Das Grauen aus dem Hügelgrab

Steve Brill glaubte nicht an Geister und Dämonen. Juan Lopez schon. Aber weder die Vorsicht des einen noch die beharrliche Skepsis des anderen boten einen Schutzschild gegen das Grauen, das über sie hereinbrach – ein Grauen, das die Menschen seit über dreihundert Jahren vergessen hatten – eine kreischende Angst, die wie ein Ungeheuer aus schwarzen, vergessenen Zeitaltern wiederauferstanden war.

Doch als Steve Brill an diesem letzten Abend auf seiner maroden Veranda saß, bewegten sich seine Überlegungen so weit entfernt von unheimlichen Bedrohungen, wie sie überhaupt nur sein konnten. Er hing schmerzlichen, aber materialistischen Gedanken nach, ließ den Blick über sein Farmland schweifen und fluchte. Brill war hochgewachsen, langgliedrig und zäh wie Stiefelleder – ein echter Sohn der stählernen Pioniere, die der Wildnis das Land in Westtexas abgetrotzt hatten. Seine Haut war von der Sonne gebräunt, und er war stark wie ein Langhornochse. Seine hageren Beine steckten in Stiefeln, die sein Cowboyherz erahnen ließen, und mittlerweile verfluchte er sich selbst dafür, dass er je aus dem stürmischen Sattel seines glutäugigen Mustangs gesprungen und es mit der Landwirtschaft versucht hatte. Er war nicht zum Farmer geboren, das musste der junge Draufgänger sich nun ganz nüchtern eingestehen.

Sein Versagen war aber nicht allein seine Schuld gewesen. Im Winter hatte es viel geregnet – ungewöhnlich viel für Westtexas –, sodass er auf eine wirklich gute Ernte hoffte. Aber, wie gewöhnlich, war er vom Pech verfolgt. Später im Jahr zerstörte ein heftiger Sturm das knospende Korn. Das Getreide, das so vielversprechend aussah, wurde von einem schrecklichen Hagelsturm zerfetzt und zu Boden gerissen, kaum dass es sich gelb verfärbte. Eine Phase extremer Dürre, auf die ein weiterer Hagelsturm folgte, gab dem Mais dann schließlich den Rest.

Die Baumwolle, die sich irgendwie durch die schwerste Zeit rettete, fiel zuletzt noch einem Heuschreckenschwarm zum Opfer, der Brills Felder fast über Nacht zerstörte. Und hier saß Brill nun und schwor sich, seine Pacht nicht zu verlängern – zutiefst dankbar, dass ihm das Land nicht gehörte, das ihn so viel Schweiß gekostet hatte, und dass im Westen Berge und weite Hügellandschaften warteten, in denen ein starker junger Mann sich seinen Lebensunterhalt jederzeit mit Lasso und Pferd verdienen konnte.

Während Brill diesen mürrischen Gedanken nachging, sah er seinen nächsten Nachbarn auf sich zukommen. Juan Lopez war ein wortkarger alter Mexikaner, der knapp außer Sichtweite hinter dem Hügel jenseits des Bachs in einer Hütte lebte und sich als Hilfsarbeiter über Wasser hielt. Zurzeit grub er ein Stück Land auf einer benachbarten Farm um, und der Rückweg zu seiner Hütte führte zum Teil über Brills Weideland.

Gelangweilt beobachtete Brill, wie er durch den Stacheldrahtzaun kletterte und über den Trampelpfad durch das kurze trockene Gras trottete. Lopez arbeitete nun schon seit über einem Monat auf dieser Farm – er fällte harte, knorrige Mesquitebäume und grub ihre unglaublich langen Wurzeln aus, und Brill wusste, dass er immer denselben Weg nach Hause nahm. Steve sah, dass er einen großen Bogen machte – vermutlich wollte er einem niedrigen runden Hügel ausweichen, der sich auf dem Weideland erhob. Lopez umging den Erdhügel weitläufig, und Brill fiel auf, dass der alte Mexikaner das jedes Mal tat. Und an noch etwas erinnerte sich Brills träger Verstand – Lopez beschleunigte jedes Mal seine Schritte, wenn er den Hügel umging, und er passierte ihn stets vor Sonnenuntergang, obwohl die mexikanischen Hilfsarbeiter normalerweise von Sonnenaufgang bis zum letzten Licht der Dämmerung arbeiten, wenn sie pro Morgen und nicht pro Tag bezahlt werden. Brills Neugier war geweckt.

Er stand auf, schlenderte den flachen Hang hinunter, an dessen höchstem Punkt seine Hütte stand, und winkte dem erschöpften Mexikaner zu.

»Hey, Lopez, warte mal!«

Lopez hielt inne, sah sich um und blieb wenig begeistert stehen, als er den weißen Mann auf sich zukommen sah.

»Lopez«, sagte Brill gelangweilt, »es geht mich ja eigentlich nichts an, aber ich wollte dich trotzdem fragen – warum weichst du diesem alten Indianergrabhügel immer so weit aus?«

»No sabe«, grummelte Lopez nur.

»Du alter Lügner«, entgegnete Brill freundlich. »Du bist ein ganz Schlauer; dein Englisch ist genauso gut wie meins. Was ist denn los – glaubst du, dass es in dem Hügel spukt oder so?«

Brill sprach zwar Spanisch und konnte es lesen, aber wie die meisten Engländer zog er es vor, in seiner Muttersprache zu kommunizieren.

Lopez zuckte nur mit den Schultern.

»Das ist kein guter Ort, no bueno«, murmelte er und wich Brills Blick aus. »Verborgene Dinge soll man ruhen lassen.«

»Ich glaube, du hast Angst vor Gespenstern«, zog Brill ihn auf. »Was soll’s, wenn das ein Grabhügel der Indianer ist, dann sind diese Indianer schon so lange tot, dass selbst ihre Geister mittlerweile dahingeschieden sind.«

Brill wusste, dass die ungebildeten Mexikaner abergläubische Abscheu vor solchen Grabhügeln empfanden, die überall im Südwesten zu finden sind – Überbleibsel aus einer vergangenen, vergessenen Zeit, in denen die vermodernden Knochen von Häuptlingen und Kriegern eines vergessenen Volkes ruhten.

»Man sollte nicht stören, was in der Erde begraben liegt«, brummte Lopez.

»Unsinn«, erwiderte Brill. »Ich und ein paar von meinen Jungs haben einen dieser Hügel drüben in Palo Pinto ausgehoben und Skelettknochen, Perlen, Bogenspitzen aus Feuerstein und all solches Zeug ausgegraben. Ich habe ein paar von den Zähnen lange Zeit behalten, bis ich sie irgendwann verloren habe, und ich bin noch nie heimgesucht worden.«

»Indianer?«, schnauzte Lopez unerwartet barsch. »Wer spricht denn von Indianern? In diesem Land hat es nicht nur Indianer gegeben. In alten Zeiten sind hier seltsame Dinge passiert. Ich habe die Geschichten von meinem Volk gehört, wir geben sie von Generation zu Generation weiter. Und mein Volk war lange vor dem Ihrem hier, Señor Brill.«

»Ja, das stimmt«, gab Steve zu. »Die ersten Weißen in diesem Land waren natürlich die Spanier. Coronado soll nicht weit von hier vorbeigekommen sein, wie man hört, und Hernando de Estradas Expedition führte ihn auch hierher; das war vor langer Zeit, wann genau, weiß ich nicht.«

»Es war 1545«, sagte Lopez. »Sie haben ihr Lager da drüben aufgeschlagen, wo jetzt Ihre Koppel ist.«

Brill drehte sich um und sah zu seiner eingezäunten Koppel hinüber, auf der sein Reitpferd, ein paar Arbeitspferde und eine dürre Kuh standen.

»Wie kommt es, dass du so viel darüber weißt?«, fragte er neugierig.

»Einer meiner Vorfahren gehörte zu de Estradas Expedition. Ein Soldat, Porfirio Lopez; er hat seinem Sohn von dieser Expedition erzählt, der erzählte es seinem Sohn, und so erreichte mich die Geschichte nach mehreren Generationen, aber ich habe keinen Sohn, dem ich sie erzählen könnte.«

»Ich wusste nicht, dass du dich so gut auskennst. Weißt du vielleicht auch etwas über das Gold, das de Estrada hier in der Gegend versteckt haben soll?«

»Es gab kein Gold«, grummelte Lopez. »De Estradas Soldaten trugen nur ihre Waffen bei sich, und sie mussten sich durch Feindesland kämpfen – viele ließen unterwegs ihr Leben. Später – viele Jahre später – wurde ein Maultier-Treck aus Santa Fe von den Komantschen angegriffen, das Gold haben sie versteckt, um entkommen zu können; so haben sich die Erzählungen vermischt. Aber auch dieses Gold ist nicht mehr dort, weil ein paar Gringos, Büffeljäger, es fanden und ausgruben.«

Brill nickte abwesend, hörte jedoch kaum noch zu. Um keinen anderen Ort auf dem nordamerikanischen Kontinent ranken sich so viele Legenden über versteckte Schätze wie um den Südwesten. Ungezählte Reichtümer sind in alten Zeiten über die Hügel und Ebenen von Texas und New Mexico hin- und hergewandert, als die Gold- und Silberminen der Neuen Welt noch den Spaniern gehörten, die damals auch den lukrativen Pelzhandel des Westens kontrollierten – und Echos dieser Reichtümer hallen noch immer in Geschichten über Kammern voller Gold wider. In Brill erwuchs ein unsteter Traum, der aus Misserfolgen und drückender Armut geboren war.

Laut sagte er: »Nun, wie dem auch sei, ich habe sonst nichts zu tun, und ich glaube, ich grabe mal diesen alten Hügel auf und sehe, was ich finde.«

Diese einfache Ankündigung hatte auf Lopez eine regelrechte Schockwirkung. Er wich zurück, und sein dunkles Gesicht wurde aschfahl. Seine schwarzen Augen blitzten auf, und dann warf er seine Arme mit einer Geste heftigen Protests in die Luft.

»Dios, no!«, rief er aus. »Tun Sie das nicht, Señor Brill! Es gibt einen Fluch – mein Großvater hat mir davon erzählt …«

»Was hat er dir erzählt?«

Lopez verfiel in düsteres Schweigen.

»Ich kann es Ihnen nicht sagen«, murmelte er schließlich. »Ich habe geschworen, zu schweigen. Nur meinem ältesten Sohn könnte ich mich anvertrauen. Aber Sie müssen mir glauben, wenn ich sage, dass Sie sich lieber die Kehle aufschlitzen lassen sollten, als dieses verfluchte Hügelgrab zu öffnen.«

»Nun«, entgegnete Brill, den der mexikanische Aberglaube ungeduldig machte, »wenn es so schrecklich ist, wieso erzählst du es mir dann nicht? Gib mir einen logischen Grund, weshalb ich es nicht aufgraben sollte.«

»Ich kann nicht darüber sprechen!«, brüllte der Mexikaner verzweifelt. »Ich weiß, dass es wahr ist! Aber ich habe auf das heilige Kruzifix geschworen, dass ich schweigen werde, so wie jeder Mann in meiner Familie es geschworen hat. Es ist so entsetzlich, schwarz und finster, dass ich ewige Verdammnis riskiere, wenn ich auch nur darüber spreche! Wenn ich es Ihnen sage, reiße ich damit meine Seele aus meinem Körper. Ich habe es geschworen – und ich habe keinen Sohn, deshalb sind meine Lippen für immer versiegelt.«

»Tja, also«, bemerkte Brill daraufhin sarkastisch, »wieso schreibst du es nicht einfach auf?«

Lopez zuckte zusammen, starrte ihn an und ging, zu Steves Überraschung, auf den Vorschlag ein.

»Das werde ich. Dios sei Dank, dass ein guter Priester mir das Schreiben beigebracht hat, als ich noch ein Kind war. In meinem Schwur war nicht vom Aufschreiben die Rede. Ich habe nur geschworen, nicht darüber zu sprechen. Ich werde alles für Sie niederschreiben, wenn Sie schwören, dass Sie später nicht darüber sprechen und das Papier zerstören werden, sobald Sie es gelesen haben.«

»Natürlich«, erwiderte Brill, um ihm seinen Willen zu lassen, und der alte Mexikaner wirkte sehr erleichtert.

»Bueno! Ich gehe sofort nach Hause und schreibe alles auf. Morgen, wenn ich zur Arbeit gehe, bringe ich Ihnen das Papier, dann werden Sie verstehen, weshalb niemand diesen verfluchten Grabhügel ausheben darf!«

Damit eilte Lopez nach Hause, und durch die ungewohnt schnellen Schritte schaukelten seine gebeugten Schultern hin und her. Steve sah ihm grinsend nach, zuckte die Achseln und ging zu seiner eigenen Hütte zurück. Dann hielt er jedoch noch einmal inne und blickte sich zu dem niedrigen, runden Hügel um, der rundum mit Gras bewachsen war. Es konnte nur ein Indianergrab sein, entschied er, denn es war ebenso symmetrisch wie andere Indianergräber, die er bereits gesehen hatte, und sah auch sonst ganz ähnlich aus. Sein Blick verfinsterte sich, als er versuchte, die angebliche Verbindung zwischen dem geheimnisvollen Hügel und Juan Lopez’ kriegerischem Vorfahren zu ergründen.

Brill sah noch einmal zu der sich entfernenden Gestalt des alten Mexikaners hinüber. Ein flaches Tal – von einem nahezu ausgetrockneten Bach geteilt und von Bäumen und Buschwerk begrenzt – lag zwischen Brills Weideland und dem niedrigen, nur leicht abschüssigen Hügel, hinter dem Lopez’ Hütte stand. In diesem Moment verschwand der alte Mexikaner zwischen den Bäumen am Bachufer, und Brill fasste einen spontanen Entschluss.

Er eilte den Hang hinauf und holte Hacke und Spaten aus dem Werkzeugschuppen, der hinter seiner Hütte stand. Die Sonne war noch nicht untergegangen, und Brill glaubte, dass er den Grabhügel weit genug ausheben konnte, um zu erkennen, was sich darin befand. Wenn nicht, würde er im Schein einer Laterne weiterarbeiten. Steve folgte, wie die meisten seiner Vorfahren, fast immer seinen Impulsen, und im Augenblick war er von dem Drang erfasst, diesen mysteriösen Hügel auszugraben und herauszufinden, was darin verborgen lag – wenn dort etwas verborgen lag. Wieder kam ihm der Gedanke an einen Schatz, und Lopez’ ausweichendes Verhalten bestärkte ihn in diesem Gedanken zusätzlich.

Was, wenn in diesem grasbewachsenen Erdhügel tatsächlich Reichtümer versteckt waren – Roherz aus vergessenen Minen oder geprägte Münzen aus dem alten Spanien? War es denn nicht möglich, dass de Estradas Musketiere diesen Hügel selbst über einem Schatz aufgeschüttet hatten, den sie nicht mit sich nehmen konnten, und dass sie ihn wie ein Indianergrab geformt hatten, um Schatzsucher in die Irre zu führen? Wusste der alte Lopez davon? Wenn der alte Mexikaner wirklich von einem Schatz dort wusste, wäre es nicht verwunderlich, dass er dessen Ruhe nicht stören wollte. Von entsetzlicher, abergläubischer Angst getrieben, würde er vermutlich lieber ein karges, mühevolles Leben führen, als zu riskieren, den Zorn der dort lauernden Geister und Teufel auf sich zu ziehen – denn die Mexikaner sagen, verstecktes Gold sei stets verflucht, und gewiss würde auch dieses Grab in schreckliches Verderben führen. Nun, überlegte Brill, die Engländer fürchteten sich nicht vor lateinamerikanisch-indianischen Teufeln, sie wurden nur von den Dämonen der Dürre, des Sturmes und der Missernte gequält.

Steve machte sich mit dem wilden Eifer an die Arbeit, der so typisch für seinesgleichen war. Die Aufgabe war nicht leicht; der Boden, gegrillt von der unbarmherzigen Sonne, war stahlhart und voller Steine und Kiesel. Brill geriet heftig ins Schwitzen und stöhnte vor Anstrengung, aber das Fieber der Schatzjäger hatte ihn längst erfasst. Er wischte sich den Schweiß aus den Augen und trieb die Hacke mit so mächtigen Hieben in den Boden, dass die feste Erde sich spaltete und zerbröckelte.

Als die Sonne unterging, schuftete er in der langen, verträumten Sommerdämmerung weiter und vergaß dabei beinahe Raum und Zeit. Er fand Spuren von Holzkohle in der Erde, was ihn der Überzeugung näherbrachte, der Hügel sei ein echtes Indianergrab. Als die Männer des uralten Volkes diese Grabstätten schufen, entzündeten sie während des Baus oft ein Feuer, das tagelang auf den Gräbern brannte. In allen Grabhügeln, die Steve je geöffnet hatte, war dicht unter der Oberfläche eine solide Holzkohleschicht zutage getreten. Die Holzkohlestücke, die er hier fand, lagen hingegen überall in der Erde verstreut.

Seine Vorstellung einer von Spaniern gebauten Schatzkammer begann zu verblassen, aber er machte dennoch weiter, schließlich konnte man ja nie wissen. Vielleicht hatte dieses eigenartige Volk, dessen Angehörige heute Hügelbauer genannt werden, eigene Schätze gehabt, die es mit seinen Toten begrub.

Plötzlich stieß Steve einen Jubelschrei aus, als seine Hacke auf ein kleines Stück Metall traf. Er hob es auf und hielt es dicht vor seine Augen, die sich im verblassenden Licht stark anstrengen mussten. Es war über und über von Rost zerfressen und beinahe so dünn wie Papier, aber er wusste sofort, worum es sich handelte – ein Sporenrädchen, das er dank seiner langen grausamen Spitzen eindeutig als spanisch identifizierte. Vollkommen verwirrt hielt er inne. Kein Spanier hatte je Hand an diesen Hügel gelegt, er stammte zweifellos von den amerikanischen Ureinwohnern. Aber weshalb war ein Relikt der spanischen Caballeros dann so tief in diesem festen Boden vergraben?

Brill schüttelte den Kopf und machte sich wieder an die Arbeit. Er wusste, dass er in der Mitte des Hügels, falls dieser tatsächlich ein Grab der Ureinwohner war, eine enge Kammer aus schweren Steinen finden würde, in der sowohl die Gebeine des Häuptlings, zu dessen Ehren der Grabhügel erbaut worden war, als auch die jener Unglücklichen lagen, die man auf dem Hügel geopfert hatte.

In der hereinbrechenden Dunkelheit spürte er, wie seine Hacke auf etwas Granitartiges, Unnachgiebiges traf. Seine Untersuchungen – er tastete es ab und sah es sich dann so genau wie möglich an – ergaben, dass es sich um einen soliden, grob gehauenen Steinbrocken handelte. Zweifellos war er auf den Eingang zur Totenkammer gestoßen. Ein Versuch, den Stein zu zerschlagen, war sinnlos. Brill schlug und hackte darauf herum und schabte den Dreck und die Kiesel von den Ecken ab, bis er glaubte, er könne ihn herausholen, indem er die Spitze der Hacke darunterschob und ihn aushebelte.

Mit einem Mal wurde ihm jedoch bewusst, dass die Dunkelheit ihn mittlerweile völlig umschloss. Im Licht des jungen Mondes sah alles sehr vage und schattenhaft aus. Sein Mustang wieherte leise auf der Koppel – das müde Tier ließ ein genüssliches Knirschen vernehmen, wenn es das Getreide zwischen seinen Kiefern zermalmte. Der Gesang einer Nachtschwalbe drang unheimlich aus den schwarzen Schatten entlang des schmalen, sich windenden Bachs herüber. Brill richtete sich zögernd auf. Er beschloss, sich lieber eine Laterne zu holen und bei Licht weiterzuarbeiten.

Er griff in seine Hosentasche und stellte sich dabei vor, wie er den Stein anhob und die darunter liegende Höhle mit Hilfe der Streichhölzer erkundete. Dann wurde er plötzlich stocksteif. War es nur Einbildung gewesen, oder hatte er wirklich ein leises, unheimliches Rascheln gehört, das von der anderen Seite des mächtigen Steins kam? Schlangen! Zweifellos befanden sich ihre Löcher irgendwo am Fuß des Hügels, und vielleicht hatten sich in seinem höhlenartigen Inneren ein Dutzend riesiger Diamant-Klapperschlangen zusammengerollt, die nur darauf warteten, dass er seine Hand zu ihnen hineinsteckte. Beim Gedanken daran zitterte er unwillkürlich und trat ein Stück von der Mulde zurück, die er gegraben hatte.

Es ergab keinen Sinn, blind in den Löchern herumzustochern. Nun wurde ihm bewusst, dass er in den letzten Minuten einen schwachen, faulen Geruch wahrgenommen hatte, der durch die Spalten rund um den Schlussstein herausströmte – gut, musste er zugeben, dieser Gestank konnte ebenso gut von Reptilien stammen wie von einer anderen, stinkenden Bedrohung. Er erinnerte an ein Beinhaus – in der Totenkammer waren ohne Zweifel Gase entstanden, die für die Lebenden gefährlich waren.

Steve legte seine Hacke nieder und kehrte zu seiner Hütte zurück; die unumgängliche Verzögerung ließ ihn ungeduldig werden. Er betrat die dunkle Hütte, entzündete ein Streichholz und griff nach seiner Petroleumlampe, die an einem Nagel an der Wand hing. Er schüttelte sie, stellte zufrieden fest, dass sie noch ausreichend Petroleum enthielt, und zündete sie an. Dann wandte er sich sofort wieder zum Gehen, denn er war so voller Eifer, dass er nicht einmal eine kleine Pause machte, um einen Happen zu essen. Das bloße Ausgraben des Hügels faszinierte ihn, wie es jeden fantasievollen Menschen fasziniert hätte, und der Fund der spanischen Spore hatte seine Neugier noch verstärkt.

Er eilte aus der Hütte. Die schaukelnde Laterne warf lange, verzerrte Schatten vor und hinter ihn. Er musste kichern, als er sich Lopez’ Reaktion vorstellte, wenn er am nächsten Morgen bemerkte, dass er den verbotenen Hügel ausgehoben und durchsucht hatte. Es war richtig, dass er ihn bereits heute Abend öffnete, dachte Brill; hätte Lopez Bescheid gewusst, hätte er womöglich versucht, ihn davon abzuhalten, sich daran zu schaffen zu machen.

In der verträumten Stille der Sommernacht erreichte Brill den Hügel, hob seine Laterne hoch und stieß einen entgeisterten Fluch aus. Im Licht der Laterne sah er das ausgehobene Loch und seine Werkzeuge, die er gedankenverloren hatte fallen lassen – und eine schwarze gähnende Öffnung! Der große Steinblock lag auf dem Boden vor dem Loch, so als habe man ihn achtlos zur Seite gestoßen.

Vorsichtig leuchtete er mit der Lampe in das Loch, und als er in die kleine höhlenartige Kammer blickte, hatte er keine Ahnung, was er dort sehen würde. Er sah überhaupt nichts – nur die nackten Felswände einer langen schmalen Zelle, groß genug, dass der Körper eines Menschen hineinpasste. Sie war offensichtlich aus grob gehauenen, quadratischen Steinen gebaut worden – eine sehr geschickte, solide Konstruktion.

»Lopez!«, rief Steve wütend aus. »Dieser dreckige Coyote! Er hat mir bei der Arbeit zugesehen, und als ich die Laterne holen gegangen bin, hat er sich angeschlichen und den Steinblock entfernt, und dann hat er sich alles genommen, was hier zu holen war, nehme ich mal an. Dem werde ich’s zeigen! Seine schmierige Haut werde ich ihm abziehen!«

Rasend vor Wut löschte er die Laterne und blickte über das flache, von Buschwerk bedeckte Tal – und plötzlich sah er etwas, das ihn erstarren ließ. Über den Rand des Hügels, hinter dem Lopez’ Hütte stand, huschte ein Schatten. Die dünne Mondsichel ging bereits langsam wieder unter, und im Licht der Dämmerung war das Spiel der Schatten umso trügerischer. Aber Steves Blick war durch die grelle Sonne und den heftigen Wind dieser kargen Landschaft geschärft, und er erkannte, dass es eine zweibeinige Gestalt war, die dort an der flachen Seite des Hügels hinter den Mesquitebäumen verschwand.

»Schnell zurück zur Hütte, wie?«, knurrte Brill. »Todsicher hat er irgendetwas gefunden, sonst hätte er es nicht so eilig.«

Brill musste schlucken und wunderte sich über das plötzliche, seltsam beunruhigende Gefühl, das ihn erfasst hatte. Was war so ungewöhnlich an einem diebischen alten Halunken, der mit seiner Beute nach Hause rannte? Brill versuchte, das Gefühl zu verdrängen, dass irgendetwas Eigenartiges in den Bewegungen des düsteren Schattens lag, der sich mit seltsam schwebenden Schritten zu bewegen schien. Offensichtlich war Eile geboten, wenn der steife alte Juan Lopez beschloss, sich in diesem ungewöhnlichen Tempo fortzubewegen.

»Was er auch gefunden hat, es gehört mir ebenso wie ihm«, schimpfte Brill in dem Versuch, den unnatürlichen Gang der fliehenden Gestalt aus seinen Gedanken zu verbannen. »Ich habe dieses Land gepachtet und ich habe den Hügel aufgegraben. Von wegen Fluch! Kein Wunder, dass er mir das alles erzählt hat. Ich sollte meine Finger davon lassen, weil er alles für sich wollte. Ich frage mich nur, wieso er es nicht schon viel früher ausgegraben hat. Aber wer weiß schon, was sich diese Chicos denken.«

Während ihm all das durch den Kopf ging, lief er den flachen Weidehang hinunter, der zum Bachbett führte. Er tauchte in die Schatten der Bäume und des dichten Unterholzes ein, überquerte den ausgetrockneten Bach und bemerkte dabei eher unbewusst, dass weder der Ruf einer Nachtschwalbe noch das Heulen einer Eule in der Dunkelheit zu hören waren. Er war angespannt, lauschte zögerlich in die Nacht hinein und fühlte sich leicht unbehaglich. Die Schatten über dem Bachbett erschienen ihm zu dicht, zu atemlos. Er wünschte sich, er hätte die Lampe, die er noch immer bei sich trug, nicht gelöscht, und er war froh, dass er die Hacke mitgenommen hatte, die er wie eine Streitaxt fest mit der rechten Hand umfasst hielt. Er verspürte den Impuls, zu pfeifen, um die Stille zu durchbrechen, aber dann stieß er nur einen erneuten Fluch aus und verwarf den Gedanken. Dennoch war er erleichtert, als er an das gegenüberliegende, flache Ufer kletterte und ins Licht der Sterne trat.

Er stieg den Hang empor und blieb oben auf dem Hügel stehen. Von hier aus konnte er die mit Mesquitebäumen bewachsene Ebene überblicken, auf der Lopez’ heruntergekommene Hütte stand. In einem der Fenster war ein Lichtschein zu erkennen.

»Da packt jemand für die Flucht, vermute ich«, grummelte Steve. »Aber, was zum …«

Er taumelte zurück, so als habe man ihm einen heftigen Stoß versetzt, als ein angsterfüllter Schrei die Stille wie ein Messer durchschnitt. Er wollte seine Hände auf seine Ohren legen, um dem Schrecken dieses Schreis zu entgehen, der immer unerträglicher wurde, bis er schließlich mit einem entsetzlichen Gurgeln erstarb.

»Mein Gott!« Steve spürte, wie ihm kalter Schweiß ausbrach. »Lopez … irgendjemand …«

Noch während er die Worte ausstieß, rannte er den Hügel hinab, so schnell seine langen Beine ihn trugen. Etwas Unaussprechliches, Entsetzliches passierte in dieser einsamen Hütte, und er würde herausfinden, was es war, und wenn er auf den Teufel persönlich treffen sollte. Er umfasste den Griff der Hacke noch fester, während er rannte. Umherziehende Plünderer, die den alten Lopez wegen der Beute aus dem Hügelgrab umbringen wollten, dachte Steve dann und vergaß seinen Zorn auf den Alten. Dieb hin oder her – wen er auch immer dabei erwischte, wie er den alten Gauner drangsalierte, würde ihn von seiner härtesten Seite kennenlernen.

Als er die Ebene erreichte, legte er noch an Geschwindigkeit zu. Jetzt erlosch das Licht in der Hütte. Steve stolperte und knallte mit solcher Wucht gegen einen Mesquitebaum, dass ihm ein Stöhnen entwich und er sich die Hände an den Dornen aufriss. Unter leisen Flüchen rappelte er sich wieder auf, eilte weiter in Richtung Hütte. Er versuchte, sich dafür zu wappnen, was ihn dort erwartete – beim Gedanken an das, was er bereits gesehen hatte, stellten sich ihm die Nackenhaare auf.

Brill rüttelte an der einzigen Tür der Hütte. Sie war verriegelt. Er rief nach Lopez, erhielt jedoch keine Antwort. Es herrschte aber auch keine vollkommene Stille mehr. Aus dem Inneren drang ein gedämpftes, besorgniserregendes Geräusch an sein Ohr, das verstummte, als Brills Hacke mit einem lauten Krachen auf die Tür niederfuhr. Das dünne Holz zersplitterte, und Brill sprang in die dunkle Hütte. Seine wachsamen Augen leuchteten und er hielt seine Hacke hoch über seinem Kopf, jederzeit bereit, einen Schlag der Verzweiflung auszuführen. Aber die unheimliche Stille wurde von keinem einzigen Geräusch durchbrochen. In der Dunkelheit regte sich rein gar nichts, wenngleich Brills lebhafte Fantasie zahllose Schreckensgestalten in die dunklen Ecken der Hütte malte.

Mit schweißnasser Hand fand er ein Streichholz und zündete es an. Außer ihm befand sich nur der alte Lopez in der Hütte – der alte Lopez, der mausetot im Dreck auf dem Boden lag, die Arme wie ein nachgebildetes Kruzifix weit ausgestreckt. Sein offen stehender Mund verlieh im einen beinahe idiotischen Ausdruck, und seine weit aufgerissenen Augen starrten so tief erschrocken ins Leere, dass Brill es nicht ertrug.

Das einzige Fenster stand offen – so war sein Mörder also geflohen, womöglich auch eingedrungen. Brill trat ans Fenster und blickte vorsichtig hinaus. Er erkannte nur den flachen Hang des Hügels auf der einen Seite und die Ebene mit den Mesquitebäumen auf der anderen Seite. Er zuckte zusammen – bewegte sich dort zwischen den verkümmerten Schatten der Bäume und Büsche nicht ganz leicht etwas? Oder bildete er sich nur ein, eine dunkle, flinke Gestalt zwischen den Mesquitebäumen zu sehen?

Als das Streichholz bis zu seinen Fingern niedergebrannt war, drehte er sich wieder um. Er zündete die alte Petroleumlampe an, die auf dem robusten Tisch stand, und fluchte kurz, als er sich die Hand verbrannte. Das Glas der Lampe war sehr heiß, so als habe sie stundenlang gebrannt.

Zögernd wandte er sich der Leiche auf dem Boden zu. Welcher Tod Lopez auch ereilt haben mochte, er war schrecklich gewesen. Brill untersuchte den Toten ganz vorsichtig, fand jedoch keine Wunde, weder Spuren eines Messerstichs noch eines heftigen Schlags mit einem Knüppel. Aber Moment! Brill sah plötzlich eine dünne Blutspur auf der Hand, mit der er den Körper absuchte. Nach einer Weile fand er die Ursache – in Lopez’ Kehle waren drei oder vier winzige Stiche zu erkennen, aus denen dickes Blut sickerte. Zuerst dachte er, sie stammten von einem Stilett – einem dünnen Dolch mit runder, stumpfer Klinge – doch dann schüttelte er den Kopf. Er hatte schon Stilettwunden gesehen – er selbst trug eine am Körper. Diese Wunden glichen eher der Bisswunde eines Tieres – diese hier sahen wie die Abdrücke spitzer Reißzähne aus.

Dennoch war Brill der Ansicht, dass sie nicht tief genug waren, um für seinen Tod verantwortlich zu sein, außerdem bluteten sie nicht sonderlich stark. In den finstersten Ecken seines Verstandes erwuchs eine Überzeugung, die von düsteren Spekulationen getragen wurde – die Überzeugung, dass Lopez vor Angst gestorben war, und dass ihm diese Wunden entweder im Augenblick seines Todes oder nur einen kurzen Moment danach zugefügt worden waren.

Steve fiel aber noch etwas anderes auf: Auf dem Boden verstreut lagen mehrere schmutzige Blatt Papier, auf die der alte Mexikaner mit seiner krakeligen Handschrift etwas gekritzelt hatte – er hatte ja angekündigt, die Geschichte des verfluchten Grabhügels aufschreiben zu wollen. Dies waren die Blätter, auf denen er sie niedergeschrieben hatte, hier lag der Bleistiftstummel, dort stand die noch immer heiße Lampe – sie alle bezeugten stumm, dass der alte Mexikaner stundenlang an dem rustikalen Tisch gesessen und geschrieben hatte. Also hatte er doch nicht die Grabkammer geöffnet und den Inhalt gestohlen – aber wer, in Gottes Namen, war es dann gewesen? Und wen oder was hatte Brill über den Hügelrand eilen sehen?

Nun, er konnte nur eines tun – seinen Mustang satteln und die zehn Meilen nach Coyote Wells, der nächstgelegenen Stadt, reiten, um den Sheriff von dem Mord in Kenntnis zu setzen.

Brill sammelte die Blätter ein. Das letzte lag zerknüllt in der Faust des alten Mannes, und Brill hatte Schwierigkeiten, es herauszubekommen. Als er sich umdrehte, um das Licht zu löschen, zögerte er noch einmal und verfluchte sich selbst für die kriechende Angst, die im hintersten Winkel seines Verstandes lauerte – Angst vor einem schattenhaften Wesen, von dem er glaubte, es am Fenster vorbeihuschen gesehen zu haben, kurz bevor das Licht in der Hütte erloschen war. War da nicht etwas Abnormes, Unmenschliches an diesem Wesen gewesen, etwas seltsam Verzerrtes, das nichts mit dem finsteren Lampenlicht und den Schatten zu tun hatte? Als wolle er sich an die Einzelheiten eines Albtraumes erinnern, versuchte Steve, seine Gedanken zu sortieren und sich zu erklären, weshalb dieser flüchtige Blick ihn so aus der Fassung gebracht hatte, dass er kopfüber gegen einen Baum gekracht war, und weshalb ihm allein bei der vagen Erinnerung daran der kalte Schweiß ausbrach.

Erneut verfluchte er sich, so als wolle er sich Mut zusprechen, dann zündete er die Laterne an, blies die Lampe auf dem alten Tisch aus und machte sich entschlossen auf den Weg, die Hacke wie eine Waffe fest in seiner Hand. Weshalb sollten ihn einige unnormal erscheinende Umstände eines schäbigen Mordes überhaupt aus der Ruhe bringen? Solche Verbrechen waren entsetzlich, aber nicht ungewöhnlich – vor allem nicht unter Mexikanern, die eine Schwäche für unausgefochtene Fehden hatten.

Als er wieder in die stille, sternenreiche Nacht hinaustrat, ließ ihn plötzlich etwas innehalten. Von der anderen Seite des Baches erklang das markerschütternde Gebrüll eines Pferdes in Todesangst, dem das wilde Donnern von Hufen folgte, das in der Ferne verhallte. Brill stieß wütende, kräftige Flüche aus. Lauerte in den Hügeln etwa ein Panther? Hatte eine mächtige Raubkatze den alten Lopez getötet? Aber weshalb zeigte das Opfer dann keine Spuren ihrer schrecklichen, gekrümmten Krallen? Und wer hatte das Licht in der Hütte gelöscht?

Während er sich diese Fragen stellte, rannte Brill flink in Richtung des dunklen Baches. Ein Cowboy nimmt es niemals auf die leichte Schulter, wenn sein Vieh in Panik versetzt wird. Als er in der Dunkelheit am Ufer des ausgetrockneten Baches durch die Büsche lief, bemerkte er, dass sich sein Mund seltsam trocken anfühlte. Er musste immer wieder schlucken und hielt die Laterne noch etwas höher. Ihr Lichtschein konnte nur wenig gegen die Finsternis ausrichten, schien die schwarzen Formen der drängenden Schatten ringsum aber noch deutlicher zu machen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund kam Brill in diesem Moment der wirre Gedanke, dass dieses Land für die Engländer zwar noch recht neu, in Wahrheit aber schon unglaublich alt war. Das aufgebrochene, entweihte Grab war ein stummer Beweis dafür, dass die Menschen dieses Land schon seit langer Zeit kannten, und mit einem Mal drückten die Nacht, die Hügel und die Schatten mit der gesamten Last ihres entsetzlichen Alters auf Brill. Generationen von Menschen hatten hier gelebt und waren hier gestorben, lange bevor Brills Vorfahren je von diesem Land gehört hatten. In der Nacht, im Dunkel entlang dieses Baches, hatten ohne Zweifel bereits zahllose Menschen auf schreckliche Weise ihren Geist ausgehaucht. Mit diesen finsteren Gedanken hastete Brill durch die Schatten der dichten Bäume.

Er atmete erleichtert aus, als er auf seiner Seite des Baches wieder zwischen den Bäumen hervortrat. Er eilte den sanften Hang zur eingezäunten Koppel hinauf, hielt die Laterne in die Höhe und blickte sich suchend um. Die Koppel war leer; nicht einmal die faule Kuh war zu sehen. Das Gatter stand offen, was auf menschliches Tun hindeutete und der Angelegenheit einen neuen, düsteren Aspekt verlieh. Irgendjemand wollte offensichtlich verhindern, dass Brill heute Nacht nach Coyote Wells ritt. Das konnte nur bedeuten, dass der Mörder auf der Flucht war und sich einen ordentlichen Vorsprung vor dem Gesetz verschaffen wollte, oder … Brill lächelte gequält. Er bildete sich ein, aus weiter Ferne hinter der Ebene mit den Mesquitebäumen noch immer das Trampeln rennender Hufe hören zu können. Was, in Gottes Namen, hatte den Tieren solche Angst eingejagt? Auch jetzt legte sich ein kalter Finger der Angst auf Brills Wirbelsäule und ließ ihn erschaudern.

Steve ging zu seiner Hütte zurück, hatte jedoch nicht den Mut, sofort einzutreten. Er schlich in weitem Bogen um den Schuppen, blickte zitternd in die dunklen Fenster und horchte mit schmerzhafter Anspannung, um auch jedes Geräusch zu hören, mit dem sich der Mörder verraten konnte, der vielleicht im Inneren lauerte. Schließlich fasste er Mut und beschloss, die Tür zu öffnen und einzutreten. Er stieß sie so heftig auf, dass sie gegen die Wand knallte, weil er feststellen wollte, ob sich jemand dahinter versteckte. Mit hoch erhobener Laterne ging er hinein. Sein Herz klopfte dabei wie wild. Er krallte sich förmlich an die Hacke und verspürte eine Mischung aus Angst und rasender Wut. Es stürzte sich jedoch kein versteckter Angreifer auf ihn, und auch seine kurze Durchsuchung des Schuppens ergab nichts.

Mit einem Seufzer der Erleichterung verschloss Brill die Türen, verriegelte die Fenster und zündete seine Petroleumlampe an. Der Gedanke an den alten Lopez, dessen Leiche mit glasigen Augen jenseits des Baches allein in einer Hütte lag, ließ ihn erzittern und erschaudern, aber er hatte nicht die Absicht, mitten in der Nacht zu Fuß in die Stadt zu gehen.

Er holte seinen zuverlässigen, altgedienten .45-er Colt aus seinem Versteck, drehte den blauen Stahlzylinder und lächelte betrübt. Möglicherweise plante der Mörder ja, keine Zeugen seines Verbrechens am Leben zu lassen. Nun, sollte er doch kommen! Er – oder sie – würde bald feststellen müssen, dass ein junger Cowboy mit einem Sechsschuss-Revolver keine so leichte Beute war wie ein unbewaffneter alter Mexikaner. Dann erinnerte Brill sich an die Papiere, die er aus der Hütte mitgenommen hatte. Er achtete darauf, dass er nicht vor einem Fenster stand, durch das plötzlich eine Kugel fliegen konnte, und dann setzte er sich und begann zu lesen, wobei er mit einem Ohr ständig nach heimlichen Geräuschen horchte.

Als er die krakelige, mühevolle Schrift entzifferte, wuchs langsam ein kaltes Entsetzen in seinem tiefsten Inneren heran. Es war eine Geschichte der Angst, die der alte Mexikaner niedergeschrieben hatte – eine Geschichte, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde – eine Geschichte aus uralten Zeiten.

Brill las von den Expeditionen des Edelmannes Hernando de Estrada und seiner bewaffneten Landsknechte, die sich in die Wüsten des Südwestens wagten, als das Gebiet noch völlig fremd und unbekannt war. Am Anfang, schrieb Lopez, bestand die Gruppe aus etwa vierzig Soldaten sowie aus Dienern und deren Herren. Darüber hinaus waren Hauptmann de Estrada, ein Priester, der junge Juan Zavilla und Don Santiago de Valdez Teil der Expedition. Don Santiago de Valdez war ein geheimnisvoller Edelmann, den man in der Karibik von einem hilflos im Meer treibenden Schiff gerettet hatte. Sämtliche Mitglieder der Mannschaft und alle Passagiere, behauptete de Valdez, seien der Pest zum Opfer gefallen, und er habe ihre Leichen über Bord geworfen. Also holte de Estrada ihn an Bord des Schiffes, auf dem sich die spanische Expeditionsgruppe befand, und de Valdez schloss sich ihren Erkundungstouren an.

Brill erfuhr einiges über ihre Wanderungen, die der alte Lopez in seinem ganz eigenen, unbeholfenen Stil schilderte, genau so, wie seine mexikanischen Vorfahren sie sich über dreihundert Jahre lang erzählt hatten. Die bloßen, niedergeschriebenen Worte spiegelten die schrecklichen Entbehrungen der Entdecker auf düstere Weise wider – Trockenheit, Durst, Überschwemmungen, die Sandstürme in der Wüste, die Speere der feindlichen Rothäute. Der alte Lopez erzählte jedoch auch von einer anderen Bedrohung – von einem grauenhaften, lauernden Schrecken, der die einsame Karawane überfiel, als sie durch die endlose Weite der Wildnis zog. Mann um Mann fiel ihm zum Opfer, aber keiner wusste, wer der Mörder war. Angst und schwarzer Aberglaube zerfraßen die Herzen der Expeditionsteilnehmer wie ein widerliches Geschwür, und ihr Anführer wusste nicht, was er unternehmen sollte. Eines wussten sie jedoch alle: Unter ihnen befand sich ein Teufel in Menschengestalt.

Die Männer zogen sich nach und nach immer mehr von einander zurück, sodass die Marschreihe sich immer weiter in die Länge zog. Dieses gegenseitige Misstrauen, das Sicherheit in der Einsamkeit suchte, machte es dem Feind nur umso leichter. Das verbleibende Skelett der Expedition stolperte durch die Wildnis – verirrt, verstört und hilflos –, und noch immer war der unsichtbare Schrecken an ihrer Seite, riss die Wanderer mit sich und machte Jagd auf schlummernde Wachposten und schlafende Männer. An den Kehlen all der blassen, blutleeren Opfer fand man die Wunden spitzer Reißzähne, sodass die Überlebenden wussten, mit welcher Art des Bösen sie es zu tun hatten. Die Männer schwankten durch die Wildnis, riefen ihre Heiligen an, aus blankem Grauen verfluchten sie Gott und kämpften mit aller Kraft gegen den Schlaf an, bis sie schließlich doch vor Erschöpfung zusammenbrachen und er sich voller Grauen und Tod in ihre müden Körper schlich.

Bald hatten die meisten einen großen schwarzen Mann in Verdacht, einen kannibalischen Sklaven aus Calabar. Aber auch nachdem sie ihn in Ketten gelegt hatten, folgte der junge Juan Zavilla den anderen Unglücklichen in den Tod, und bald darauf erwischte es den Priester. Ihm gelang es jedoch, sich von seinem teuflischen Angreifer zu befreien, und er hielt lange genug durch, um de Estrada den Namen des Dämons mit einem letzten Keuchen mitteilen zu können. Wieder durchfuhr Brill ein Schauer, und mit weit aufgerissenen Augen las er laut weiter:

»… So stand für de Estrada fest, dass der gute Priester die Wahrheit gesagt hatte. Der Mörder war Don Santiago de Valdez – ein Vampir, ein untoter Feind, der sich vom Blut der Lebenden ernährte. De Estrada erinnerte sich an einen besonders schändlichen Edelmann, der sich seit den Zeiten der Mauren in den Bergen von Kastilien herumtrieb und sich vom Blut seiner hilflosen Opfer ernährte, das ihm auf grausame Weise Unsterblichkeit verlieh. Man hatte diesen Edelmann vertrieben; niemand wusste, wohin er geflohen war, aber es war offensichtlich, dass er und Don Santiago ein und derselbe Mann waren. Scheinbar war er per Schiff aus Spanien geflohen, und de Estrada wusste nun, dass die Menschen auf diesem Schiff zwar gestorben waren, aber nicht an der Pest, wie ihr Feind sie hatte glauben machen wollen, sondern durch die Reißzähne eines Vampirs.

De Estrada, der schwarze Mann und die wenigen Soldaten, die noch am Leben waren, machten sich auf die Suche und fanden de Valdez, die schlafende Bestie, ausgestreckt in einem dichten Gebüsch liegen, vollgefressen vom menschlichen Blut seines letzten Opfers. Nun ist es allerseits bekannt, dass ein Vampir, wenn er übersättigt ist, genau wie eine große Schlange in einen tiefen Schlaf fällt und gefahrlos überwältigt werden kann. Aber de Estrada hatte keine Ahnung, wie er sich des Ungeheuers entledigen sollte, denn wie kann man die Toten töten? Ein Vampir ist ein Mensch, der vor langer Zeit gestorben ist, und dennoch führt er ein eigenartiges, widerliches Nicht-Leben.

Die Männer forderten, der edle Caballero möge einen Pflock durch das Herz des Feindes treiben, ihm den Kopf abschlagen und die Worte sprechen, die den seit Langem toten Körper endlich zu Staub würden zerfallen lassen, aber der Priester war tot und de Estrada fürchtete, dass das Ungeheuer während des Rituals erwachen könnte.

Also packten die Männer Don Santiago, hoben ihn vorsichtig hoch und trugen ihn zu einem alten indianischen Hügelgrab ganz in der Nähe. Sie öffneten es, entfernten die Knochen, die sie darin fanden, und dann legten sie den Vampir hinein und verschlossen das Grab wieder – in der Hoffnung, Dios möge es bis zum Tag des jüngsten Gerichts verschlossen halten.

Es ist ein verfluchter Ort, und ich wünschte, ich wäre vor langer Zeit irgendwo verhungert, lange bevor ich in diesen Teil des Landes kam, um Arbeit zu suchen – denn ich wusste ja von diesem Ort, von dem Bach und dem Hügel mit seinem schrecklichen Geheimnis, wusste seit meiner Kindheit davon. Nun wissen Sie, Señor Brill, weshalb Sie das Grab nicht öffnen dürfen, denn sonst würden Sie den Teufel erwecken …«

Hier endeten die Aufzeichnungen mit einem fahrigen Bleistiftstrich, der das zerknitterte Papier zerrissen hatte.

Brill erhob sich, sein Herz klopfte wie wild, sein Gesicht war blutleer und seine Zunge klebte an seinem Gaumen. Er musste würgen, fand dann aber seine Stimme wieder.

»Deshalb war die Spore im Grabhügel – einer der Spanier hat sie beim Graben verloren. Ich hätte wissen müssen, dass er schon einmal ausgehoben worden ist, schließlich lag die Holzkohle überall verstreut, aber, mein Gott …«

Fassungslos wich er unwillkürlich zurück, als schwarze Visionen in ihm aufstiegen – Visionen von einem untoten Monster, dass sich in der Dunkelheit seines Grabes rührte und mit kräftigen Schlägen gegen den Steinblock stieß, den er mit seiner ignoranten Hacke gelockert hatte; Visionen von einer schattenhaften Gestalt, die über den Hügel in Richtung eines Lichtscheins schwebte, der auf menschliche Beute hinwies, und von einem entsetzlich langen Arm, der sich durch ein schwach beleuchtetes Fenster streckte …

»Das ist Wahnsinn!«, keuchte er. »Lopez war vollkommen verrückt! So etwas wie Vampire gibt es nicht! Wenn es sie gäbe, wieso hat er mich dann nicht zuerst geschnappt, sondern Lopez? Es sei denn, er wollte sich erst umsehen und sich sicher fühlen, bevor er zuschlägt … Zur Hölle! Das sind doch nur Hirngespinste!«

Die Worte erstarben in seiner Kehle. Vor dem Fenster sah er ein Gesicht, das ihn anstarrte und die Lippen bewegte. Die eiskalten Augen durchbohrten sein tiefstes Inneres. Brill entwich ein Wimmern, und die grausige Visage verschwand. Überall hing jetzt jedoch derselbe faule Gestank in der Luft wie über dem uralten Grabhügel.

Plötzlich quietschte die Tür und öffnete sich einen Spalt nach innen. Brill wich bis zur Wand zurück; die Pistole in seiner Hand zitterte heftig. Der Gedanke, durch die Tür zu schießen, kam ihm nicht; in seiner Verwirrung konnte er nur an eines denken – dass allein diese dünne Holztür ihn von einem Schrecken trennte, der aus dem Schoß der Nacht, der Finsternis und der schwarzen Vergangenheit geboren war. Seine Augen weiteten sich, als er sah, dass die Tür sich noch weiter öffnete und er ein immer stärker anschwellendes Stöhnen vernahm.

Dann sprang die Tür ganz auf. Brill schrie nicht. Seine Zunge klebte wie festgefroren an seinem Gaumen. Mit angsterfüllten Augen blickte er auf die große, geierähnliche Gestalt … die eiskalten Augen … die langen schwarzen Fingernägel … die vermodernde Kleidung, widerlich und uralt … die langen Stiefel mit Sporen … den zerdrückten Hut mit der abgeknickten Feder … den weiten Umhang, der fast nur noch aus Fetzen bestand. Nun kauerte dieses grauenhafte Wesen aus der Vergangenheit im schwarzen Türrahmen, und in Brills Kopf drehte sich alles. Von der Gestalt ging eine furchtbare Kälte aus – sie strömte den Geruch von verfaulendem Lehm und von den Abfällen eines Schlachthauses aus. Dann stürzte sich der Untote plötzlich wie ein Geier auf den Lebenden.

Brill schoss aus nächster Nähe auf ihn und sah, wie ein Baumwollfetzen von der Brust seines Angreifers flog. Der Vampir geriet durch die Wucht der schweren Kugel ins Wanken, richtete sich jedoch schnell wieder auf und stürzte mit entsetzlicher Geschwindigkeit wieder nach vorne. Brill entfuhr ein erstickter Schrei, als er sich gegen die Wand warf. Die Pistole fiel aus seiner gefühllosen Hand. Die finsteren Legenden waren also wahr – menschliche Waffen konnten nichts ausrichten –, denn kann ein Mann einen anderen überhaupt töten, wenn dieser bereits seit vielen Jahrhunderten tot ist? Kann er wie wir Sterblichen sterben?

Die klauenartigen Hände, die sich um seine Kehle schlossen, versetzten den jungen Cowboy in einen Rausch des Wahnsinns. Wie seine Vorfahren mit bloßen Händen gekämpft hatten, obwohl ihre Aussichten verschwindend gering waren, wehrte sich Steve Brill nun gegen das kalte, tote, kriechende Wesen, das ihm nach Leben und Seele trachtete.

Brill konnte sich später kaum noch an diesen grausamen Kampf erinnern; er war ein einziges schwarzes Durcheinander, in dem Steve wie ein Tier brüllte, schlug, kratzte und um sich trat, in dem lange schwarze Nägel – die Krallen eines Panthers – seine Haut zerrissen und spitze Zähne immer wieder nach seiner Kehle schnappten. Die Kämpfer rollten und stolperten durch den ganzen Raum und waren halb in die modrigen Falten des uralten, verrottenden Umhangs gewickelt. So schlugen und zerrissen sie sich zwischen den Trümmern der zerbrochenen Möbel, und der Zorn des Vampirs war dabei nicht minder schrecklich als die verzweifelte Todesangst seines Opfers.

Sie krachten kopfüber auf den Tisch, der zur Seite fiel, und die Petroleumlampe zerbrach auf dem Fußboden. Unzählige kleine Flammen wurden an die Wände gesprüht. Brill spürte das Beißen des brennenden Öls auf seinem Körper, aber in der blutroten Hitze des Gefechts schenkte er dem keine Beachtung. Die schwarzen Krallen rissen an ihm, und die unmenschlichen Augen gierten mit eiskaltem Feuer nach seiner Seele. Zwischen seinen verzweifelten Fingern fühlte sich das verdorrte Fleisch des Ungeheuers so hart wie vertrocknetes Holz an. Welle um Welle blinden Wahnsinns schwappte über Steve Brill hinweg. Wie ein Mann, der gegen einen Albtraum ankämpft, schrie er und schlug um sich, während um ihn herum das Feuer immer weiter emporloderte und die gesamten Wände und das Dach angriff.

Durch pfeilschnelle Feuerstrahlen und züngelnde Flammen fielen und rollten sie durch den Raum, ein Dämon und ein Sterblicher, die auf dem feurigen Boden der Hölle kämpfen.

Im immer dichteren Flammenmeer wappnete Brill sich für einen letzten, explosiven Ausbruch, in den er all seine verzweifelte Kraft legte. Er riss sich los, kam – keuchend und blutüberströmt – schwankend wieder auf die Beine, warf sich blindwütig auf die widerliche Gestalt und packte sie mit einem so unglaublich festen Griff, dass sich nicht einmal der Vampir wieder daraus lösen konnte. Dann wuchtete er seinen teuflischen Gegner mit aller Kraft in die Höhe und schleuderte ihn auf die nach oben zeigende Kante des umgekippten Tisches, so als würde er einen Holzstab über seinem Knie brechen. Er hörte ein Krachen, das dem eines zersplitternden Astes glich, und der Vampir fiel aus Brills Armen. Er wand sich in seltsam gekrümmter Haltung auf dem brennenden Fußboden. Doch noch war er nicht tot, und seine glühenden Augen durchbohrten Brill mit einem Blick grausamen Hungers, als er trotz seiner gebrochenen Wirbelsäule langsam auf ihn zukroch – er sah dabei aus wie eine sterbende Schlange.

Brill keuchte und taumelte heftig, schüttelte sich das Blut aus den Augen und stolperte blind durch die zerbrochene Tür – und als fliehe er durch die Tore der Hölle, rannte er zwischen den Mesquitebäumen hindurch und über die Koppel, bis er völlig erschöpft zusammenbrach. Er blickte sich noch einmal um. Als er die in Flammen stehende Hütte sah, dankte er Gott, dass das Feuer sie vollständig niederbrennen und die Knochen von Don Santiago de Valdez vollständig auffressen würde, damit er für immer aus dem Gedächtnis der Menschheit verschwand.