück. Anders als mir war ihr die
Gefahr, von der Gestapo abgehört zu werden, immer bewusst.
Mitunter spotteten wir über Lehrer, die sich
allzu bieder an die offiziell vorgegebene Linie hielten. Einer war
Mitglied der SA und trug eine
Uniform mit einer steifen Mütze, die wir Pappendeckel nannten.
Spätabends kam er manchmal schwankend und Marschlieder singend von
Versammlungen im Nachbarort zurück. Dass er ein richtiger Nazi war,
schien mir allerdings nicht ganz sicher, denn immerhin las er uns
gelegentlich auch Sherlock Holmes vor,
voller Bewunderung für diese englische Romanfigur. Einmal warnte er
einen Klassenkameraden und mich, wir sollten den Mund halten, weil
wir sonst die Existenz der ganzen Schule gefährdeten. Niemand außer
uns rede über die Verhaftung und Hinrichtung der Studenten der
Weißen Rose. Die Schwester von Christoph Probst war mit dem
Direktor unserer Schule verheiratet. Probst und seinen Freund
Alexander Schmorell hatten wir bei ihren kurzen Besuchen in der
Schule vor allem als flotte Reiter und eindrucksvolle Kerle
bewundert. Nun waren sie wegen ihrer Aufforderung zum Widerstand
verhaftet und zum Tode verurteilt worden. Die Einzigen, die unter
den Schülern davon gehört hatten und darüber sprachen, waren mein
Freund und ich. Wir hatten es von den beiden Erzieherinnen erfahren
und versprochen, nichts davon weiterzuerzählen. Aber für völlige
Verschwiegenheit waren wir zu aufgeregt. »Wenn es rauskommt, dass
bei uns darüber geredet wird, dann kann es passieren, dass die
Schule geschlossen wird. Es ist schwer genug, sie gegen den Druck
der Behörden offen zu halten«, ermahnte uns daher der
Englischlehrer, der offensichtlich doch kein lupenreiner Nazi
war.
Ein älterer Lehrer, der viel über die Edda und die nordische Lebenskultur erzählte – das
lag ja ganz auf der Nazilinie –, verschwand eines Tages und endete,
wie wir später erfuhren, als Homosexueller im KZ. Seine Nordland-Begeisterung stammte aus
der Zeit vor Hitlers Machtübernahme, aus einem esoterischen Zweig
der Jugendbewegung. Auch bei anderen, jüngeren Lehrern konnten wir
die jeweilige Gesinnung nicht klar ausmachen: Ein Musiklehrer, ein
feinsinniger Komponist romantischer Lieder, begeisterte sich für
das Vaterland und schien auf idealistische Weise nahe an der
NS-Gesinnung zu sein. Er starb
als Soldat im Russlandfeldzug. Erst danach erfuhr ich, dass er sich
unter dem Eindruck der Gräuel des Kriegs und der Hitlerherrschaft
der Bekennenden Kirche angeschlossen hatte, der einzigen
protestantisch-kirchlichen Form des Widerstands gegen die
NS-Ideologie.
Ich selbst hatte, als ich ungefähr vierzehn
war, das Vertrauen zum Pastor unserer Kirche wegen seiner
unkritischen Haltung zum Nationalsozialismus verloren und
beschlossen, mich nicht konfirmieren zu lassen. Atheismus kam mir
allerdings auch sehr fremd vor. Der Deutschlehrer empfahl mir, in
der Bibliothek die Bücher über Gottgläubigkeit zu lesen, eine Art
Ersatzreligion mit vielen nordischen Göttern und pseudoreligiösen
Versatzstücken. Mir erschien das wie eine leere Geste, aber
endgültig abgeschreckt wurde ich durch ein »Gottesbekenntnis«, von
dem mir bis heute ein Satz im Gedächtnis geblieben ist: »Dass das
Ross rennt, ist Gott.« Dieses künstlich nordische Pathos ging mir
unmittelbar auf den Geist, und auf den Rat der beiden Erzieherinnen
hin ließ ich mich am Ende doch konfirmieren.
Dass man nicht alles offen sagen musste, um
auszusprechen, was man wusste, war mir im Herbst 1940 aufgefallen,
als der Lateinlehrer uns den Umgang mit Büchern in der Bibliothek
erklärte. Ein Buch hielt er hoch: Finnlands
Jugend bricht Russlands Ketten von Klaus Mehnert. »Das Buch ist
im Augenblick nicht so geeignet und gehört eigentlich gesperrt«,
sagte er, »aber ihr könnt es ruhig einmal lesen, bald kommt es
wieder.« Das Buch blieb tatsächlich während der Zeit des
Hitler-Stalin-Paktes offiziell gesperrt – bis zum deutschen
Überfall auf die Sowjetunion, den der Lehrer allem Anschein nach
vorausgeahnt hatte. Als Zwölfjähriger wusste ich nichts von den
politischen Zusammenhängen, mir erschien es aber nicht recht
geheuer, dass er so offensichtlich eine doppelte Moral empfahl.
Darüber sprach ich dann, als im Sommer 1941 der Russlandkrieg
begann, noch einmal mit einem Freund, der ein Jahr älter war als
ich und der Einzige, mit dem ich solche Gespräche führen konnte. Er
war der Sohn eines hohen Marineoffiziers, und mir fiel auf, dass er
sich weigerte, den Völkischen Beobachter,
das Parteiorgan der NSDAP, zu
lesen, und sich stattdessen in der Deutschen
Allgemeinen Zeitung informierte – zwar alles andere als ein
Organ des Widerstands, aber weniger von knallharter Propaganda
geprägt.
Im Sommer 1942 saß ich in der Bibliothek, als
ein älterer Schüler hereinkam. Er nahm den Völkischen Beobachter in die Hand, las die
Schlagzeile und haute die Zeitung mit der Bemerkung auf den Tisch:
»Ein Bluthund weniger!« Auf der Titelseite hatte er die Nachricht
von der Ermordung des SS-Führers Reinhard Heydrich durch
tschechische Partisanen gesehen. Zwar wusste ich nicht genau, worum
es ging, aber der Obersekundaner war ein blendender Hockeyspieler,
gefürchtet für seine Wutausbrüche und jedenfalls einer, zu dem wir
Jüngeren voller Bewunderung aufschauten.
Im Allgemeinen hatte sich der Umgangston in der
Schule zumindest oberflächlich an die Forderungen der
nationalsozialistischen Schulbehörden angepasst. Unter uns Schülern
gab es gelegentlich eine aufsässige Stimmung, die sich aber weniger
politisch als vielmehr aus einzelnen Ärgernissen erklären ließ.
Mitschüler erzählten mir noch viele Jahre später, wie ich einmal
mit einem Lehrer zusammengestoßen sei. Er habe versucht, mir eine
Ohrfeige zu geben, woraufhin ich – hier gehen die Erinnerungen
auseinander – versucht hätte, meine Schultasche durch das
geschlossene Fenster zu schmeißen oder den Lehrer ebenfalls zu
ohrfeigen. Jedenfalls hatte die Auseinandersetzung keine Folgen für
mich: Der Lehrer forderte die Klasse auf, über diesen Vorgang zu
schweigen, weil sonst strenge Maßnahmen gegen mich eingeleitet
würden. In Wirklichkeit, so meinten wir, fürchtete er vor allem die
Reaktion seiner Kollegen.
Ein Zwischenfall drohte dann allerdings die
weitere Existenz des Landschulheims ernsthaft zu gefährden. Ein
paar Jungs hatten sich – aus Gründen, die ich vergessen habe – über
den Direktor geärgert. Als dieser kurz darauf auf den Flur des
Wohnflügels heraustrat, beschlossen sie, ihm eine Lehre zu
erteilen. Sie schnappten ihn sich vor der Tür des Waschraums und
schoben ihn unter die Dusche. Das hätte auch in der alten Freien
Schulgemeinde als Vergehen gegen die Schulordnung gegolten,
allerdings als eines, über das man reden konnte. Nun kam der
stellvertretende Schuldirektor dazu, schrie die Schülergruppe an,
drohte mit Strafen. Der Direktor selbst war noch ein bisschen
benommen von der Duschorgie und widersprach nicht, als sein
Stellvertreter allen älteren Schülern Zimmerarrest bis zur weiteren
Bestrafung verordnete.
Das aber wollten sich die meisten Schüler der
Oberstufe nicht gefallen lassen. Ich erfuhr von ihren Plänen
ziemlich spät, da ich als »Kornett« auf dem Flur der jüngsten
Schüler wohnte. Ein Oberstufler kam nun zu mir und sagte: »Du
bleibst hier und passt auf, dass die Kleinen nicht mitkommen, wenn
wir losgehen. Die können das noch nicht verstehen. Halt sie in
ihren Zimmern!« So konnte ich den Anfang der Aktion nicht
miterleben. Die Gruppe griff sich den stellvertretenden Direktor
auf dem Flur, fesselte ihn mit Wäscheleinen und brachte ihn in die
»Hühnerkirche«, einen früheren Hühnerstall, der inzwischen als
Hitlerjugendheim fungierte. Das schien zu passen, weil er immer das
Parteiabzeichen trug und regelmäßig verkündete, dass nun die
Disziplin des Dritten Reiches eingeführt werden müsse. Als sie von
der »Hühnerkirche« weiter zum Waldrand zogen, rannte ich hinaus und
schloss mich ihnen an. In einem alleinstehenden Haus lebte dort der
Lateinlehrer, ein kleiner ältlicher Mann und ebenfalls einer von
denen, die sich immer das Parteiabzeichen ansteckten. Nun stellten
wir Schüler uns wie bei den Marschübungen der Hitlerjugend in Reih
und Glied vor seiner Tür auf und begannen zu singen und zu
marschieren. Besonders begeistert schmetterten wir ein Lied, das
man uns in der HJ beigebracht
hatte: »Es zittern die morschen Knochen der Welt vor dem großen
Krieg, wir haben die Knechtschaft gebrochen, für uns war es ein
großer Sieg. Wir werden weitermarschieren, bis alles in Scherben
fällt. Denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze
Welt.« Nach einer Stunde marschierten wir mit dem inzwischen
gleichfalls gefesselten und ziemlich verwirrten Lateinlehrer zur
»Hühnerkirche« zurück und legten ihn neben den stellvertretenden
Direktor. Andere Lehrer, die mittlerweile etwas mitbekommen hatten,
holten die beiden Kollegen aber bald wieder heraus.
Ich weiß nicht, wer unter den Erwachsenen über
das weitere Vorgehen beriet und wie man zu dem Ergebnis kam, den
Vorgang möglichst herunterzuspielen. Am folgenden Vormittag wurden
wir älteren Schüler in die Bibliothek zitiert. Der Direktor warf
uns unverantwortliches Verhalten vor, das den Fortbestand der
Schule gefährde. Er forderte strengstes Stillschweigen, auch den
Eltern gegenüber. Niemand solle die Ereignisse der Nacht je
erwähnen. Außerdem würden Strafmaßnahmen gegen die Anstifter
beschlossen. Einige ältere Schüler erkannten sofort, dass unsere
Position gar nicht so schlecht war. Die Erwachsenen befürchteten
gefährliche Nachteile für die Schule, wenn die Übergriffe gegen die
Lehrer bekannt würden, noch dazu das spöttische Marschieren und
Absingen von Hitlerjugendliedern. Wir einigten uns mit dem Direktor
darauf, dass niemand mit Außenstehenden über den Vorfall reden oder
in den Briefen an die Eltern ein Wort darüber verlieren werde.
Falls die Schulleitung jedoch gegen einzelne Jugendliche vorgehen
und diese eventuell von der Schule verweisen sollte, wollten wir
die Geschichte nicht nur unseren Familien, sondern auch Freunden in
anderen Schulen bekanntmachen. Es war eine Erpressung, die
funktionierte: Unsere »Gefangenen« fürchteten um ihren Ruf so wie
die anderen Lehrer um die Existenz der Schule. Dennoch beschlossen
sie, dass die zwei ältesten und, wie sie sagten, reifsten Schüler
das Heim verlassen müssten. Schließlich handelten wir für beide
einen Kompromiss aus: Sie mussten die Schule zwar verlassen,
konnten aber ohne eine negative Bemerkung in ihren Zeugnissen in
ein anderes Landschulheim wechseln. Wir übrigen wurden zu
körperlicher Arbeit verpflichtet und verbrachten unsere »Freizeit«
in den nächsten drei Monaten mit dem Bau eines Staudamms.
Für fast alle Schüler, insbesondere für die
jüngeren, hatte dieser Zwischenfall wenig mit Politik und
Nationalsozialismus zu tun, trotz der Parteiabzeichen und der
Hitlerjugendlieder. Wir hatten uns über die Einmischung des
stellvertretenden Direktors in eine Auseinandersetzung geärgert,
die wir eher als einen kameradschaftlichen Streit zwischen den
Schülern und dem Direktor verstanden und die früher fast normal
erschienen wäre. Ein grundsätzlicher Protest gegen das NS-System war das nicht. Und so
marschierten wir dann auch von Zeit zu Zeit, wenn auch nicht allzu
energisch, in Hitlerjugenduniform um den Sportplatz und mokierten
uns bei überregionalen HJ-Treffen hochmütig über die Tölpel aus
den Dörfern und Kleinstädten am Rande der Heide, die besser
strammstehen, aber schlechter Fußball spielen konnten als wir. Es
ging weniger um politischen Widerstand oder auch nur Widerwillen,
sondern vielmehr um unseren Lebensstil und unsere Schule. Beides
wollten wir uns nicht nehmen lassen.
Dementsprechend angespannt war auch die
Stimmung, als sich die Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink
zu einer Inspektion ankündigte. Sie war für alle Internate
zuständig und beauftragt, sie in Deutsche Heimschulen umzuwandeln.
Die Lehrer erzählten uns, wie wichtig es sei, einen ordentlichen
Eindruck auf sie zu machen, und einige ältere Schüler dachten sich
einen Plan aus: in jeder Situation eine Antwort geben, die den
Forderungen und Parolen der Partei entsprach. So standen wir im
Karree vor der Schule, als die Reichsfrauenführerin von der
obersten Stufe der Treppe ihre Ansprache hielt. Dann stellte sie
uns Fragen: »Wer von euch will im Osten siedeln?« Darauf meldeten
sich sechs ältere Schüler, und ich schloss mich ihnen an – ziemlich
sicher, dass die anderen keineswegs die Absicht hatten, in den neu
eroberten Ostgebieten Bauern zu werden. Eine der nächsten Fragen
lautete: »Wer hat viele Geschwister?« Ich hob den Arm, zusammen mit
mehreren Jungs, von denen ich wusste, dass sie nicht aus
Großfamilien kamen. »Wie viele?« Ich meldete drei Geschwister,
obwohl ich nur zwei hatte. Zwei Jungs gingen so weit, drei oder
vier Geschwister zu erfinden. Irgendwie hofften wir, der
Kinderreichtum würde auf die Frauenführerin einen guten Eindruck
machen. Viel geholfen hat es gleichwohl nicht, denn die Oberstufe
wurde wenig später geschlossen. Die Unterstufe dagegen blieb bis
zum Kriegsende bestehen, weil die Akten, die die Verstaatlichung
und Umwandlung in eine Deutsche Heimschule regeln sollten, in
Hannover im Bombenkrieg zerstört worden waren.
Für mich fand meine Mutter im Frühjahr
1943 eine Schule weit entfernt von Hamburg. Das Süddeutsche
Landerziehungsheim Schondorf am Ammersee war von seinem Ursprung
her bürgerlich-konservativer als die Freie Schulgemeinde Marienau,
aber durchaus von liberalem Geist geprägt. Diese Tradition
versuchte der Leiter Ernst Reisinger gegen die Eingriffe der
staatlichen Schulpolitik so weit wie möglich zu schützen,
unterstützt von einigen älteren Lehrern. Sie versuchten etwas vom
Geist der Studentenbewegung der zwanziger Jahre zu erhalten und
trotz aller notwendigen Zugeständnisse an die Erziehungspolitik von
Partei und Regierung möglichst viel von der freiheitlichen
Grundhaltung der Schule zu bewahren. Der stellvertretende Direktor
dagegen, gerade erst eingesetzt, gehörte zu denen mit stets
sichtbarem Parteiabzeichen. Andere jüngere Lehrer waren wohl
ebenfalls NSDAP-Mitglieder oder
zumindest unkritisch gegenüber den Parolen von Partei und
Regierung. Die Zeichenlehrerin etwa warnte mich vor »entarteter
Kunst« – wegen meiner Aquarelle, für die ich von den Malerinnen in
Marienau gelobt worden war. Zwei ältere Kameraden, die sich gern
ein wenig als Zensoren aufspielten, schrieben als Urteil der
Mitschüler: »Gerd liest zu viel Rilke, Hofmannsthal und Hölderlin.
Er sollte mehr moderne Dichtung, etwa von Hans Baumann und Hanns
Johst, lesen.« Das ärgerte mich, denn von Baumann kannte ich
hauptsächlich Nazi-Gedichte wie das berüchtigte »Es zittern die
morschen Knochen«, nicht seine mehr lyrische Produktion, an die die
beiden Mitschüler dachten. Eigentlich waren die zwei ganz
anständige, gebildete Jungs, die sich mit anderen zu einer kleinen
Jazzband zusammengefunden hatten und eine Musik machten, für die
sie, wie ich wusste, in Hamburg eingesperrt worden wären. Auch der
Sportlehrer, der stets den Geist der Hitlerjugend pries, gefiel mir
trotz seiner Parolen, weil er hilfsbereit und kameradschaftlich im
Umgang war.
Es war eine Welt von Widersprüchen und ein
Leben mit gemischten Gefühlen. Ich spielte gern Jäger oder
Scharfschütze und schoss mit dem Luftgewehr aus meinem
Zimmerfenster in die Bäume, aber dann schrieb ich eines Tages einen
erschütterten Brief an eine der jungen Erzieherinnen in Marienau:
Ich hatte eine Meise getroffen, unmittelbar vor meinem Fenster,
zuerst stolz darauf, sie im Flug erwischt zu haben, und dann
bestürzt über diesen Mord. In ihrem Antwortbrief lobte die Frau
meine Gefühle und tröstete mich ein wenig. Oft führte ich nun lange
Gespräche mit einer Erzieherin, die nur sechs oder sieben Jahre
älter war als ich, eine gebildete Frau aus einer Verleger-Familie.
Ihr Abstand zu den politischen Parolen des Dritten Reichs war
unverkennbar. Aber dann erstaunte sie mich, als sie mir das Buch
Der Wanderer zwischen beiden Welten von
Walter Flex schenkte, geschrieben im Ersten Weltkrieg. Was der
Autor da als Kriegserlebnis in feinsinniger Sprache schilderte,
schien mir in seinem deutschnationalen Pathos erschreckend, da doch
die Nationalsozialisten inzwischen einen ganz anderen Krieg
führten. Die Zeiten waren verwirrend.
Bereits nach einem Dreivierteljahr ging mein
Aufenthalt in Schondorf zu Ende. Unsere ganze Klasse wurde
geschlossen. Meine Mitschüler wurden zur Heimat-Flak eingezogen
und, gelegentlich mit etwas Schulunterricht, an
Flugabwehrgeschützen bei Bahnhöfen oder kriegswichtigen Fabriken
stationiert. Anstelle erwachsener Soldaten sollten sie nun die
Verteidigung gegen die immer stärker werdenden Luftangriffe der
Engländer und Amerikaner übernehmen. Mir schlug Direktor Reisinger
einen anderen Posten vor. Ich könne doch gut mit jüngeren Schülern
umgehen, meinte er, und solle mir deshalb überlegen, die Betreuung
einer Schulklasse aus dem Ruhrgebiet zu übernehmen, die nach den
Bombenangriffen auf ihre Heimat Schutz und Unterkunft in Bayern
gefunden habe. Mir war das zwar nicht ganz geheuer, aber ich ließ
mich überzeugen. Zwei Wochen später prüften mich zwei HJ-Führer und ein BDM-Mädchen – alle nicht sehr zackig, eher
ein bisschen schluderig – und wiesen mich in die »Führungsaufgaben«
ein. Die Schulklasse sei in dem Ort Burghausen an der Salzach
gemeinsam mit ihrem Lehrer und einem Hitlerjugendführer
untergebracht, und ich sollte Lagermannschaftsführer werden. Dass
ich keinen Rang in der Hitlerjugend hätte, sei egal.
So einfach war die Aufgabe als
Lagermannschaftsführer in Burghausen dann aber doch nicht. Mit den
Schülern aus dem Ruhrgebiet kam ich zwar ganz gut aus, besonders
weil ich mich ab und zu in ihre Prügeleien mit den Jungs aus der
Kleinstadt einmischte, doch mit den beiden Erwachsenen wurde ich
nicht warm. Mein Stellvertreter hatte den HJ-Rang eines Scharführers – nicht gerade
hoch, bloß die zweitniedrigste Stufe –, aber es verbitterte ihn,
dass ich sein Vorgesetzter geworden war und somit einer ohne
Dienstrang die geflochtene weiße Kordel des Lagermannschaftsführers
tragen durfte. Sein Missfallen teilte er mit dem Lehrer aus
Gladbeck, der ein Anhänger Hitlers und der Naturheilkunde war. Zum
Ärger der Jungs hatte er Rohkost auf den Speiseplan gesetzt –
schließlich sei auch der Führer Vegetarier. Viel ärgerlicher war
jedoch, dass er kranke Schüler nicht zum Arzt gehen ließ, sondern
selbst behandelte. Zwei seiner jungen Patienten hatten seit Tagen
eitrig geschwollene Wunden an den Füßen, die er ausschließlich mit
Heilerde kurieren wollte. Ich holte aus der Apotheke, was ich von
zu Hause kannte: eine schwarze Salbe, mit der es den beiden Jungen
sehr schnell besser ging. Aber nun hatte ich einen Feind, und
gemeinsam mit dem Scharführer fing der Lehrer an, mir
Schwierigkeiten zu bereiten. Ich hatte in meinem Zimmer ein paar
Drucke aufgehängt, Cézanne, van Gogh und Corot, was die beiden zum
Anlass nahmen, mich bei der nächsthöheren Führungsstelle als
Anhänger »entarteter Kunst« anzuschwärzen. Überhaupt sei ich
politisch unzuverlässig und auch nicht schneidig genug.
Doch noch ehe die Sache ernster wurde, erhielt
ich einen Marschbefehl nebst Fahrkarte in den von Deutschland
annektierten Teil der Tschechoslowakei, das sogenannte Protektorat
Böhmen und Mähren. In Podiebrad war ein Schulungslager eingerichtet
worden. Mit ein paar Hundert Jungen studierte ich Theorie und
Praxis nationalsozialistischer Jugendführung. Über meinen Streit in
Burghausen wurde nicht gesprochen, was mich beruhigte. Andererseits
langweilte mich der mehrwöchige Lehrgang enorm, und die
HJ-Führer blieben mir fremd.
Nur mit einem jungen Wiener konnte ich anfangs ab und zu Gespräche
führen, aber auch wir verkrachten uns: In der großen Warteschlange
vor dem Esssaal hatte ich aus Spaß und Langeweile angefangen, ihm
ein Ringelnatz-Gedicht über Kuttel Daddeldus Weihnachtsfeier
aufzusagen. Da packte er mich am Ärmel und sagte leise, aber
entschlossen: »Hör sofort damit auf. Wir sind hier, um von der
Weltanschauung des Nationalsozialismus zu lernen.« Nun hatte ich
keinen Gesprächspartner mehr.
Natürlich war ich froh, als wir nach sechs
Wochen den Kurs mit einem stramm gesungenen »Die Fahne hoch, die
Reihen fest geschlossen« beendeten. Jetzt hätte ich ins
Landverschickungslager von Burghausen zurückfahren sollen, aber den
Ärger wollte ich mir ersparen. Ich wollte nach Hamburg zurück, auch
wenn das verboten und vielleicht gefährlich war. Also stieg ich in
Prag aus dem Zug nach München aus und ging zum Nachdenken in den
Bahnhofswartesaal. Angenehm war es nicht, dort zu sitzen und
angestarrt zu werden: Die Leute um mich herum waren Tschechen, und
sie schauten sehr unfreundlich auf diesen jungen Nazi in schwarzem
Hemd, Trainingshose und hohen Gummistiefeln.
Immerhin, ich kam in dieser Uniform zunächst
einmal mit dem Zug unbehelligt bis Berlin, wo ich spätabends bei
der Auskunft fragte, wie ich nach Hamburg weiterfahren könne. Ein
dunkelhaariger, gutgekleideter Mann bot mir seine Hilfe an. In
dieser Nacht gebe es keinen Zug mehr nach Hamburg, stellte er fest.
Ich könne aber bei ihm übernachten. Er hatte eine kleine, angenehm
moderne Wohnung, doch als er mir den Schlafplatz in seinem
Doppelbett zuweisen wollte, merkte ich, dass er homosexuell war.
Meine Ablehnung überraschte ihn. »Ich dachte, in der Hitlerjugend
seid ihr alle so«, meinte er nervös, und seine Besorgnis steigerte
sich noch, als ich vor einem großen Porträt an der Wand
stehenblieb. Unter dem Bild eines gutaussehenden jungen Mannes
stand der Name »Montgomery«. »Ist das der englische
Feldmarschall?«, fragte ich. »Ist das ein Jugendbild von ihm?« Mein
Gastgeber war sichtlich erschrocken. Das hatte ihm noch gefehlt,
dass er einen Hitlerjungen aufnahm, der nachher erzählte, er habe
das Porträt eines englischen Generals an der Wand. Das sei kein
Soldat, sondern ein junger Schauspieler in Amerika, meinte er
aufgeregt. Ich versuchte ihn zu beruhigen, aber als ich mich am
nächsten Morgen verabschiedete, spürte ich ganz deutlich seine
Sorge, ich könnte ihn als Homosexuellen und Engländerfreund
verpfeifen.
In Aumühle, zwanzig Kilometer von
Hamburg entfernt, zog ich in das Haus meiner Großeltern, wo auch
meine Mutter lebte. Ich ging zur Oberschule in Reinbek und meldete
mich einfach an. Alles lief ohne große Formalitäten, und dass ich
mich einfach nach Hamburg abgesetzt hatte, blieb ohne Konsequenzen.
Immer wieder fiel der Unterricht aus, wenn wir die Schule wegen
Fliegeralarm verlassen mussten. Dann begleiteten mein Freund und
ich zwei Mitschülerinnen zu deren Haus im Villenviertel. Dort saßen
wir oft im Garten, wo ich das Kartenspiel Schafkopf lernen musste.
Die Mutter des einen Mädchens, eine gutaussehende, gebildete Frau,
war eine Amerikanerin, die sich aber nie über politische Themen
äußerte. Mein Freund war der einzige Katholik in der Schule und
redete auch nicht von Krieg, Politik oder dem Führer. Zwei Häuser
von meiner Großmutter entfernt wohnte einer der Anführer des Kieler
Matrosenaufstands von 1918, der jedem möglicherweise schwierigen
Gespräch auswich, und noch ein paar Häuser weiter die wohlhabende
Schwiegermutter einer jungen Engländerin, die mit einem
erfolgreichen deutschen Juristen in Berlin verheiratet war. Von
dieser erzählte man sich, ihr Vater sei einer der größten
Zeitungsverleger in England, ein enorm reicher und einflussreicher
Mann, der uns vor den Bombern der Royal Air Force schützen würde.
Zu bombardieren gab es in diesem Hamburger Vorort eigentlich
nichts, aber auf den Schutz der mächtigen englischen Verwandtschaft
unserer Nachbarin rechnete man gern.
Alles lief ganz gut für mich, außer in der
Schulklasse. Da hatte sich ein Mädchen in mich verknallt, eine
etwas maskulin wirkende Blondine, die wir in unserem kleinen
Freundschaftszirkel manchmal »die Nazisse« nannten. Sie ärgerte
sich, dass ich mit ihr nichts anfangen wollte, und meckerte
darüber, dass ich im Garten einer Amerikanerin Zeit verbrächte.
Einmal bekamen wir im Deutschunterricht ein zeitgenössisches
Theaterstück zu lesen: Junge Nationalsozialisten kämpfen gegen die
Weimarer Republik, gegen die »Systemzeit«, die durch einen
sozialdemokratischen Regierungspräsidenten repräsentiert wird. »Den
muss der Gerd spielen«, rief das blonde Mädchen der Lehrerin zu,
»das ist genau seine Rolle.« – »Aber der Regierungspräsident ist
dick, alt und hat große rote Hände. Das ist doch nicht der Gerd«,
sagte die Lehrerin. Sie schob den Vorschlag schnell beiseite, weil
sie wusste, dass eine Diskussion darüber, ob ich der Typ eines
Systemzeit-Demokraten sei, gefährlich werden könnte. Immerhin
bestellte der Direktor mich zu sich und fragte, was da vorgefallen
sei, um dann fast sofort von den Problemen des
Mathematikunterrichts zu reden. Zwar gehörte er auch zu denen, die
mit dem Parteiabzeichen am Revers herumliefen, doch er war kein
fanatischer Nazi und wollte jedenfalls vermeiden, dass seine Schule
politisch auffiel.
Manchmal musste ich mich ziemlich verbiegen,
beispielsweise bei einem Aufsatz über Schillers Räuber. Die erwartete Richtung war klar: Karl Moor
ist ein edler Räuber, ein idealistischer deutscher Rebell. Sein
Mit-Räuber Moritz Spiegelberg hingegen ist ein Jude und ein
Verbrecher aus Selbstsucht und Geldgier. Ich versuchte, dem Zwang
zu dieser antisemitischen Gegenüberstellung zu entgehen, und
beschrieb Spiegelberg vor allem als einen schlauen Planer und
hochintelligenten Kopf. Karl Moor mit seinen großen Worten kam
dagegen schlechter weg. Die Deutschlehrerin gab mir das Aufsatzheft
ohne jeden Kommentar zurück, aber mit einer Zwei. Ich fand, dass
ich mich eigentlich ganz klug aus der Affäre gezogen hatte. Doch
die junge Erzieherin aus Marienau, der ich den Aufsatz einige
Wochen später zeigte, war nicht so zufrieden. Ich sei in die Falle
gegangen, meinte sie, denn die Geschicklichkeit und die
Intelligenz, die ich bei Spiegelberg gelobt hätte, entspreche doch
gerade dem Negativklischee des jüdischen Intellektuellen, während
sich der weniger gerissene Karl Moor umso mehr als selbstloser
idealistischer Deutscher erweise. Ich war verwirrt und unsicher.
»Es gibt keinen Ausweg, außer der Lüge. Und die Lüge kann kein
Ausweg sein«, schrieb ich der jungen Erzieherin.
In unserer Klasse gab es zweiundzwanzig Mädchen
und drei Jungen. Alle anderen Schüler waren schon zur Wehrmacht
eingezogen worden. Der dritte Junge neben mir und meinem
katholischen Freund kam aus einer reichen Familie in unserer
Nachbarschaft. Seine Mutter hatte sich mit Spenden und Beziehungen
in der NS-Frauenschaft
engagiert und galt als einflussreich. Ihr Sohn war nicht der
Schlaueste, aber mit Hilfe seiner Mutter hatte er sich einen Wunsch
erfüllen können: Er hatte einen Zug der Nachrichten-HJ gegründet und ihn mit Funkgeräten
ausgerüstet. Damit hatte er sich eine kleine, durchaus linientreue,
fast selbständige Einheit zugelegt. Er wollte mich in seinen
Verband von zwölf oder vierzehn Leuten aufnehmen, besonders, so
sagte er, wenn ich bei passender Gelegenheit noch einmal die weiße
Kordel des Lagermannschaftsführers anlegen könnte. Offenbar dachte
er, dass man diesem Splittergrüppchen der Nachrichten-HJ dadurch zu mehr Ansehen verhelfen
könnte. Also tat ich ihm den Gefallen und stolzierte gelegentlich
mit meiner weißen Kordel umher, wenn es galt, bei anderen
HJ-Führern Eindruck zu machen,
aber ohne möglichst allzu sehr aufzufallen – ein schwieriger
Balanceakt.
Meine Mutter versorgte mich immer mit
Lesestoff. Ohne weitere Kommentare brachte sie aus Hamburger
Antiquariaten Bücher mit, die nicht politisch waren, aber deutlich
aus dem Rahmen der offiziellen national gefärbten Literatur fielen:
Manfred Hausmanns Kleine Liebe zu Amerika,
Hans Leips Jan Himp oder Fritz Steubens
ganz unsentimentale Bücher über die Indianer und die Vernichtung
ihrer Kultur. Warum sie solchen Lesestoff für mich aussuchte,
erklärte sie mir nicht. Ich verbrachte sehr viel Zeit auf dem
Dachboden im Haus meiner Großeltern. Dort standen etliche Kartons
und Kisten mit Büchern aus den zwanziger Jahren. Ich schmökerte in
dicken Bänden mit gesammelten Illustriertenausgaben, und auch an
einige politische und staatsrechtliche Bücher wagte ich mich heran,
wobei ein rechtsphilosophisches Werk von Gustav Radbruch über die
staatspolitische Bedeutung einer Verfassung mich besonders in Bann
zog. Da tat sich eine politische Landschaft auf, deren Begriffe von
Recht, Staat und Verfassung mich faszinierten, ja begeisterten,
obwohl ich sie nur zum Teil verstand. Meine Großmutter, so fand ich
durch eine der Kisten heraus, hatte früher kleine Gesellschaften
von Frauen geleitet, deren Männer zu einer Freimaurerloge gehörten.
Aber das war nichts, worüber sie mit mir sprechen mochte.
In der Molkerei meines Großvaters lernte ich
eine Polin kennen. Sie war, wie sich herausstellte, in Warschau an
der Universität Dozentin für deutsche Literatur gewesen und als
Zwangsarbeiterin nach Deutschland deportiert worden. Offenbar
machte es ihr Freude, mit einem jungen Deutschen ins Gespräch zu
kommen, der sich ernsthaft für Literatur interessierte. Sie wollte
gerne etwas von Hamburg sehen, nicht nur den Weg zwischen
Fremdarbeiterunterkunft und Molkerei. Ich holte ihr einen Mantel
meiner Mutter, damit sie weniger auffällig aussah, und so gingen
wir, in Gespräche vertieft, im Zentrum von Hamburg spazieren. Da
entdeckte ich dann eine Art satirischer Literaturkritik, der ich in
Büchern noch nicht begegnet war. »Der Hauptmann«, sagte sie über
eine Büste des damals staatlich verehrten Großdichters Gerhart
Hauptmann, »sieht aus, wie wenn der Goethe ein Arrrschloch gewesen
wäre.«
Inzwischen hatte ich auf dem Umweg über die
Musik einen kleinen Kreis von Freunden gefunden. Zunächst im
Kirchenchor, wo besonders die vorbarocke Musik gepflegt wurde,
deren Ernst mich ergriff. An manchen Abenden traf sich eine Gruppe
von jüngeren Leuten zu Hause bei der Organistin und Chorleiterin,
um zu singen und, mehr noch, um zu diskutieren. Gleich am ersten
Abend erlebte ich, wie sich das Gespräch Richard Wagner zuwandte,
dem Lieblingskomponisten des Führers. Wagners Opern galten als
gewaltige Verkörperungen echter deutscher Ideale. In dieser Runde
aber holte einer Nietzsches Schriften aus dem Bücherschrank der
Organistin und begann dessen Verurteilung Richard Wagners und
seiner Ideologie zu zitieren. Die Unterhaltung, die scheinbar über
Kunst und Oper geführt wurde, bekam einen doppelten Boden, denn
indirekt wurde Kritik an Hitlers Kunstverständnis geübt. So
vorsichtig das Gespräch geführt wurde, zog es mich doch tiefer in
diesen kleinen Kreis von zehn, elf Freunden.
Später merkte ich, dass einige der neuen
Freunde jüdischer Abstammung waren. Die Organistin etwa hatte
entfernte jüdische Vorfahren, musste aber keinen Judenstern tragen.
Sie ließ ihre Mutter trotzdem nicht auf die Straße gehen, weil sie
fürchtete, Nachbarn würden, wenn sie die alte Frau sahen, gegen sie
und dann auch die Tochter vorgehen. Zwei der jungen Männer in
unserem Kreis hatten ebenfalls einen jüdischen Hintergrund, sie
waren nicht offiziell klassifiziert als Juden oder Halbjuden,
lebten aber doch ständig in Bedrohung. Den einen, ein
gutaussehender blonder Mann von zweiundzwanzig Jahren, hätte ein
absurder Zufall beinahe ans Messer geliefert: Als er mit einer
schwarzhaarigen, etwas dunkelhäutigen jungen Frau auf dem
Jungfernstieg spazieren ging, stellte ihn eine Patrouille der
Hitlerjugend. Warum er mit dieser Jüdin herumlaufe? Sie fanden
schließlich heraus, dass nicht das Mädchen, sondern er jüdischer
Abstammung war, und prügelten auf ihn ein. Das Mädchen war die
Tochter des Konsuls eines südamerikanischen Landes, und ihr Vater
erreichte über die Hamburger Senatsbehörden, dass man ihm eine Art
Entschuldigung für den Übergriff auf seine Tochter und ihren Freund
zustellte – was immerhin ein wenig mehr Sicherheit für die beiden
bedeutete.
Zwei weitere Mitsänger waren allerdings
eindeutig jüdischer Abstammung. Sie durften noch in ihrer Wohnung
schlafen, mussten aber jeden Morgen nach Neuengamme fahren, in das
Konzentrationslager am Rande Hamburgs, wo sie zur Büroarbeit
verpflichtet waren. Sie brauchten keine gestreiften Anzüge zu
tragen wie die Gefangenen in dem Lager, in dem über die Jahre
fünfzigtausend Menschen – Juden, politische Häftlinge, sowjetische
Kriegsgefangene – erschossen oder hingerichtet wurden oder schlicht
verhungerten. Unsere beiden Freunde erzählten kaum davon, aber
manchmal erwähnten sie Gefangene, denen sie bei ihrer Arbeit
begegnet waren, etwa eine vom Hunger und von anderen Entbehrungen
geschwächte Pianistin aus Warschau oder Lehrer oder Ingenieure, die
schrecklich unterernährt seien. Sie fragten, ob wir ihnen für diese
Leute etwas zu essen mitgeben könnten. Viel war es ohnehin nicht,
was sie hineinschmuggeln konnten – mal ein Viertelpfund Butter, mal
ein Stück Wurst oder ein halbes Brot. Wir anderen hatten auch
längst nicht alle Nahrungsmittel, die wir gerne wollten, doch bis
zum Ende des Kriegs funktionierte die Versorgung immerhin leidlich,
eingeschränkt zwar durch Lebensmittelkarten, aber gestützt durch
Lieferungen und Pakete der Soldaten an ihre Angehörigen aus den
besetzten Ländern West- und Osteuropas. Ich wusste nicht, ob meine
Großeltern damit einverstanden gewesen wären, dass ich ein bisschen
Wurst oder Butter aus der Speisekammer mitnahm. Also tat ich es
heimlich. Meine Großmutter hatte mir deutlich zu verstehen gegeben,
dass sie es für ungut oder gar gefährlich hielt, dass ich einen der
Freunde, mit dem ich gemeinsam im Chor sang, bei uns im Gästezimmer
übernachten ließ, wenn er den späten Zug nach Bergedorf verpasst
hatte. Es sei für unsere ganze Familie gefährlich, einen Juden in
unserem Haus aufzunehmen, sagte sie. Aber verboten hat sie es mir
nicht.
In unserer Familie wurde nicht über die
Judenverfolgung gesprochen, schon gar nicht befürwortend. Mein
Großvater hatte die Angewohnheit, Hamburger Großkaufleute, die er
nicht leiden konnte, gelegentlich als »weiße Juden« – als besondere
Ausbeuter – zu beschimpfen. Da war also ein kritischer Vorbehalt
gegen die Juden, aber nun auf reiche Deutsche bezogen. Ich hatte
inzwischen gelernt, bei solchen Themen nicht nachzufragen. Meine
Großmutter fand ohnehin, dass ich das Maul gefährlich weit aufriss.
»Wenn du so weitermachst, dann kommt die SA und nimmt dich mit. Dann musst du ins
Lager, und da binden sie dich auf die Pritsche, und du kannst nicht
mehr runter, du musst alles unter dich machen«, sagte sie einmal zu
mir. Das war zu einer Zeit, als längst viel schrecklichere Lager
existierten. Sie sprach noch von den Übergriffen der SA kurz nach 1933. Vielleicht erschien das
meiner Großmutter immer noch als das Schlimmste, was uns drohen
konnte, vielleicht wusste sie nichts von den großen KZs, vielleicht wollte sie einfach nichts
davon wissen.
Wir hatten eigentlich nur einen in der Familie,
den ich für eine Art Nazi hielt: den Bruder meiner Mutter. Er war
als junger Rechtsanwalt im März 1933, gleich nach der Machtübernahme durch
Hitler, in die NSDAP
eingetreten. Meine Großmutter ärgerte ihn gelegentlich, indem sie
ihn »unser Märzveilchen« oder »unseren Märzgefallenen« nannte
(ursprünglich eine Bezeichnung für die Toten der Märzrevolution
1848). Mein Onkel war, schien mir, eher ein Opportunist als ein
Fanatiker. Einmal, es muss um das Jahr 1943 gewesen sein, wurde er
streng mit mir. Sein Sohn, der ein paar Jahre jünger war als ich,
hatte mich gefragt, was ein Usurpator sei, ein Wort, das er gerade
irgendwo gelesen hatte. »Das ist einer wie Hitler, der alle Macht
im Staate an sich reißt«, erläuterte ich. Da unterbrach uns mein
Onkel und sagte: »Das ist nicht richtig, Hitler ist kein Usurpator,
er ist 1933 von der Mehrheit gewählt und vom Reichstag ernannt
worden.«
Zwar hatte er danach erst einmal bei mir
verloren, aber dann machte er doch einiges wieder gut: Er war als
Verwaltungsoffizier in Italien gewesen und kam mit einem ganz
ungewöhnlichen Geschenk zurück, einem Buch von Ernest Hemingway,
das in deutscher Sprache gerade erst in Stockholm erschienen war
und das er in Rom für mich gekauft hatte. Wem
die Stunde schlägt erzählt von einem jungen Amerikaner und
einer Gruppe von Partisanen im Kampf gegen Franco, den
faschistischen Herrscher Spaniens. So etwas hatte ich bis dahin
noch nicht gelesen. Vom Bürgerkrieg in Spanien war bei uns nur
Heldenhaftes über Francos Faschisten und ihre deutschen
Unterstützer berichtet worden und nur Böses über ihre grausamen
Gegner, die Kommunisten. Was ich nun in Hemingways Roman las, fand
ich mitreißend und erschütternd, und dass ausgerechnet mein Onkel,
der »Märzgefallene«, mir das Buch aus Italien mitgebracht hatte,
ließ mich daran zweifeln, ob er wirklich ein richtiger Nazi
war.
1943 war der Sommer der großen
Luftangriffe. Sie veränderten unser Leben einschneidend. Schon
vorher hatte es immer wieder Fliegeralarm gegeben und viele
Berichte über einzelne Bombenangriffe, zerstörte Häuser oder
Fabriken. Aber irgendwie hatten wir uns an solche Meldungen
gewöhnt, wenn sie uns von anderswo erreichten – als angebliche
Gerüchte, die nicht verbreitet werden durften. Es war zunächst eine
mehr abstrakte Gefahr, die einen selbst nicht betraf. Dann
donnerten Ende Juli 1943 die britischen und amerikanischen Bomber
heran, Welle um Welle. Ganze Stadtviertel brannten, Zehntausende
von Menschen flüchteten in die Orte des Umlands, ein Gefühl totaler
Hilflosigkeit griff um sich, dem auch die Organisatoren und
Propagandisten der Partei nichts entgegensetzen konnten.
Nach der ersten Bombardierung war mein
Großvater in die Stadt gefahren, um zu sehen, ob es seine Molkerei
getroffen hatte. Zwei oder drei Angriffe später, als es keine
Telefonverbindung mehr gab, fuhr auch ich schließlich mit zwei
Flaschen Mineralwasser, einem Stück Mettwurst und einem Regenmantel
auf dem Gepäckträger mit dem Fahrrad nach Hamburg hinein. Immer
mehr Flüchtlinge strömten mir entgegen. Dann kamen Rauchwolken und
abgebrannte, oft noch glimmende Häuser. Am Straßenrand lagen
Verletzte, die meistens schon von Sanitätern versorgt worden waren.
Nicht weit vom Hauptbahnhof fand ich neben ein paar qualmenden
Ruinen meinen Großvater in der Molkerei. Sie war beschädigt, aber
zum größten Teil erhalten. Die ganze Nacht über hatten die Arbeiter
die Einschlagstellen der Brandbomben zu löschen versucht. Als das
Wasser ausfiel, gossen sie Milch in die Flammen und schworen
später, Buttermilch sei das Beste gegen Phosphorbomben. Die
Stimmung unter den Männern war bedrückt. Viele warteten auf
Nachricht von ihren Familien und wussten nicht, ob ihre Wohnungen
zerstört waren. Einer fing an, auf die mörderischen Briten zu
schimpfen, aber die anderen stimmten nicht ein und hörten nur
mürrisch zu. Über den Krieg wurde kaum gesprochen, schon gar nicht
über die Siegesversprechen von Partei und Regierung. In den ersten
zwei Tagen verzichteten auch die örtlichen Parteifunktionäre auf
ihr Gerede vom Durchhalten und vom Sieg und gaben sich lieber als
Organisatoren von Hilfsmaßnahmen für die verzweifelten
Menschen.
Ich fuhr in ein anderes Viertel, wo ich die
Stadtwohnung meiner Großeltern suchte: Das Haus war ausgebombt und
abgebrannt, eine Nachbarin stocherte in den Trümmern. Sie müsse den
Kellereingang freimachen, sagte sie. Unter dem Schutt lägen ihre
ganzen Vorräte, Decken und Kleider und alles andere, was gut und
knapp sei. Ich half ihr, Steine zur Seite zu legen, aber die Arbeit
war zu schwer für uns. Mit zwei Leuten aus der Molkerei fing ich am
Abend noch einmal an. Die Männer räumten auch die Tür zum Keller
meiner Großeltern frei, und gemeinsam beluden wir einen Handwagen
mit Konserven und Eingemachtem, das nun durch die Brandhitze zum
zweiten Mal gekocht war, wie einer der Helfer bemerkte. Aber das
war uns egal, alles Essbare war wertvoll. Als ich dann mit meinem
Großvater allein war, sank er auf einem Stuhl zusammen und sagte:
»Das war ja nun das Ende.« Er habe von Anfang an gewusst, dass der
Krieg verloren sei, spätestens seit Beginn des Russlandfeldzugs.
Und überhaupt, der ganze Zauber mit dem Dritten Reich habe ja
schlimm enden müssen. Dann stand er auf und schaute draußen nach,
was noch getan werden konnte.
Alle, die ich kannte, warteten auf den
Einmarsch der Engländer, der das Ende des Kriegs bringen würde. Die
Durchhalteparolen, mit denen der Ortsgruppenleiter der NSDAP gelegentlich auftrat, wirkten
besonders hohl, wenn er an den Sammelstellen für Flüchtlinge
redete. Dabei war er durchaus ein guter Organisator bei der
Verteilung von Lebensmitteln oder Unterkünften. Das hielten ihm
alle zugute, aber für seine politischen Reden war es längst zu
spät. Ich hoffte ebenfalls auf das baldige Ende des Kriegs und
spürte, dass dies auch unter meinen Freunden die eigentliche,
wenngleich unausgesprochene Hoffnung war. Wirklich sicher konnte
ich da freilich nicht sein. Als nach dem 20. Juli 1944 die
Nachricht vom gescheiterten Attentat auf Hitler kam, war ich
erschrocken und verbittert über die Reaktion der vielen Leute, die
in dieser Tat nur bösartigen, feigen Hochverrat erkennen wollten
und die Hasstiraden der Führer und Unterführer wiederholten. Unter
unseren näheren Bekannten wurde das Thema vermieden. Nur ein Junge
aus der Nachbarschaft sprach mich darauf an. Er war der Sohn eines
Bankiers und konnte gut Englisch, weil er im Ausland aufgewachsen
war. In seinem Zimmer hockten wir manchmal vor dem Radio und hörten
die Nachrichten und Kommentare der BBC, die er mir übersetzte. Das war
gefährlich, und weder er noch ich erzählten unseren Familien davon.
Aber wir glaubten fest daran, dass das Kriegsende bevorstand.
Für mich allerdings fing der Krieg
gerade erst richtig an. Im Februar 1945 wurde ich zur Wehrmacht
einberufen, als Einziger unter meinen Schulfreunden. Andere wurden
zur Heimatflak oder zum Volkssturm geholt, ich dagegen gehörte mit
ein paar Gleichaltrigen, aber auch mit wesentlich älteren Männern
zum letzten Aufgebot der Wehrmacht. Von Kriegsbegeisterung war
unter uns nichts zu spüren, als wir in die Kaserne in Neumünster
einzogen. Keiner konnte sich erklären, warum es gerade ihn
getroffen hatte. Ein Bauernjunge – wie ich sechzehn Jahre alt –
vermutete, das sei die Rache dafür, dass sein Vater ein Schwein
schwarz geschlachtet hatte. Mir fiel ein, dass mir ein älterer
Schulkamerad aus der gleichen Kaserne berichtet hatte, man habe ihn
nach der Ausbildung zum Offizier machen wollen. Er sei jedoch kurz
vor der Ernennung ziemlich betrunken und einigermaßen auffällig
über die Mauer des Kasernengeländes geklettert, woraufhin man ihn
zur Strafe als »offiziersunwürdig« eingestuft habe. Bei uns war
freilich nicht einmal mehr Zeit für die normale Ausbildung. In
Güterwagen verladen, rollte unser Regiment schon bald Richtung
Westen.
Wir hatten gebrauchte Uniformen bekommen, aber
keine Waffen. Die sollten wir an der Front erhalten, so erklärte
man uns, vermutlich den geschlagenen Feinden abgenommen. Die
älteren Männer hörten sich das mit unbewegtem Gesicht an, aber kaum
waren die Offiziere und Unteroffiziere in ihre Wagen
zurückgegangen, da machten sie Witze über die geplante
Waffenverteilung. Manchmal sangen sie dann ihr Lieblingslied:
»Lieber Gott im Himmel, du da droben, du wirst meine Sehnsucht
schon verstehen. Lass mich meine bombardierte Heimat und den Rest
der Möbel wiedersehen.« Dann aber kamen wir gar nicht an die Front.
Unser Zug fuhr stattdessen ein paar Tage kreuz und quer durch
Westfalen, bis wir eines Nachts wieder bei Hamburg auf dem
Güterbahnhof standen. Dort wurden die Waggons erst einmal geparkt.
Auch die Offiziere wussten nicht, wie und wohin es weitergehen
würde. Warten sei das Los des Soldaten, meinte ein Unteroffizier zu
uns, und das sei ja nicht das Schlechteste.
Am Rande des Bahnhofs mussten wir antreten, und
der Regimentskommandeur, ein adliger Oberst, hielt eine
Durchhalterede, die alle schweigend anhörten. Ich konnte diese
Parolen jedoch nicht mehr ertragen und wollte nur noch abhauen.
Aber wohin? Mich zu Hause bei meiner Mutter und den Großeltern zu
verstecken ergab wenig Sinn, da würde man mich zuerst suchen. Am
nächsten zum Güterbahnhof lag die Wohnung einer Großtante.
Unauffällig verließ ich das Bahngelände, und meine Großtante
fütterte mich hocherfreut mit Apfelkuchen, als ich bei ihr
erschien. Aber aufnehmen und verstecken wollte sie mich nicht. »Der
Krieg kann noch Monate dauern«, meinte sie. »Und wenn sie dich hier
finden, bist du dran, und die ganze Familie muss leiden.«
Zurück in mein Regiment wollte ich aber auch
nicht. In der Lüneburger Heide besaß unsere Familie ein kleines,
abgelegenes Holzhaus. Also riskierte ich die Zugfahrt, mit einer
gekauften Fahrkarte, aber ohne Urlaubsschein oder Marschbefehl.
Jede Streife hätte mich festgenommen, doch zum Glück kam keine. Das
Haus lag still und unbewohnt im Wald, der Schlüssel war hinter der
Regenrinne versteckt. Ich schlüpfte hinein, ohne das Licht
anzumachen. Am nächsten Tag würde ich weitersehen. In einer der
Schlafkojen zündete ich die kleine Petroleumlampe an und fand ein
altes Buch. Esch oder die Anarchie hieß es,
verfasst von Hermann Broch, und darin fand ich Sätze, die mich im
Innersten trafen. Da schrieb einer über den Ersten Weltkrieg: »Hat
dieses verzerrte Leben noch Wirklichkeit? … Die pathetische Geste
einer gigantischen Todesbereitschaft endet in einem Achselzucken –
sie wissen nicht, warum sie sterben … Eine Zeit, feige und
wehleidiger denn jede vorhergegangene, ersäuft in Blut und
Giftgasen, aber für unser Einzelschicksal können wir mit
Leichtigkeit einen logischen Motivenbericht liefern. Sind wir
wahnsinnig, weil wir nicht wahnsinnig geworden sind?« Ich las die
ganze Nacht. Ein Klopfen an der Tür weckte mich. Draußen stand ein
freundlicher älterer Herr, der in einer Feriensiedlung auf der
anderen Seite des Waldes lebte. Sie war einige Jahre zuvor von
Anthroposophen gegründet worden. Am Abend vorher habe er ganz
überrascht einen Funken Licht gesehen und wolle nun vorbeischauen.
Er war bestimmt keiner, der mich verraten würde, aber eines war
klar: Sicher würde ich auch hier nicht sein. Ich dachte, das Beste
wäre es wohl doch, wenn ich unauffällig in die Güterwagen meiner
Einheit zurückkehren könnte.
Und tatsächlich schaffte ich es. Als ich am
Nachmittag auf dem Güterbahnhof möglichst zielstrebig, aber auch
vorsichtig zum Wagen mit meinen Kameraden ging, hielt mich ein
junger Leutnant an und wollte wissen, woher ich käme. Noch ehe ich
antworten konnte, fuhr er fort, ich solle in den Kompanietrupp
eingegliedert werden, eine kleine Gruppe mit Sonderaufgaben. Ich
sei ja aus der Nachrichten-HJ,
und sie bräuchten noch einen Funker. Ich konnte zwar nur ganz
schlecht mit einem Funkgerät umgehen, aber das Angebot nahm ich
natürlich an. Später stellte sich heraus, dass der Leutnant ein
Reserveoffizier aus Hamburg war, ein junger Rechtsanwalt, der
meinen Onkel kannte.
Als schließlich unser Zug nach Norden über die
dänische Grenze rollte, war das Schlimmste für mich erst einmal
vorbei. Im allgemeinen Durcheinander der letzten Kriegswochen war
das Regiment auseinandergerissen worden: Zwei Bataillone fuhren
Richtung Ostfront, wir hingegen kamen nach Dänemark, »das Land der
Butter und der Schlagsahne«, wie die älteren Kameraden wussten. Das
hob die Stimmung ein wenig. Dann allerdings rollte unser Zug über
eine kleine Landmine, die dänische Widerständler gelegt hatten. Die
Wagen blieben weitgehend unversehrt und wir konnten die Fahrt
fortsetzen, aber ich hatte infolge der Explosion blaue Flecken und
einen verstauchten Fuß. Nahe der jütländischen Stadt Vejle wurden
wir in Schulen und Scheunen untergebracht. Dort herrschte dann
Dienst wie üblich, Marschieren und Exerzieren, immer noch so gut
wie ohne Waffen. Einmal gab es einen Zwischenfall, ein paar
Soldaten waren auf einem Bauernhof in die Speisekammer eingebrochen
und hatten geklaut. Zwei Offiziere ermahnten sie: Jetzt, wo der
Krieg praktisch zu Ende sei, sollten wir uns nicht noch mehr Feinde
machen.
Und tatsächlich: Der Krieg war vorbei. Mit drei
Pferdewagen machten wir uns auf den Rückmarsch durch halb Jütland;
irgendwie war es unseren Offizieren in Verhandlungen mit den
Widerständlern gelungen, dass wir aus Dänemark abziehen konnten.
Nach ein paar Tagen erreichten wir die deutsche Grenze. Die
Offiziere meldeten sich bei den englischen Kommandanten und kamen
mit einer verwirrenden Information zurück: Wir seien von nun an
Kriegsgefangene, und unser Lager sei Schleswig-Holstein von der
dänischen Grenze bis zum Kaiser-Wilhelm-Kanal bei Rendsburg.
Wir hockten am Straßenrand. Die Engländer
hatten zwei große Lautsprecher aufgestellt, die den deutschen
Dienst der BBC übertrugen. So
hörten wir einen langen und schrecklichen Bericht über die
Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, über das
Massensterben, über Zehntausende von Toten und Verhungernden, die
die englischen Soldaten dort vorgefunden hatten. Ich saß dort und
konnte nur noch heulen. Ein älterer Feldwebel kam zu mir und
fragte, was denn los sei. Ich deutete auf den Lautsprecher und
brachte nur die Worte »Bergen-Belsen KZ« heraus. »Hast du da Verwandte drin?«,
fragte der Feldwebel. Als ich den Kopf schüttelte, meinte er nur:
»Na, dann ist es ja nicht so schlimm, dann beruhige dich
mal.«