Fünfundvierziger
Journalistische
Anfänge
1945–1949
1945–1949
Einen Tag, nachdem wir die deutsche Grenze
erreicht hatten, marschierten wir weiter, in Kolonnen geordnet,
aber nun gar nicht mehr zackig im Gleichschritt, sondern eher
nachlässig. Ich bekam nicht mehr viel davon mit, denn ich hatte
hohes Fieber und konnte kaum noch laufen. Nach drei Tagen lieferten
mich meine Kameraden schließlich in der Nähe von Husum in ein
Lazarett ein. Die Diagnose: Typhus, gefährlich und ansteckend, also
Quarantäne. Ich lag in einem ganz gewöhnlichen Wehrmachtslazarett,
wo es kaum anders zuging als in einem Kleinstadtkrankenhaus. Kämpfe
hatte es in dieser Gegend nicht gegeben und das Lazarett arbeitete
nun fast unverändert weiter.
In meinem Zimmerchen in der Seuchenabteilung
döste ich mit Fieber vor mich hin. Als es wieder besser ging,
versuchte ich von den Sanitätern und Patienten mehr über die
Außenwelt zu erfahren, aber sie wussten nur wenig zu erzählen oder
hatten das meiste schon verdrängt. Die dreitausend KZ-Häftlinge aus vielen Ländern, die hier
noch einige Monate zuvor täglich durch die Stadt marschieren
mussten, waren für sie schon in der Vergangenheit versunken. Unser
Horizont war auf die nähere Umgebung des Lazaretts beschränkt. Der
Krieg war vorbei und verloren, doch in den ersten Monaten lebten
wir hier, am nördlichsten Zipfel Deutschlands, als hätte sich kaum
etwas geändert. Ohne dass ein Schuss gefallen war, hatten die
Engländer in ihrer Besatzungszone das Kommando übernommen. Die
deutschen Offiziere und Ärzte unterstanden englischen Kommandanten,
aber die sahen sie nur selten, und Anweisungen und Befehle bekamen
sie von ihnen kaum. Die Wehrmachtsstrukturen blieben vorerst
unverändert bestehen. Dieselben Offiziere wie vorher gaben die
Befehle, nur dass sie nun selbst offiziell Kriegsgefangene waren,
die andere Kriegsgefangene befehligten und von Fall zu Fall noch
wegen mangelnden Gehorsams vor ein deutsches Kriegsgericht bringen
konnten. »Die können einen glatt noch erschießen lassen«, sagte
mein Zimmernachbar, ein Unteroffizier. Das Gerücht ging um, dass
wir alle nach England abtransportiert würden, wo wir die nächsten
Jahre in Lagern leben und die zerstörten Städte wiederaufbauen
müssten. Das war keine angenehme Aussicht, aber auch nicht mehr als
eine durch »Latrinenparolen« erzeugte Sorge, mit der man uns
disziplinierte. Für mich war das eine unheimliche, seltsam
erstarrte Welt: Die Machthaber hatten den Krieg verloren, und wir
sollten weiter gehorchen wie bisher. Nur so könne die Ordnung
aufrechterhalten und Schlimmeres vermieden werden, sagten die
Offiziere. Ich hatte mir das Ende von Krieg und Naziherrschaft
anders vorgestellt.
Dann war diese seltsame Gefangenschaft ganz
überraschend für mich vorbei. Nach fast zwei Monaten im Lazarett
kamen zwei Ärzte zu mir und erklärten nach einer kurzen,
oberflächlichen Untersuchung, ich sei einigermaßen gesund,
jedenfalls nicht mehr ansteckend, und würde in den nächsten Tagen
entlassen. Allerdings nicht, wie ich zuerst fürchtete, zu meinem
alten Bataillon, sondern direkt nach Hause. Solange ich noch nicht
siebzehn sei, gelte ich nicht als Kriegsgefangener, hatten die
Ärzte herausgefunden. Also sollte ich machen, dass ich wegkäme.
Zwei Tage später gaben sie mir einen Entlassungsschein. Da hatte
ich noch ungefähr zehn Tage Zeit bis zu meinem siebzehnten
Geburtstag und machte mich auf den Weg ins Unbekannte.
Ich trug meine schäbige Uniform, aber ohne
irgendwelche Abzeichen. Einen Dienstrang hatte ich ja nicht gehabt.
Am Rande von Husum nahm mich ein Pferdewagen mit, der mit
Milchkannen beladen und unterwegs zu einer Molkerei war. Als
Oberschüler oder Soldat wäre ich nicht weitergekommen, aber der
Molkereichef kannte meinen Großvater in Hamburg, und so hatte ich
es leichter, einen Lkw zu finden, der mich nach Süden mitnahm.
Schließlich stand ich zehn Kilometer vor dem Kaiser-Wilhelm-Kanal,
der heute Nord-Ostsee-Kanal heißt und damals die Südgrenze des
großen Kriegsgefangenenbezirks bildete. Ein Geländewagen hielt an,
zwei deutsche Offiziere riefen mich in festem Befehlston zu sich
und fragten, was ich da machte. Ich sei auf dem Weg vom Lazarett
nach Hause, entlassen, weil ich ja noch keine siebzehn Jahre sei.
So etwas hatten die beiden, ein Hauptmann und ein Oberstleutnant,
noch nie gehört, und sie studierten den Entlassungsschein zunächst
misstrauisch. Dann wurde der Ältere plötzlich freundlich und sagte:
»Steig ein, Junge, du kannst ein Stück mitfahren.« Am Übergang über
den Kanal kontrollierte ein Posten die Papiere, die eine englische
Dienststelle für die Fahrt zu Verhandlungen mit britischen
Stabsoffizieren in der Nähe von Hamburg ausgestellt hatte. Man ließ
unseren Wagen passieren. Den Fahrer und mich beachteten sie gar
nicht. Auf der anderen Seite des Kanals war der Krieg für mich nun
wirklich und endgültig zu Ende.
Weiter ging es per Anhalter. Am Abend, kurz vor
der Sperrstunde, stand ich vor dem Haus meiner Großmutter in
Aumühle. Wiedersehensfreude und Tränen bei der Großmutter, und dann
die schlechte Nachricht, dass meine Mutter nach einer Operation
vierzig Kilometer entfernt im Krankenhaus lag. Das Telefon
funktionierte immer noch nicht, und so konnte ich ihr die gute
Nachricht meiner Rückkehr nicht sofort mitteilen. Das Haus meiner
Großmutter war unverändert, überhaupt war im ganzen Ort nichts
zerstört. Aumühle war kampflos besetzt worden, nachdem der
Bürgermeister mit weißer Fahne auf die englischen Truppen
zugegangen war, erzählte mir meine Großmutter. Zum Glück hatten
hier keine fanatischen Werwölfe einen Guerillakrieg entfachen
wollen, wie ihn die HJ-Führer
zuvor mit großen drohenden Worten angekündigt hatten. Es war wenig
los auf den Straßen, kein Verkehr, überall herrschte eine scheinbar
friedliche Stille. Zehn Tage ehe die englischen Soldaten
durchmarschiert waren, hatte meine Großmutter die halbjüdische
Mutter der von mir verehrten Organistin doch noch aufgenommen und
im Taubenstall versteckt. So kurz vor dem Ende schien ihr das
Risiko für unsere Familie nicht mehr so groß, und sie hätte es sich
nicht verziehen, wenn die alte Frau noch in letzter Stunde
verschleppt worden wäre. Die englischen Soldaten sah sie nicht als
Feinde an, aber auch nicht dankbar als Befreier. Ein kleiner Trupp
war mit einem Metallsuchgerät in ihren Garten gekommen, hatte ihr
Tafelsilber gefunden, ausgegraben und mitgenommen – das Beste, was
sie nach den Bombenangriffen und der Zerstörung ihrer Stadtwohnung
noch besessen hatte.
Ich suchte nach meinen Freunden. Wie ich
feststellte, hatten alle die letzten Kriegsmonate überlebt. Die
Nachricht, dass ich zurück sei, gaben sie von Mund zu Mund weiter,
und einige meldeten sich bald bei mir. Der jüdische junge Mann aus
dem Chor, der manchmal bei mir übernachtet hatte, ließ mir einen
Gruß und ein kurzes Gedicht zukommen. »Nun wird sich alles wenden«,
schrieb er. Als wir dann zum ersten Mal wieder zusammensaßen und
mehr sangen als redeten, gab mir auch die Chorleiterin ein kleines
Gedicht. »O Gerd! Entbehrt durchs Schwert im frühen Jahr!
Unterernährt, doch nicht versehrt, am eigenen Herd nun wieder da.
Ob unbelehrt und ganz verkehrt, ob leicht verstört – wer weiß es
ja. Tenorbewährt und geistbeschwert, von uns verehrt, hoch, hoch,
hurra.« Es schien alles wie früher, und doch war alles anders. Wir
wussten nur noch nicht, wie.
In diesen ersten Wochen nach meiner
Rückkehr musste ich einen Weg in das normale, unerwartet
langweilige Alltagsleben finden. In Hamburg meldete ich mich zum
Steineklopfen in den Trümmern. Das war ein Beitrag zum Wiederaufbau
und, so sagte man, die Voraussetzung, um später einmal an der
Universität aufgenommen zu werden. Die war allerdings noch
geschlossen, und niemand wusste, wann und mit welchen Professoren
sie wieder ihre Tore öffnen würde. So hockten ein paar Freunde und
ich täglich in den Trümmern der Hamburger Häuser – ein paar junge
Männer, die nicht in Kriegsgefangenschaft waren, und viele Frauen
jeden Alters, die man zum Trümmerdienst geholt hatte. Wir alle
arbeiteten für unsere Lebensmittelkarten, für die schmalen
Rationen, die uns zugeteilt wurden. Manchmal hungerten wir, konnten
uns aber irgendwie durchschlagen. Auf die großen Schwarzmärkte, die
es in jedem Viertel gab, musste man viel Geld mitbringen, und das
besaß ich nicht oder nur ganz selten, wenn es mir etwa gelungen
war, ein Paar gut erhaltene Schuhe, eine Jacke oder einen Rock aus
den häuslichen Kleiderschränken zu verkaufen – für alte Reichsmark,
die das Ende des Reichs fast wertlos überlebt hatten. Wir hätten
alle gerne mehr zu essen gehabt und etwas Besseres anzuziehen als
die aufgetragenen, von Verwandten geerbten Klamotten, aber dafür
diskutierten und lasen wir, wanderten durch Antiquariate, deren
Bücher für uns zu teuer waren, entdeckten gebrauchte Paperbacks,
die amerikanische Soldaten verkauft hatten, und stießen schließlich
auf eine neue Literatur, deren Bücher wegen der Papierknappheit wie
Zeitungen gedruckt wurden – in Hamburg von Ernst Rowohlt erfunden
und verlegt. Da hätte ich auch gerne Verleger werden wollen.
Als die ersten Verwaltungsstellen der
Universität wieder zu arbeiten anfingen, stellte ich fest, dass
mein Notabitur nicht anerkannt wurde. Ich hatte das
Abschlusszeugnis bekommen, als ich zur Wehrmacht eingezogen wurde,
aber nun lachten die Schulbeamten nur darüber, weil ich junger
Spund mir einbildete, damit gleich studieren zu können. Es werde
sowieso viel zu viele Studienbewerber mit gültigem Abiturzeugnis
geben, wenn die ehemaligen Soldaten zurückkehrten. Die seien ein
paar Jahre älter als ich und hätten noch lange Vorrang. Also zurück
in die Obersekunda. Das Wilhelm-Gymnasium gehörte zu den ersten
Oberschulen in Hamburg, die wieder den Betrieb aufnahmen. Die
Lehrer waren jedoch alle sehr alt und viele von ihnen eigentlich
schon pensioniert. Man hatte die Schulbücher »gesäubert« und alles,
was mit Politik zu tun hatte, entfernt. Die deutsche Geschichte
hörte im Mittelalter auf. Überlebt hatten eigentlich nur Mathematik
sowie Naturwissenschaften und im Deutschunterricht mehr Grammatik
als Literatur.
Ich fand diesen Unterricht unerträglich. Die
Jungen in meiner Klasse waren ebenso alt wie ich, aber sie hatten
nur das normale Schul- und HJ-Leben hinter sich und wussten mit mir so
wenig anzufangen wie ich mit ihnen. Ein erstes wiedereröffnetes
Tutorium, ein privater Weg zum Externen-Abitur, schien da schon
vielversprechender. Hier kamen ältere Schüler und Schülerinnen
zusammen, die bereits Erfahrung im Leben hatten, und unterrichtet
wurden wir von jüngeren Lehrern, die gern mit uns diskutierten.
Aber dann teilte die Hamburger Schulbehörde mit, dass eine
Abiturprüfung für Externe noch für längere Zeit nicht möglich sei.
Wieder musste ich einen Umweg suchen und fand ihn diesmal in einer
Dolmetscherschule, wo ich Englisch und Russisch belegte. Englisch
fand ich sowieso notwendig. Russisch reizte mich, weil es die
Sprache der Sowjetunion war, dem Siegerland, das die Heimat einer
neuen Gesellschaftsform mit eigenem Lebensgefühl sein sollte – dem
Sozialismus. Ich hatte gerade begonnen, mich einzulesen: Ein neues
Antiquariat in der Innenstadt, das sich auf Bücher der zwanziger
Jahre spezialisierte, zog mich an. Da gab es in den Regalen Mann,
Brecht und Toller, Gedichte des deutschen Expressionismus und eben
auch Marx, Trotzki und Lenin. Ich hockte mich da in eine Ecke und
blätterte durch die Bücher, manchmal eine oder zwei Stunden lang.
Die beiden Antiquare fanden mich offenkundig nett und ließen mich
in Ruhe schmökern, weil sie sahen, dass ich mich für Bücher
interessierte, die zum Teil vorher verboten gewesen waren. Kaufen
konnte ich sie nicht, aber Geld spielte ja ohnehin noch keine große
Rolle. Unter meinen Bekannten hatte keiner welches.
Auf der Suche nach neuen politischen
Erkenntnissen war ich bei Kommunismus und Sozialismus
hängengeblieben. Hier kündigte sich eine radikale und in meinen
Augen notwendige Systemänderung an. Auch wenn die Hitlerpartei
verboten und diskreditiert war, schien mir eine Rückkehr in die
politische Welt der zwanziger Jahre, in die gescheiterte
bürgerliche Demokratie, nicht möglich. Die Wiedergründung der alten
Parteien durch Sozialdemokraten und Liberale war aus meiner Sicht
eine Wiederauflage der Parteien von vor 1933, die damals versagt hatten. Die
CDU war mir als eine
»kapitalistische« Partei ganz verdächtig. Wo gab es die Sicherheit,
dass die Großindustriellen, die Nationalisten und Militaristen, die
Hitler unterstützt hatten, nicht wieder den Kurs bestimmten? Für
einen wirklichen Neuanfang schienen daher nur die Kommunisten in
Frage zu kommen. Da ging es mir wie manchen gleichaltrigen
Freunden. Mit einem von ihnen saß ich besonders oft zusammen, wir
rollten aus Tabakresten unsere Zigaretten und suchten die Wahrheit.
Ralf Dahrendorf stammte aus einer sozialdemokratischen Familie,
hegte nun aber Vorbehalte gegen die Partei seines Vaters und seines
Onkels und war ebenfalls auf der Suche. Manchmal stritten wir uns
und lagen im Denken quer zueinander, wenn der eine die
marxistisch-sozialistischen Lösungen für zuverlässig hielt, während
der andere die mangelnde Meinungs- und Diskussionsfreiheit und die
versteinerte Theoriedebatte bei den Kommunisten kritisierte.
Ralf Dahrendorf, der später ein international
bekannter Sozialwissenschaftler war und als Rektor der London
School of Economics von der englischen Königin geadelt wurde,
reiste für einige Wochen nach Berlin und kam mit großen Vorbehalten
gegen die neugegründete SED
zurück. Ich war noch in dem Versuch gefangen, die ersten Gruppen
der FDJ, der Freien Deutschen
Jugend, in Schleswig-Holstein zu gründen. Ganz wohl war dabei aber
auch mir nicht mehr: Die Mischung von Ideen der vornazistischen
Jugendbewegung mit einer bürokratisch gefärbten
Klassenkampfideologie, wie wir das damals ausdrückten, löste bald
Misstrauen und Kritik bei Ralf und mir aus. Daraufhin erschien ein
Hamburger KP-Funktionär, sicher
doppelt so alt wie wir, um uns mit fertigem Propagandamaterial und
einem starren ideologischen Korsett zu versorgen. Das aber war
endgültig nichts mehr für uns.
Wir suchten weiter nach politischen Antworten.
Es gab nichts Linkes, das wir ausschlossen. Einmal landete ich auf
meiner Suche in einer Kellerwohnung nahe dem Bahnhof. Hier, so
hatte ich gehört, befände sich das Hauptquartier der
Anarchosyndikalisten, einer Gruppe, die für
Arbeiterselbstverwaltung und für direkte Demokratie bis hinauf in
die höchste Staatsführung eintrat und im Spanischen Bürgerkrieg
unabhängig von den Kommunisten gegen Franco gekämpft hatte. Da traf
ich allerdings nur drei ältere Männer an, die einzigen
organisierten Anarchisten von Hamburg – wiederum eine Enttäuschung.
Mit den Trotzkisten erging es uns ähnlich, obwohl sie die besseren
Diskussionspartner waren und viel Kluges über Stalins Diktatur und
die Fehlentwicklung des Marxismus zu sagen wussten. Etwas später,
Anfang 1947, entdeckten wir das
Buch Jenseits des Kapitalismus, unter
Pseudonym von Richard Löwenthal geschrieben, einem der
gescheitesten Emigranten, der inzwischen aus England zurückgekehrt
war. Was er an Überlegungen vortrug, wurde für uns und für viele
jüngere Leute zum Handbuch einer demokratisch-sozialistischen
Politik. Die Analyse der Vergangenheit und die Hoffnung auf
politische Chancen der Zukunft faszinierten mich.
Ich wollte nach wie vor unbedingt auf
die Universität, aber was ich studieren wollte, wusste ich nicht
genau. Eine Mischung aus Volkswirtschaft, Geschichte und
Kunstgeschichte hätte mir gefallen, und unerwartet schien sich auch
ein Zugang zum Studium zu eröffnen, ein Vorkurs für ehemalige
Soldaten, die ohne gültiges Abiturzeugnis vor ihrem Studium
eingezogen worden waren. Plötzlich schien auch mein Notabitur
wieder etwas wert. Ich durfte mich zwischen die ehemaligen Landser
und künftigen Akademiker setzen. Sie waren im Schnitt fünf Jahre
älter als ich und hatten es schwer, wieder an einen Studienplan
anzuknüpfen, der bei ihnen lange zurücklag. Mir machte es weniger
Schwierigkeiten und viel Spaß. Meine Abschlussarbeit akzeptierten
die Lehrer allerdings nur widerwillig. Der Inhalt war schwer zu
bewerten, der Titel suspekt: »Die Malerei des deutschen
Expressionismus«. Mein Wissen darüber hatte ich von den zwei
Malerinnen im Landschulheim erworben und aus älteren Büchern
zusammengelesen. Was ich schrieb, war vielleicht nicht so klug, wie
ich dachte. Dem Lehrerkollegium aber waren Namen wie Nolde und
Barlach, Kirchner und Marc völlig fremd. Sie ließen mich trotzdem
die Prüfung bestehen, und ich erfuhr, dass ich nun damit rechnen
könne, in zwei bis drei Jahren zum Studium zugelassen zu werden.
Erst hätten Ältere den Vorrang. Das war erneut eine Enttäuschung,
aber ganz so schrecklich war es auch wieder nicht, denn zwei Jahre
nach dem Ende des Dritten Reichs wussten ich und fast alle meiner
Altersgenossen sowieso noch nicht, wie unsere Zukunft aussehen
könnte.
Und dann hatte ich Glück: Durch einen
Zufall kam ich in Kontakt mit Axel Eggebrecht, einem Rundfunkmann
der ersten Stunde, der für den Nordwestdeutschen Rundfunk
(NWDR), die Rundfunkanstalt in
der britischen Besatzungszone, arbeitete. Ich hatte in einem
evangelischen Jugendzentrum an einem Gespräch über »Religion heute«
teilgenommen und mit meinen Äußerungen über die Rolle der Kirchen
im Nazireich Ärgernis erregt. Besonders mutig und bibeltreu hätten
die Kirchen sich ja nicht gezeigt, hatte ich gesagt. Danach lud
mich Axel Eggebrecht erneut zu einer Diskussion ein, und die
Jugendredaktion schickte mich manchmal zu kleinen Reportagen aus.
Ein weiterer Vorteil war, dass ich ab und zu in die Kantine des
NWDR gehen durfte. Da gab es –
ohne Lebensmittelmarken – Grießpudding mit einer Soße aus Süßstoff
und künstlichem Orangeat oder ähnliche Magenfüller.
Schließlich wollte ich auch einmal eine Glosse
für die tägliche Sendung Echo des Tages
schreiben. Das wäre Anfang 1947 beinahe meine letzte Arbeit für den
Rundfunk geworden. Ein älterer Kollege hatte mir vorgeschlagen –
vielleicht um mich hereinzulegen –, ein kleines Stück über
»Demontagen und Reparationen im Alten Testament« zu machen, also
darüber, wie man schon in biblischer Zeit mit besiegten Gegnern
umging. Das Thema war hochaktuell und gefährlich aufgeladen, weil
in diesen Wochen Hamburger Hafenanlagen und Werften demontiert und
in die Sowjetunion transportiert werden sollten. Die Hamburger
fürchteten um die Zukunft der Stadt, die Arbeiter und die
Gewerkschaften hatten Angst um Arbeitsplätze und Lohn. Die
öffentliche Erregung war groß, die Proteste gegen die Siegermächte
drohten zu eskalieren; bei der kommunistischen Partei in Hamburg
war die Empörung allerdings gebremst durch die Tatsache, dass die
Werften in die Sowjetunion verlegt werden sollten. Jung und naiv
war ich in ein Wespennest gestiegen. Einer der britischen
Kontrolloffiziere vermutete hinter meinem Beitrag neonazistische
oder nationalistische Propaganda. Er überwachte unsere Sendungen
gewöhnlich mit viel Sinn für Diskussionen und Meinungsfreiheit,
aber nun beschloss er einzugreifen und ein Exempel zu statuieren.
Ab sofort, so teilte er mit, sei ich als Rundfunkautor gesperrt.
Bei aller Liebe zur Pressefreiheit, aber das, was ich da geliefert
hätte, gehe einfach zu weit. Ich schien mal wieder am Ende, als ich
unerwartet aufgefordert wurde, mich beim obersten Chef des
Funkhauses zu melden.
Der Mann, der mich in seinem Büro erwartete,
hatte die Beine auf den Schreibtisch gelegt. Böse und hart sah er
nicht aus, und eine vorwurfsvolle Miene machte er auch nicht. Hugh
Carleton Greene war vor dem Krieg ein englischer
Auslandskorrespondent mit Erfahrungen in Deutschland und anderen
Ländern Mitteleuropas gewesen und hatte dann beim deutschsprachigen
Dienst der BBC gearbeitet, ehe
er nach Kriegsende eingesetzt wurde, ein neugegründetes
Sendersystem in der britischen Besatzungszone zu leiten. Viele
Jahre später wurde er der erfolgreiche und bewunderte
Generaldirektor der BBC. Greene
kam gleich zur Sache. Was ich da geschrieben hätte, egal, ob
richtig oder falsch, wolle er nicht senden. Ich solle es noch mal
lesen, dann würde ich das selbst einsehen. Er blätterte dabei in
Texten, die ich für NWDR-Redaktionen, meistens den Jugendfunk,
verfasst hatte, und sagte dann, das sei gar nicht schlecht, aber
ich müsse nun mal nicht nur schreiben, sondern auch denken lernen,
und dazu könne ich auf die Rundfunkschule gehen. Ich wollte ihn
aufklären: Ich sei zu jung für die Rundfunkschule – gerade erst
achtzehn, für die Aufnahme sei aber zweiundzwanzig das
Mindestalter. Außerdem seien für den ersten Kurs, der gerade im
Januar 1947 begonnen habe, unter vierhundert Bewerbern nur zwanzig
ausgewählt worden. Da hätte ich also keine Chance. Greene kehrte
daraufhin den Chef hervor, der meine Aufnahme in die Rundfunkschule
durchsetzen konnte. Tatsächlich hatte er bei den beiden Leitern des
Kurses schon vorgefühlt. Sein Angebot musste ich einfach annehmen,
zumal ich ahnte, dass hier Weichen für meine Zukunft gestellt
wurden. Nach der Rundfunkschule würde ich weitersehen, erst mal in
eine Rundfunkredaktion, zum Studium bliebe später noch Zeit genug.
Ein Glücksfall.
Eine richtige Schule war diese Rundfunkschule
eigentlich nicht, eher ein Experimentierfeld. Neben Vorträgen und
Diskussionen wurden verschiedene Formen von Sendungen ausprobiert.
Viel praktische Erfahrung damit hatte keiner von den etwa
fünfundzwanzig jungen Kursteilnehmern, aber dafür zeichnete die
meisten eine bemerkenswerte Neugier aus. Für viele war es die erste
Begegnung mit einer Form von intellektueller und politischer
Auseinandersetzung, deren Wurzeln direkt auf die Zeit vor 1933
zurückgingen. Die »Lehrer« waren in ihrer Mehrheit deutsche
Emigranten. Einige hatten die Nazijahre in England verbracht und
den Stil der BBC übernommen,
der sich in seiner Gelassenheit völlig von der fanatischen Erregung
und dem Propagandadonner des NS-Reichsrundfunks unterschied. Zwei andere
waren als Kommunisten in die Sowjetunion geflohen, hatten dort den
Deutschen Dienst von Radio Moskau aufgebaut und sich schließlich
der Stalin-Diktatur entzogen, indem sie als Freiwillige in den
Spanischen Bürgerkrieg gezogen waren und sich dann nach Francos
Sieg zur BBC nach London
gerettet hatten. Außerdem gab es Dozenten, die in Deutschland in
einer Art intellektueller innerer Emigration geblieben waren – Axel
Eggebrecht zum Beispiel, unabhängig, scharfsinnig und witzig
formulierend, war ein Star der wieder entstehenden linksliberalen
Szene. Hanns Hartmann, Leiter der Kurse an der Rundfunkschule, war
1933 der jüngste deutsche Theaterintendant gewesen und hatte sich
dann wegen seiner jüdischen Frau in unauffällige Büroarbeit
zurückgezogen. Nach 1945 hatte ihn die sowjetische
Militärverwaltung in Ost-Berlin zum Leiter des Metropoltheaters
gemacht. Hartmann hatte sich dem Druck der kommunistischen Zensur
jedoch entzogen, woraufhin englische Rundfunkoffiziere auf ihn
aufmerksam wurden und ihn nach Hamburg herausschmuggelten. In den
erwähnten Diskussionen und Vorträgen wurden die Probleme der
nationalsozialistischen Zeit und der Gegenwart in großer Offenheit
zur Diskussion gestellt – das ging so weit, dass sogar einige
führende Beamte aus dem ehemaligen Goebbels’schen
Reichspropagandaministerium eingeladen wurden, damit sie über ihre
Arbeit im Dritten Reich berichteten. Etwas Vergleichbares wäre zu
dieser Zeit anderswo undenkbar gewesen.
Der Nordwestdeutsche Rundfunk war in Hamburg
ansässig, mit zwei oder drei Nebenstellen in anderen Orten der
britischen Besatzungszone. Am Ende der Kurse sollten die jungen
Teilnehmer eine gute Chance auf einen Job in den
Rundfunkredaktionen haben. Ob es für mich, so jung, wie ich war,
eine Redakteursstelle geben würde, war einigermaßen fraglich. Nach
zähen Kämpfen zwischen Politikern, Landesregierungen und Verbänden
fiel die Entscheidung, Rundfunk nicht nur von Hamburg aus zu
machen, sondern auch in Nordrhein-Westfalen einen Sender
aufzubauen. Das war meine Chance. Als ersten Intendanten für den
neuen Sender in Köln hatte die englische Rundfunkverwaltung Hanns
Hartmann ausgewählt und mit großer Entschlossenheit gegen alle
parteipolitisch gefärbten Vorschläge durchgesetzt. Hartmann
wiederum rief mich in sein Büro und schlug mir vor, meine Lehrzeit
in Köln zu machen.
Das war Ende 1947 ein verlockendes Angebot,
aber keine leichte Entscheidung. Zu Hause hatte ich bei meiner
Mutter und meinen Großeltern eine Unterkunft und etwas zu essen,
wenngleich das, was es auf Lebensmittelmarken gab, knapp war und
ohne Hilfe der Familie kaum ausgereicht hätte. Überhaupt wusste ich
nicht, wie das Leben in Köln sein würde. Ich war zuvor noch nie im
Rheinland gewesen, und meine Hamburger Großeltern erinnerten sich
auch nur an Karneval, Leichtlebigkeit und Katholizismus. Von Köln
wusste ich bloß, dass es eine von Bombenangriffen schwer zerstörte
Stadt war. Aber das galt für Hamburg schließlich auch. Beim
NWDR in Hamburg gab es bereits
ungefähr achthundert Mitarbeiter und für einen Neunzehnjährigen
daher kaum Bedarf. Im Kölner »Funkhaus«, angesiedelt auf zwei
Etagen der ehemaligen Musikhochschule, arbeiteten dagegen zu diesem
Zeitpunkt nur dreiunddreißig feste Mitarbeiter. Dass Hanns Hartmann
diesen Kleinstsender, den Rest des ehemaligen Reichssenders Köln,
in größerem Umfang ausbauen würde, schien mir sicher. Aus der
Rundfunkschule wusste ich, dass er ein enormes
Durchsetzungsvermögen hatte – also nahm ich sein Angebot an.
Anfang Januar 1948 kam ich also eines
Morgens auf dem Kölner Hauptbahnhof an. Die meiste Zeit während der
Fahrt hatte ich stehen müssen, alle Züge waren damals überfüllt.
Zerstörte Straßen und Bombenkrater kannte ich schon aus Hamburg,
aber nun wanderte ich allein und fremd im Zentrum von Köln durch
eine Trümmerwüste. Auf kleinen Trampelpfaden musste ich meinen Weg
zu der ehemaligen Musikhochschule finden.
Der Pförtner schickte mich zum Büro des
britischen Kontrolloffiziers, Edward Rothe. Er war von Hause aus
weder Offizier noch Engländer, sondern ein intellektueller
Theatermann, der in Österreich Regieassistent von Max Reinhardt
gewesen war, ehe ihn die Machtausdehnung des Dritten Reichs als
Juden zur Flucht nach England gezwungen hatte. Er zeigte sich
einigermaßen misstrauisch gegenüber einem sehr jungen Deutschen,
der ja immerhin durch seine Jugend im Nazireich geprägt sein
musste. Andererseits machte ihn gerade das auch neugierig. Ähnlich
wie Hanns Hartmann, der kurz zuvor sein Intendantenbüro im ersten
Stock bezogen hatte, konnte Rothe »Nazis riechen«. Beide verließen
sich mehr auf Menschenkenntnis, Instinkt und Erfahrung als auf die
bürokratischen Methoden der Entnazifizierungsprozesse – was später
zu harten Auseinandersetzungen darüber führte, welche Nähe zu den
Zeitungsredaktionen und Propagandabehörden der Nazizeit als
Belastung noch erträglich sei. Das betraf nicht zuletzt meinen
neuen Chef, Werner Höfer, den Hartmann trotz solcher Bedenken eine
Woche zuvor angestellt hatte. Höfer sollte ein regionales
Hörfunkmagazin für Nordrhein-Westfalen entwickeln, und ich sollte
als Assistent praktische Erfahrungen sammeln. Bei diesen drei
Männern, so unterschiedlich sie waren, fühlte ich mich in der
fremden Stadt gut aufgehoben.
Einfach war das Leben dennoch nicht. Der
Intendant bewohnte ein Zimmer mit fließend kaltem Wasser in einem
christlichen Hospiz gegenüber dem legendären Gefängnis Klingelpütz.
Werner Höfer, der spätere Erfinder und Moderator des Internationalen Frühschoppen, wohnte mit seiner Frau
und zwei kleinen Töchtern in einer Garage. Ich bekam ein
Monatsgehalt von 300 Reichsmark. 75 Mark gingen für das möblierte
Zimmer am Stadtrand ab. Der Rest langte gerade für die Straßenbahn
und fürs Essen, das in der kleinen Funkhaus-Kantine billig, aber
nicht reichlich war. Einige der Kölner Kollegen waren hilfsbereit,
wenn es darum ging, in den kleinen Lebensmittelgeschäften etwas
»unter der Theke zu organisieren«. Gegenüber vom Funkhaus befand
sich eine Bäckerei, die ohne allzu große Heimlichtuerei
selbstgebrannten Schnaps im Angebot hatte. Aber als junger Fremder
aus Norddeutschland hatte ich es doch schwer, wie die echten Kölner
vom »Maggeln«, von Beziehungen, zu leben.
Geld spielte also keine große Rolle, weder beim
Essen noch bei der Kleidung. Alles, was es nicht auf
Lebensmittelmarken gab, war für uns zu teuer, und neue Anzüge erst
recht. Solange ich zur Schule gegangen war, bis zur Einberufung in
die Wehrmacht, hatte ich überhaupt nie lange Hosen getragen. Das
galt unter meinen Freunden als bürgerlich und spießig. Danach hatte
ich zwei Anzüge von meinem Großvater geerbt, nicht gerade schick,
aber durch Änderungen angepasst, dazu zwei Paar Schnürstiefel und
für ganz schlechtes Wetter alte Reitstiefel, die der Großvater
schon als Kavallerist im Ersten Weltkrieg getragen und weiter
liebevoll gepflegt hatte. Natürlich sah ich, dass es manchen Leuten
viel besser ging, aber das schien mir eher eine Nebensache, während
Diskutieren, Lesen und das Schreiben meiner Berichte das wirkliche
Leben bedeuteten.
All das sollte sich aber bald ändern, und zwar
buchstäblich über Nacht: Mit einem Mal war das Geld wieder etwas
wert. Am 20. Juni 1948 hatte noch die alte Reichsmark gegolten, am
nächsten Tag bereits konnten ihre wertlos gewordenen Scheine in die
neuen D-Mark-Noten umgetauscht werden – allerdings limitiert: Nur
ganze vierzig Reichsmark durfte ein Bürger in die neue
D-Mark-Währung umtauschen. Wer indes vorher Wertsachen versteckt
hatte, konnte sie jetzt in Geld verwandeln, mit dem man wieder
etwas kaufen konnte. Schlagartig begannen die Unterschiede zwischen
Arm und Reich von neuem das Leben zu bestimmen.
Es kehrte eine gewisse Normalität ein, ohne
dass mir dieser Wandel gefallen hätte. Das galt auch für manche
Veränderungen in der politischen Landschaft. Hugh Carlton Greene
und die englischen Kontrolloffiziere traten im Herbst 1948 ab. Ihre
Zeit war vorüber, die neu entstehenden politischen Parteien und
Organisationen mussten eigene Führungsstrukturen erfinden und sich
ihren Einfluss auf die öffentliche Meinung sichern. Mich
erschreckte, mit welcher Härte auch in Presse und Rundfunk um
strukturelle Veränderungen gestritten wurde und wie viel Bedeutung
die Parteizugehörigkeit plötzlich bekam.
Im Nordwestdeutschen Rundfunk ging es zunächst
darum, aus der einheitlichen Sendeanstalt, die die Briten von
Hamburg aus gesteuert hatten, eine Konstruktion zu schaffen, in der
das neu entstandene Land Nordrhein-Westfalen sein eigenes
Sendegebiet möglichst weitgehend kontrollieren konnte. Das
Hamburger Mutterhaus, das bis dahin über Form und Inhalt des
Gesamtprogramms entschieden hatte, musste seine Vorherrschaft
einschränken lassen, während der Intendant Hartmann mehr Sendezeit
für Köln erkämpfte. Für mich war das ein großer Vorteil, denn so
konnte auch ich mehr Sendungen machen, und zwar über sehr
verschiedene Themen, an die ich unter all den Profis in Hamburg
selten herangekommen wäre. Das änderte aber nichts daran, dass die
Auseinandersetzungen in Hamburg mir eindeutig missfielen. Die
Vereinnahmung durch die Parteien erschwerte die Arbeit gerade jener
Rundfunkjournalisten, die ich am meisten bewunderte. Axel
Eggebrecht, Ernst Schnabel und Peter von Zahn verloren an Einfluss
und Entscheidungsfreiheit. Karl Eduard von Schnitzler, vom Sohn
eines Kölner Bankhauses zum kommunistischen Leitartikler
konvertiert, bekam keine Kommentartermine mehr und setzte sich zum
Rundfunk in der sowjetischen Besatzungszone ab.
Mehr noch verärgerte und beunruhigte mich das
Vorgehen gegen einen Kollegen von der Rundfunkschule, den ich als
nachdenklich und ehrlich kennengelernt hatte, der aber nun als
bekennendes Mitglied der KPD
entlassen wurde. Ich versuchte, bei den englischen
Kontrolloffizieren eine Revision der Entscheidung zu erreichen, und
wandte mich auch an einige deutsche Vorgesetzte, besonders an Axel
Eggebrecht, dem ich einen mehrseitigen Brief schickte. »Die
Entlassung scheint mir sehr problematisch, die außergewöhnliche
Lage mag jedoch außergewöhnliche Entscheidungen fordern«, schrieb
ich. »Im Fall von G.S. scheint
mir eine solche Maßnahme jedoch nicht angebracht zu sein. Ich
lernte ihn auf der Rundfunkschule kennen und mochte seine sachliche
Art zu diskutieren von Anfang an gerne. Er stand dabei in der
ersten Zeit durchaus auf dem Standpunkt des dialektischen
Materialismus und bekannte sich offen zu den Zielen der
KP … Bei Gesprächen über
Marxismus und Kommunismus fiel mir auf, wie sachlich er reagierte
und wie aufgeschlossen er Argumenten gegenüber war. Ich nehme an,
daß er schon vorher Zweifel an der Doktrin der KP gehabt hat, jedenfalls konnte ich
bemerken, daß er in keiner Weise fanatisch oder dogmatisch am
Kommunismus hing.« Ich weiß bis heute nicht, ob zu diesem Zeitpunkt
schon eine endgültige Entscheidung gefallen war, tatsächlich aber
musste der Kollege die Rundfunkschule verlassen – immerhin ohne
dass er öffentlich als KP-Mann
verurteilt wurde. Er fand schließlich eine Position in einem
DGB-nahen soziologischen
Forschungsinstitut, ehe er nach England übersiedelte. Ich war
enttäuscht und fürchtete, dies könne der Anfang einer verschärften
politischen Säuberung sein.
Im Nordwestdeutschen Rundfunk hatte Ende 1948
ein neuer Generaldirektor die Leitung übernommen. Adolf Grimme war
ein angesehener sozialdemokratischer Kulturpolitiker aus der
Weimarer Republik, stand aber trotz allem guten Willen der
veränderten Rundfunklandschaft und ihren Journalisten fremd
gegenüber. Das Rundfunkgerät müsse werden, was einst die
Petroleumlampe gewesen sei, der Mittelpunkt der häuslichen Familie,
hatte Grimme verkündet. Einer der leitenden Redakteure hatte diesen
Spruch aufgenommen und ergänzt: »Die Lampe blakt – ausputzen,
ausputzen!« Grimme machte ihn bald zum Intendanten des NWDR-Hamburg. Herbert Blank war ein
interessanter Einzelgänger, ein ziemlich kleiner, kahlköpfiger
Mann, der nur keuchend sprach, weil seine Stimmbänder bei einem
Gasangriff im Ersten Weltkrieg beschädigt worden waren. Seine
Geschichte war höchst ungewöhnlich. In den zwanziger Jahren war er
in der NSDAP ein verehrter Mann
gewesen, der Essays und Bücher über Treue und Ehre verfasst hatte.
Dann, um 1930, schrieb er ein
Buch mit dem Titel Hitler – Wilhelm
III.,
das auf bitter-satirische Weise Hitlers politisches Denken
auseinandernahm und karikierte. Nach Hitlers Machtübernahme saß
Blank bis zum Ende des Kriegs im KZ, in einer Art Ehrenhaft, aber doch als
Häftling. Danach hatten seine Veröffentlichungen zum Thema »Direkte
Demokratie statt Parteienherrschaft« harte Diskussionen ausgelöst.
Seine Gegner sahen in Blank eine Art diktatorischen
Linksfaschisten. Dass ihn Grimme, der gestandene Sozialdemokrat,
als Intendanten im Funkhaus Hamburg einsetzen wollte, verblüffte
uns alle. Der hoffte jedoch, in diesem ihm fremden Haufen von
Intellektuellen und Journalisten jemanden zu finden, der klare
Entscheidungsprozesse durchzusetzen vermochte – und er hatte
scheinbar den richtigen Mann gefunden: Auf einen Schlag entließ
Blank 51 leitende Mitarbeiter der Redaktionen und Verwaltung mit
der knappen Begründung »grundsätzlicher Reorganisationsmaßnahmen« –
darunter fast alle Kollegen, die ich besonders schätzte. Dass er
mit Genehmigung des neuen, demokratischen Generaldirektors zu einem
solchen Kahlschlag fähig war, ließ mich dann endgültig zweifeln, ob
die neue Machtverteilung auf die Parteien eine bessere Lösung war
als die sogenannte englische Militärdiktatur.
Ich war dankbar, dass ich nicht in Hamburg,
sondern in der Kölner Redaktion saß, wo Intendant Hartmann die
Unabhängigkeit der Rundfunkarbeit hoch einschätzte und sich
zugleich auf die Machtspiele der Parteien und Aufsichtsgremien
verstand – jedenfalls einige Jahre lang, bis ihn die Politiker
abschossen und in Pension schickten. Bis dahin allerdings blieb ihm
ausreichend Zeit, um den WDR zu
einem starken und selbständigen Sender auszubauen. In Hamburg
folgte auf die große Entlassungswelle glücklicherweise doch der
Wiederaufbau der Redaktionen und schließlich auch die Rückkehr
einiger der besten und interessantesten Rundfunkjournalisten, deren
Rauswurf rückgängig gemacht worden war. Von nun an gab es freilich
regelmäßig Attacken aus dem Bundeskanzleramt und Kritik an allen,
die Adenauers Einfluss auf den Rundfunk zu begrenzen versuchten.
Immerhin aber saß jetzt in der Presse wie im Rundfunk eine neue
Generation von Journalisten an den Redaktionstischen und in den
Chefsesseln, von denen viele zwischen 1925 und 1929 geboren waren.
Diese »Fünfundvierziger«, die nach dem Zusammenbruch des
NS-Staats und seiner Ideologie
eine neue Welt zu entdecken und aufzubauen begannen, konnten in den
folgenden Jahren einen unabhängigen journalistischen Stil
entwickeln, wie es ihn vorher in Deutschland nicht gegeben hatte.
Sie verteidigten die Grundzüge von unabhängiger Recherche und
Kritik gegen einen allzu staatsnahen Journalismus, der sich im
Laufe des nächsten Jahrzehnts bei einigen Verlagsgruppen und
Rundfunkgremien zwischen Hamburg und München wieder durchsetzen
sollte – ganz im Sinne des Bundeskanzlers Konrad Adenauer.
Ich war einer der jüngsten unter den
Neulingen des Nachkriegsjournalismus. Ein Aufstieg in der
Hierarchie kam aufgrund meines Alters erst einmal nicht in Frage,
außerdem hatte ich wenig Lust auf Schreibtischarbeit. Ich wollte
mir viel lieber anschauen und davon berichten, wie es im Rest der
Welt aussah. Eigentlich hatte kaum einer von den Kollegen wirkliche
Erfahrungen damit, wie es außerhalb von Deutschland zuging. Im
Ausland war diese Generation nur in Uniform gewesen, schwer
belastet mit den Vorurteilen der deutschen Kriegspropaganda, meist
hochmütig auf die besetzten Länder, ihre Kultur und Lebensweise
herabblickend. Nun war ich schlichtweg neugierig und wollte selbst
erfahren, wie man in anderen Gesellschaften lebte, im Westen wie im
Osten. Das freilich war zu dieser Zeit fast unmöglich. Es gab keine
deutschen Pässe. Wir bekamen keine Visa und keinerlei Devisen, mit
denen wir reisen konnten. Auch ich hatte bis dahin Ausländer
praktisch nur in Uniform gesehen. So war es für mich der größte
Glücksfall, dass mir die abziehenden englischen Kontrolloffiziere
eine Einladung nach London hinterließen: zum Deutschen Dienst der
BBC, dessen Kommentatoren ich
ein paar Jahre vorher noch heimlich und nur ganz leise zugehört
hatte und die ich immer noch bewunderte.
In London war man neugierig auf einen jungen
Deutschen von knapp einundzwanzig Jahren. So lief ich im Sommer
1949 mit weit aufgerissenen Augen durch London und verwirrte die
ernsthaften englischen Kollegen mehr als einmal durch die Leute,
die ich kennenlernte: einen jungen englischen Kommunisten, einen
älteren Guru der Gewaltlosigkeit und des Anarchosyndikalismus,
einen brillanten Schriftsteller, Cyril Connolly, den ich in der
Redaktion seiner hochintellektuellen Zeitschrift Horizon besuchte. Aber natürlich ging ich – mit dem
bisschen Geld, das ich hatte – auch mal im Künstlerviertel Soho in
eine Bar oder in der City of Westminster in einen Ballroom, ein
großes, schickes Tanzlokal voll von jungen Menschen. Eines Abends
tanzte ich dort mit einer netten jungen Amerikanerin, die sich mit
einer Gruppe von Freunden amüsierte. Ich verstand mich gut mit
ihnen, wir trafen uns noch einmal in einem anderen Ballroom, und
dann lud sie mich zu einer Party nach Hause ein.
Ihr Zuhause entpuppte sich zu meiner
Überraschung als die amerikanische Botschaft. Und sie war die
Tochter des Botschafters. Ich war ziemlich beeindruckt und ein
bisschen eingeschüchtert von den anderen Gästen, aber die zogen
mich in ihre Gespräche hinein, neugierig darauf, sich zum ersten
Mal mit einem jungen Deutschen zu unterhalten. Einer verwickelte
mich in eine lange Diskussion über die politische Situation in
Deutschland, besonders über die Entwicklung in der sowjetischen
Besatzungszone und über die deutschen Kommunisten. Unsere
Gastgeberin war mit uns ein wenig unzufrieden, weil wir nur in der
Ecke saßen und redeten, statt zu tanzen. Der junge englische
Oxford-Dozent stellte immer neue Fragen, und ich erzählte über
meine Erfahrungen mit den Leuten von der KPD, die ich während der Zeit, als ich die
FDJ in Schleswig-Holstein zu
gründen versuchte, in ihrer Rigidität und Sturheit kennengelernt
hatte. Er wiederum erzählte mir von den Veränderungen in
Jugoslawien, wo Tito regierte und mit Stalin und dem
Sowjetkommunismus gebrochen hatte. Ich müsse mal nach Jugoslawien
reisen, um mit eigenen Augen zu sehen, was für Veränderungen Tito
dort durchsetze. Das aber erschien mir ziemlich naiv, denn es gab
ja für Deutsche keine Reisepässe, wie es auch eigentlich keine
deutsche Staatsangehörigkeit gab, sondern bloß die Zugehörigkeit zu
einer der Besatzungszonen. Dass ich unter diesen Umständen eine
Reisemöglichkeit nach Jugoslawien bekommen könnte, schien
ausgeschlossen. Also trank ich noch einen irischen Whiskey, den ich
gerade als schick entdeckt hatte, und kehrte endlich aufs
Tanzparkett zurück.
Ungefähr zwei Monate später, als ich
wieder in Köln im Büro saß, erhielt ich völlig unerwartet einen
Telefonanruf. Es meldete sich die jugoslawische Militärmission, die
ihren Sitz in Düsseldorf hatte und die Verbindung zwischen der
jugoslawischen Armee und den westlichen Besatzungsbehörden
darstellte – ein Überbleibsel der militärischen Partnerschaft aus
Kriegszeiten. Ich hatte nicht gewusst, dass es so etwas gab, und
war völlig überrascht und ein bisschen verunsichert, als man mich
zu einem Gespräch einlud. Kühl, aber höflich und ebenfalls ein
wenig unsicher, erklärte mir ein ziviler Mitarbeiter der
Militärmission – wie ich später erfuhr, ein Mann vom Geheimdienst
UDBA –, es liege für mich ein
Visum für eine Reise nach Jugoslawien bereit. Er wusste allerdings
so wenig wie ich, was das in der Praxis eigentlich bedeutete, wie
ich es würde einsetzen können. Es dauerte einige Wochen, in denen
ich mit den jugoslawischen Stellen und der britischen
Militärverwaltung nach Lösungen suchte. Schließlich waren die
Engländer bereit, mir in einem Ausweis zu bescheinigen, dass ich
ein Einwohner der britischen Besatzungszone von Deutschland sei,
während die Jugoslawen mir versicherten, dass ich mit diesem
Dokument die Grenze überschreiten dürfe.
Mit dieser Nachricht, dass ich, ganze
einundzwanzig Jahre alt, als erster deutscher Journalist aus
Jugoslawien berichten dürfe, saß ich dann dem Intendanten Hanns
Hartmann an seinem Schreibtisch gegenüber. Das Gespräch, von dem
ich eher eine Ablehnung erwartete, war ziemlich kurz: »Gehen Sie
zur Kasse und lassen Sie sich 5000 D-Mark auszahlen, und dann
schauen Sie mal, wie lange Sie da unten davon leben können.« 5000
D-Mark, das war damals nicht nur für mich viel Geld. Aber
schließlich hatten wir nicht die geringste Vorstellung davon, wie
mein Aufenthalt in Jugoslawien aussehen würde, was Fahrkarten und
Hotelunterkunft kosteten. Es gab auch weder Bankverbindungen
zwischen Deutschland und Jugoslawien noch eine deutsche
diplomatische Vertretung in Belgrad, die mir im Notfall aushelfen
konnte. Deshalb, so gab Hartmann mir mit auf den Weg, solle ich
gleich nach meiner Ankunft feststellen, was die Rückfahrt kosten
würde, und das Geld dafür sorgfältig zurücklegen. Das Ganze war ein
unberechenbares Unternehmen, aber auch ein verheißungsvolles
Abenteuer.