»Dann können Sie ja der CDU beitreten,
Herr Chruschtschow.«
Mit Adenauer in
Moskau
1955
1955
Die Zeit der Kriegskorrespondenten war erst
einmal zu Ende, nachdem sich die Ost-West-Kriege in Korea und
Indochina erschöpft hatten. Die Amerikaner mit ihren Verbündeten
waren in Korea aus dem Grabenkrieg nicht mehr herausgekommen. Die
Sowjetunion hatte die Chinesen und Nordkoreaner unterstützt,
allerdings ohne die Politik der beiden unter Kontrolle zu bringen.
Und in Indochina hatten die Amerikaner gegen die Kolonialmacht
Frankreich keine Politik durchsetzen können, die von der westlichen
Seite gemeinsam gestützt wurde. Sie glaubten nicht mehr an einen
Sieg Frankreichs, aber es sollte noch Jahre dauern, bis Washington
schließlich auch nicht mehr an einen eigenen Sieg in Vietnam
glaubte. Die Kriege in Korea und Vietnam hatten insgesamt weit über
eine Million Soldaten das Leben gekostet. Nun setzte sich in
Washington und Moskau die Ansicht durch, es sei besser, den
Verhandlungsweg zu gehen und eine Lösung zu suchen, die für alle
Beteiligten weniger gefährlich und kostspielig wäre.
So begann im Mai 1954 in Genf eine Konferenz
zur Zukunft Koreas und Indochinas, an deren Ende eine Vereinbarung
stand, die eine friedlich abgegrenzte Koexistenz in geteilten
Staaten ermöglichen sollte. Ein ähnlicher Weg hatte sich in Europa
ja schon abgezeichnet: An der künstlichen Teilungsgrenze in
Deutschland standen sich die Soldaten der NATO und des Warschauer Paktes zwar in
Drohhaltung gegenüber, jedoch sorgfältig darauf bedacht, dass aus
kleinen Zwischenfällen keine ernsthaften militärischen
Zusammenstöße entstanden. Wie da über die Zukunft Koreas und
Vietnams verhandelt wurde und mit welchem Ergebnis – das war von
größter Wichtigkeit für die Deutschen, die nicht mit am
Verhandlungstisch der Genfer Konferenz sitzen durften. Eine kleine
Gruppe deutscher Asienexperten und ehemaliger Diplomaten, die in
China oder Japan stationiert gewesen waren, bemühte sich
gleichwohl, bei den Konferenzteilnehmern inoffiziell Informationen
einzuholen. Immerhin gab es Ausweise und Akkreditierungen für ein
halbes Dutzend westdeutscher Journalisten – darunter auch ich –,
die für einige Tage oder Wochen die Konferenz aus der Nähe
verfolgten. Pressekonferenzen waren selten, und anders als heute
kamen nicht Dutzende oder Hunderte von Journalisten, sondern
allenfalls zehn oder zwanzig, wenn die Pressesprecher mal wieder
andeuten wollten, welche Meinungen im Konferenzsaal
aufeinandergeprallt waren.
Es war ein angenehmes Korrespondentenleben, der
Konkurrenzdruck unter uns Journalisten hielt sich in Grenzen. Da es
vormittags fast keine Termine gab, konnte ich für wenig Geld und
ohne Sorge, etwas zu verpassen, im Gasthof eines kleinen Örtchens
am Genfer See wohnen. Morgens genoss ich den See, und wenn ich
nachmittags oder abends in der Stadt war, ging ich manchmal Pizza
essen. Das war gerade modern geworden in Europa, und zu einem
kleinen Abendessen in der einzigen, brandneuen Pizzeria von Genf
konnte man jüngere Diplomaten und natürlich die osteuropäischen
Kollegen preiswert einladen. Gute Kontakte konnten auch in Genf
nützlich sein, aber besonders wichtig war mir, Verbindungen zu
knüpfen und ein wenig Vertrauen bei solchen Kollegen aufzubauen,
die ich irgendwann in ihren Heimatländern wiederzutreffen hoffte.
Noch gab es keine diplomatischen Beziehungen zwischen Bonn und
Moskau, und bisher hatte nur eine ganz kleine Gruppe westdeutscher
Kollegen über sowjetische Stellen in Ost-Berlin Einladungen in die
Sowjetunion bekommen, vornehmlich dann, wenn die Behörden in Moskau
kurzfristig Informationen streuen wollten. Ich hatte noch nicht das
Glück gehabt, zu einem solchen Moskaubesuch eingeladen zu
werden.
Nun lernte ich in Genf einen sowjetischen
Kollegen kennen, der ein paar Jahre älter war als ich und als
Korrespondent für die offizielle sowjetische Nachrichtenagentur
TASS arbeitete. Wir waren nicht
wirklich befreundet, konnten aber sachliche Gespräche führen, ohne
ständig die Vorbehalte zu erwähnen, die jeder von uns gegen die
politischen Erklärungen der anderen Seite haben mochte, und auch
ohne die wodkaselige Geselligkeit, in die Bekanntschaften zwischen
Russen und Deutschen manchmal abrutschten. In Genf hatte mein
Bekannter noch einen Journalistenausweis, ein Jahr später traf ich
ihn in Bonn mit einem Diplomatenpass wieder. Dabei war er nach wie
vor bloß ein TASS-Korrespondent, von dem wir mit einiger
Sicherheit annehmen konnten, dass er für den Nachrichtendienst des
KGB arbeitete. Knapp zwanzig
Jahre später sollte er ein wichtiger Mittelsmann bei der
Vorbereitung der ersten deutsch-sowjetischen Abkommen sein.
Bis zu diesen Verhandlungen, die Bundeskanzler
Willy Brandt Ende der sechziger Jahre in Gang setzte, musste noch
viel Zeit vergehen. Im Frühjahr 1955 verdichteten sich Berichte
über eine bevorstehende Einladung der sowjetischen an die deutsche
Regierung. Bundeskanzler Adenauer stand einem Besuch in Moskau
jedoch skeptisch, ja ablehnend gegenüber. Dass die drei
Westalliierten in Genf mit der Sowjetunion auch über Entspannung in
Europa verhandelt hatten, schien ihm eher ein Warnzeichen. Er war
besorgt, sie könnten gemeinsam mit Moskau einen Vertrag über die
Zukunft Deutschlands aushandeln, bei dem die Interessen der
Bundesrepublik hinter einer Entspannungslösung zurücktreten
müssten. Eines der sowjetischen Ziele war es, die Existenz zweier
selbständiger deutscher Staaten offiziell und international
festschreiben zu lassen. Deshalb wünschte man in Moskau die
Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Bundesrepublik. Wenn
sowohl die BRD als auch die
DDR weltweit diplomatische
Beziehungen unterhalten konnten, so der Hintergedanke, wäre die
Teilung Deutschlands formell bestätigt. Eine solche Entwicklung
fürchteten nicht nur viele auf der Seite der drei westlichen
Mächte, auch in der Bundesrepublik sahen die meisten Politiker
darin eine kaum zu überwindende Barriere auf dem Weg zu einem in
Westeuropa integrierten wiedervereinigten Deutschland.
Die offizielle sowjetische Einladungsnote traf
am 7. Juni kurz vor Adenauers Besuch in Washington ein. Auf dem
Flug nach Amerika fragte ihn mein CBS-Kollege Dan Shaw, was er denn von
dieser russischen Einladung halte. Ach, sagte der deutsche
Bundeskanzler, er habe sie eben im Flugzeug zum ersten Mal gelesen.
Das sei ein in lyrischen Worten gehaltener Text. Auf Shaws
Nachfrage, warum er denn nach Moskau eingeladen werde, antwortete
Adenauer flapsig: »Vielleicht haben die seit Stalins Tod keinen
richtigen Diktator mehr gesehen.« Adenauer zweifelte öffentlich
daran, dass die Verhandlungen in Moskau überhaupt sinnvoll seien,
letztlich konnte er sie aber nicht von der internationalen
Tagesordnung streichen. Der amerikanische Außenminister John Foster
Dulles wunderte sich, dass der Kanzler die Frage der
Wiedervereinigung in Moskau keinesfalls mit besonderem Nachdruck
vorbringen wollte. Doch Adenauer wusste genau, dass er mit diesem
Thema vor allem in Frankreich und England, aber auch in Amerika
Misstrauen wecken könnte, die Bundesrepublik wolle womöglich – wie
zur Zeit der Weimarer Republik – besondere Beziehungen zu Moskau
anknüpfen. Bezeichnenderweise stand in den USA auf der Bestsellerliste der New York Times gerade ein Buch mit dem Titel
Germany Plots With the Kremlin –
Deutschland konspiriert mit dem Kreml. Adenauer, so hieß es darin,
plane, mit Hilfe der Sowjetunion ein unabhängiges Deutschland zu
schaffen, das dann gemeinsam mit Frankreich ein unabhängiges Europa
gegen die USA bilden
werde.
Nachdem die Einladung in Bonn eingegangen war,
hatte Konrad Adenauer immer häufiger vom Schicksal der deutschen
Kriegsgefangenen gesprochen. Im Laufe des Kriegs waren über drei
Millionen deutsche Soldaten in sowjetische Gefangenschaft geraten.
Nur zwei Millionen hatten die Lager überlebt, und fast alle von
ihnen waren inzwischen nach Deutschland entlassen worden. Nun ging
es um die Freilassung der letzten Zehntausend, die noch in der
Sowjetunion festgehalten wurden, sowie um Russlanddeutsche oder
Menschen aus den Grenzgebieten, die nach Deutschland ausreisen
wollten. Sieben Millionen Petitionen mit der Bitte, die Gefangenen
zurückzubringen, waren in den Monaten zuvor im Bundeskanzleramt
eingetroffen. Ein sogenannter Freiheitslauf der deutschen Jugend
von Berlin nach Bonn hatte mit einer Kundgebung vor Adenauers
Kanzleramt geendet. In der Bundesrepublik war so der Eindruck
entstanden, wichtigstes Ziel der Reise sei die Heimholung der
Gefangenen.
Am 8. September 1955 landete Adenauer
mit einer Delegation von zweihundert Politikern, Diplomaten,
technischen Mitarbeitern, Sekretärinnen, Leibwächtern und
Journalisten auf dem Moskauer Flughafen Wnukowo. Zehn Jahre nach
Kriegsende und zwei Jahre nach Stalins Tod musste man eine
Konferenz erwarten, die unter schweren emotionalen Belastungen
stattfinden würde, unter den Erinnerungen an den Krieg, unter dem
Misstrauen und der Furcht, mit denen sich Deutsche und Russen
vermutlich gegenüberträten. Moskau, darunter stellten sich viele
eine verarmte, kriegszerstörte, von der Polizei beherrschte, eher
provinzielle Stadt vor, so wie manche von ihnen Russland im Krieg
erlebt hatten. In die Hauptstadt des Weltkommunismus und des
KGB zu reisen war der deutschen
Delegation und den meisten Journalisten auf jeden Fall unheimlich.
Am Tag vor der Abreise hatte Adenauer noch vor Pressevertretern
geäußert, er komme sich vor, als fahre er in das Hauptquartier
einer Räuberbande.
Tatsächlich wusste man in der deutschen
Delegation nur wenig über die Lage in der Sowjetunion nach dem Tode
Stalins. Das Auswärtige Amt verfügte damals noch über keine
Russlandabteilung mit diplomatischen Experten, auch einen
festangestellten Russisch-Dolmetscher gab es noch nicht. Für die
Delegation fand man zum Glück einen klugen Übersetzer russischer
Literatur und Dichtung, Rolf-Dietrich Keil, der Stimmungen bereits
an Tonfall und Ausdrucksweise erkennen konnte. Als Russlandkenner
galt in der Delegation ansonsten ein Professor Koch. Er war in der
NS-Zeit Ostforscher in
Königsberg und »Berater für ukrainische Angelegenheiten« im
Oberkommando der Wehrmacht gewesen und hatte sehr holzschnittartige
Vorstellungen davon, wie man mit Russen umgehen müsse. Die anderen
Mitreisenden waren Diplomaten mit Auslandserfahrung oder führende
Vertreter aus dem Bundestag; manche von ihnen, wie der
Vizepräsident des Deutschen Bundestags Carlo Schmid oder Kurt Georg
Kiesinger, waren zwar gute Gesprächspartner bei offiziellen Essen,
wussten aber kaum etwas über die sowjetische Situation und das
außenpolitische Konzept der neuen Führung.
Ich war zu jung für die Erinnerungen und
Vorurteile, wie sie viele in der Delegation nach Moskau
mitbrachten. Stattdessen war ich neugierig auf dieses fremde Land
und freute mich, dass ich überhaupt an der Reise teilnehmen konnte,
denn eigentlich war das gar nicht vorgesehen gewesen. Die Gruppe
der etwa hundert deutschen und ausländischen Korrespondenten
umfasste unter anderem die Büroleiter der großen Zeitungen,
Agenturen und Rundfunkanstalten mit engen Beziehungen zum
Kanzleramt und zu den Experten der Delegation. Erst in letzter
Minute war aufgefallen, dass keiner von ihnen Russisch verstand.
Daraufhin setzte sich der Kölner Intendant Hartmann entschieden
dafür ein, dass ich mit den älteren Kollegen mitreisen durfte. Für
mich sprach auch, dass ich einige Monate zuvor bei Chruschtschows
erstem Auslandsbesuch in Belgrad eine Art Scoop hatte landen
können: Ich meldete als Erster, dass sich Chruschtschow bei Tito
für Stalins Verbrechen entschuldigt hatte, eine
Weltsensation.
Wir Journalisten waren von Ost-Berlin mit einer
Zusatzmaschine abgeflogen und kamen zwei Stunden vor dem Kanzler in
Moskau an. Während wir auf dem Flugfeld warteten, trat der
sowjetische Protokollchef an unsere Gruppe heran und fragte, ob
jemand vom Rundfunk dabei sei. Ich meldete mich vorsichtig, worauf
er mich zu einem Mikrofon führte und erklärte: »Hier wird eine
Leitung nach Hamburg geschaltet. Von hier können Sie nachher über
die Ankunft Kanzler Adenauers berichten.« Ich war völlig
überrascht, denn es war nichts Derartiges vorbesprochen worden. Der
Mann vom Protokoll – oder vom KGB – meinte jedoch, Rundfunktechniker in
Ost-Berlin würden die Verbindung organisieren. Er drückte mir das
Mikrofon in die Hand und sagte, sobald Kanzler Adenauer und
Ministerpräsident Bulganin sich begrüßten, könne ich anfangen. Zehn
Minuten später öffnete sich die Flugzeugtür, und ich begann das
Geschehen zu schildern, ohne zu wissen, ob mich überhaupt jemand in
Deutschland hörte. Ich beschrieb, wie Adenauer die Gangway
herunterkam und wie die sowjetische Paradeeinheit das Gewehr
präsentierte und das Deutschlandlied spielte, während der Kanzler
mit Ministerpräsident Bulganin vorbeischritt. Auch ohne Kontakt mit
der Technik des NDR in Hamburg
kommentierte ich also eine Zeremonie, die uns Deutschen am Tag
zuvor noch unvorstellbar erschienen war.
Auf einmal beobachtete ich etwas Eigenartiges,
vom Protokoll nicht Vorgesehenes: Adenauer nahm seinen Gastgeber
bei der Hand und führte ihn in Richtung Pressetribüne. Was er zum
Regierungschef der Sowjetunion sagte, konnten wir nicht verstehen.
Mehr als zwanzig Jahre später erzählten mir jedoch der deutsche und
der sowjetische Dolmetscher, was sie bei der Begegnung aus nächster
Nähe erlebt hatten. »Kommen Sie mit. Das sind heute die
eigentlichen Diktatoren«, habe Adenauer halblaut gesagt, während er
Bulganin zu den Fotoreportern mitnahm. Es war eine Bemerkung, die
dem deutschen Dolmetscher unheimlich war: zehn Jahre nach Hitlers
und zwei Jahre nach Stalins Tod so von Diktatoren und Fotografen zu
sprechen. Alles andere, was das Protokoll vorsah – Vorbeimarsch der
Ehrengarde, die flatternden Fahnen der Sowjetunion und der
Bundesrepublik, auch die »Hurra, hurra, hurra«-Rufe –, war dagegen
keine Überraschung. Doch die Art und Weise, wie Adenauer aus der
Situation heraus improvisiert hatte, war für uns ein erstes
Zeichen, dass diese Konferenz durchaus ungewöhnlich verlaufen
könnte – zumal Parteichef Nikita Chruschtschow ein ganz anderer Typ
war als der höfliche, aber konventionelle Bulganin.
Von nun an war alles vorzüglich organisiert.
Das überraschte uns, denn wir hatten uns Moskau anders vorgestellt.
Man behandelte uns großzügig und gastfreundlich. Es gab ein
Besuchsprogramm für Delegierte und Journalisten, das aber kaum
wahrgenommen wurde. Theaterkarten waren reserviert, wurden aber
nicht abgeholt, und in den großen Hotelrestaurants lagen
seitenlange Speisekarten aus, die ungelesen blieben. Die russischen
Kollegen fragten, ob wir deutschen Journalisten wirklich ständig
Artikel und Kommentare über Adenauer in Moskau nach Hause
durchgeben müssten und ob wir gar kein Interesse an Russland
hätten. Manche aus der deutschen Delegation wiederum hegten den
Verdacht, die Sowjets wollten uns Journalisten durch ein
Touristenprogramm bloß ablenken, damit wir nur ja keine wirklichen
Informationen über Moskau sammeln könnten.
Tatsächlich war ein direkter Kontakt mit
Moskauer Bürgern für Journalisten und Delegationsmitglieder so gut
wie unmöglich. Die meisten Russen machten sich schnell davon, wenn
man sie als Deutscher auf der Straße ansprach. Über solchen
Versuchen der Kommunikation hing ein zweifacher Schatten: die
Erinnerung an die schrecklichen Opfer und Wunden, die Deutsche
wenige Jahre zuvor dem Land zugefügt hatten, und darüber hinaus die
Erinnerung an Stalin, zu dessen Lebzeiten jeder Kontakt mit
Ausländern schwer bestraft werden konnte. Diejenigen unter uns, die
etwas über das sowjetische Leben und Denken erfahren wollten – und
das war nicht die Mehrheit in der Journalistengruppe –, hatten das
Gefühl, hinter einer Glasscheibe zu arbeiten.
Am zweiten Abend wagte ich dennoch einen
Spaziergang auf eigene Faust. Die Etagendame auf unserem Flur, die
unübersehbar ein Auge auf uns hielt, saß gerade nicht an ihrem
Platz. In der Halle des Hotel National dösten zwei oder drei Männer
und bemerkten mich nicht. Draußen ging es vorbei an einer Bäckerei
und einem großen Fischgeschäft. Am zentralen Telegrafenamt war ein
Polizist vor der Tür postiert, aber auch er regte sich nicht.
Hinter dem Bolschoi-Theater stand noch einer. Vor der Prunkfassade
des Theaters kam ich auf eine breite Straße mit hohen modernen
Häusern, die in meinem alten Stadtplan gar nicht verzeichnet war.
Gerade die Tatsache, dass sich überhaupt nichts rührte, empfand ich
als bedrohlich. Wir alle waren gewarnt worden, jeder Schritt und
jedes unserer Worte würden registriert und die Geheimpolizei habe
uns immer im Visier. Doch nun ging ich durch die Moskauer Nacht,
ohne dass sich jemand für mich interessierte – auch die Männer
nicht, die bei meiner Rückkehr noch immer in der Hotelhalle saßen,
und die Etagendame fragte bloß, ob ich eine Tasse Tee haben wolle.
Ich war kaum fünf Minuten zurück in meinem Zimmer, da klingelte das
Telefon. Ich hob ab, aber es meldete sich niemand. So unbeobachtet,
wie ich gedacht hatte, war ich offenbar doch nicht gewesen.
Die meisten mitreisenden Bonner Korrespondenten
pflegten ihre deutschen Informationsquellen und wurden ab und zu
von Delegationsmitgliedern und Leuten des Bundespresseamtes mit
einigen Details versorgt. Weder die deutschen noch die sowjetischen
Presseamtsvertreter waren befugt, Eindrücke vom Verlauf der
Verhandlungen wiederzugeben. An Interviews mit Mitgliedern der
Delegation war gar nicht zu denken. Auf sowjetischer Seite wäre
niemand auf die Idee gekommen, Zurufe und Fragen der Journalisten
aufzugreifen. Dennoch merkten wir, dass im Sitzungssaal des
Spiridonowka-Palais etwas Ungewöhnliches vorging, mehr als nur der
Austausch diplomatisch abgewogener Reden. Außenminister Heinrich
von Brentano, erst seit kurzer Zeit im Amt, kam irgendwann
sichtlich erregt aus dem Palais herausgeschossen und rief uns ein
paar Worte zu, so etwas wie: »Unverschämtheit, unerträglich, die
Verhandlungen sind zu Ende. Wir reisen ab!« Nur die schlechten
Telefonverbindungen bewahrten mich davor, eine Falschmeldung in die
Welt zu setzen, wie sie heute innerhalb von Minuten, von Sekunden,
über Rundfunk, Fernsehsender und durch das Internet kursieren
würde. Dabei war das, was der Außenminister uns vier oder fünf
Journalisten, die stundenlang auf der Straße ausgeharrt hatten,
zugerufen hatte, lediglich Brentanos »persönliche Meinung«, wie der
Kanzler uns später erklärte. Als Adenauer selbst aus dem
Verhandlungssaal kam, winkte er uns zu: keine Rede von Abbruch der
Verhandlungen. Anders als die meisten seiner Berater und ohne es
auszusprechen, hatte der Kanzler sich entschlossen, auf keinen Fall
ergebnislos nach Hause zu reisen.
Eine Möglichkeit nachzufragen, gab es an Ort
und Stelle nicht. Sich in sowjetische Hotels einzuschleichen, um
Delegierte zu befragen, war zu normalen Tageszeiten aussichtslos.
Immer weniger deutsche Kollegen wollten länger auf der Straße
warten, und auch die wenigen sowjetischen Journalisten zogen nach
und nach ins Pressezentrum. Nur einer der jüngsten im sowjetischen
Pressetross hielt gemeinsam mit mir bis zur Abfahrt der Limousinen
die Stellung. Wir kamen ins Gespräch und stellten fest, dass wir
beide gern Korrespondenten werden wollten, er in Bonn und ich in
Moskau. Nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen, so dachten
wir, müssten schließlich nicht nur Botschafter, sondern auch
Journalisten ausgetauscht werden.
Lediglich ein paar Starjournalisten oder
Bürochefs, die in Bonn zu den Auserwählten des Kanzlerkreises
gehörten, bekamen Hinweise über den Verlauf der Gespräche. Was am
nächsten Tag in deutschen Zeitungsartikeln darüber erschien, passte
gleichwohl nicht immer zusammen. Hatte Adenauer nun Chruschtschow
mit den Fäusten gedroht oder nicht? Hatte Chruschtschow geflucht
und gepöbelt und ebenfalls mit der Faust gedroht? Und wie hatten
die russischen Gastgeber auf den trockenen Humor Adenauers
reagiert, als der beim ersten Empfang auf ein großes Bild von Karl
Marx zeigte und zu Bulganin sagte: »Der ist auch aus dem
Rheinland.« Oder als der Bundeskanzler den russischen
Ministerpräsidenten fragte, ob er schon mal den Namen Pferdmenges
gehört habe: »Der ist ein Großneffe von Herrn Friedrich Engels und
einer unserer größten Kapitalisten.« Bulganin zeigte keine
Reaktion. Wahrscheinlich wusste er das alles tatsächlich nicht. Es
waren höchstens solche Gesprächssplitter aus den Konferenzräumen,
auf die wir Journalisten uns einen Reim zu machen suchten.
Ansonsten waren wir ahnungslos, wie die Stimmungslage war.
In Moskau lebte und arbeitete zu dieser Zeit
nur ein knappes Dutzend akkreditierter Korrespondenten aus
westlichen Ländern. Sie versuchten natürlich von uns zu erfahren,
was im Verhandlungssaal vorging. Wir dagegen hörten von ihnen, was
Mitarbeiter der deutschen Delegation den amerikanischen, englischen
und französischen Diplomaten, aber nicht den deutschen
Korrespondenten mitgeteilt hatten. Doch die Korrespondenten gaben
uns sehr oft unterschiedliche Informationen weiter. Manche
Botschafter betrieben in dieser Hinsicht ihre ganz eigene Politik.
Der amerikanische Botschafter, der hochangesehene Russlandkenner
Charles Bohlen, war zunächst besonders kritisch und lehnte
Adenauers Moskauer Verhandlungen völlig ab. Dann hörten wir von
amerikanischen Kollegen, Bohlen wolle Adenauers Bemühungen nun doch
unterstützen, denn Präsident Eisenhower habe ihm in einem scharfen
Telegramm mitgeteilt, er vertraue auf Adenauers
Verhandlungsstrategie. Das wiederum ließ die US-Botschaft später über amerikanische
Korrespondenten zu uns Deutschen durchsickern.
Einige Kollegen mit engen Verbindungen zum
Kanzleramt hatten schon aus ihren Bonner Vorgesprächen etwas mehr
Hintergrundwissen und reichten uns ihre Erkenntnisse manchmal
bröckchenweise weiter. Daraus konnte man sich immerhin die deutsche
Themenliste zusammenreimen. Erstens: keine Aufnahme diplomatischer
Beziehungen. Zweitens: Bereitschaft zu Verhandlungen über
Wirtschaftsbeziehungen. Drittens: Belebung der kulturellen
Beziehungen. Und schließlich viertens: Freilassung der
Kriegsgefangenen und Verschleppten. Vielleicht hatte es eine solche
Liste in Bonn wirklich gegeben, aber sie war offensichtlich nicht
die endgültige. Von anderen Bonner Kollegen hörte ich, nach
Adenauers Ansicht könne auch über die Wiedervereinigung gesprochen
werden oder eben doch über eine Art diplomatischer Beziehungen. Ein
Austausch von Botschaftern komme für ihn allerdings wohl nicht in
Frage.
Das Problem war, dass man selbst im inneren
Kern der Delegation nicht genau wusste, was Adenauer vorhatte.
Unter seinen Beratern und Begleitern gab es ganz widersprüchliche
Vorstellungen darüber, wie weit man bei der Aufnahme formeller
Beziehungen gehen solle. Außenminister Brentano etwa war gegen fast
alle Gespräche in Moskau und wollte die Ergebnisse so klein wie
möglich halten. Ebenso wie die Außenminister der drei westlichen
Mächte waren er und sein Beraterstab für eine restriktive
Verhandlungsführung, bei der die Sowjets die bestehenden Grenzen in
Deutschland als »vorläufig, aber unveränderbar« bestätigen sollten.
Sie empfahlen sogar, auf das Wort »Verhandlungen« ganz zu
verzichten und nur den Terminus »Gespräche« zu benutzen.
Eigentlich wollte Adenauer keine deutschen
Politiker mit am Verhandlungstisch haben, die wie Brentano eigene
rigide Vorstellungen über das deutsch-sowjetische Verhältnis
hegten. Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard beispielsweise
hatte er deswegen nicht in die Delegation aufgenommen – das
beklagten später russische Diplomaten, die sich von den
Verhandlungen einen Durchbruch in den Außenhandelsbeziehungen
erhofft hatten. Adenauer hatte Sorge, Verhandlungen in Anwesenheit
des Wirtschaftsministers würden den engen Rahmen überschreiten, den
er gesetzt hatte. Er hatte deswegen den Führer der Freien
Demokraten, Thomas Dehler, ebenfalls außen vor gelassen, weil
dieser wiederum zu stark auf die Wiedervereinigung als
Verhandlungsziel drängte. Bei den vorbereitenden Besprechungen nahm
er durchaus zur Kenntnis, was ihm Mitarbeiter und Experten
vortrugen, gab diesen selbst aber kaum Hinweise darauf, wie weit er
bei den Verhandlungen gehen würde. Adenauer war ein Praktiker und
nicht bereit, seinen Spielraum durch ideologische Vorbehalte oder
durch Anhänger der einen oder anderen Richtung in der Ost- und
Wirtschaftspolitik einengen zu lassen. Sein Antikommunismus und
Antisowjetismus standen schließlich außer Frage.
So begannen die Verhandlungen am 9.
September. Von vielem, was in den folgenden Tagen in Moskau
besprochen wurde, erfuhr ich erst sehr viel später in
Unterhaltungen mit deutschen Delegationsteilnehmern oder sogar erst
nach zwanzig Jahren von einem russischen Dolmetscher. Der Tag
begann mit einem Höflichkeitsbesuch des deutschen Bundeskanzlers
bei Außenminister Molotow und Ministerpräsident Bulganin – das war
pures Protokoll. Niemand aus dem Westen konnte wissen, dass Molotow
zu den alten Führern gehörte, die Chruschtschow wenig später aus
Moskau verbannen würde. Um elf Uhr vormittags saßen sich die
Delegationen an einem langen Tisch im Spiridonowka-Palais
gegenüber. Die erste Sitzung leitete Ministerpräsident Bulganin. Er
hielt eine sehr allgemeine Rede, in der er an gute Zeiten
deutsch-russischer Zusammenarbeit erinnerte und hervorhob, dass der
Friede in Europa auch künftig von solch guter Kooperation abhänge.
Seine Rede rückte dann die Aufnahme diplomatischer Beziehungen in
den Vordergrund. Adenauer dagegen sprach von der defensiven
Ausrichtung der deutschen Wiederbewaffnung im Rahmen der neuen
Verträge, die gerade mit Amerika, Frankreich und England
geschlossen worden waren. Die Frage der deutschen Einheit nannte er
eine Sache der großen Vier. Die Normalisierung der Beziehungen aber
könne erst beginnen, wenn die letzten deutschen Kriegsgefangenen in
der Sowjetunion freigelassen und heimgekehrt seien. Die
Grundsatzerklärungen der beiden Seiten waren sehr ausführlich und
in ihrer Stoßrichtung völlig unterschiedlich, und man trennte sich
ohne Diskussion.
Es folgte eine Verhandlungspause mit
dreistündigem Mittagessen und sehr vielen Trinksprüchen. Adenauer
trank mit Chruschtschow und Bulganin auf ex. Der SPD-Politiker Carlo Schmid, ein großer,
gewichtiger Mann, wurde von Chruschtschow als »Gospodin Velikaja
Germanija«, als »Herr Großdeutschland«, angesprochen und er trank
seinen Wodka wie ein Russe aus dem Wasserglas, was sogar
Chruschtschow beunruhigte. Außenminister Brentano versuchte,
Adenauer zum Abschied zu bewegen und die Begegnung zu beenden. Aber
Chruschtschow und Bulganin protestierten dagegen, auch weil
Adenauer mit seiner Schlagfertigkeit immer wieder Gelächter
hervorrief. Chruschtschow sprach von der sozialen Fürsorge und den
Lebensbedingungen der Bevölkerung, die er verbessern wolle.
Adenauer sagte darauf: »Dann können Sie ja bei uns der CDU beitreten.« Chruschtschow: »Sie würden
mich ja nicht nehmen.« Adenauer: »Bei Ihrem Sozialprogramm gehören
Sie zu uns.« So entstand eine Stimmung, wie sie auf deutscher Seite
nur Adenauer schaffen konnte. Die beiden Außenminister, Molotow und
Brentano, hörten bei alldem nur mit ernsten Mienen zu.
Die meisten deutschen Delegationsmitglieder
hatten zwar in Bonn Handbücher mit Informationen über die Themen
und russischen Partner bekommen, aber auf diese Art von
Verhandlungen waren sie nicht vorbereitet. Adenauer baute sehr auf
den Kontakt mit Ministerpräsident Bulganin, vielleicht weil er ihm
schon einmal Anfang der dreißiger Jahre in Köln begegnet war – er
als Oberbürgermeister von Köln, Bulganin als Oberbürgermeister von
Moskau. Daraus hatte sich jenseits aller Ideologie ein gewisser
Respekt zwischen zwei Amtsinhabern entwickelt. Zweifellos hielt
Adenauer anfänglich Bulganin für den entscheidenden Mann und
Chruschtschow nur für einen, der sich immer wieder vordrängte.
Vertrauenerweckender auf die Deutschen wirkte Bulganin mit seinem
Spitzbärtchen und seiner altväterlichen Art allemal. Außenminister
Molotow dagegen erschien ihnen als Mann aus der zweiten Reihe.
Georgi Malenkow, kurz zuvor noch Ministerpräsident, saß meistens
schweigsam dabei, und viele aus der deutschen Delegation hielten
ihn für einen eher nachdenklichen Intellektuellen. Carlo Schmid
erzählte mir später, Malenkow könne sogar Latein. Die deutschen
Teilnehmer neigten jedenfalls dazu, aus Gesten und Bemerkungen
ihrer Gesprächspartner allzu weitreichende Schlüsse zu ziehen:
Bulganin etwa sei ein Russe wie aus vorrevolutionären Zeiten, ein
Mann, wie man ihn in der klassischen Literatur beschrieben finde.
Der spätere Außenminister Gromyko sei unverkennbar der Spross einer
Adelsfamilie und so weiter.
Auf der sowjetischen Seite hatte Valentin
Falin, der spätere Botschafter in Bonn, die Aufgabe gehabt,
Tausende von Seiten aus westlichen Veröffentlichungen über Adenauer
durchzuarbeiten. Daraus war zweifellos eine ernsthafte Studie
geworden, aber niemand weiß, inwieweit sie Chruschtschow
tatsächlich beeinflusst hat. Ein großer Leser war der nämlich
nicht. Gromyko wiederum soll Adenauer in einer Notiz für sein Amt
als »reaktionären Superpedanten« charakterisiert haben, als einen
Mann, der davon träume, Ostdeutschland zu verschlingen. Vielleicht
hatte Chruschtschow diese Einschätzung im Hinterkopf, als er dem
deutschen Delegationschef im Verhandlungssaal gegenübersaß – die
Wortwechsel waren jedenfalls ungewöhnlich genug. Und sie waren
keineswegs immer freundlich.
Am Konferenztisch hatten sich Szenen mit
Gefühls- und Wutausbrüchen ereignet, die an Dramatik alles
übertrafen, was die deutschen Politiker und Diplomaten auf
internationalen Konferenzen mit westlichen Mächten je erlebt
hatten. Chruschtschow redete Adenauer in der Erregung manchmal mit
»Du, Konrad« an, drohte mit den Fäusten, Adenauer drohte zurück.
Chruschtschow schrie, Adenauer beleidige das sowjetische Volk, wenn
er behaupte, auch sowjetische Soldaten in Deutschland hätten
schreckliche Dinge getan. Adenauer wehrte sich entschieden gegen
den Vorwurf, er sei ein Kriegstreiber, der Hitlers Politik gegen
die Sowjetunion wiederaufnehmen wolle. Wenn sich die Gelegenheit
geboten hätte, beteuerte Adenauer, hätte er Hitler mit eigenen
Händen erwürgt.
Der Zusammenprall der Meinungen und der
Temperamente zeigte nur, wie tief das Verhältnis zwischen Deutschen
und Russen von Erinnerungen und Emotionen geprägt war. Am
Verhandlungstisch hatte Adenauer bei Chruschtschow für Empörung
gesorgt, als er die Freilassung der letzten deutschen
Kriegsgefangenen zur Vorbedingung für verbesserte Beziehungen
machte. Aber Adenauer rechnete damit, dass eine solche Freilassung
unter Umständen der einzige Erfolg sein könnte, der für ihn in
Moskau zu erzielen war. Und so hielt er daran fest, obwohl sein
Berater Herbert Blankenhorn gewarnt hatte, ein derartiges
Insistieren könne dazu führen, dass die sowjetische Seite an die
fast sechs Millionen Kriegsgefangenen in den deutschen Lagern
erinnerte. Die Hälfte von ihnen hatte die Wehrmacht verhungern
lassen oder umgebracht. Ebenso gefährlich war es, die Leiden der
Deutschen unter sowjetischer Besatzung in die Diskussion zu
bringen, denn immerhin hatte Hitlers brutaler Eroberungskrieg 15
Millionen ziviler Sowjetbürger das Leben gekostet.
Was Adenauers Berater nicht wussten:
Chruschtschow und Bulganin wollten die Frage der Kriegsopfer und
besonders der Kriegsgefangenen nicht in einen langen Streit
einbeziehen, weil sie fürchteten, im eigenen Land die Erinnerung an
jene kriegsgefangenen Russen zu wecken, die das Elend der deutschen
Lager überlebt hatten und nach ihrer Rückkehr als Landesverräter in
sibirischen Lagern eingesperrt worden waren. Chruschtschow schob
die Frage der Kriegsgefangenen deshalb zunächst an den Rand der
Diskussion, um sie für die Endphase der Verhandlungen
bereitzuhalten. Er hatte in den letzten Wochen vor der
Adenauer-Reise die DDR-Regierung darauf vorbereiten lassen,
dass Moskau bereit sei, das Thema einzubringen. Die meisten
Gefangenen hatten inzwischen an der etwas verbesserten Versorgung
bemerkt, dass sich eine Änderung ihrer Lage abzeichnete. Das
allerdings war Adenauer und den deutschen Unterhändlern nicht
bekannt, als der Bundeskanzler in der ersten Sitzung ihre
Freilassung als Vorbedingung einer Übereinkunft erwähnte.
So begann der zweite Verhandlungstag in einer
völlig anderen Tonart als der erste. Bulganin griff Adenauers
Bemerkung über die Kriegsgefangenen auf und sprach nun von den
Verbrechen der Hitler-Armee, von den Morden an Frauen, Kindern und
Greisen, von Zehntausenden Opfern in Kiew und der Schlucht in Babi
Jar. Bis dahin hatte niemand in der Sowjetunion diesen Massenmord
an den Juden erwähnt. Bulganin sprach ganz erregt: »Kann man die
Tonnen von Haaren vergessen, die den zu Tode gemarterten Frauen in
Majdanek abgeschnitten wurden?« Niemals hatten er oder andere
Sowjetführer solche Nazigräuel so klar benannt und beschrieben.
Adenauer antwortete spontan und ohne Notizen, man dürfe sich nicht
entgegenschreien, was einer dem anderen vorwerfe, doch dann sprach
er selbst davon, dass auch in der von der Sowjetarmee besetzten
Zone viele entsetzliche Dinge vorgefallen seien.
Es war genau die Art von Diskussion, die
Adenauer eigentlich hatte vermeiden wollen. Die Mitglieder der
deutschen Delegation waren überrascht, dass der Kanzler solche
Anschuldigungen erhob. In den internen Beratungen zuvor hatte er
von allen Zurückhaltung gefordert, und nun löste er selbst die
härteste Auseinandersetzung der deutsch-russischen Verhandlungen
aus. Chruschtschow rief: »Wo sind denn die sowjetischen Männer, die
im Krieg umkamen? In der Erde. In der sowjetischen Erde.« Dabei
soll er aufgestanden sein und Adenauer mit den Fäusten gedroht
haben. Adenauer berichtet in seinen Memoiren, auch er sei
aufgestanden und habe seine Fäuste gegen Chruschtschow erhoben. Nun
warf Chruschtschow in höchst emotionaler Form dem deutschen
Bundeskanzler vor, er wolle die Wiedervereinigung nur, damit ganz
Deutschland Mitglied der NATO
und Todfeind der Sowjetunion und des sowjetischen Volkes werden
könne. So ging es nun stundenlang hin und her. Russische und
deutsche Delegationsmitglieder erzählten mir später kopfschüttelnd
von diesem verbissenen Streit.
Schließlich meldete sich der SPD-Politiker Carlo Schmid, den Adenauer
eigentlich nicht als Verhandlungsteilnehmer, sondern nur als eine
Art würdevollen politischen Beobachter mitgenommen hatte, zu Wort
und hielt eine kluge und menschlich eindrucksvolle Rede. Er bat die
Sowjets darum, Gnade walten und die »Festgehaltenen« zu ihren
Frauen, Kindern und Eltern zurückkehren zu lassen. Da applaudierte
Chruschtschow und sagte: »Das ist das rechte Wort auf die rechte
Art.« Jetzt könne man weitersprechen. Erregung und Schärfe waren
damit vorerst aus der Diskussion genommen.
Nachmittags war von den Spannungen des
Vormittags kaum noch etwas zu spüren. Der Kanzler hatte die
sowjetischen Delegierten auf seine Datscha eingeladen – in das
Landhaus, das ihm die Russen zur Verfügung gestellt hatten.
Chruschtschow erschien in einer buntbestickten Russenbluse, und
Adenauer überreichte ihm als Gastgeschenk eine Flasche
Schwarzwälder Kirsch, den Chruschtschow sogleich probierte, aber zu
stark fand. Die Deutschen waren überrascht. Adenauer selbst hatte
seine Mitarbeiter darauf vorbereitet, dass russische Gastgeber
enorm trinkfest seien, und ihnen vor Beginn des Empfangs einen
Esslöffel Olivenöl verpassen lassen. Ganz so gefährlich wurde es
dann doch nicht, die Stimmung war vergleichsweise freundlich und
unverkrampft. Dem Pressechef der Bundesregierung, Felix von
Eckardt, gelang es, Journalisten durch das Tor auf das Gelände der
Datscha zu lotsen. Das war zwar gegen alle Spielregeln, aber die
Polizisten gestatteten uns dennoch den Zutritt. Dann ließen sich
die sowjetischen und deutschen Gäste im Garten und im Haus zu allen
möglichen, keineswegs protokollregulierten Fotos bewegen.
Irgendwann wurde es Ministerpräsident Bulganin zu bunt, und er
fragte, ob er auch noch auf einen Baum klettern solle. So locker
hatten wir uns die Begegnung zwischen sowjetischen Führern und
deutschen Gästen nicht vorgestellt, jedenfalls passte der Eindruck
nicht recht zu den Informationen über angeblich laute
Auseinandersetzungen während der Verhandlungen. Wie ich später von
einem der russischen Dolmetscher erfuhr, unterhielt sich Adenauer
an diesem Nachmittag mit Chruschtschow sehr allgemein über
Weltpolitik, über Düsenflugzeuge, über Dinge des persönlichen
Lebens. Es war ein fast zwangloses Gespräch, das manchem aus der
deutschen Delegation missfiel, Adenauer selbst aber außerordentlich
wichtig war. Unter uns Journalisten waren viele enttäuscht von der
Belanglosigkeit dessen, was wir aus zweiter Hand hörten.
Am Abend saßen wir mit einigen Hundert
sowjetischen Zuschauern im Bolschoi-Theater und sahen nicht nur die
große und weltberühmte Aufführung des Balletts Romeo und Julia, sondern auch einen bewegenden
Auftritt des sowjetischen und des deutschen Regierungschefs. Schon
als Bulganin und Adenauer die Zarenloge betraten, erhob sich das
russische Publikum und begrüßte die beiden mit großem Beifall. In
der Pause, als es in einem Nebenraum hinter der Zarenloge Kaviar
und Wodka gab, wurde einigen konservativeren Mitgliedern der
deutschen Delegation das Klima der Verbrüderung fast unheimlich. Im
Vorfeld der Reise hatte man in Bonn gerätselt, wie wohl
Staatssekretär Hans Globke in Moskau aufgenommen würde – ein Mann,
der in Hitlers Reichsinnenministerium die juristischen Grundlagen
der Judenverfolgung mitformuliert hatte. Aber anders als einige
befürchteten, gab es keine kritischen Hinweise auf seine
Vergangenheit, wie man sie aus der DDR-Presse kannte. Im Gegenteil: In der
weißgoldenen Zarenloge des Bolschoi-Theaters trat Chruschtschow auf
Globke zu, ließ zwei Gläser Wodka einschenken und gratulierte ihm
zum Geburtstag. Sie tranken in einem Zug aus, ließen nachschenken
und tauschten die Gläser. Man konnte glauben, sie hätten
Bruderschaft getrunken.
Getanzt von der großen Galina Ulanowa, erlebte
das Publikum den Kampf zwischen den Geschlechtern Montague und
Capulet und den Tod Julias und Romeos. Als sich die Väter auf der
Bühne über den Leichen ihrer Kinder in die Arme fielen, erhoben
sich Bulganin und Adenauer von ihren Sitzen und fassten sich an den
Händen. Den Zuschauern schien es, als würden die beiden sich
ebenfalls gleich in die Arme fallen. Im Saal und auf den Rängen des
Bolschoi-Theaters applaudierten die Menschen begeistert und
gerührt. Ihr Beifall galt nicht nur der Ulanowa, sondern den beiden
alten Männern, die da in einer Geste der Versöhnung in der goldenen
Loge verharrten. Auch bei den meisten Mitgliedern der deutschen
Delegation löste sich die Anspannung. Dieser Eindruck allerdings,
das merkte ich in den Gesprächen mit Delegationsmitgliedern, wurde
schon nach wenigen Stunden vom politischen Kalkül überlagert.
Manche sahen in Adenauers Geste nur Berechnung. Der Kanzler selbst
bemerkte später einmal, er habe ganz impulsiv gehandelt. So haben
es damals die russischen Zuschauer im Bolschoi-Theater und auch ich
empfunden. Die Erinnerung an den Krieg war noch immer so lebendig
und die Furcht vor einem neuen Konflikt so groß, dass das Bild der
beiden Männer einen Ausbruch echten Gefühls ausgelöst hatte. Mein
Eindruck war, dass Adenauer die Bedeutung dieses Augenblicks
erkannt hatte.
Der dritte Verhandlungstag war ein
Kontrastprogramm. Erst ein Protokollbesuch Adenauers beim Moskauer
Oberbürgermeister und dann eine Besichtigung der Kreml-Museen.
Parallel dazu Gespräche der Außenminister Molotow und Brentano, der
beiden größten Zweifler am Sinn dieser Verhandlungen. Wie erwartet,
produzierten sie Missverständnisse und Verärgerung. Im deutschen
Sonderzug, in dem sich viele aus der deutschen Delegation trafen,
forderten einige daraufhin, man solle sofort abreisen.
Bundespressechef von Eckardt erzählte später, er habe in einem
offenen, unverschlüsselten Telefongespräch eine Lufthansa-Maschine
aus Deutschland für den vorzeitigen Rückflug angefordert. Ob
Adenauer selbst den Einfall mit dieser unausgesprochenen
Abreisedrohung gehabt hatte, konnten wir Journalisten nicht
herausfinden, und ob die sowjetische Seite darauf reagierte,
erfuhren wir erst recht nicht.
Meinen Kollegen und mir schien es, als sei die
Luft aus den Verhandlungen nun endgültig heraus. Jetzt stehe nur
noch das abendliche Schlusszeremoniell an, so dachten wir.
Tatsächlich wurde dieses dann auch mit allem zaristischen wie
sowjetischen Pomp abgewickelt, ein großer Empfang im Kreml für
mehrere Hundert Gäste. Salutierende Gardisten standen auf den
Stufen der großen Treppe zum Georgssaal. Eine dicke rote Kordel
trennte die Sowjetführer und die deutsche Delegation von der Masse
der Gäste. Die meisten Reden wurden vom Blatt gehalten, wirkten
präzis abgestimmt und enthielten keine Überraschungen: das Ende
einer ergebnislosen Großkonferenz. Dann jedoch sah ich, wie
Ministerpräsident Bulganin den deutschen Bundeskanzler am Arm nahm
und, gefolgt von den beiden Dolmetschern, mit ihm zur Seite des
Saals ging. Die anderen Gäste, mit dem Champagner- oder Wodkaglas
in der Hand, betrieben derweil weiter Konversation, während
zwischen Adenauer und Bulganin ein intensives Gespräch entstand.
Die Dolmetscher haben es in ihren Notizen festgehalten.
Nach drei langen Tagen begann Bulganin mit der
Frage: »Wie wollen wir nun diese Verhandlungen abschließen?«
Adenauer wiederholte die Formeln vom ersten Tag und sagte mit
bewegter Stimme, er habe den festen und aufrechten Willen, den
Frieden zu sichern und die Verhandlungen deshalb zu einem guten
Ende zu führen. Es entstand eine Pause, dann sagte Adenauer, er
wolle in der Offenheit und Ehrlichkeit bis zum Letzten gehen: Die
Frage der Kriegsgefangenen und anderer in der Sowjetunion lebender
Deutscher sei nach allem, was das deutsche Volk habe durchmachen
müssen, von außerordentlicher psychologischer Bedeutung. Ohne eine
Lösung dieser Frage könne eine Normalisierung der Beziehungen
zwischen Bonn und Moskau der deutschen Öffentlichkeit nicht
zugemutet werden. Er bat Bulganin – im Protokoll eines der
Dolmetscher steht das Adjektiv »inständig« –, wenigstens einen
Schritt in diese Richtung zu tun. In den letzten zwei Jahren seien
Briefe von hundertdreißigtausend Deutschen eingegangen, die aus der
Sowjetunion in die Bundesrepublik ausreisen wollten. Die Briefe
lägen vor, so Adenauer, aber er wolle die Atmosphäre der
Verhandlungen nicht dadurch stören, dass er auch dieses Material
auf den Tisch lege. Bulganin nickte: Im Fall der Aufnahme
diplomatischer Beziehungen könnten alle diese Personen freigegeben
werden.
Wir Journalisten drängelten uns an der roten
Kordel und sahen, dass das Gespräch zwischen den beiden nicht im
Streit endete. Adenauer, der Wochen vorher den westlichen
Regierungen erklärt hatte, dass eine gegenseitige diplomatische
Anerkennung zwischen Moskau und Bonn nicht in Frage komme, sagte
nun zu Bulganin, dieser habe ihn mit seinen Worten ganz glücklich
gemacht. Bulganin wiederum gab dem Bundeskanzler das Ehrenwort der
Sowjetregierung und wiederholte mehrere Male, das Wort werde
gehalten. Nach Tagen angespannter Verhandlungen kam der Durchbruch
also am Rande eines Kreml-Empfangs. Unter den deutschen Delegierten
fragten manche allerdings, ob Adenauer nicht seine ganze
außenpolitische Strategie aufgegeben habe, indem er auf ein
Ehrenwort hin die Aufnahme diplomatischer Beziehungen
akzeptierte.
Ein letzter Verhandlungstag musste nun noch der
klärenden Auseinandersetzung über Formulierungen dienen. Es
scheint, als seien Chruschtschow, Bulganin und Adenauer von der
Wirkungskraft diplomatischer Vorbehaltsklauseln weniger überzeugt
gewesen als ihre Außenminister und die Experten, die noch einige
Stunden lang konferierten und über den Text der Briefe
verhandelten, die als Konferenzergebnis ausgetauscht werden
sollten. Die Formulierungen, auf die sie sich einigten, wirkten
letztlich unverbindlich. Die Aufnahme normaler Beziehungen, »die
zur alsbaldigen Wiederherstellung eines deutschen demokratischen
Staates« beitragen würden, war eine Wendung, auf der die deutsche
Seite ursprünglich hatte bestehen wollen, doch die sowjetischen
Unterhändler waren auf keinen Fall bereit, das Wort »alsbaldig« zu
akzeptieren. Die Entlassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen
wurde überhaupt nicht erwähnt. Bei den Trinksprüchen des
Abschlussbüfetts hörte ich, wie Adenauer sagte, leider müsse er
wohl seine Karte für das Ballett »Schwanensee« verfallen lassen,
weil kein Ergebnis in Sicht sei. Aber dann fuhr er doch noch ins
Bolschoi-Theater. Den Brief mit den deutschen Vorbehalten, die das
Alleinvertretungsrecht der Bundesrepublik für ganz Deutschland und
die Vorläufigkeit der Grenzen darlegten, hat er irgendwann
spätnachts oder am nächsten Morgen vor der Abfahrt ohne Zeremonie
unterzeichnet.
Ich verbrachte den Abend des vierten und
letzten Verhandlungstages mit drei Kollegen im Hotelzimmer. Wir
schrieben auf, was wir an Informationen oder Gerüchten tagsüber
gesammelt hatten, und verglichen, was an Hinweisen im Umlauf war.
Vieles war Spekulation, einiges gezielte Stimmungsmache, Fakten und
Zitate fehlten ganz. Die Delegationsmitglieder, die bei der
Formulierung der Abschlussdokumente mitgemacht hatten, waren für
uns Journalisten unerreichbar. In diesen Nachtstunden erfuhr ich
wieder einmal, dass es meist mehr Fragen gab als Antworten und dass
auch diese Antworten wiederum oft fragwürdig blieben. Aus den
offiziellen Verlautbarungen am Tag danach ließ sich ebenfalls nicht
wirklich ablesen, was sich durch die Moskauer Entscheidungen im
Verhältnis zwischen Deutschen und Russen verändern würde. Die
Gewinner waren zweifelsohne die Kriegsgefangenen, die von ihren
Lagerkommandanten schon auf die Entlassung vorbereitet worden waren
und wenige Wochen später in der Bundesrepublik eintrafen. Jubel und
Anerkennung für Adenauers Befreiungsaktion waren in der
Bundesrepublik gewaltig. In den sowjetischen Zeitungen dagegen war
zu lesen, dass die Kriegsgefangenen aufgrund der Bitte des
Präsidenten der DDR, Wilhelm
Pieck, begnadigt worden seien.
Adenauers Moskaureise markierte
letztlich keineswegs den Anfang neuer Beziehungen zwischen der
Sowjetunion und der Bundesrepublik. Bereits wenige Tage nach dem
Ende der Gespräche war das Verhältnis zwischen Bonn und Moskau so
formell und distanziert wie vorher, und so sollte es auch noch mehr
als ein Jahrzehnt bleiben. Drei Jahre lang verhandelte man in den
beiden Hauptstädten weiter über juristische Feinheiten der
Konsular- und Handelsverträge. Über die Wiedervereinigung konnte
überhaupt nicht gesprochen werden. Die diplomatischen Beziehungen
mit Moskau blieben ein Sonderfall: Bonn akzeptierte sie nur, weil
die Sowjetunion als Siegermacht gewisse Sonderfunktionen im ganzen
geteilten Deutschland hatte. Ansonsten galt die Regel: Ein Land,
das die DDR anerkannte, durfte
keine diplomatischen Beziehungen mit der Bundesrepublik
unterhalten.
Mit einer solchen Entwicklung hatte ich nicht
gerechnet, als ich mich gleich nach der Rückkehr bemühte, als
erster ständiger Korrespondent aus Westdeutschland ein Visum für
die Sowjetunion zu bekommen. Jetzt, da die letzten deutschen
Kriegsgefangenen von Adenauer endlich aus der Sowjetunion
herausgeholt worden waren, konnten die meisten meiner Kollegen und
Freunde nicht recht verstehen, dass ich freiwillig nach Moskau
umsiedeln wollte. Aber ich war überzeugt davon, dass Moskau zwar
nicht gerade der angenehmste, aber sicherlich einer der
spannendsten Korrespondentenposten war, den man in diesen Jahren
bekommen konnte.
Der neue Chef des Bundespresseamts war immerhin
bereit, bei einer Flasche Wein meinen Plan zu diskutieren. Er gab
sich jedoch skeptisch: Die Akkreditierung eines Korrespondenten sei
eine Sache der Gegenseitigkeit, und ob man einen sowjetischen
Korrespondentenposten in Bonn haben wolle, sei auf der deutschen
und vermutlich auch der sowjetischen Seite ungeklärt. Daraufhin
wandte ich mich an einen älteren Kollegen, der in den dreißiger
Jahren in Moskau gewesen war und jetzt mit einem befristeten Visum
nach Moskau fahren durfte. Klaus Mehnert versprach mir, den
russischen Kollegen zu kontaktieren, mit dem ich während des
Adenauer-Besuchs über unseren gemeinsamen Wunsch gesprochen hatte,
Korrespondent im Land des jeweils anderen zu werden. Nach einigen
Wochen kehrte er mit der Nachricht zurück, dass möglicherweise die
Gewerkschaftszeitung Trud, ein Blatt mit
Millionenauflage, den russischen Journalisten nach Bonn schicken
könne. Also ging ich wieder zum Chef des Bundespresseamts und
berichtete ihm, in Moskau bereite man die Akkreditierung eines
ständigen Korrespondenten in Bonn vor. Vielleicht klang meine
Darstellung ein wenig definitiver als die Information, die ich aus
Moskau bekommen hatte. Wie auch immer, einige Wochen später rief
mich der Bundespressechef an: Es sei von sowjetischer Seite
tatsächlich eine Aufenthaltsgenehmigung für einen Korrespondenten
in Bonn beantragt worden. Jetzt könne ich an meiner Akkreditierung
in Moskau weiterarbeiten.
Es sah also gut aus. Nun musste ich nur noch
die ARD, die Gemeinschaft der
westdeutschen Sender, davon überzeugen, dass der deutsche Rundfunk
einen Korrespondenten in Moskau brauchte. Bei einigen Intendanten
war das nicht schwer, andere dagegen fanden jeden Kontakt mit der
kommunistischen Weltmacht überflüssig und gefährlich. Es sei
widersinnig, meinten diese Kritiker, dass sich die ARD mit einem Mann in Moskau die
sowjetische Propaganda auf eigene Kosten ins Programm hole. Der
Kölner Intendant zog einen Schlussstrich unter diese Debatte: Er
entschied, mich als WDR-Korrespondenten nach Moskau fahren zu
lassen und meine Berichte allen ARD-Sendern anzubieten, die sie übernehmen
wollten. Plötzlich ging alles ganz schnell: Ich holte mein
sowjetisches Dauervisum bei der Botschaft in Bonn ab, und mein
russischer Kollege erhielt seines von der deutschen Botschaft in
Moskau. Und so war ich bereits ein paar Wochen später zum zweiten
Mal auf dem Weg in die sowjetische Hauptstadt.