Gottes eigenes Panoptikum
Erste
Auslandsreportagen
1950–1954
1950–1954
Auf mich schien allerdings niemand mit
besonderem Interesse gewartet zu haben, als ich mich im Frühjahr
1950 in Belgrad bei der Presseabteilung des Außenministeriums
vorstellte. Man teilte mir lediglich mit, in welchem Hotel ein
Zimmer für mich gebucht sei und dass ich mich zwei Tage später
wieder beim Außenministerium vorstellen solle. Immerhin hatte ich
Glück: In der Hotelhalle saß der Korrespondent einer großen
Schweizer Zeitung, ein älterer Mann mit langjähriger Erfahrung, der
in den dreißiger Jahren als Emigrant aus Berlin nach Bern gekommen
war und dann nach Kriegsende regelmäßig als Korrespondent nach
Jugoslawien reiste. Kurz darauf traf ich noch den Kollegen einer
weiteren Zeitung aus der Schweiz, einen hochintelligenten
ehemaligen Trotzkisten, der im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft
hatte, und schließlich als dritten ausländischen Journalisten einen
jungen Engländer. Wir vier waren eine seltsame kleine Gruppe,
verbunden durch unsere politische Neugier und die wenig
erfolgreichen Bemühungen, Kontakte mit Politikern, Beamten und
Wirtschaftsleuten vor Ort herzustellen.
Jugoslawien, das sich zu Beginn der fünfziger
Jahre dem dominierenden Einfluss Stalins entziehen wollte, war
immer noch ein kommunistisches, sowjetisch geprägtes Land, streng
überwacht durch die Geheimpolizei. Hinter den Kulissen tobte zu der
Zeit ein innerparteilicher Machtkampf. Ministerpräsident Tito und
seinen Kameraden aus dem Partisanenkampf des Zweiten Weltkriegs
standen die Funktionäre aus der Parteibürokratie gegenüber, die
sich und ihr Land dem Moskauer Herrschaftsbereich anpassen wollten.
Alle meine Begegnungen mit jugoslawischen Offiziellen vollzogen
sich daher in einer Atmosphäre der Doppeldeutigkeit und Vorsicht.
Gleichgültig, ob wir über Weltpolitik, Industrialisierung oder die
Landwirtschaft in den neuen Kollektivbetrieben sprachen – alles,
was man mir erzählte, schien weniger meiner Information zu dienen,
als vielmehr von den taktischen Auseinandersetzungen im
Parteiapparat bestimmt zu sein. Wenn wir mit einheimischen
Journalistenkollegen zusammen aßen und dabei mitunter reichlich
Sliwowitz tranken, waren wir uns sympathisch, manchmal fast wie
Freunde, aber sobald wir über Innen- oder Außenpolitik sprachen,
wurde die Atmosphäre kühl und berechnend. Für mich hatte man einige
Reisen vorbereitet, bei denen ich außerhalb von Belgrad und zum
Teil weiter entfernt, in Montenegro und Mazedonien,
landwirtschaftliche und industrielle Großbetriebe sowie Stadt- und
Ortsverwaltungen besichtigen durfte. Offene Gespräche, etwa mit
Studenten an den Universitäten, kamen dabei aber nie zustande.
Unterwegs saß ich häufiger abends mit dem offiziellen Begleiter und
dem Fahrer zusammen und versuchte ein bisschen mehr über das Leben
in Jugoslawien zu erfahren. Über Politik hörte ich wenig Neues,
weil sie Titos Rolle zwischen Stalins Sowjetunion und dem
amerikanisch geführten Westen selbst nicht einschätzen konnten und
über die Spannungen in der jugoslawischen Führung nicht reden
wollten. Doch über den Alltag und seine Schwierigkeiten, über ihre
Hoffnungen und ihre Befürchtungen redeten sie ziemlich offen mit
mir.
So mühsam die Arbeit war, so spannend war die
Frage, welchen Kurs ein von Moskau unabhängiges Jugoslawien
einschlagen würde – falls eine solche Selbständigkeit überhaupt
möglich war. Denn immer noch bestand die Gefahr, dass die
sowjetische Armee von den Nachbarländern Ungarn oder Rumänien aus
nach Jugoslawien einrücken könnte. Das, so unsere damalige
Einschätzung, hätte nicht zu einem schnellen Sieg des Moskauer
Lagers geführt, sondern zu einer Wiederbelebung des blutigen
Partisanenkriegs, mit dem sich Tito und seine Anhänger lange und
heftig zur Wehr setzen würden. Mit meinen Berichten wollte ich den
deutschen Hörern verständlich machen, welche Chancen die
jugoslawische Entwicklung für Osteuropa bieten könnte, aber auch
welche Gefahren damit verbunden waren. Allerdings blieb es schon
technisch außerordentlich schwierig, mit diesen Informationen die
Redaktion in Deutschland überhaupt zu erreichen. Telefonisch oder
fernschriftlich war nichts zu machen. Ich wäre völlig abgeschnitten
gewesen, wenn mir nicht die beiden Schweizer Kollegen geholfen
hätten. Sie waren schon seit Monaten in Belgrad, kannten halblegale
Verbindungswege und schleusten so dreimal ein Manuskript von mir
über ihre Schweizer Redaktionen zum WDR nach Deutschland. Da aber auch sie
nicht riskieren konnten, für mich Geld über die Grenzen nach
Belgrad zu bringen, war klar, dass mein Aufenthalt schon bald zu
Ende gehen würde.
Im Hotel Majestique wohnten fast ausschließlich
Geschäftsleute aus dem Westen. In der undurchsichtigen Situation,
in der sich Jugoslawien befand, sondierten sie die Möglichkeiten,
diesen selbständigen kommunistischen Staat durch Finanz- und
Handelsbeziehungen zu erschließen. Manche von ihnen erschienen mir
als reichlich zwielichtige Gestalten der internationalen
Finanzwelt. Bei den Millionengeschäften, die sie durchzuziehen
versuchten, spielten die hohen Hotel- und Reisekosten
offensichtlich keine Rolle. Gelegentlich wurden wir Korrespondenten
von einem fast siebzigjährigen Amerikaner eingeladen, einem Arzt,
der Jahre zuvor Tito behandelt hatte und nun als eine Art Dauergast
des Staatschefs im Hotelrestaurant seine Rechnungen bloß
abzuzeichnen und nicht zu bezahlen brauchte. Offenbar suchte er die
Nähe der jugoslawischen Freundin meines englischen Kollegen. Sie
war eine hübsche Balletttänzerin und die einzige Jugoslawin in
Belgrad, zu der wir eine Art freundschaftliche Beziehung
unterhielten – bis wir entdeckten, dass sie gleichzeitig die
Geliebte eines höheren Geheimdienstoffiziers war.
Eines Abends rief mich der Portier des Hotels
an und sagte, ich würde in der Lobby von einem Mann aus Deutschland
erwartet. Wir trafen uns dann in der Bar, beide ein wenig
zurückhaltend, und er stellte sich vor: Wolfgang Leonhard. Ich
hatte schon von ihm gehört, dachte aber, er lebe noch im Osten
Berlins. Als einer der zehn Mitglieder der sogenannten Gruppe
Ulbricht war er unmittelbar nach Ende der Kriegshandlungen aus der
Sowjetunion nach Ostdeutschland gekommen. Diese kleine Gruppe
deutscher kommunistischer Funktionäre sollte den Kern einer
politischen Neuorganisation bilden. Wolfgang Leonhard war in der
Sowjetunion aufgewachsen, nachdem seine kommunistische Mutter mit
ihm vor der Verfolgung in Hitlerdeutschland geflohen war. In der
DDR sollte er die Jugendarbeit
organisieren und ideologisch verankern. Doch er war ernüchtert von
den stalinistischen Verhältnissen und schließlich 1949 aus
Ost-Berlin geflohen. Statt allerdings zum »westlichen Klassenfeind«
überzulaufen, reiste er über die Tschechoslowakei nach Jugoslawien,
in der Hoffnung, im Titoismus eine bessere Variante des
marxistischen Sozialismus zu finden. Schon 1950 aber ging er doch
in den Westen und beschrieb einige Jahre später den politischen
Zustand der Sowjetunion in seinem berühmten Buch Die Revolution entlässt ihre Kinder. Bei aller
Vorsicht, die wir uns in unserem ersten Gespräch in Belgrad
auferlegten, war dies doch der Anfang einer langen Freundschaft.
Seine Freundin erzählte mir später, Wolfgang habe an diesem Abend
nachdenklich zu ihr gesagt: »Für einen Westdeutschen ist dieser
Ruge doch ziemlich fortschrittlich.«
Jedenfalls war ich fest entschlossen, neugierig
zu bleiben und meine Urteile nicht in erster Linie auf den
Berichten und Erfahrungen anderer aufzubauen. Was ich schließlich
aus Jugoslawien mitbrachte, waren daher vielleicht keine
tiefschürfenden Analysen, aber dafür erste Augenzeugenberichte aus
einer osteuropäischen, kommunistischen Welt im Umbruch. Außerdem
wusste ich nun, dass man mit einigem Glück und trotz aller
Schwierigkeiten auch als junger Deutscher fünf Jahre nach dem Krieg
fremde Länder und Gesellschaften aus der Nähe kennenlernen
konnte.
Ich war erst zweiundzwanzig, als ich
mich 1950 um eine Amerikareise bewarb, zu der das US-Außenministerium ein halbes Dutzend
Rundfunkjournalisten aus Deutschland einladen wollte. Vor der
amerikanischen Auswahlkommission äußerte ich ganz schlicht und
offen meinen Wunsch, das Land mit eigenen Augen zu sehen, was
anscheinend gut ankam. Dass ich nach dem Kurs in der
Dolmetscherschule ziemlich gut Englisch sprach, war sicher auch ein
Pluspunkt. Und da es bei den Amerikanern eine gewisse Neugierde auf
die allerjüngste deutsche Journalistengeneration gab, gehörte ich
schließlich zusammen mit sechs Kollegen zu der Gruppe von
Radiojournalisten, die nun erstmals nach Kriegsende eine Einladung
für eine mehrwöchige Reise ins Gelobte Land bekamen.
Vor der großen Überfahrt von Bremen nach New
York suchte meine Mutter für mich auf dem Dachboden
Knickerbocker-Hosen und Shuffleboard-Schläger heraus, schicke
Sportgeräte, die sie noch von den Seereisen mit ihrer Mutter
kannte. Die Schläger ließ ich allerdings über Bord fallen, sobald
das Schiff aus der Wesermündung in die Nordsee bog. Auf dem
amerikanischen Truppentransporter hätten die Soldaten nur darüber
gestaunt und gelacht, und in der Sechserkabine mit den
doppelstöckigen Betten wäre es mir wohl kaum gelungen, die Schläger
vor den mitreisenden Soldaten zu verstecken. Wir hatten unsere
Kojen im Mannschaftsdeck, aber Kontakte mit den GIs gab es kaum. An Gesprächen mit
Deutschen waren die meisten nicht besonders interessiert. Ihre Zeit
in Europa war vorbei, nun unterhielten sie sich über ihre Zukunft
in Amerika. Die deutschen Kollegen in unserer Gruppe waren viel
älter und erfahrener als ich, aber gegenüber den amerikanischen
Soldaten eher unsicher und überheblich.
An einem frühen Nachmittag lief unser Schiff in
den Hudson River ein. Wir standen an der Reling und staunten über
die New Yorker Wolkenkratzer-Kulisse. Ein Bus brachte uns
schließlich durch die Straßenschluchten zu einem großen
Studentenheim der Rockefeller-Stiftung. Ich war viel zu aufgeregt,
um mich in meinem Zimmer zu erholen, wie es der Reiseleiter
empfohlen hatte. Schon eine halbe Stunde nach der Ankunft war ich
mit einem Kollegen wieder unterwegs, und bei Sonnenuntergang
standen wir auf der Aussichtsplattform des Empire State Building,
fasziniert von den glitzernden Fensterfronten der Hochhäuser,
hinter denen eine unendliche Zahl von Lichtern aufleuchtete. Von
einer Wolkenkratzer-Stadt hatten wir natürlich schon in Deutschland
gelesen, auch Fotografien gesehen, aber die Wirklichkeit war nun
ein überwältigendes Erlebnis. Fast bis Mitternacht blickten wir von
oben rundum auf dieses Städtewunder, das einer anderen Welt und
einem anderen Jahrhundert anzugehören schien.
Das State Department hatte einen Politologen
beauftragt, uns Amerika zu zeigen und zu erklären. Der Mann, ein
bekannter österreichischer Akademiker, der nach Amerika emigriert
war, hatte freilich keine allzu große Lust, uns Journalisten die
komplizierten Zusammenhänge in seinem neuen Heimatland
nahezubringen. Am zweiten Abend saßen wir mit ihm in der Bibliothek
des Studentenheims, wo er über die amerikanische Innenpolitik
referierte. Ein junger Schwarzer hatte zuvor in dem Raum Klavier
gespielt, lehnte nun im Halbschlaf auf dem Flügel und wartete
darauf, dass wir wieder gingen. Als sich die Runde schließlich
wieder auflöste, musizierte er weiter, schön und jazzig, wie ich
fand, und so blieb ich sitzen, um ihm zuzuhören. Nach einer halben
Stunde kamen wir ins Gespräch. Er erzählte mir, dass er an diesem
Abend ein kleines Konzert geben würde, um damit etwas Geld zu
verdienen. Leider aber besitze er kein Jackett, und in Hemdsärmeln
könne er nicht auftreten. Ob ich ihm wohl für diesen Abend meine
Jacke leihen könne? Am nächsten Morgen wolle er sie mir
zurückbringen. Was sollte ich machen? Wir kannten uns nicht, aber
ich fand ihn nett, und irgendwie wäre es mir peinlich gewesen, ihm
seine Bitte abzuschlagen. Er verschwand dann mit meiner Jacke, und
ich hatte eine etwas unruhige Nacht, aber tatsächlich klopfte er am
nächsten Morgen um sieben an meine Tür und brachte sie zurück. Er
habe am Abend noch ein Konzert, sagte er, und wenn ich noch eine
zweite Jacke hätte, würde er mich mitnehmen.
Also trafen wir uns am Abend wieder. Tagsüber
hatte unsere Gruppe eine große Besichtigungstour durch New York
gemacht, die uns vom Bankenviertel an der Wall Street über das
Boheme-Viertel Greenwich Village und die eleganten Ladenstraßen um
die Fifth Avenue bis zur Studentenmensa der Columbia-Universität
geführt hatte. Nun zog mein neuer Freund zu Fuß mit mir los. Wir
gingen bloß fünfzehn Minuten Richtung Norden und waren doch
plötzlich gänzlich anderswo. Mir war etwas unheimlich zumute, denn
ich sah keine Weißen mehr, nur noch Schwarze, die man damals auch
in Harlem noch ganz unbefangen »negroes« nannte. Auf den Straßen
herrschte lautes, quirliges Leben. Mein Freund zeigte mir ein paar
Theater und Bars und erzählte, was in Harlem gerade angesagt
sei.
Zu meiner Überraschung fand das Konzert nicht
in einem Saal, sondern in einer großen Privatwohnung statt, einem
Apartment mit vielen Zimmern. Mein Freund setzte sich im großen
Empfangsraum an den Flügel und begann zu spielen. Um mich herum
kein einziges weißes Gesicht, stattdessen eine Reihe junger
schwarzer Frauen, ziemlich sexy aufgemacht. Ab und zu kamen recht
smart gekleidete, aber nicht sonderlich seriös wirkende Männer,
redeten mit den Frauen und verschwanden mit der einen oder anderen
im Nebenzimmer. Mich beäugten sie neugierig und ein bisschen
misstrauisch. Mein Freund gab ein Konzert besonderer Art: Er
spielte in einem Bordell. Zwischendurch fragte ihn eine der Frauen,
wieso er mich mitgebracht habe, und dann erzählte er, ich sei ein
besonders netter Deutscher, überhaupt kein Rassist und so
hilfsbereit, dass ich ihm sogar meine Jacke geliehen hätte. Das
fanden die Damen und ihre Kunden offenbar bemerkenswert, und einige
versuchten, mit mir ins Gespräch zu kommen. Sie hatten noch nie mit
einem Weißen zusammengesessen, schon gar nicht mit einem Deutschen.
Es beunruhigte mich ein wenig, als sie fragten, wie viel Geld ich
bei mir hätte. Sie luden den jungen Pianisten und mich schließlich
zum Cocktail ein. Zwei der Männer, die sich zu uns gesellten, waren
als Besatzungssoldaten in Deutschland gewesen, wo es ihnen gefallen
hatte. Nazis oder Rassisten seien ihnen dort nicht begegnet,
erzählte einer der beiden.
Dann machte ich mich allein auf den Rückweg zum
Studentenheim und lief durch ein lebhaftes schwarzes
Vergnügungsviertel. Manchem weißen New Yorker, erfuhr ich später,
hätte ein nächtlicher Spaziergang dort Angst bereitet. Für mich
hingegen war das alles nur fremd, und als ich nach zehn Minuten
allmählich in die fast menschenleeren Straßen des weißen New York
kam, fühlte ich mich dort keineswegs sicherer, sondern eher
einsam.
Meine deutschen Kollegen und der
österreichisch-amerikanische Politologe hielten mich einfach nur
für verrückt, als sie von meinem nächtlichen Abenteuer hörten. Nur
Clark Foreman, der Assistent des Politologen, war von dem Ausflug
fasziniert und setzte sich zu einem längeren Gespräch mit mir
zusammen. Er sollte für jeden der deutschen Journalisten eine
Besuchs- und Reiseroute organisieren und kümmerte sich von nun an
besonders um mich. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass er
zwar im Auftrag des State Department arbeitete, politisch aber zum
äußersten linken Flügel der Demokratischen Partei gehörte. Er stand
nicht für die Politik von Präsident Truman, sondern näher bei dem
ehemaligen Vizepräsidenten Henry Wallace. Dessen Progressive Party
– Wallace hatte mit ihr 1948 die Präsidentschaftswahl verloren –
fand ich in ihrer Einschätzung der Sowjetunion und der Kommunisten
zwar ziemlich wirklichkeitsfern und sozialromantisch, aber Foreman
kannte Theorie und Praxis der Rassenkonflikte in den USA, die lange nach dem Ende der Sklaverei
noch immer die Grundlagen der amerikanischen Innenpolitik
mitbestimmten.
So lernte ich, zehn Jahre vor dem Höhepunkt der
Bürgerrechtsbewegung und bevor die Fragen der Gleichberechtigung zu
wachsenden Spannungen und Zusammenstößen führten, über Clark
Foreman einige der zukünftigen Anführer und Organisatoren, Sänger
und Musiker kennen, die später den Protestbewegungen gegen
Rassenungleichheit oder gegen den Vietnamkrieg ihr Gesicht und ihre
Stimme geben sollten. Stärker noch als in anderen Städten kündigte
sich in New York schon zu Beginn der fünfziger Jahre die
tiefgreifende Veränderung an, die Amerika ein Jahrzehnt später
erschüttern sollte, und ich traf auf kleinen Partys oder in
Jazzclubs die Leute, über die ich Kontakt zu den schwarzen und
weißen Gegnern der Rassentrennung finden konnte.
In weiten Teilen des Landes, und nicht nur in
seinen südlichen Staaten, war die Segregation schlichtweg eine
allgemein akzeptierte Tatsache. Einer meiner älteren deutschen
Kollegen formulierte das so: »Wenn es der großen Mehrheit der
Bürger eines Landes so gut geht wie hier, aber fünfzehn Prozent in
schlechten Verhältnissen leben, dann muss man jede Veränderung
vermeiden, durch die die Mehrheit in ein schlechteres Leben
gezwungen wird.« Darin war er sich mit den allermeisten weißen
Amerikanern einig, von denen manche die Gleichberechtigung als
Prinzip akzeptierten, die Rassentrennung aber für durchaus
gerechtfertigt hielten. Ich hatte solche Gedanken zunächst
ebenfalls einleuchtend gefunden – ehe ich über meine neuen Freunde
die Realität der Rassendiskriminierung kennenlernte.
Clark Foreman hatte für mich eine Busfahrt in
die Südstaaten der USA gebucht.
Das Ziel meiner Reise war die Highlander Folk School in Monteagle,
Tennessee. Auf halbem Weg dorthin erlebte ich meinen ersten Schock.
In der Busstation von Richmond, Virginia, hingen Schilder mit den
Worten »White« und »Colored« an den Türen der Toiletten und an den
Trinkwasserspendern. Im Bus durften die Schwarzen nur auf den
hinteren Plätzen sitzen. Für sie war es nicht nur verboten, sondern
geradezu lebensgefährlich, sich einen Platz zwischen den Weißen zu
suchen. Von nun an galt das auf allen Busstationen bis zur
südlichen Grenze der USA.
Die Highlander Folk School war eine Mischung
zwischen Heimschule und Volkshochschule. Ursprünglich, im Jahr
1932, war sie für die
Ausbildung von Mitgliedern der Landarbeitergewerkschaft gegründet
worden, und auch noch Anfang der fünfziger Jahre wurde hier Hilfe
für die Männer organisiert, die auf den Farmen Lohnarbeit
verrichteten und ohne jegliche Rechte waren. An der Schule wurden
weiße Gewerkschafter und Studenten mit Techniken des Widerstands
vertraut gemacht, mit denen sie sich gegen die unbeschränkte
Ausbeutung wehren konnten. Das brachte die Einrichtung nicht nur
ständig in Gefahr, von den lokalen Behörden und Gerichten
geschlossen zu werden, sondern trug ihr auch den Ruf einer Art
kommunistischer Institution ein, die keinerlei staatlichen Schutz
verdiente. Alle paar Wochen stoppten vorbeifahrende Autos. Dann
zogen Schüler und Lehrer den Kopf ein und kauerten auf dem Boden
der Klassenräume, weil manchmal aus solchen Autos heraus auf die
Fenster des Schulgebäudes geschossen wurde. Weder der örtliche
Sheriff noch die Gerichte gingen gegen solche Überfälle vor, die an
der Außenwand der Schule ihre Spuren hinterlassen hatten.
In der ersten Hälfte der fünfziger Jahre
wendete sich die Schule immer stärker dem Kampf gegen die
Segregation zu und holte nun immer mehr Schwarze in ihre Kurse.
Dadurch wurde die Highlander Folk School auch im Norden der
USA bekannt. Angesehene
Wissenschaftler, Theologen, Schriftsteller und Musiker
unterstützten die Einrichtung, später kam sogar Eleanor Roosevelt,
die charismatische Witwe des ehemaligen Präsidenten, zu Besuch. Zu
denen, die sich dort ausbilden ließen, gehörte auch ein junger
schwarzer Geistlicher, Martin Luther King. Er ließ sich hier in die
Philosophie und Praxis des gewaltlosen Widerstands einführen,
ebenso wie Rosa Parks, die sich am 1. Dezember 1955 in Montgomery
im Bundesstaat Alabama weigerte, ihren Sitzplatz im Bus für einen
Weißen freizumachen. Damit löste sie in der Stadt monatelange
Proteste gegen die Rassentrennung in Autobussen, Zügen,
Restaurants, Hotels oder Kinos aus. An der Schule sammelte man aber
auch die Lieder der armen Weißen aus den Tennessee Mountains und
anderen Regionen. Einem alten protestantischen Kirchenlied aus
dieser Tradition begegnete ich dort zum ersten Mal. Zehn Jahre
später sollte »We shall overcome« zur Hymne der
Bürgerrechtsbewegung werden, gesungen von Hunderttausenden auf den
Demonstrationen in den Großstädten und in der Hauptstadt
Washington.
Mich hat die frühe Begegnung mit Menschen, die
für Gleichberechtigung und Meinungsfreiheit kämpften, sicher davor
bewahrt, in jenen blinden Antiamerikanismus zu verfallen, der
später die kritische Haltung vieler junger Europäer mitgeprägt hat.
Als ich die Highlander Folk School nach einigen Tagen wieder
verließ, ging meine Reise weiter durch die Kornfelder des Mittleren
Westens und durch die Industriestädte des Ostens. Auch meine
Erlebnisse im weiteren Verlauf der Fahrt zeigten mir deutlich, dass
sich meine Erwartungen an das reiche und mächtige Amerika
keineswegs auf die Alltagswirklichkeit des Landes übertragen
ließen. Was ich in meiner ersten großen Reisereportage über das
Hinterland der modernen Städte schrieb, weiß ich nicht mehr genau.
Aber der Titel, scheint mir, spricht für sich: »Gottes eigenes
Panoptikum«.
Viele, denen ich begegnete, waren neugierig zu
hören, was ein junger Deutscher wenige Jahre nach dem Ende der
Hitlerherrschaft dachte und sagte. Vor allem in New York mit seinen
zahlreichen Intellektuellen und jüdischen Emigranten fragte man
mich nach den politischen Vorstellungen in meiner Heimat. Im
Mittleren Westen und den kleineren Städten dagegen, auf den Partys
des Mittelstands, der Ärzte, Anwälte und Geschäftsleute, erschöpfte
sich das Interesse an der deutschen Vergangenheit und Gegenwart
meist ziemlich schnell. Zu Hause hatten mich Kollegen gewarnt, ich
würde in Amerika auf eine regelrechte Deutschfeindlichkeit stoßen.
Aber eine solche Haltung war kaum zu bemerken. Einmal allerdings
überraschte mich eine Frau, als ich ihr vorgestellt wurde. »Oh
really«, sagte sie zu mir, »I never thought I’d see a real Nazi
alive.« Und dann fing sie an, mich regelrecht zu bemuttern.
Einige Tage verbrachte ich auch in Madison, wo
ich mit amerikanischen Studenten ins Gespräch kam. Im Bundesstaat
Wisconsin mit seinen vielen Einwohnern deutscher Abstammung, mit
seinen deutschen Brauereien und dem deutschen Ordnungssinn stellten
mir die jungen Amerikaner kaum Fragen nach den Nazijahren.
Gleichzeitig stand für sie unumstößlich fest, dass Amerika das
beste aller Länder sei. Sie überlegten allen Ernstes, wie ich wohl
an ein amerikanisches Einwanderungsvisum gelangen könne, und
heckten schließlich einen Plan aus: Zwei Studenten, die für die
Armee gemustert werden sollten, würden mich mitnehmen und dort
einschmuggeln. Mein Englisch sei gut genug, und es gebe dort so
wenig Bürokratie, dass man mich glatt als kriegsdiensttauglich
durchwinken würde. Dann wäre es nur noch ein kleiner Schritt, ich
würde in die Armee rutschen und bekäme ein oder zwei Jahre später
die amerikanische Staatsbürgerschaft. Ich glaubte inzwischen zwar,
dass in Amerika alles möglich sei, aber davor schreckte ich doch
zurück – zumal gerade in Korea aus dem Kalten Krieg zwischen Ost
und West ein heißer Krieg geworden war. Als meine Zeit in Amerika
nach drei Monaten zu Ende ging, hätte ich sehr gern aus der Nähe
beobachtet, wie sich die großen und kleineren Mächte (unter
amerikanischer Führung als UNO-Truppen zusammengefasst) in dieser
bedrohlichen Krise verhielten, aber nicht gerade als US-Soldat oder in einer der anderen
Einheiten, die unter dem Kommando der Vereinten Nationen den Süden
der koreanischen Halbinsel zurückerobern sollten.
So kehrte ich nach Köln zurück und
arbeitete zunächst in der Regionalredaktion, die im Land zwischen
Rhein und Weser nach interessanten Themen suchte und über das Leben
in den schwer zerstörten Industriestädten an der Ruhr berichtete.
Wahrscheinlich tat mir das ganz gut, denn gerade in der
Lokalberichterstattung kann man einiges lernen. Kommentare und
Leitartikel zur Welt- und Kulturpolitik oder zur
wirtschaftspolitischen Großwetterlage sind manchmal einfacher zu
schreiben als Berichte über regionale Ereignisse – da genügt ein
kleiner Fehler, um einen Bürgermeister oder Landespolitiker zu
einem verbissenen Protest zu veranlassen. Schließlich nutzte ich
dann aber doch die erste Gelegenheit, als Augenzeuge aus Korea zu
berichten, als deutscher Journalist, nicht als US-Soldat.
Fünf Jahre nach Ende des Zweiten
Weltkriegs hatte es so ausgesehen, als würden sich die großen
Weltmächte in Ostasien in einen neuen Konflikt stürzen. Mitte 1950
waren die amerikanischen Besatzungstruppen und die südkoreanische
Armee nach einem Überraschungsangriff des Nordens bis zur Südspitze
der koreanischen Halbinsel zurückgedrängt worden. Nach der
dramatischen Wendung, die der Kriegseintritt Chinas gebracht hatte,
einigten sich Ost und West im Juli 1953 auf einen Waffenstillstand,
der die Teilung des Landes besiegelte und dem, wie gesagt, bis
heute kein Friedensschluss gefolgt ist. Der Koreakrieg veränderte
die allgemeine Einschätzung der Ost-West-Spannungen. Die Gefahr
einer neuen Auseinandersetzung auch in Europa stand allen plötzlich
vor Augen, und die Alliierten sahen in den Westdeutschen nun nicht
mehr nur die ehemaligen Feinde, sondern auch Verbündete, die ihnen
helfen könnten, einen Angriff der Sowjetunion zu verhindern oder
aufzuhalten.
Ende 1953 stellte die Bundesrepublik
Deutschland den Vereinten Nationen ein Feldlazarett für den Einsatz
in Korea zur Verfügung – kein Militärlazarett, aber eines, in dem
Ärzte und Schwestern vom Deutschen Roten Kreuz Verwundete und
Kranke behandeln sollten. Wo es ein deutsches Lazarett gab, so
meine Überlegung, mussten eigentlich auch deutsche Journalisten die
Genehmigung zur Berichterstattung bekommen. So wandte ich mich mit
meinem Anliegen an die zuständigen zivilen und militärischen
Einrichtungen der Amerikaner und hatte Glück: Mit einer
Befürwortung aus dem US-Verteidigungsministerium gelangte ich an
den Pressedienst der Vereinten Nationen. Von nun an ging alles
reibungslos. Ich erhielt die Genehmigung, in der Sondermaschine mit
dem Lazarett nach Korea zu fliegen, was auf deutscher Seite mehr
Erstaunen und Vorbehalte weckte als bei den Amerikanern. Beim
Zwischenstopp in Tokio begab ich mich sofort zur Pressestelle des
UNO-Oberkommandos, und
innerhalb eines Tages besaß ich einen Journalistenausweis und eine
amerikanische Uniform, die deutlich mit »UN War Correspondent« gekennzeichnet war
und mich als »Nichtkombattanten« auswies. Arbeitsbedingungen und
Alltag der Kriegskorrespondenten waren genau, aber großzügig
geregelt: Unterbringung in amerikanischen Militärunterkünften bei
gleicher Behandlung, wie sie einem Oberst der US-Armee zustand. Ziemlich bemerkenswert
für einen fünfundzwanzigjährigen deutschen Journalisten.
Auf dem Feldflughafen von Taegu, dem ersten
Stopp auf koreanischem Boden, warteten außer mir noch fünf ältere
Offiziere auf eine Militärmaschine nach Norden. Als sie gelandet
war, teilte uns der Platzkommandant mit, dass in der Maschine
leider nicht mehr für alle Platz sei. Er zog eine
Streichholzschachtel aus der Tasche und hielt uns sechs
Streichhölzer hin. Wer das kopflose Streichholz zog, musste auf ein
anderes Flugzeug warten. Als es dann einen Oberstleutnant traf,
wollte ich zu seinen Gunsten verzichten. Der Flugplatzkommandant
aber verwarnte mich und meinte, ich dürfe die Regeln nicht
verletzen. Dies war meine erste Begegnung mit dem militärischen
Reglement der Amerikaner – eine solch privilegierte Behandlung für
einen jungen Journalisten hätte ich mir in einer deutschen Armee
nicht vorstellen können. Als ich meinem Nebenmann im Flugzeug,
einem amerikanischen Zeitungskorrespondenten, von dem Vorfall
erzählte, war auch er geradezu empört über den Versuch, einem
Offizier den Vorrang einzuräumen. Wenn so etwas einmal einreiße,
dann würden am Ende alle Journalisten, auch die amerikanischen,
Schwierigkeiten bekommen, meinte er.
Damit endeten die Überraschungen allerdings
nicht. Im Pressecamp von Pusan gab es ein Einzelzimmer für mich,
und beim Frühstück trat ein Unteroffizier an meinen Tisch und
fragte: »Können Sie Auto fahren?« Als ich bejahte, stellte er mir
einen Militärführerschein aus und drückte ihn mir mit den Worten in
die Hand: »Ihr Jeep steht unten im Hof, gute Fahrt!« Donnerwetter,
dachte ich, die Rechte der Journalisten müssen gewaltig sein. Ganz
so groß waren sie dann aber doch nicht, denn wie sich
herausstellte, lag eine Verwechslung vor: Am Abend zuvor waren vier
amerikanische Starjournalisten angekommen, und ihretwegen war die
Richtlinie ausgegeben worden, sie ohne viele Fragen bevorzugt zu
behandeln. Man hatte mich irrtümlich für einen von ihnen
gehalten.
Über zweihundert akkreditierte Journalisten
arbeiteten in Korea. Fast alle waren Amerikaner, dazu kamen ein
Dutzend Engländer, drei oder vier Franzosen und einzelne Kollegen
aus jenen UNO-Staaten, die
Truppen nach Korea entsandt hatten. Ich war vor allem mit einem
Belgier und einem Schweden zusammen. Für die Presseoffiziere waren
wir die »Europäer«, exotische Außenseiter, die zu keiner
militärischen Einheit gehörten, dabei auch keine Koreaner waren und
sich trotzdem frei bewegen durften und Zugang zu amerikanischen
Unterkünften und Kasinos hatten. Außerdem waren wir bei weitem die
Jüngsten, alle drei etwa Mitte zwanzig, und entschlossen, möglichst
nah an Informationen und Ereignisse heranzukommen. Tatsächlich
waren wir dann manchmal in den Unterständen und Gräben oder auf
Patrouille dichter an gefährlichen Situationen als unsere Kollegen,
die von den Offizieren vorsichtig im Auge behalten wurden. Einige
Monate später trafen wir drei uns in Indochina wieder, und in der
letzten Phase des Kriegs, den die Franzosen dort führten, stieß
noch ein junger Schweizer Fotograf zu unserer Gruppe.
Der Koreakrieg war ein Krieg, der nie zu Ende
ging. Nach den Feldzügen, in denen bei Grabenkämpfen,
Bombardierungen und Partisanenaktionen fast eine halbe Million
Soldaten auf beiden Seiten ihr Leben verloren hatten, lagen sich
die Armeen seit 1951 auf einer Linie mitten durch das Land in
Bunkern und Grabenstellungen gegenüber. Es gab aber auch Einheiten,
denen das zu langweilig war, meist aus kleineren Ländern, wie etwa
die Frankokanadier, die im ersten Jahr des Waffenstillstands immer
wieder nachts zu Patrouillenvorstößen aufbrachen, in Schießereien
verwickelt wurden und gelegentlich mit einem gefangenen
Nordkoreaner zurückkamen. Das alles machte sie bei den Einheiten,
die neben ihnen an der Frontlinie lagen, nicht gerade beliebt, denn
die waren ganz zufrieden damit, dass der Krieg nach dem
Waffenstillstand einzuschlafen drohte. Uns drei Korrespondenten aus
Europa interessierte vor allem, wie nach einer so mörderischen
Auseinandersetzung ein Übergang zu einer friedlichen Lösung möglich
war. Anders als die meisten unserer Kollegen beunruhigte uns die
Frage, ob eine Verschärfung der Spannungen zwischen Ost und West
auch in Europa zu blutigen Zusammenstößen und womöglich zu einem
ausgewachsenen Krieg führen könnte. Die chinesische Armee war in
Korea eingedrungen – könnte die Rote Armee in ähnlicher Weise nach
Westeuropa vorstoßen? Und wie würde das Leben in einem Land
weitergehen, das zwar keinen Krieg mehr führte, aber auch noch
keinen Frieden hatte?
Nach einiger Zeit war ich nicht mehr
UN War Correspondent, sondern
ein normaler Auslandskorrespondent. Ich fuhr in kleine Städte und
in Dörfer, die noch in Trümmern lagen. Das war manchmal
gefährlicher als ein Aufenthalt in der Nähe des Frontverlaufs. An
der Südspitze Koreas geriet ich einmal in einen umkämpften
Landstrich, in dem sich weit von der Front entfernt kommunistische
Partisanen und südkoreanische Polizeieinheiten völlig
unübersichtliche Gefechte lieferten. Ein koreanischer Lehrer, der
mich aus Hilfsbereitschaft und Neugier als Dolmetscher begleitete,
merkte früher als ich und noch ehe geschossen wurde, dass wir uns
zwischen gefährlich umkämpften Dörfern befanden. Schließlich
konnten wir nur den Armee-Jeep zwischen ein paar zerfallenen
Strohhütten stehenlassen und uns zu Fuß auf die Suche nach
südkoreanischen Soldaten oder Polizisten machen. Wir waren
erleichtert, als uns bald tatsächlich eine kleine Gruppe von
Bereitschaftspolizisten umstellte. Als westlichen Ausländer
akzeptierten sie mich. Mein Dolmetscher, der ihnen meine
Ausweispapiere übersetzt hatte, war dagegen schlechter dran und
wurde als Gefangener behandelt. Erst der Chef dieser Mannschaft
erklärte ihn für frei und sorgte auch dafür, dass wir unseren Jeep
unbeschädigt wiederbekamen. Schließlich tranken wir zusammen ein
paar Schnäpse, und er nannte mir seinen Namen: Chief Tiger Kim.
Solange wir bei ihm waren, hielt sich mein Dolmetscher respektvoll,
ja fast furchtsam hinter mir. Erst am nächsten Morgen erzählte er
mir, wer Chief Tiger Kim war: einer der blutrünstigsten
Partisanenbekämpfer, ein Folterer, manche sagten Mörder. Mich hatte
er eingeladen, in seinem Camp zu übernachten, nach einem guten
Abendessen und mit hübschen Frauen. »Chief Tiger Kim – bloody best
fuck in the world«, pries er sich an. Ich war ihm dankbar, dass er
uns aus einer schwierigen Situation herausgeholt hatte, aber dieses
Angebot mochte ich dann doch nicht annehmen.
In der südkoreanischen Hauptstadt Seoul begann
sich das Leben allmählich zu normalisieren. Neben der UNO-Militärpräsenz gab es koreanische
Verwaltungseinrichtungen und den Apparat des Präsidenten Syngman
Rhee, der seine Macht mit einem diktatorischen Herrschaftssystem zu
sichern suchte. Einmal bemühten wir drei jungen Korrespondenten uns
um ein gemeinsames Interview mit ihm und seiner österreichischen
Frau, was jedoch unter den amerikanischen Kollegen für Protest
sorgte. Wieso sollten ausgerechnet diese jungen Männer aus
irgendwelchen westeuropäischen Staaten Zugang zu Syngman Rhee
bekommen? Die Engländer und Franzosen sahen das ähnlich. In einer
Bar artete das Ganze schließlich in einen lauten Streit mit einigen
amerikanischen Korrespondenten aus. Wir Europäer seien doch bloß
Mitläufer, die sich um die Teilnahme an diesem Krieg drückten,
ließen sie uns wissen. Ein Sergeant kam so in Fahrt, dass er uns
aus der Bar prügeln wollte. Aber eine richtige Schlägerei wusste
die Militärpolizei zum Glück zu verhindern. Aus unserem Interview
wurde selbstverständlich nie etwas.
So hielt ich mich lieber an die Kontakte zu
Koreanern, vor allem an Gespräche mit Lehrern und Professoren, die
sich bemühten, an Kulturgütern und Geschichtszeugnissen zu retten,
was die japanische Okkupation und den Krieg überlebt hatte. Einer
der Direktoren des Nationalmuseums hatte in Deutschland studiert
und freute sich, wieder einmal Deutsch sprechen zu können. Für mich
bot sich umgekehrt die Möglichkeit, mit der koreanischen Kunst und
Kultur in Berührung zu kommen. Gelegentlich konnte ich sogar ein
bisschen mithelfen, wenn Kunstwerke aus den zerstörten Museen in
den Händen von Ausländern auftauchten – für ein paar Dollar als
Souvenir erstanden. Das meiste davon war nicht wirklich bedeutend,
aber wenn man einen der neuen Besitzer überreden konnte, sein
Kunstwerk an Museumsleute zu verkaufen oder manchmal auch zu
verschenken, dann zeigten diese stolz die Siegel des zerstörten
Museums, das die Stücke nun zurückbekam.
Viele der Koreaner sprachen gut Deutsch. Als
ich meinen schwedischen Kollegen einmal beim Arzt abholte, war der
koreanische Mediziner so begeistert, dass er sogar zu singen
anfing: »In München steht ein Hofbräuhaus.« Das Lied kannte er noch
aus seinen Studientagen in München, Mitte der dreißiger Jahre, in
einer Zeit, die für ihn vielleicht die beste seines Lebens gewesen
sei, meinte er. So gut sei die Hitlerzeit nun auch nicht gewesen,
entgegnete ich. Als ausländischer Student sehe man das eben anders,
sagte er daraufhin und wollte von mir wissen, was ich wohl an
koreanischen Erinnerungen behalten würde. Tatsächlich kannte ich
auch nur ein einheimisches Volkslied namens »Arirang«. Das hatten
mir die Tänzerinnen vom Nationalballett beim Besuch einer ihrer
Proben vorgesungen. Mehr als die schmalzige Melodie und das eine
Wort »Arirang« hatte ich freilich nicht behalten.
Prosaischer und praktischer war der Kontakt mit
koreanischen Journalisten und ihren ersten wiedergegründeten
Zeitungen. Für Kookje Ilbo in Pusan, eine
der ersten Zeitungen, die aus dem Trümmerchaos auftauchte, schrieb
ich gelegentlich eine Kolumne über internationale Politik. Nicht
weil ich ein besonders kenntnisreicher Leitartikler war, sondern
weil sich koreanische Kollegen und Leser einfach für das
interessierten, was Ausländer über die Weltlage dachten. Ich
verdiente damit ein wenig Geld, das ich wahrlich gut gebrauchen
konnte. Denn die Dollarscheine, die ich als kleines Päckchen aus
Deutschland mitgebracht hatte, gingen zur Neige. Es gab keine
Bankverbindung zwischen Korea und der Bundesrepublik, nicht einmal
zwischen der Bundesrepublik und Japan. Im deutschen Lazarett lieh
ich mir hin und wieder etwas Geld, woraufhin in Deutschland
WDR-Kollegen den entsprechenden
Betrag auf das Konto eines Arztes überwiesen. Auch die Manuskripte
aktueller Berichte konnte ich bisweilen von dort nach Hause
schicken.
Angesichts des zur Bewegungslosigkeit
erstarrten Waffenstillstands im Korea wollte ich mir nun lieber von
dem anderen Krieg in Asien, Frankreichs Verteidigung seiner
Kolonialherrschaft in Indochina, ein eigenes Bild machen. Ich hatte
sogar schon herausgefunden, wie ich nach Saigon, eine der beiden
Hauptstädte der französischen Kolonie, gelangen konnte: Ein
Rückflugticket Tokio–Düsseldorf ließ sich auf einen Stopp in der
thailändischen Hauptstadt Bangkok umschreiben, und von Bangkok, so
hatte mir mein belgischer Kollege erzählt, konnte man leicht nach
Saigon weiterfliegen. Mein Problem blieb nur, dass ich kein Visum
für Indochina besaß und, wie ich herausfand, auch nur schwer eines
bekommen würde. Aus dem unbeschreiblichen Wirrwarr, in dem sich
Frankreichs Kolonialpolitik befand, hatten zivile und militärische
Instanzen verschiedenste Vorrechte für sich abgeleitet; dazu gab es
noch die neu entstandene Bürokratie der vietnamesischen
Übergangsregierung und einer teilweise selbständigen
vietnamesischen Armee. Zum Ärger der Franzosen hatte sich diese von
ihnen eingesetzte und unwillig geduldete Übergangsregierung ein nur
scheinbar nebensächliches Recht, nämlich die Erteilung
kurzfristiger Visa, gesichert. Mehr zufällig traf ich in Bangkok
einen jungen vietnamesischen Offizier, der für die Vertretung
dieser eigentlich nicht vorhandenen neuen vietnamesischen Regierung
arbeitete. Wir waren ungefähr gleich alt und verstanden uns gut.
Die Idee, dass ein deutscher Journalist in sein Land reisen würde,
gefiel nicht nur ihm, sondern auch seinen Vorgesetzten. Ich erhielt
mein Visum und konnte so die Kontrolle der französischen Behörden
umgehen, die sehr aufmerksam darüber wachten, was international
über das Schicksal der Vietnamesen bekannt wurde.
Nun zog ich also in das Hotel Majestic, einen
Prachtbau am Saigon-Fluss. Für die französische Kolonialverwaltung
war ich offiziell nicht existent. Von meinem neuen Freund in
Bangkok hatte ich die Adresse eines Professors für Volkswirtschaft
bekommen, bei dem er einige Jahre vorher studiert hatte. Mit ihm
lernte ich einen der ersten Indochina-Vietnamesen kennen, die bei
ihrem Studium in Frankreich von den Ideen und Ideologien der
Linksintellektuellen geprägt worden waren. Sie waren überwiegend
Trotzkisten und wurden von den Vietminh, den Verbündeten der
Sowjetkommunisten, verfolgt. Ich traf in Vietnam auf eine für mich
weitgehend undurchsichtige Mischung politischer Gruppierungen und
hatte Kontakt zu Vertretern unterschiedlicher regionaler
Machtzentren mit jeweils eigenen Söldnern und Kämpfern. Von ihnen
wurde ich sozusagen von Hand zu Hand weitergereicht. Das war
spannend, aber auch der Weg durch einen Irrgarten.
In Bangkok hatte ich Dollar zu einem guten Kurs
in französische Kolonialfrancs getauscht. Als das Geld sehr bald
knapp wurde, half ein abenteuerlicher Umweg über Südkorea: Noch in
Pusan hatte mir die Zeitung Kookje Ilbo
vorgeschlagen, meine Artikel zu drucken und anzubieten, denn sie
war auch die Verteilungsstelle, über die die englische
Nachrichtenagentur Reuters andere koreanische Zeitungen bediente.
Nun lieferte ich ein paar Artikel beim Büro von Reuters ab, sie
wurden nach Korea weitergeleitet, und ein paar Tage später zahlte
man mir in Saigon das Honorar in Dollar aus – nicht viel, aber
immerhin etwas. Eine Dauerlösung war das natürlich nicht. Als es
ganz eng wurde, verkaufte ich meine Rolleicord-Kamera an den
Direktor des Majestic Hotels, und mit dem Geld konnte ich
schließlich noch den Flug von Bangkok nach Düsseldorf buchen.
Beinahe hätte ich allerdings die Heimreise noch
einmal aufgeschoben. Wochenlang hatten die französischen
Armeedienststellen meine Bitte um Zugang zu militärischen
Stellungen oder Operationen abgelehnt. Kurz vor meiner Abreise nach
Deutschland boten sie mir plötzlich an, mit ihren Truppen zu einem
großen und entscheidenden Feldzug aufzubrechen: nach Dien Bien Phu
im Norden des Landes, wo eine Schlacht die Überlegenheit der
klassischen französischen Kriegführung über die Guerillatechnik der
Vietminh beweisen sollte. Doch ich lehnte ab – auch weil ich
bezweifelte, dass die französische Strategie Erfolg haben würde.
Und tatsächlich erlitten die Franzosen im Mai 1954 eine
entscheidende Niederlage, faktisch hatten sie den Krieg verloren.
Fast zehntausend französische Soldaten waren gefallen, zehntausend
in Gefangenschaft geraten, in der die meisten von ihnen nicht
überlebten – darunter viele Deutsche, die aus der
Kriegsgefangenschaft in die französische Fremdenlegion
übergewechselt waren.
Eines jedenfalls hatte ich in meiner Arbeit als
Kriegskorrespondent gelernt: Man tut gut daran, sich so weit wie
irgend möglich von militärischen Stellen fernzuhalten. Später,
während des Algerienkriegs, waren es die Geheimdienste, die uns
Journalisten mit falschen Hinweisen beeinflussen oder verwirren
sollten. Außerdem gab es auf französischer wie auf algerischer
Seite Gruppierungen, die gegen ihre eigenen Landsleute agierten und
uns Korrespondenten in gefährliche Aktionen hineinzuziehen
versuchten. Eine andere abschreckende Erfahrung machte ich Ende der
sechziger Jahre während des Kriegs in Vietnam. Ich kannte einige
junge Amerikaner in wichtigen militärischen und politischen
Positionen. Mit einem war ich schon lange befreundet, und
wenigstens bei ihm war ich überzeugt davon, dass er mir zwar nicht
die ganze Wahrheit erzählen konnte, mich aber auch nicht, wie er es
dann tat, aktiv belügen würde. Man hat eben unweigerlich immer nur
eine eingeschränkte Sicht auf das Geschehen, wenn man als
Korrespondent bei militärischen Einheiten »embedded« ist und
zusammen mit ihnen in die umkämpften Zonen fährt.
Als ich Anfang Mai 1954 in Düsseldorf aus dem
Flugzeug stieg, hielt ich alles, was ich aus Ostasien mitgebracht
hatte, unter dem Arm: einen Schuhkarton, der mit leuchtendem
chinesischem Reklametext bedruckt war, darin Seife, ein
Rasierapparat und ein kleines Handtuch; hinzu kam, was ich anhatte:
ein kurzärmliges Khakihemd, eine olivgrüne Hose und Sandalen. Die
Zollbeamten wunderten sich über den frierenden Ankömmling. Aber es
war tatsächlich alles, was mir geblieben war. Der Rest war irgendwo
zwischen Saigon und Bangkok verlorengegangen, darunter mein ohnehin
kleiner Koffer und auch das Keramik-Trinkhorn, das mir mein
koreanischer Kunsthistoriker-Freund aus den wiedergefundenen
Stücken des zerstörten Nationalmuseums in Seoul herausgesucht
hatte. Was leider auch fehlte: die meisten meiner Notizen,
Manuskripte, Tonbänder und sämtliche Filmrollen. »Das hätte
schlimmer kommen können«, meinte einer der Zollbeamten. Einerseits
hatte er damit recht, andererseits konnte er nicht wissen, warum
verlorenes Papier so viel für mich bedeutete. Immerhin, den Stoff
für zwei große Hörfunkreportagen bekam ich aus dem Handgepäck noch
zusammen.
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Als dreizehnjähriger Internatsschüler mit Rehkitz in Marienau.
Quelle: Als Internatsschüler mit Rehkitz: Privatarchiv Gerd Ruge