Fünfundvierziger

Journalistische Anfänge
1945–1949
Einen Tag, nachdem wir die deutsche Grenze erreicht hatten, marschierten wir weiter, in Kolonnen geordnet, aber nun gar nicht mehr zackig im Gleichschritt, sondern eher nachlässig. Ich bekam nicht mehr viel davon mit, denn ich hatte hohes Fieber und konnte kaum noch laufen. Nach drei Tagen lieferten mich meine Kameraden schließlich in der Nähe von Husum in ein Lazarett ein. Die Diagnose: Typhus, gefährlich und ansteckend, also Quarantäne. Ich lag in einem ganz gewöhnlichen Wehrmachtslazarett, wo es kaum anders zuging als in einem Kleinstadtkrankenhaus. Kämpfe hatte es in dieser Gegend nicht gegeben und das Lazarett arbeitete nun fast unverändert weiter.
In meinem Zimmerchen in der Seuchenabteilung döste ich mit Fieber vor mich hin. Als es wieder besser ging, versuchte ich von den Sanitätern und Patienten mehr über die Außenwelt zu erfahren, aber sie wussten nur wenig zu erzählen oder hatten das meiste schon verdrängt. Die dreitausend KZ-Häftlinge aus vielen Ländern, die hier noch einige Monate zuvor täglich durch die Stadt marschieren mussten, waren für sie schon in der Vergangenheit versunken. Unser Horizont war auf die nähere Umgebung des Lazaretts beschränkt. Der Krieg war vorbei und verloren, doch in den ersten Monaten lebten wir hier, am nördlichsten Zipfel Deutschlands, als hätte sich kaum etwas geändert. Ohne dass ein Schuss gefallen war, hatten die Engländer in ihrer Besatzungszone das Kommando übernommen. Die deutschen Offiziere und Ärzte unterstanden englischen Kommandanten, aber die sahen sie nur selten, und Anweisungen und Befehle bekamen sie von ihnen kaum. Die Wehrmachtsstrukturen blieben vorerst unverändert bestehen. Dieselben Offiziere wie vorher gaben die Befehle, nur dass sie nun selbst offiziell Kriegsgefangene waren, die andere Kriegsgefangene befehligten und von Fall zu Fall noch wegen mangelnden Gehorsams vor ein deutsches Kriegsgericht bringen konnten. »Die können einen glatt noch erschießen lassen«, sagte mein Zimmernachbar, ein Unteroffizier. Das Gerücht ging um, dass wir alle nach England abtransportiert würden, wo wir die nächsten Jahre in Lagern leben und die zerstörten Städte wiederaufbauen müssten. Das war keine angenehme Aussicht, aber auch nicht mehr als eine durch »Latrinenparolen« erzeugte Sorge, mit der man uns disziplinierte. Für mich war das eine unheimliche, seltsam erstarrte Welt: Die Machthaber hatten den Krieg verloren, und wir sollten weiter gehorchen wie bisher. Nur so könne die Ordnung aufrechterhalten und Schlimmeres vermieden werden, sagten die Offiziere. Ich hatte mir das Ende von Krieg und Naziherrschaft anders vorgestellt.
Dann war diese seltsame Gefangenschaft ganz überraschend für mich vorbei. Nach fast zwei Monaten im Lazarett kamen zwei Ärzte zu mir und erklärten nach einer kurzen, oberflächlichen Untersuchung, ich sei einigermaßen gesund, jedenfalls nicht mehr ansteckend, und würde in den nächsten Tagen entlassen. Allerdings nicht, wie ich zuerst fürchtete, zu meinem alten Bataillon, sondern direkt nach Hause. Solange ich noch nicht siebzehn sei, gelte ich nicht als Kriegsgefangener, hatten die Ärzte herausgefunden. Also sollte ich machen, dass ich wegkäme. Zwei Tage später gaben sie mir einen Entlassungsschein. Da hatte ich noch ungefähr zehn Tage Zeit bis zu meinem siebzehnten Geburtstag und machte mich auf den Weg ins Unbekannte.
Ich trug meine schäbige Uniform, aber ohne irgendwelche Abzeichen. Einen Dienstrang hatte ich ja nicht gehabt. Am Rande von Husum nahm mich ein Pferdewagen mit, der mit Milchkannen beladen und unterwegs zu einer Molkerei war. Als Oberschüler oder Soldat wäre ich nicht weitergekommen, aber der Molkereichef kannte meinen Großvater in Hamburg, und so hatte ich es leichter, einen Lkw zu finden, der mich nach Süden mitnahm. Schließlich stand ich zehn Kilometer vor dem Kaiser-Wilhelm-Kanal, der heute Nord-Ostsee-Kanal heißt und damals die Südgrenze des großen Kriegsgefangenenbezirks bildete. Ein Geländewagen hielt an, zwei deutsche Offiziere riefen mich in festem Befehlston zu sich und fragten, was ich da machte. Ich sei auf dem Weg vom Lazarett nach Hause, entlassen, weil ich ja noch keine siebzehn Jahre sei. So etwas hatten die beiden, ein Hauptmann und ein Oberstleutnant, noch nie gehört, und sie studierten den Entlassungsschein zunächst misstrauisch. Dann wurde der Ältere plötzlich freundlich und sagte: »Steig ein, Junge, du kannst ein Stück mitfahren.« Am Übergang über den Kanal kontrollierte ein Posten die Papiere, die eine englische Dienststelle für die Fahrt zu Verhandlungen mit britischen Stabsoffizieren in der Nähe von Hamburg ausgestellt hatte. Man ließ unseren Wagen passieren. Den Fahrer und mich beachteten sie gar nicht. Auf der anderen Seite des Kanals war der Krieg für mich nun wirklich und endgültig zu Ende.
Weiter ging es per Anhalter. Am Abend, kurz vor der Sperrstunde, stand ich vor dem Haus meiner Großmutter in Aumühle. Wiedersehensfreude und Tränen bei der Großmutter, und dann die schlechte Nachricht, dass meine Mutter nach einer Operation vierzig Kilometer entfernt im Krankenhaus lag. Das Telefon funktionierte immer noch nicht, und so konnte ich ihr die gute Nachricht meiner Rückkehr nicht sofort mitteilen. Das Haus meiner Großmutter war unverändert, überhaupt war im ganzen Ort nichts zerstört. Aumühle war kampflos besetzt worden, nachdem der Bürgermeister mit weißer Fahne auf die englischen Truppen zugegangen war, erzählte mir meine Großmutter. Zum Glück hatten hier keine fanatischen Werwölfe einen Guerillakrieg entfachen wollen, wie ihn die HJ-Führer zuvor mit großen drohenden Worten angekündigt hatten. Es war wenig los auf den Straßen, kein Verkehr, überall herrschte eine scheinbar friedliche Stille. Zehn Tage ehe die englischen Soldaten durchmarschiert waren, hatte meine Großmutter die halbjüdische Mutter der von mir verehrten Organistin doch noch aufgenommen und im Taubenstall versteckt. So kurz vor dem Ende schien ihr das Risiko für unsere Familie nicht mehr so groß, und sie hätte es sich nicht verziehen, wenn die alte Frau noch in letzter Stunde verschleppt worden wäre. Die englischen Soldaten sah sie nicht als Feinde an, aber auch nicht dankbar als Befreier. Ein kleiner Trupp war mit einem Metallsuchgerät in ihren Garten gekommen, hatte ihr Tafelsilber gefunden, ausgegraben und mitgenommen – das Beste, was sie nach den Bombenangriffen und der Zerstörung ihrer Stadtwohnung noch besessen hatte.
Ich suchte nach meinen Freunden. Wie ich feststellte, hatten alle die letzten Kriegsmonate überlebt. Die Nachricht, dass ich zurück sei, gaben sie von Mund zu Mund weiter, und einige meldeten sich bald bei mir. Der jüdische junge Mann aus dem Chor, der manchmal bei mir übernachtet hatte, ließ mir einen Gruß und ein kurzes Gedicht zukommen. »Nun wird sich alles wenden«, schrieb er. Als wir dann zum ersten Mal wieder zusammensaßen und mehr sangen als redeten, gab mir auch die Chorleiterin ein kleines Gedicht. »O Gerd! Entbehrt durchs Schwert im frühen Jahr! Unterernährt, doch nicht versehrt, am eigenen Herd nun wieder da. Ob unbelehrt und ganz verkehrt, ob leicht verstört – wer weiß es ja. Tenorbewährt und geistbeschwert, von uns verehrt, hoch, hoch, hurra.« Es schien alles wie früher, und doch war alles anders. Wir wussten nur noch nicht, wie.
In diesen ersten Wochen nach meiner Rückkehr musste ich einen Weg in das normale, unerwartet langweilige Alltagsleben finden. In Hamburg meldete ich mich zum Steineklopfen in den Trümmern. Das war ein Beitrag zum Wiederaufbau und, so sagte man, die Voraussetzung, um später einmal an der Universität aufgenommen zu werden. Die war allerdings noch geschlossen, und niemand wusste, wann und mit welchen Professoren sie wieder ihre Tore öffnen würde. So hockten ein paar Freunde und ich täglich in den Trümmern der Hamburger Häuser – ein paar junge Männer, die nicht in Kriegsgefangenschaft waren, und viele Frauen jeden Alters, die man zum Trümmerdienst geholt hatte. Wir alle arbeiteten für unsere Lebensmittelkarten, für die schmalen Rationen, die uns zugeteilt wurden. Manchmal hungerten wir, konnten uns aber irgendwie durchschlagen. Auf die großen Schwarzmärkte, die es in jedem Viertel gab, musste man viel Geld mitbringen, und das besaß ich nicht oder nur ganz selten, wenn es mir etwa gelungen war, ein Paar gut erhaltene Schuhe, eine Jacke oder einen Rock aus den häuslichen Kleiderschränken zu verkaufen – für alte Reichsmark, die das Ende des Reichs fast wertlos überlebt hatten. Wir hätten alle gerne mehr zu essen gehabt und etwas Besseres anzuziehen als die aufgetragenen, von Verwandten geerbten Klamotten, aber dafür diskutierten und lasen wir, wanderten durch Antiquariate, deren Bücher für uns zu teuer waren, entdeckten gebrauchte Paperbacks, die amerikanische Soldaten verkauft hatten, und stießen schließlich auf eine neue Literatur, deren Bücher wegen der Papierknappheit wie Zeitungen gedruckt wurden – in Hamburg von Ernst Rowohlt erfunden und verlegt. Da hätte ich auch gerne Verleger werden wollen.
Als die ersten Verwaltungsstellen der Universität wieder zu arbeiten anfingen, stellte ich fest, dass mein Notabitur nicht anerkannt wurde. Ich hatte das Abschlusszeugnis bekommen, als ich zur Wehrmacht eingezogen wurde, aber nun lachten die Schulbeamten nur darüber, weil ich junger Spund mir einbildete, damit gleich studieren zu können. Es werde sowieso viel zu viele Studienbewerber mit gültigem Abiturzeugnis geben, wenn die ehemaligen Soldaten zurückkehrten. Die seien ein paar Jahre älter als ich und hätten noch lange Vorrang. Also zurück in die Obersekunda. Das Wilhelm-Gymnasium gehörte zu den ersten Oberschulen in Hamburg, die wieder den Betrieb aufnahmen. Die Lehrer waren jedoch alle sehr alt und viele von ihnen eigentlich schon pensioniert. Man hatte die Schulbücher »gesäubert« und alles, was mit Politik zu tun hatte, entfernt. Die deutsche Geschichte hörte im Mittelalter auf. Überlebt hatten eigentlich nur Mathematik sowie Naturwissenschaften und im Deutschunterricht mehr Grammatik als Literatur.
Ich fand diesen Unterricht unerträglich. Die Jungen in meiner Klasse waren ebenso alt wie ich, aber sie hatten nur das normale Schul- und HJ-Leben hinter sich und wussten mit mir so wenig anzufangen wie ich mit ihnen. Ein erstes wiedereröffnetes Tutorium, ein privater Weg zum Externen-Abitur, schien da schon vielversprechender. Hier kamen ältere Schüler und Schülerinnen zusammen, die bereits Erfahrung im Leben hatten, und unterrichtet wurden wir von jüngeren Lehrern, die gern mit uns diskutierten. Aber dann teilte die Hamburger Schulbehörde mit, dass eine Abiturprüfung für Externe noch für längere Zeit nicht möglich sei. Wieder musste ich einen Umweg suchen und fand ihn diesmal in einer Dolmetscherschule, wo ich Englisch und Russisch belegte. Englisch fand ich sowieso notwendig. Russisch reizte mich, weil es die Sprache der Sowjetunion war, dem Siegerland, das die Heimat einer neuen Gesellschaftsform mit eigenem Lebensgefühl sein sollte – dem Sozialismus. Ich hatte gerade begonnen, mich einzulesen: Ein neues Antiquariat in der Innenstadt, das sich auf Bücher der zwanziger Jahre spezialisierte, zog mich an. Da gab es in den Regalen Mann, Brecht und Toller, Gedichte des deutschen Expressionismus und eben auch Marx, Trotzki und Lenin. Ich hockte mich da in eine Ecke und blätterte durch die Bücher, manchmal eine oder zwei Stunden lang. Die beiden Antiquare fanden mich offenkundig nett und ließen mich in Ruhe schmökern, weil sie sahen, dass ich mich für Bücher interessierte, die zum Teil vorher verboten gewesen waren. Kaufen konnte ich sie nicht, aber Geld spielte ja ohnehin noch keine große Rolle. Unter meinen Bekannten hatte keiner welches.
Auf der Suche nach neuen politischen Erkenntnissen war ich bei Kommunismus und Sozialismus hängengeblieben. Hier kündigte sich eine radikale und in meinen Augen notwendige Systemänderung an. Auch wenn die Hitlerpartei verboten und diskreditiert war, schien mir eine Rückkehr in die politische Welt der zwanziger Jahre, in die gescheiterte bürgerliche Demokratie, nicht möglich. Die Wiedergründung der alten Parteien durch Sozialdemokraten und Liberale war aus meiner Sicht eine Wiederauflage der Parteien von vor 1933, die damals versagt hatten. Die CDU war mir als eine »kapitalistische« Partei ganz verdächtig. Wo gab es die Sicherheit, dass die Großindustriellen, die Nationalisten und Militaristen, die Hitler unterstützt hatten, nicht wieder den Kurs bestimmten? Für einen wirklichen Neuanfang schienen daher nur die Kommunisten in Frage zu kommen. Da ging es mir wie manchen gleichaltrigen Freunden. Mit einem von ihnen saß ich besonders oft zusammen, wir rollten aus Tabakresten unsere Zigaretten und suchten die Wahrheit. Ralf Dahrendorf stammte aus einer sozialdemokratischen Familie, hegte nun aber Vorbehalte gegen die Partei seines Vaters und seines Onkels und war ebenfalls auf der Suche. Manchmal stritten wir uns und lagen im Denken quer zueinander, wenn der eine die marxistisch-sozialistischen Lösungen für zuverlässig hielt, während der andere die mangelnde Meinungs- und Diskussionsfreiheit und die versteinerte Theoriedebatte bei den Kommunisten kritisierte.
Ralf Dahrendorf, der später ein international bekannter Sozialwissenschaftler war und als Rektor der London School of Economics von der englischen Königin geadelt wurde, reiste für einige Wochen nach Berlin und kam mit großen Vorbehalten gegen die neugegründete SED zurück. Ich war noch in dem Versuch gefangen, die ersten Gruppen der FDJ, der Freien Deutschen Jugend, in Schleswig-Holstein zu gründen. Ganz wohl war dabei aber auch mir nicht mehr: Die Mischung von Ideen der vornazistischen Jugendbewegung mit einer bürokratisch gefärbten Klassenkampfideologie, wie wir das damals ausdrückten, löste bald Misstrauen und Kritik bei Ralf und mir aus. Daraufhin erschien ein Hamburger KP-Funktionär, sicher doppelt so alt wie wir, um uns mit fertigem Propagandamaterial und einem starren ideologischen Korsett zu versorgen. Das aber war endgültig nichts mehr für uns.
Wir suchten weiter nach politischen Antworten. Es gab nichts Linkes, das wir ausschlossen. Einmal landete ich auf meiner Suche in einer Kellerwohnung nahe dem Bahnhof. Hier, so hatte ich gehört, befände sich das Hauptquartier der Anarchosyndikalisten, einer Gruppe, die für Arbeiterselbstverwaltung und für direkte Demokratie bis hinauf in die höchste Staatsführung eintrat und im Spanischen Bürgerkrieg unabhängig von den Kommunisten gegen Franco gekämpft hatte. Da traf ich allerdings nur drei ältere Männer an, die einzigen organisierten Anarchisten von Hamburg – wiederum eine Enttäuschung. Mit den Trotzkisten erging es uns ähnlich, obwohl sie die besseren Diskussionspartner waren und viel Kluges über Stalins Diktatur und die Fehlentwicklung des Marxismus zu sagen wussten. Etwas später, Anfang 1947, entdeckten wir das Buch Jenseits des Kapitalismus, unter Pseudonym von Richard Löwenthal geschrieben, einem der gescheitesten Emigranten, der inzwischen aus England zurückgekehrt war. Was er an Überlegungen vortrug, wurde für uns und für viele jüngere Leute zum Handbuch einer demokratisch-sozialistischen Politik. Die Analyse der Vergangenheit und die Hoffnung auf politische Chancen der Zukunft faszinierten mich.
Ich wollte nach wie vor unbedingt auf die Universität, aber was ich studieren wollte, wusste ich nicht genau. Eine Mischung aus Volkswirtschaft, Geschichte und Kunstgeschichte hätte mir gefallen, und unerwartet schien sich auch ein Zugang zum Studium zu eröffnen, ein Vorkurs für ehemalige Soldaten, die ohne gültiges Abiturzeugnis vor ihrem Studium eingezogen worden waren. Plötzlich schien auch mein Notabitur wieder etwas wert. Ich durfte mich zwischen die ehemaligen Landser und künftigen Akademiker setzen. Sie waren im Schnitt fünf Jahre älter als ich und hatten es schwer, wieder an einen Studienplan anzuknüpfen, der bei ihnen lange zurücklag. Mir machte es weniger Schwierigkeiten und viel Spaß. Meine Abschlussarbeit akzeptierten die Lehrer allerdings nur widerwillig. Der Inhalt war schwer zu bewerten, der Titel suspekt: »Die Malerei des deutschen Expressionismus«. Mein Wissen darüber hatte ich von den zwei Malerinnen im Landschulheim erworben und aus älteren Büchern zusammengelesen. Was ich schrieb, war vielleicht nicht so klug, wie ich dachte. Dem Lehrerkollegium aber waren Namen wie Nolde und Barlach, Kirchner und Marc völlig fremd. Sie ließen mich trotzdem die Prüfung bestehen, und ich erfuhr, dass ich nun damit rechnen könne, in zwei bis drei Jahren zum Studium zugelassen zu werden. Erst hätten Ältere den Vorrang. Das war erneut eine Enttäuschung, aber ganz so schrecklich war es auch wieder nicht, denn zwei Jahre nach dem Ende des Dritten Reichs wussten ich und fast alle meiner Altersgenossen sowieso noch nicht, wie unsere Zukunft aussehen könnte.
Und dann hatte ich Glück: Durch einen Zufall kam ich in Kontakt mit Axel Eggebrecht, einem Rundfunkmann der ersten Stunde, der für den Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR), die Rundfunkanstalt in der britischen Besatzungszone, arbeitete. Ich hatte in einem evangelischen Jugendzentrum an einem Gespräch über »Religion heute« teilgenommen und mit meinen Äußerungen über die Rolle der Kirchen im Nazireich Ärgernis erregt. Besonders mutig und bibeltreu hätten die Kirchen sich ja nicht gezeigt, hatte ich gesagt. Danach lud mich Axel Eggebrecht erneut zu einer Diskussion ein, und die Jugendredaktion schickte mich manchmal zu kleinen Reportagen aus. Ein weiterer Vorteil war, dass ich ab und zu in die Kantine des NWDR gehen durfte. Da gab es – ohne Lebensmittelmarken – Grießpudding mit einer Soße aus Süßstoff und künstlichem Orangeat oder ähnliche Magenfüller.
Schließlich wollte ich auch einmal eine Glosse für die tägliche Sendung Echo des Tages schreiben. Das wäre Anfang 1947 beinahe meine letzte Arbeit für den Rundfunk geworden. Ein älterer Kollege hatte mir vorgeschlagen – vielleicht um mich hereinzulegen –, ein kleines Stück über »Demontagen und Reparationen im Alten Testament« zu machen, also darüber, wie man schon in biblischer Zeit mit besiegten Gegnern umging. Das Thema war hochaktuell und gefährlich aufgeladen, weil in diesen Wochen Hamburger Hafenanlagen und Werften demontiert und in die Sowjetunion transportiert werden sollten. Die Hamburger fürchteten um die Zukunft der Stadt, die Arbeiter und die Gewerkschaften hatten Angst um Arbeitsplätze und Lohn. Die öffentliche Erregung war groß, die Proteste gegen die Siegermächte drohten zu eskalieren; bei der kommunistischen Partei in Hamburg war die Empörung allerdings gebremst durch die Tatsache, dass die Werften in die Sowjetunion verlegt werden sollten. Jung und naiv war ich in ein Wespennest gestiegen. Einer der britischen Kontrolloffiziere vermutete hinter meinem Beitrag neonazistische oder nationalistische Propaganda. Er überwachte unsere Sendungen gewöhnlich mit viel Sinn für Diskussionen und Meinungsfreiheit, aber nun beschloss er einzugreifen und ein Exempel zu statuieren. Ab sofort, so teilte er mit, sei ich als Rundfunkautor gesperrt. Bei aller Liebe zur Pressefreiheit, aber das, was ich da geliefert hätte, gehe einfach zu weit. Ich schien mal wieder am Ende, als ich unerwartet aufgefordert wurde, mich beim obersten Chef des Funkhauses zu melden.
Der Mann, der mich in seinem Büro erwartete, hatte die Beine auf den Schreibtisch gelegt. Böse und hart sah er nicht aus, und eine vorwurfsvolle Miene machte er auch nicht. Hugh Carleton Greene war vor dem Krieg ein englischer Auslandskorrespondent mit Erfahrungen in Deutschland und anderen Ländern Mitteleuropas gewesen und hatte dann beim deutschsprachigen Dienst der BBC gearbeitet, ehe er nach Kriegsende eingesetzt wurde, ein neugegründetes Sendersystem in der britischen Besatzungszone zu leiten. Viele Jahre später wurde er der erfolgreiche und bewunderte Generaldirektor der BBC. Greene kam gleich zur Sache. Was ich da geschrieben hätte, egal, ob richtig oder falsch, wolle er nicht senden. Ich solle es noch mal lesen, dann würde ich das selbst einsehen. Er blätterte dabei in Texten, die ich für NWDR-Redaktionen, meistens den Jugendfunk, verfasst hatte, und sagte dann, das sei gar nicht schlecht, aber ich müsse nun mal nicht nur schreiben, sondern auch denken lernen, und dazu könne ich auf die Rundfunkschule gehen. Ich wollte ihn aufklären: Ich sei zu jung für die Rundfunkschule – gerade erst achtzehn, für die Aufnahme sei aber zweiundzwanzig das Mindestalter. Außerdem seien für den ersten Kurs, der gerade im Januar 1947 begonnen habe, unter vierhundert Bewerbern nur zwanzig ausgewählt worden. Da hätte ich also keine Chance. Greene kehrte daraufhin den Chef hervor, der meine Aufnahme in die Rundfunkschule durchsetzen konnte. Tatsächlich hatte er bei den beiden Leitern des Kurses schon vorgefühlt. Sein Angebot musste ich einfach annehmen, zumal ich ahnte, dass hier Weichen für meine Zukunft gestellt wurden. Nach der Rundfunkschule würde ich weitersehen, erst mal in eine Rundfunkredaktion, zum Studium bliebe später noch Zeit genug. Ein Glücksfall.
Eine richtige Schule war diese Rundfunkschule eigentlich nicht, eher ein Experimentierfeld. Neben Vorträgen und Diskussionen wurden verschiedene Formen von Sendungen ausprobiert. Viel praktische Erfahrung damit hatte keiner von den etwa fünfundzwanzig jungen Kursteilnehmern, aber dafür zeichnete die meisten eine bemerkenswerte Neugier aus. Für viele war es die erste Begegnung mit einer Form von intellektueller und politischer Auseinandersetzung, deren Wurzeln direkt auf die Zeit vor 1933 zurückgingen. Die »Lehrer« waren in ihrer Mehrheit deutsche Emigranten. Einige hatten die Nazijahre in England verbracht und den Stil der BBC übernommen, der sich in seiner Gelassenheit völlig von der fanatischen Erregung und dem Propagandadonner des NS-Reichsrundfunks unterschied. Zwei andere waren als Kommunisten in die Sowjetunion geflohen, hatten dort den Deutschen Dienst von Radio Moskau aufgebaut und sich schließlich der Stalin-Diktatur entzogen, indem sie als Freiwillige in den Spanischen Bürgerkrieg gezogen waren und sich dann nach Francos Sieg zur BBC nach London gerettet hatten. Außerdem gab es Dozenten, die in Deutschland in einer Art intellektueller innerer Emigration geblieben waren – Axel Eggebrecht zum Beispiel, unabhängig, scharfsinnig und witzig formulierend, war ein Star der wieder entstehenden linksliberalen Szene. Hanns Hartmann, Leiter der Kurse an der Rundfunkschule, war 1933 der jüngste deutsche Theaterintendant gewesen und hatte sich dann wegen seiner jüdischen Frau in unauffällige Büroarbeit zurückgezogen. Nach 1945 hatte ihn die sowjetische Militärverwaltung in Ost-Berlin zum Leiter des Metropoltheaters gemacht. Hartmann hatte sich dem Druck der kommunistischen Zensur jedoch entzogen, woraufhin englische Rundfunkoffiziere auf ihn aufmerksam wurden und ihn nach Hamburg herausschmuggelten. In den erwähnten Diskussionen und Vorträgen wurden die Probleme der nationalsozialistischen Zeit und der Gegenwart in großer Offenheit zur Diskussion gestellt – das ging so weit, dass sogar einige führende Beamte aus dem ehemaligen Goebbels’schen Reichspropagandaministerium eingeladen wurden, damit sie über ihre Arbeit im Dritten Reich berichteten. Etwas Vergleichbares wäre zu dieser Zeit anderswo undenkbar gewesen.
Der Nordwestdeutsche Rundfunk war in Hamburg ansässig, mit zwei oder drei Nebenstellen in anderen Orten der britischen Besatzungszone. Am Ende der Kurse sollten die jungen Teilnehmer eine gute Chance auf einen Job in den Rundfunkredaktionen haben. Ob es für mich, so jung, wie ich war, eine Redakteursstelle geben würde, war einigermaßen fraglich. Nach zähen Kämpfen zwischen Politikern, Landesregierungen und Verbänden fiel die Entscheidung, Rundfunk nicht nur von Hamburg aus zu machen, sondern auch in Nordrhein-Westfalen einen Sender aufzubauen. Das war meine Chance. Als ersten Intendanten für den neuen Sender in Köln hatte die englische Rundfunkverwaltung Hanns Hartmann ausgewählt und mit großer Entschlossenheit gegen alle parteipolitisch gefärbten Vorschläge durchgesetzt. Hartmann wiederum rief mich in sein Büro und schlug mir vor, meine Lehrzeit in Köln zu machen.
Das war Ende 1947 ein verlockendes Angebot, aber keine leichte Entscheidung. Zu Hause hatte ich bei meiner Mutter und meinen Großeltern eine Unterkunft und etwas zu essen, wenngleich das, was es auf Lebensmittelmarken gab, knapp war und ohne Hilfe der Familie kaum ausgereicht hätte. Überhaupt wusste ich nicht, wie das Leben in Köln sein würde. Ich war zuvor noch nie im Rheinland gewesen, und meine Hamburger Großeltern erinnerten sich auch nur an Karneval, Leichtlebigkeit und Katholizismus. Von Köln wusste ich bloß, dass es eine von Bombenangriffen schwer zerstörte Stadt war. Aber das galt für Hamburg schließlich auch. Beim NWDR in Hamburg gab es bereits ungefähr achthundert Mitarbeiter und für einen Neunzehnjährigen daher kaum Bedarf. Im Kölner »Funkhaus«, angesiedelt auf zwei Etagen der ehemaligen Musikhochschule, arbeiteten dagegen zu diesem Zeitpunkt nur dreiunddreißig feste Mitarbeiter. Dass Hanns Hartmann diesen Kleinstsender, den Rest des ehemaligen Reichssenders Köln, in größerem Umfang ausbauen würde, schien mir sicher. Aus der Rundfunkschule wusste ich, dass er ein enormes Durchsetzungsvermögen hatte – also nahm ich sein Angebot an.
Anfang Januar 1948 kam ich also eines Morgens auf dem Kölner Hauptbahnhof an. Die meiste Zeit während der Fahrt hatte ich stehen müssen, alle Züge waren damals überfüllt. Zerstörte Straßen und Bombenkrater kannte ich schon aus Hamburg, aber nun wanderte ich allein und fremd im Zentrum von Köln durch eine Trümmerwüste. Auf kleinen Trampelpfaden musste ich meinen Weg zu der ehemaligen Musikhochschule finden.
Der Pförtner schickte mich zum Büro des britischen Kontrolloffiziers, Edward Rothe. Er war von Hause aus weder Offizier noch Engländer, sondern ein intellektueller Theatermann, der in Österreich Regieassistent von Max Reinhardt gewesen war, ehe ihn die Machtausdehnung des Dritten Reichs als Juden zur Flucht nach England gezwungen hatte. Er zeigte sich einigermaßen misstrauisch gegenüber einem sehr jungen Deutschen, der ja immerhin durch seine Jugend im Nazireich geprägt sein musste. Andererseits machte ihn gerade das auch neugierig. Ähnlich wie Hanns Hartmann, der kurz zuvor sein Intendantenbüro im ersten Stock bezogen hatte, konnte Rothe »Nazis riechen«. Beide verließen sich mehr auf Menschenkenntnis, Instinkt und Erfahrung als auf die bürokratischen Methoden der Entnazifizierungsprozesse – was später zu harten Auseinandersetzungen darüber führte, welche Nähe zu den Zeitungsredaktionen und Propagandabehörden der Nazizeit als Belastung noch erträglich sei. Das betraf nicht zuletzt meinen neuen Chef, Werner Höfer, den Hartmann trotz solcher Bedenken eine Woche zuvor angestellt hatte. Höfer sollte ein regionales Hörfunkmagazin für Nordrhein-Westfalen entwickeln, und ich sollte als Assistent praktische Erfahrungen sammeln. Bei diesen drei Männern, so unterschiedlich sie waren, fühlte ich mich in der fremden Stadt gut aufgehoben.
Einfach war das Leben dennoch nicht. Der Intendant bewohnte ein Zimmer mit fließend kaltem Wasser in einem christlichen Hospiz gegenüber dem legendären Gefängnis Klingelpütz. Werner Höfer, der spätere Erfinder und Moderator des Internationalen Frühschoppen, wohnte mit seiner Frau und zwei kleinen Töchtern in einer Garage. Ich bekam ein Monatsgehalt von 300 Reichsmark. 75 Mark gingen für das möblierte Zimmer am Stadtrand ab. Der Rest langte gerade für die Straßenbahn und fürs Essen, das in der kleinen Funkhaus-Kantine billig, aber nicht reichlich war. Einige der Kölner Kollegen waren hilfsbereit, wenn es darum ging, in den kleinen Lebensmittelgeschäften etwas »unter der Theke zu organisieren«. Gegenüber vom Funkhaus befand sich eine Bäckerei, die ohne allzu große Heimlichtuerei selbstgebrannten Schnaps im Angebot hatte. Aber als junger Fremder aus Norddeutschland hatte ich es doch schwer, wie die echten Kölner vom »Maggeln«, von Beziehungen, zu leben.
Geld spielte also keine große Rolle, weder beim Essen noch bei der Kleidung. Alles, was es nicht auf Lebensmittelmarken gab, war für uns zu teuer, und neue Anzüge erst recht. Solange ich zur Schule gegangen war, bis zur Einberufung in die Wehrmacht, hatte ich überhaupt nie lange Hosen getragen. Das galt unter meinen Freunden als bürgerlich und spießig. Danach hatte ich zwei Anzüge von meinem Großvater geerbt, nicht gerade schick, aber durch Änderungen angepasst, dazu zwei Paar Schnürstiefel und für ganz schlechtes Wetter alte Reitstiefel, die der Großvater schon als Kavallerist im Ersten Weltkrieg getragen und weiter liebevoll gepflegt hatte. Natürlich sah ich, dass es manchen Leuten viel besser ging, aber das schien mir eher eine Nebensache, während Diskutieren, Lesen und das Schreiben meiner Berichte das wirkliche Leben bedeuteten.
All das sollte sich aber bald ändern, und zwar buchstäblich über Nacht: Mit einem Mal war das Geld wieder etwas wert. Am 20. Juni 1948 hatte noch die alte Reichsmark gegolten, am nächsten Tag bereits konnten ihre wertlos gewordenen Scheine in die neuen D-Mark-Noten umgetauscht werden – allerdings limitiert: Nur ganze vierzig Reichsmark durfte ein Bürger in die neue D-Mark-Währung umtauschen. Wer indes vorher Wertsachen versteckt hatte, konnte sie jetzt in Geld verwandeln, mit dem man wieder etwas kaufen konnte. Schlagartig begannen die Unterschiede zwischen Arm und Reich von neuem das Leben zu bestimmen.
Es kehrte eine gewisse Normalität ein, ohne dass mir dieser Wandel gefallen hätte. Das galt auch für manche Veränderungen in der politischen Landschaft. Hugh Carlton Greene und die englischen Kontrolloffiziere traten im Herbst 1948 ab. Ihre Zeit war vorüber, die neu entstehenden politischen Parteien und Organisationen mussten eigene Führungsstrukturen erfinden und sich ihren Einfluss auf die öffentliche Meinung sichern. Mich erschreckte, mit welcher Härte auch in Presse und Rundfunk um strukturelle Veränderungen gestritten wurde und wie viel Bedeutung die Parteizugehörigkeit plötzlich bekam.
Im Nordwestdeutschen Rundfunk ging es zunächst darum, aus der einheitlichen Sendeanstalt, die die Briten von Hamburg aus gesteuert hatten, eine Konstruktion zu schaffen, in der das neu entstandene Land Nordrhein-Westfalen sein eigenes Sendegebiet möglichst weitgehend kontrollieren konnte. Das Hamburger Mutterhaus, das bis dahin über Form und Inhalt des Gesamtprogramms entschieden hatte, musste seine Vorherrschaft einschränken lassen, während der Intendant Hartmann mehr Sendezeit für Köln erkämpfte. Für mich war das ein großer Vorteil, denn so konnte auch ich mehr Sendungen machen, und zwar über sehr verschiedene Themen, an die ich unter all den Profis in Hamburg selten herangekommen wäre. Das änderte aber nichts daran, dass die Auseinandersetzungen in Hamburg mir eindeutig missfielen. Die Vereinnahmung durch die Parteien erschwerte die Arbeit gerade jener Rundfunkjournalisten, die ich am meisten bewunderte. Axel Eggebrecht, Ernst Schnabel und Peter von Zahn verloren an Einfluss und Entscheidungsfreiheit. Karl Eduard von Schnitzler, vom Sohn eines Kölner Bankhauses zum kommunistischen Leitartikler konvertiert, bekam keine Kommentartermine mehr und setzte sich zum Rundfunk in der sowjetischen Besatzungszone ab.
Mehr noch verärgerte und beunruhigte mich das Vorgehen gegen einen Kollegen von der Rundfunkschule, den ich als nachdenklich und ehrlich kennengelernt hatte, der aber nun als bekennendes Mitglied der KPD entlassen wurde. Ich versuchte, bei den englischen Kontrolloffizieren eine Revision der Entscheidung zu erreichen, und wandte mich auch an einige deutsche Vorgesetzte, besonders an Axel Eggebrecht, dem ich einen mehrseitigen Brief schickte. »Die Entlassung scheint mir sehr problematisch, die außergewöhnliche Lage mag jedoch außergewöhnliche Entscheidungen fordern«, schrieb ich. »Im Fall von G.S. scheint mir eine solche Maßnahme jedoch nicht angebracht zu sein. Ich lernte ihn auf der Rundfunkschule kennen und mochte seine sachliche Art zu diskutieren von Anfang an gerne. Er stand dabei in der ersten Zeit durchaus auf dem Standpunkt des dialektischen Materialismus und bekannte sich offen zu den Zielen der KP … Bei Gesprächen über Marxismus und Kommunismus fiel mir auf, wie sachlich er reagierte und wie aufgeschlossen er Argumenten gegenüber war. Ich nehme an, daß er schon vorher Zweifel an der Doktrin der KP gehabt hat, jedenfalls konnte ich bemerken, daß er in keiner Weise fanatisch oder dogmatisch am Kommunismus hing.« Ich weiß bis heute nicht, ob zu diesem Zeitpunkt schon eine endgültige Entscheidung gefallen war, tatsächlich aber musste der Kollege die Rundfunkschule verlassen – immerhin ohne dass er öffentlich als KP-Mann verurteilt wurde. Er fand schließlich eine Position in einem DGB-nahen soziologischen Forschungsinstitut, ehe er nach England übersiedelte. Ich war enttäuscht und fürchtete, dies könne der Anfang einer verschärften politischen Säuberung sein.
Im Nordwestdeutschen Rundfunk hatte Ende 1948 ein neuer Generaldirektor die Leitung übernommen. Adolf Grimme war ein angesehener sozialdemokratischer Kulturpolitiker aus der Weimarer Republik, stand aber trotz allem guten Willen der veränderten Rundfunklandschaft und ihren Journalisten fremd gegenüber. Das Rundfunkgerät müsse werden, was einst die Petroleumlampe gewesen sei, der Mittelpunkt der häuslichen Familie, hatte Grimme verkündet. Einer der leitenden Redakteure hatte diesen Spruch aufgenommen und ergänzt: »Die Lampe blakt – ausputzen, ausputzen!« Grimme machte ihn bald zum Intendanten des NWDR-Hamburg. Herbert Blank war ein interessanter Einzelgänger, ein ziemlich kleiner, kahlköpfiger Mann, der nur keuchend sprach, weil seine Stimmbänder bei einem Gasangriff im Ersten Weltkrieg beschädigt worden waren. Seine Geschichte war höchst ungewöhnlich. In den zwanziger Jahren war er in der NSDAP ein verehrter Mann gewesen, der Essays und Bücher über Treue und Ehre verfasst hatte. Dann, um 1930, schrieb er ein Buch mit dem Titel Hitler – Wilhelm III., das auf bitter-satirische Weise Hitlers politisches Denken auseinandernahm und karikierte. Nach Hitlers Machtübernahme saß Blank bis zum Ende des Kriegs im KZ, in einer Art Ehrenhaft, aber doch als Häftling. Danach hatten seine Veröffentlichungen zum Thema »Direkte Demokratie statt Parteienherrschaft« harte Diskussionen ausgelöst. Seine Gegner sahen in Blank eine Art diktatorischen Linksfaschisten. Dass ihn Grimme, der gestandene Sozialdemokrat, als Intendanten im Funkhaus Hamburg einsetzen wollte, verblüffte uns alle. Der hoffte jedoch, in diesem ihm fremden Haufen von Intellektuellen und Journalisten jemanden zu finden, der klare Entscheidungsprozesse durchzusetzen vermochte – und er hatte scheinbar den richtigen Mann gefunden: Auf einen Schlag entließ Blank 51 leitende Mitarbeiter der Redaktionen und Verwaltung mit der knappen Begründung »grundsätzlicher Reorganisationsmaßnahmen« – darunter fast alle Kollegen, die ich besonders schätzte. Dass er mit Genehmigung des neuen, demokratischen Generaldirektors zu einem solchen Kahlschlag fähig war, ließ mich dann endgültig zweifeln, ob die neue Machtverteilung auf die Parteien eine bessere Lösung war als die sogenannte englische Militärdiktatur.
Ich war dankbar, dass ich nicht in Hamburg, sondern in der Kölner Redaktion saß, wo Intendant Hartmann die Unabhängigkeit der Rundfunkarbeit hoch einschätzte und sich zugleich auf die Machtspiele der Parteien und Aufsichtsgremien verstand – jedenfalls einige Jahre lang, bis ihn die Politiker abschossen und in Pension schickten. Bis dahin allerdings blieb ihm ausreichend Zeit, um den WDR zu einem starken und selbständigen Sender auszubauen. In Hamburg folgte auf die große Entlassungswelle glücklicherweise doch der Wiederaufbau der Redaktionen und schließlich auch die Rückkehr einiger der besten und interessantesten Rundfunkjournalisten, deren Rauswurf rückgängig gemacht worden war. Von nun an gab es freilich regelmäßig Attacken aus dem Bundeskanzleramt und Kritik an allen, die Adenauers Einfluss auf den Rundfunk zu begrenzen versuchten. Immerhin aber saß jetzt in der Presse wie im Rundfunk eine neue Generation von Journalisten an den Redaktionstischen und in den Chefsesseln, von denen viele zwischen 1925 und 1929 geboren waren. Diese »Fünfundvierziger«, die nach dem Zusammenbruch des NS-Staats und seiner Ideologie eine neue Welt zu entdecken und aufzubauen begannen, konnten in den folgenden Jahren einen unabhängigen journalistischen Stil entwickeln, wie es ihn vorher in Deutschland nicht gegeben hatte. Sie verteidigten die Grundzüge von unabhängiger Recherche und Kritik gegen einen allzu staatsnahen Journalismus, der sich im Laufe des nächsten Jahrzehnts bei einigen Verlagsgruppen und Rundfunkgremien zwischen Hamburg und München wieder durchsetzen sollte – ganz im Sinne des Bundeskanzlers Konrad Adenauer.
Ich war einer der jüngsten unter den Neulingen des Nachkriegsjournalismus. Ein Aufstieg in der Hierarchie kam aufgrund meines Alters erst einmal nicht in Frage, außerdem hatte ich wenig Lust auf Schreibtischarbeit. Ich wollte mir viel lieber anschauen und davon berichten, wie es im Rest der Welt aussah. Eigentlich hatte kaum einer von den Kollegen wirkliche Erfahrungen damit, wie es außerhalb von Deutschland zuging. Im Ausland war diese Generation nur in Uniform gewesen, schwer belastet mit den Vorurteilen der deutschen Kriegspropaganda, meist hochmütig auf die besetzten Länder, ihre Kultur und Lebensweise herabblickend. Nun war ich schlichtweg neugierig und wollte selbst erfahren, wie man in anderen Gesellschaften lebte, im Westen wie im Osten. Das freilich war zu dieser Zeit fast unmöglich. Es gab keine deutschen Pässe. Wir bekamen keine Visa und keinerlei Devisen, mit denen wir reisen konnten. Auch ich hatte bis dahin Ausländer praktisch nur in Uniform gesehen. So war es für mich der größte Glücksfall, dass mir die abziehenden englischen Kontrolloffiziere eine Einladung nach London hinterließen: zum Deutschen Dienst der BBC, dessen Kommentatoren ich ein paar Jahre vorher noch heimlich und nur ganz leise zugehört hatte und die ich immer noch bewunderte.
In London war man neugierig auf einen jungen Deutschen von knapp einundzwanzig Jahren. So lief ich im Sommer 1949 mit weit aufgerissenen Augen durch London und verwirrte die ernsthaften englischen Kollegen mehr als einmal durch die Leute, die ich kennenlernte: einen jungen englischen Kommunisten, einen älteren Guru der Gewaltlosigkeit und des Anarchosyndikalismus, einen brillanten Schriftsteller, Cyril Connolly, den ich in der Redaktion seiner hochintellektuellen Zeitschrift Horizon besuchte. Aber natürlich ging ich – mit dem bisschen Geld, das ich hatte – auch mal im Künstlerviertel Soho in eine Bar oder in der City of Westminster in einen Ballroom, ein großes, schickes Tanzlokal voll von jungen Menschen. Eines Abends tanzte ich dort mit einer netten jungen Amerikanerin, die sich mit einer Gruppe von Freunden amüsierte. Ich verstand mich gut mit ihnen, wir trafen uns noch einmal in einem anderen Ballroom, und dann lud sie mich zu einer Party nach Hause ein.
Ihr Zuhause entpuppte sich zu meiner Überraschung als die amerikanische Botschaft. Und sie war die Tochter des Botschafters. Ich war ziemlich beeindruckt und ein bisschen eingeschüchtert von den anderen Gästen, aber die zogen mich in ihre Gespräche hinein, neugierig darauf, sich zum ersten Mal mit einem jungen Deutschen zu unterhalten. Einer verwickelte mich in eine lange Diskussion über die politische Situation in Deutschland, besonders über die Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone und über die deutschen Kommunisten. Unsere Gastgeberin war mit uns ein wenig unzufrieden, weil wir nur in der Ecke saßen und redeten, statt zu tanzen. Der junge englische Oxford-Dozent stellte immer neue Fragen, und ich erzählte über meine Erfahrungen mit den Leuten von der KPD, die ich während der Zeit, als ich die FDJ in Schleswig-Holstein zu gründen versuchte, in ihrer Rigidität und Sturheit kennengelernt hatte. Er wiederum erzählte mir von den Veränderungen in Jugoslawien, wo Tito regierte und mit Stalin und dem Sowjetkommunismus gebrochen hatte. Ich müsse mal nach Jugoslawien reisen, um mit eigenen Augen zu sehen, was für Veränderungen Tito dort durchsetze. Das aber erschien mir ziemlich naiv, denn es gab ja für Deutsche keine Reisepässe, wie es auch eigentlich keine deutsche Staatsangehörigkeit gab, sondern bloß die Zugehörigkeit zu einer der Besatzungszonen. Dass ich unter diesen Umständen eine Reisemöglichkeit nach Jugoslawien bekommen könnte, schien ausgeschlossen. Also trank ich noch einen irischen Whiskey, den ich gerade als schick entdeckt hatte, und kehrte endlich aufs Tanzparkett zurück.
Ungefähr zwei Monate später, als ich wieder in Köln im Büro saß, erhielt ich völlig unerwartet einen Telefonanruf. Es meldete sich die jugoslawische Militärmission, die ihren Sitz in Düsseldorf hatte und die Verbindung zwischen der jugoslawischen Armee und den westlichen Besatzungsbehörden darstellte – ein Überbleibsel der militärischen Partnerschaft aus Kriegszeiten. Ich hatte nicht gewusst, dass es so etwas gab, und war völlig überrascht und ein bisschen verunsichert, als man mich zu einem Gespräch einlud. Kühl, aber höflich und ebenfalls ein wenig unsicher, erklärte mir ein ziviler Mitarbeiter der Militärmission – wie ich später erfuhr, ein Mann vom Geheimdienst UDBA –, es liege für mich ein Visum für eine Reise nach Jugoslawien bereit. Er wusste allerdings so wenig wie ich, was das in der Praxis eigentlich bedeutete, wie ich es würde einsetzen können. Es dauerte einige Wochen, in denen ich mit den jugoslawischen Stellen und der britischen Militärverwaltung nach Lösungen suchte. Schließlich waren die Engländer bereit, mir in einem Ausweis zu bescheinigen, dass ich ein Einwohner der britischen Besatzungszone von Deutschland sei, während die Jugoslawen mir versicherten, dass ich mit diesem Dokument die Grenze überschreiten dürfe.
Mit dieser Nachricht, dass ich, ganze einundzwanzig Jahre alt, als erster deutscher Journalist aus Jugoslawien berichten dürfe, saß ich dann dem Intendanten Hanns Hartmann an seinem Schreibtisch gegenüber. Das Gespräch, von dem ich eher eine Ablehnung erwartete, war ziemlich kurz: »Gehen Sie zur Kasse und lassen Sie sich 5000 D-Mark auszahlen, und dann schauen Sie mal, wie lange Sie da unten davon leben können.« 5000 D-Mark, das war damals nicht nur für mich viel Geld. Aber schließlich hatten wir nicht die geringste Vorstellung davon, wie mein Aufenthalt in Jugoslawien aussehen würde, was Fahrkarten und Hotelunterkunft kosteten. Es gab auch weder Bankverbindungen zwischen Deutschland und Jugoslawien noch eine deutsche diplomatische Vertretung in Belgrad, die mir im Notfall aushelfen konnte. Deshalb, so gab Hartmann mir mit auf den Weg, solle ich gleich nach meiner Ankunft feststellen, was die Rückfahrt kosten würde, und das Geld dafür sorgfältig zurücklegen. Das Ganze war ein unberechenbares Unternehmen, aber auch ein verheißungsvolles Abenteuer.