Der Schatten der Bestie
Solange böse Sterne am Himmel steh’n
Oder Mondlicht den Osten entflammt,
Möge Gott im Himmel uns schützen
Vor dem Schatten der Bestie!
Der Wahnsinn begann mit einem Pistolenknall. Ein Mann fiel mit einer Kugel in der Brust zu Boden, und derjenige, der den Schuss abgegeben hatte, knurrte eine kurze Drohung in Richtung des blassen Mädchens, das zu Tode erschrocken neben ihm stand. Dann floh er – pfeilschnell verschwand er zwischen den Bäumen am Rande des Lagers und sah dabei durch seinen breiten Rücken und die gebeugte Haltung wie ein Menschenaffe aus.
Im Laufe der nächsten Stunde durchkämmten grimmig dreinblickende, mit Gewehren bewaffnete Männer die Kiefernwälder. Die schreckliche Jagd dauerte die ganze Nacht an, während das Opfer des Flüchtigen mit dem Tode rang.
»Er ist jetzt ruhig. Sie glauben, dass er überleben wird«, sagte Joan, als sie aus dem Zimmer trat, in dem ihr jüngerer Bruder lag. Dann sank sie auf einen Stuhl nieder und ließ ihren Tränen freien Lauf.
Ich setzte mich neben sie und versuchte, sie zu beruhigen, wie man auch ein Kind trösten würde. Ich liebte sie, und sie hatte mir gezeigt, dass sie meine Zuneigung erwiderte. Meine Liebe zu ihr hatte mich von meiner Ranch in Texas in die Holzfällerlager im Schatten der Kiefernwälder geführt, in denen ihr Bruder sich um die Angelegenheiten seiner Firma kümmerte. Ich hatte mein Ziel eine knappe Stunde nach der Schießerei erreicht.
»Erzähl’ mir genau, was passiert ist«, bat ich sie. »Bisher habe ich noch keinen zusammenhängenden Bericht gehört.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, entgegnete sie teilnahmslos. »Der Name dieses Mannes ist Joe Cagle, und er ist ein böser Mensch – in jeder Hinsicht. Zweimal habe ich gesehen, wie er durch mein Fenster ins Zimmer starrte, und heute Morgen ist er plötzlich hinter einem Holzstoß hervorgesprungen und hat mich am Arm gepackt. Ich habe aufgeschrien, und Harry kam angestürmt und schlug ihn mit einem Knüppel nieder. Dann hat Cagle auf meinen Bruder geschossen, und … und bevor er davonrannte, schwor er, dass er sich auch an mir rächen würde. Er ist wie ein wildes Tier!«
»Womit hat er dir gedroht?« Ich ballte unwillkürlich die Fäuste.
»Er hat gesagt, er wird eines Nachts zurückkommen und mich holen, wenn die Wälder am dunkelsten sind«, antwortete sie schwach, und mit einem Fatalismus, der mich ebenso überraschte wie bestürzte, fügte sie hinzu: »Und das wird er auch tun. Wenn ein Mann wie er sich ein Mädchen erwählt, dann kann nur der Tod ihn davon abhalten, dass er es sich auch nimmt.«
»Dann wird der Tod ihn auch davon abhalten«, erwiderte ich harsch und erhob mich. »Ich werde mich dem Suchtrupp anschließen. Verlass’ heute Nacht nicht das Haus. Morgen früh wird Joe Cagle keiner Frau je wieder etwas antun können.«
Als ich aus dem Haus trat, begegnete ich einem der Männer, die nach dem Flüchtigen suchten. Er hatte sich in der Dunkelheit an einer vergrabenen Wurzel den Knöchel verstaucht und sich ein Pferd geliehen, um ins Lager zurückzukehren.
»Nein, wir haben noch überhaupt keine Spur von ihm«, antwortete er auf meine Frage. »Wir haben das ganze Gelände rund um das Lager durchkämmt, jetzt suchen die Jungs bei den Sümpfen weiter. Aber eigentlich kann er mit dem kleinen Vorsprung nicht so weit gekommen sein, wir sind ihm ja gleich mit den Pferden hinterher. Joe Cagle ist ein Lump, ein widerliches Tier, kein normaler Mensch – er sieht aus wie ein Gorilla. Ich glaube, er versteckt sich in den Sümpfen, und falls das zutrifft, dann kann es Wochen dauern, bis wir ihn aufstöbern. Er kann sonst nirgendwo sein, wie schon gesagt. Wir haben überall in den Wäldern gesucht – außer im verlassenen Haus natürlich.«
»Warum nicht? Wo steht dieses Haus?«
»Unten an der alten Transportstraße, die nicht mehr benutzt wird, ungefähr vier Meilen von hier. Oh nein, im ganzen Land gibt es keinen Menschen, der freiwillig dorthin gehen würde, und wenn es um sein Leben ginge. Dieser Kerl, der vor ein paar Jahren den Vorarbeiter umgebracht hat – sie haben ihn die Straße runtergejagt, und als er sah, dass er direkt am verlassenen Haus vorbei musste, wenn er entkommen wollte, hat er sich umgedreht und sich dem Mob freiwillig ergeben. Nein, Sir, Joe Cagle ist sicher nicht mal in der Nähe dieses Hauses, darauf können Sie wetten!«
»Weshalb hat es so einen schlechten Ruf?«
»Dort wohnt seit zwanzig Jahren niemand mehr. Der letzte Besitzer ist eines Nachts durch ein Fenster im oberen Stockwerk gekracht. Er hat den Sturz nicht überlebt. Irgendwann später wollte ein junger Mann auf der Durchreise wegen einer Wette die ganze Nacht dort verbringen – man fand ihn am nächsten Morgen vor dem Haus, völlig zerschmettert, so als sei er sehr tief gefallen. Irgendein Hinterwäldler, der spät in der Nacht in der Nähe des Hauses vorbeikam, behauptete, er habe einen schrecklichen Schrei gehört und gesehen, wie der junge Mann aus einem Fenster im zweiten Stock flog. Er hatte genug gesehen und gemacht, dass er wegkam! Aber woher das verlassene Haus seinen schlechten Ruf ursprünglich hat …«
Ich war nicht in der Stimmung für eine lange, ausgeschmückte Geistergeschichte oder was immer der Mann mir auch erzählen wollte. Ein »Spukhaus« gibt es fast in jedem Ort im Süden, und um jedes einzelne ranken sich unzählige Legenden.
Ich unterbrach ihn und fragte, wo ich die Gruppe des Suchtrupps, die am tiefsten in den Kiefernwald vorgedrungen war, wohl finden könnte. Nachdem er mir den Weg beschrieben hatte, nahm ich ihm das Versprechen ab, auf Joan aufzupassen, bis ich wieder zurückkehrte. Dann stieg ich auf sein Pferd und ritt davon.
»Verirren Sie sich nicht«, rief er mir nach. »Diese Kiefernwälder sind tückisch für Fremde. Halten Sie nach den Fackeln des Suchtrupps zwischen den Bäumen Ausschau. Und nehmen Sie nicht die alte Nebenstraße!«
In strammem Galopp erreichte ich bald eine Kreuzung, an der eine Straße in jene Richtung des Waldes führte, in die ich wollte. Ich hielt an. Eine weitere Straße, nicht viel mehr als ein schlecht zu erkennender Pfad, bog im rechten Winkel ab. Es war die alte Transportstraße, die zum verlassenen Haus führte. Ich zögerte. Im Gegensatz zu allen anderen war ich nicht so überzeugt davon, dass Joe Cagle diesen Ort meiden würde. Je mehr ich darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher schien es mir, dass der Flüchtige sich dort versteckte. Nach allem, was ich über ihn gehört hatte, war er ein ungewöhnlicher Mann – ein wildes Tier, eine wahre Bestie, aber von so geringer Intelligenz, dass er selbst gegen den Aberglauben der örtlichen Bevölkerung immun war. Weshalb also sollte er nicht aufgrund seines animalischen Wesens Zuflucht an jenem Ort suchen, an dem seine Verfolger ihn zuallerletzt vermuten würden? Wahrscheinlich führte sein brutales Wesen dazu, dass er die Ängste seiner fantasievolleren Mitmenschen verachtete.
Ich fasste einen Entschluss, zog an den Zügeln, woraufhin das Pferd sich umdrehte, und ritt die alte Straße hinunter.
Nirgendwo sonst ist die Welt so vollkommen lichtleer wie in der Finsternis der Kiefernwälder. Die stummen Bäume stiegen wie Basaltmauern neben mir auf und verdeckten die Sterne. Abgesehen vom gelegentlichen unheimlichen Seufzen des Windes in den Zweigen und dem entfernten Jagdschrei einer Eule war die Stille so vollkommen wie die Dunkelheit. Diese Todesstille lastete schwer auf mir. In der schwarzen Finsternis, die mich umgab, glaubte ich, den Geist der unbezwingbaren Sümpfe zu spüren – die entsetzliche Grausamkeit dieses primitiven Menschenfeindes trotzt noch immer der vielgerühmten menschlichen Zivilisation. In einer Umgebung wie dieser scheint alles möglich. Es wunderte mich nicht, dass so viele Geschichten über Schwarze Magie und Voodoo-Zauber in diesen finsteren Wäldern spielten. Vermutlich hätte mich nicht einmal das Trommeln eines Tomtoms überrascht, das nackte Gestalten anlockte, die bei einem Fest in der Dunkelheit im Feuerschein hüpften und tanzten …
Ich zuckte die Achseln, um solche Gedanken abzuschütteln. Wenn in diesen Wäldern wirklich Voodoo-Anhänger heimlich ihrem Kult huldigten, dann sicher nicht heute Nacht, da eine rachsüchtige Meute das Land durchkämmte.
Während das Pferd, das in dieser Waldgegend aufgewachsen war und sich in der Dunkelheit ebenso sicher fortbewegte wie eine Katze, den Weg ohne meine Hilfe fand, strengte ich all meine Sinne an, um kein Geräusch zu überhören, das vielleicht von einem Menschen stammte. Ich vernahm jedoch keinen schleichenden Tritt und kein noch so leises Rascheln im dünnen Unterholz.
Ich wusste, dass Joe Cagle bewaffnet und verzweifelt war. Er lauerte vielleicht in einem Hinterhalt und würde sich möglicherweise jeden Moment auf mich stürzen – dennoch verspürte ich keine besondere Furcht. Durch den Schleier der Dunkelheit konnte er auch nicht mehr sehen als ich, und falls es zu einem blinden Schusswechsel kommen sollte, standen meine Chancen ebenso gut wie die seinen.
Sollte es hingegen zu einem Kampf Mann gegen Mann kommen – nun, ich wog gut zweihundertfünf Pfund, das meiste Knochen und Muskeln, und das Leben auf der Ranch in Texas hatte mich für jede Form des Kampfes gestählt – und sei es auch ein Kampf auf Leben und Tod. Um die Wahrheit zu sagen: Cagles Drohungen gegen Joan hatten mich so sehr erzürnt, dass ich alle Vorsicht beiseiteschob – es kam mir zu keiner Zeit in den Sinn, dass ich dem verzweifelten, affenähnlichen Flüchtling vielleicht nicht gewachsen sein könnte. Wenn ich ihn erst zu fassen bekam, würde ich ihn zu Brei zerquetschen!
Ich war mir sicher, dass ich nun ganz in der Nähe des verlassenen Hauses sein musste. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es tatsächlich war, doch in der Ferne bohrte sich im Osten ein schwacher Lichtschein durch den dichten Mantel aus schwarzen Kiefern. Der Mond ging auf.
In diesem Augenblick drang aus der Finsternis vor mir plötzlich eine Reihe von Schüssen, aber die Stille legte sich sofort wieder wie ein schwerer Nebel auf den Wald nieder. Ich hielt abrupt inne und zögerte einen Moment. Die Schüsse hatten geklungen, als seien sie alle aus derselben Waffe abgefeuert und nicht erwidert worden. Was war dort draußen in der schrecklichen Dunkelheit passiert? Bedeuteten diese Schüsse Joe Cagles Untergang – oder hatte er erneut zugeschlagen? Hatten sie überhaupt etwas mit Cagle zu tun? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Ich trieb mein Pferd an und trabte etwas schneller weiter.
Wenige Augenblicke später erreichte ich eine weite Lichtung, auf der ein verfallenes, dunkles Haus zu den Sternen emporragte. Endlich, das verlassene Haus!
Das Mondlicht schimmerte unheimlich zwischen den Bäumen hindurch, malte schwarze Schatten und tauchte die Szene in einen trügerischen, geheimnisvollen Glanz. Auch im schwachen Lichtschein erkannte ich, dass das Gebäude einst eine imposante Villa aus der Kolonialzeit gewesen war. Während ich bewegungslos im Sattel saß, zog vor meinem inneren Auge ein Bild der vergangenen Pracht dieses Anwesens vorbei – ich sah weite Plantagen, aristokratische Südstaaten-Generäle, Bälle, tanzende Paare, galante Gentlemen …
All das war nun verschwunden – ausgelöscht durch den Bürgerkrieg. Wo einst die Felder der Plantage blühten, standen heute Kiefern, die galanten Gentlemen und ihre Herzensdamen waren seit Langem tot und vergessen, die Villa verfallen und zerstört …
Welche Bedrohung erwartete mich nun in den dunklen, staubigen Zimmern, in denen Mäuse an den Möbeln nagten und Eulen einen Schlafplatz fanden?
Als ich aus dem Sattel sprang, schnaubte mein Pferd plötzlich laut und stellte sich mit aller Kraft auf die Hinterbeine, sodass es mir die Zügel aus der Hand riss. Ich versuchte, sie wieder zu fassen zu bekommen, aber es drehte sich um, galoppierte davon und verschwand wie der Schatten eines Kobolds in der Finsternis. Sprachlos blieb ich stehen und lauschte dem verklingenden Donnern seiner Hufe – und dann spürte ich, wie ein eiskalter Finger meine Wirbelsäule entlangstrich. Es ist kein besonders angenehmes Gefühl, wenn sich die einzige Fluchtmöglichkeit in einer so unheilschwangeren Umgebung plötzlich in Luft auflöst.
Ich war jedoch nicht hierhergekommen, um vor der Gefahr davonzulaufen. Entschlossen bewegte ich mich auf die Veranda zu, in der einen Hand eine schwere Pistole, in der anderen eine Taschenlampe. Über mir ragten mächtige Säulen auf. Die Tür stand offen, sie hing nur noch in den gebrochenen Angeln. Ich schaltete meine Taschenlampe ein und leuchtete die weite Eingangshalle mit dem hellen Lichtstrahl ab, sah jedoch nur Staub und noch mehr Verfall.
Ich schaltete die Lampe wieder aus und trat vorsichtig ein.
Als ich in der Halle stand und versuchte, meine Augen an die Finsternis zu gewöhnen, wurde mir bewusst, dass ich so leichtsinnig war, wie man es überhaupt nur sein konnte. Wenn Joe Cagle sich irgendwo in diesem Haus versteckte, dann musste er nur darauf warten, dass ich meine Taschenlampe einschaltete – und konnte mich mit Blei vollpumpen.
Dann fielen mir seine Drohungen gegen Joan wieder ein, die in genau diesem Augenblick gewiss noch wach war und erschöpft und ängstlich wartete, ob er wirklich zurückkam. Meine Entschlossenheit wuchs. Falls Joe Cagle sich wirklich in diesem Haus aufhielt, bedeutete dies seinen Tod.
Ich ging zur Treppe hinüber, denn mein Instinkt sagte mir, dass der Mann, sofern er tatsächlich im Haus war, irgendwo im zweiten Stock zu finden sein würde. Ich tastete mich nach oben und erreichte schließlich den Treppenabsatz, der von einem Mondstrahl erhellt wurde, der durch ein Fenster hereinbrach. Auf dem Boden lag eine so dicke Staubschicht, als sei er zwei Jahrzehnte lang unberührt gewesen. Ich vernahm Fledermausflügel flüstern und Mäusefüße trippeln. Im Staub waren keine Spuren zu erkennen, die auf die Anwesenheit eines Menschen hingedeutet hätten, doch ich war mir sicher, dass es noch weitere Treppen gab. Vielleicht war Cagle ja auch durch ein Fenster ins Haus eingedrungen.
Ich ging den Flur entlang – er glich einem schrecklichen Labyrinth aus schwarzen, bedrohlichen Schatten und grellen Mondstrahlen, die durch die Fenster hereinfielen. Außer meinen gedämpften Schritten auf dem dick mit Staub bedeckten Boden war kein Geräusch zu hören. Ich kam an zahlreichen Zimmern vorbei, doch im Schein meiner Taschenlampe erkannte ich nichts als vermoderte Wände, abgesackte Decken und zerbrochene Möbel. Endlich erreichte ich am Ende des Korridors ein Zimmer, das verschlossen war. Ich hielt inne, und in mir stieg ein unglaubliches Gefühl auf, das meine Nerven stählte. Mein Herz klopfte heftig. Irgendwie wusste ich, dass hinter dieser Tür etwas Geheimnisvolles, Bedrohliches wartete …
Vorsichtig richtete ich meine Taschenlampe auf die Tür. Die Staubschicht davor war aufgewühlt worden, sodass direkt vor der Tür ein bogenförmiger Streifen des Fußbodens zu erkennen war. Die Tür war also vor sehr kurzer Zeit geöffnet und wieder geschlossen worden.
Behutsam drehte ich am Knauf, zuckte zusammen, als er laut quietschte, und erwartete jeden Moment, dass die Tür von einer Ladung Blei durchlöchert wurde. Alles blieb still. Ich riss die Tür auf und sprang schnell zur Seite.
Kein Schuss, kein Geräusch war zu hören.
In geduckter Haltung sah ich mit gespannter Waffe am Türpfosten vorbei und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Ein schwacher, beißender Geruch drang an meine Nase – Schießpulver. Waren die Schüsse, die ich gehört hatte, in diesem Zimmer abgefeuert worden?
Das Mondlicht floss über eine brüchige Fensterbank herein und verbreitete ein vages Leuchten im Zimmer. Ungefähr in der Mitte des Raumes lag eine dunkle, massige Gestalt, die aussah wie ein Mensch. Ich trat über die Schwelle, beugte mich über die Gestalt und richtete den Lichtstrahl der Taschenlampe auf das mir zugewandte Gesicht.
Joan würde sich nie mehr vor den Drohungen von Joe Cagle fürchten müssen, denn die Gestalt auf dem Boden war Joe Cagle – und er war tot.
In der Nähe seiner ausgestreckten Hand lag ein Revolver. Ich hob ihn auf und stellte fest, dass alle Kammern mit leeren Patronenhülsen gefüllt waren. Der Mann selbst hatte jedoch keine Schusswunden. Auf wen hatte er geschossen? Und was hatte ihn getötet?
Ein zweiter Blick auf seine verzerrten Gesichtszüge verriet es mir. Ich hatte diesen Ausdruck schon einmal in den Augen eines Mannes gesehen, der von einer Klapperschlange gebissen worden war – ein Mann, der vor Angst gestorben war, noch bevor das Gift des Reptils ihn hatte töten können. Cagles Mund stand weit offen, seine toten Augen starrten grausam ins Leere. Er war vor Angst gestorben – aber was für eine grässliche Erscheinung hatte diese Angst ausgelöst …?
Bei diesem Gedanken brach auf meiner Stirn kalter Schweiß aus und die kurzen Haare in meinem Nacken stellten sich auf. Urplötzlich wurde ich mir der völligen Stille und Einsamkeit des Ortes bewusst, an dem ich mich zu jener mitternächtlichen Stunde befand … Irgendwo im Haus wimmerte eine Ratte. Ich fuhr erschrocken hoch und blickte nach oben – und hielt, wie festgefroren, abrupt inne. Die gegenüberliegende Wand war in Mondlicht getaucht, aber ganz plötzlich hatte sich ein stummer Schatten auf sie gelegt.
Ich sprang auf und drehte mich blitzschnell zur anderen Tür um. Der Ausgang war frei. Ich stürzte aus dem Zimmer und durch eine weitere Tür, die ich hinter mir zuknallte …
Dann blieb ich wie vom Donner gerührt stehen. In der Stille war kein Geräusch zu hören. Was hatte eben dort in der Tür zum Flur gestanden und diesen mächtigen Schatten auf die Wand des Raumes geworfen, in dem ich mich befand? Ich zitterte noch immer vor Angst, vor dem Unerklärlichen. Der Gedanke an einen zu Tode verzweifelten Mann war schrecklich genug, aber der Blick, den ich auf diesen Schatten geworfen hatte, hatte auch einen Schatten auf meiner Seele hinterlassen, der etwas Fremdartiges, Gottloses bedeutete – etwas Unmenschliches!
Das Zimmer, in dem ich mich nun befand, grenzte ebenfalls an den Flur. Ich schlich auf die Tür zu, die zum Korridor führte – aber der Gedanke an eine Konfrontation mit dem Wesen, das vermutlich in der Dunkelheit lauerte, ließ mich zögern. Dann öffnete sich die Tür …
Ich vermochte nichts zu erkennen, aber mir wurde eiskalt und ich erstarrte innerlich, als ein grauenhafter Schatten über den Boden kroch und auf mich zukam!
Tiefschwarz zeichnete er sich im Mondlicht auf dem Boden ab. Es sah so aus, als stünde ein fürchterliches Wesen im Türrahmen, dessen langgezogene, verzerrte Gestalt sich über den gesamten Boden bis zu meinen Füßen erstreckte. Der Türrahmen war jedoch völlig leer!
Ich rannte quer durch das Zimmer und durch die Tür, die in den nächsten Raum führte. Ich befand mich noch immer neben dem Flur – alle Zimmer dieses Stockwerks schienen an den Korridor zu grenzen. Ich bebte förmlich, hielt inne und umfasste den Revolver so fest mit meiner schweißnassen Hand, dass der Lauf wie ein Blatt im Wind zitterte.
In der Stille kam mir das Klopfen meines Herzen wie ein lautes Donnern vor. Was, um Himmels willen, war das für ein schreckliches Ding, das mich durch diese dunklen Zimmer jagte? Wie konnte es einen solchen Schatten werfen, wenn seine eigentliche Gestalt doch unsichtbar war? Die Stille lag wie ein finsterer Nebel auf dem Haus, die geisterhaften Strahlen des Mondlichts zeichneten ein unheimliches Muster auf den Boden. Nur zwei Zimmer entfernt lag die Leiche eines Mannes, der etwas so unbeschreiblich Schreckliches gesehen hatte, dass es ihn um den Verstand gebracht und ihn das Leben gekostet hatte. Und hier stand ich, allein mit dem unbekannten Ungeheuer …
Was war das? Das Knarren uralter Scharniere! Ich wich an die Wand zurück, das Blut gefror mir in den Adern. Die Tür, durch die ich eben hereingekommen war, öffnete sich langsam! Ein heftiger Windstoß fuhr durch den Raum, und die Tür schwang weit auf …
Ich wappnete mich für den Anblick eines fürchterlichen Schreckens in der offenen Tür, und sah – nichts!
Wie alle anderen Zimmern auf dieser Seite des Korridors war auch dieses von Mondlicht durchflutet, das durch die Flurtür hereinströmte und auf die gegenüberliegende Wand fiel. Falls irgendeine unsichtbare Kreatur aus dem Nebenzimmer hereinkommen sollte, hätte sie das Mondlicht nicht im Rücken. Und dennoch fiel ein verzerrter Schatten auf die mondbeschienene Wand – und dieser Schatten wuchs, so als gehöre er zu einem Wesen, das sich vorwärtsbewegte!
Obwohl der Winkel, in dem der Schatten fiel, die Form zusätzlich verzerrte, konnte ich die Umrisse genau erkennen – breit, schwankender Gang, geduckte Haltung, nach vorne gestreckter Kopf, lange, menschenähnliche, schwingende Arme – merkwürdig menschlich und doch entsetzlich unmenschlich. All dies erkannte ich in dem näherkommenden Schatten, aber ich sah kein körperliches Wesen, das diesen Schatten hätte werfen können.
Dann wurde ich von Panik erfasst und feuerte immer wieder auf den scheinbar leeren Türrahmen vor mir. Das Haus erbebte vom krachenden Echo der Schüsse und füllte sich mit dem beißenden Geruch des Schießpulvers. In meiner Verzweiflung jagte ich die letzte Kugel mitten in den schwebenden Schatten, genauso, wie Joe Cagle es im letzten schrecklichen Augenblick vor seinem Tod getan haben musste. Der Hammer fiel mit einem hohlen Geräusch auf eine leere Patronenhülse, und ich warf die leere Pistole wie wild gegen die unsichtbare Bedrohung. Das Ding hatte nicht einen Augenblick lang innegehalten – und nun war mir der Schatten ganz nahe.
Als ich rückwärtstaumelte, berührte ich mit meinen zitternden Händen plötzlich die Tür und drehte am Knauf. Die Tür bewegte sich nicht – sie war verschlossen! Nun richtete sich der Schatten an der Wand neben mir zu voller Größe auf, schwarz und grauenvoll. Dann erhob er zwei riesige, baumartige Arme …
Ich schrie auf und warf mich mit voller Wucht gegen die Tür. Sie gab mit einem Krachen nach, Splitter flogen und ich fiel in das dahinter liegende Zimmer.
Was dann folgte, war der reinste Albtraum. Ich rappelte mich auf, ohne mich umzublicken, und eilte in den Korridor hinaus. Vor mir erkannte ich – wie durch einen Nebelschleier – den Treppenabsatz und stürzte darauf zu. Der Korridor war lang – er schien sich bis ans Ende der Zeit zu erstrecken, als ich ihn entlangrannte. Ein schwarzer Schatten folgte mir dicht auf den Fersen, flog an der mondbeschienenen Wand entlang, und verschwand für einen Augenblick in der tiefen Finsternis, nur um im nächsten Augenblick in einem Mondstrahl wieder aufzutauchen, der durch ein Außenfenster hereinbrach.
Über die gesamte Länge des Korridors blieb er an meiner Seite, fiel auf die Wand zu meiner Linken und erinnerte mich daran, dass das Wesen, das ihn warf – was auch immer es sein mochte – dicht hinter mir war. Seit Langem erzählt man sich, dass der Schatten eines Geistes im Mondlicht sichtbar wird, obwohl der Geist selbst für den Menschen unsichtbar bleibt – doch gewiss hat nie ein Mensch gelebt, der einen Schatten von so bestialischer, unmenschlicher Form hätte werfen können wie den, vor dem ich mit entsetzlicher, vernunftloser Angst floh!
Ich hatte die Treppe beinahe erreicht – als der Schatten sich plötzlich vor mir aufbaute! Das Ding musste direkt hinter mir sein – es streckte seine unsichtbaren Arme aus, um mich zu packen.
Ein kurzer Blick über die Schulter versetzte mir einen weiteren, schrecklichen Stich: Neben meinen Fußspuren formten sich auf dem staubigen Boden weitere Abdrücke – riesige Abdrücke von missgebildeten Füßen, von furchtbaren Klauen! Mit einem Schrei des Entsetzens wirbelte ich nach rechts und sprang auf ein offenes Fenster zu – ich handelte unbewusst, wie ein ertrinkender Mann, der nach einem Seil greift …
Ich prallte mit der Schulter gegen den Fensterrahmen, fiel hinaus und spürte nur noch, wie mein Körper durch die Luft flog. Während die Erde auf mich zuraste, erhaschte ich einen flüchtigen, verwirrten Blick auf den Mond, die Sterne und die dunklen Kiefern – und dann brach schwarzes Vergessen über mich herein.
Als ich das Bewusstsein wiedererlangte, spürte ich als Erstes, wie sanfte Hände meinen Kopf anhoben und mir über das Gesicht streichelten. Mit geschlossenen Augen lag ich völlig ruhig, um mich zu orientieren, doch ich konnte mich nicht daran erinnern, wo ich mich befand oder was geschehen war. Doch dann schwappte die Erinnerung wie eine Welle über mich hinweg. Vermutlich war in meinen Augen ein wildes Flackern zu sehen, als ich mit großer Anstrengung versuchte, mich aufzusetzen.
»Steve, oh, Steve! Du bist verletzt!«
Anscheinend war ich wahnsinnig geworden, denn diese Stimme gehörte Joan! Aber – nein! Mein Kopf lag in ihrem Schoß, und mit ihren großen dunklen Augen, die vor Tränen glänzten, blickte sie zu mir herab.
»Joan! Was, um Himmels willen, machst du hier?«
Ich setzte mich auf und zog sie in meine Arme. Mein Kopf dröhnte so stark, dass mir beinahe übel wurde, außerdem war ich völlig zerschrammt und mein ganzer Körper schmerzte. Über uns ragten die schrecklich finsteren Mauern des verlassenen Hauses auf, und über dem zerstörten Dornenbusch, neben dem ich lag, konnte ich das dunkle Fenster sehen, aus dem ich gestürzt war. Ich musste lange Zeit dort gelegen haben, denn der Mond stand nun blutrot am westlichen Horizont.
»Dein Pferd ist ohne Reiter zurückgekommen. Ich konnte nicht einfach dasitzen und warten – also habe ich mich aus dem Haus geschlichen und bin hierhergekommen. Man sagte mir, du hättest dich dem Suchtrupp anschließen wollen, aber das Pferd ist über die alte Transportstraße gekommen. Es war niemand da, den ich hätte schicken können, also habe ich mich selbst auf den Weg gemacht.«
»Joan!« Die Freude, sie hier zu sehen – zart und verzweifelt, zerbrechlich und doch so voller Liebe – füllte mein ganzes Herz aus. Wieder drückte ich sie fest an mich und küsste sie wortlos.
»Steve …« Ihre leise Stimme klang verängstigt. »Was ist mit dir passiert? Als ich angeritten kam, hast du in diesem Dornenbusch gelegen, bewusstlos …«
»Ich verstehe … Es ist reines Glück, dass ich nicht auch tot bin – wie die beiden anderen Männer, die aus einem der Fenster gestürzt sind! Sag’ mir, Joan – was ist vor zwanzig Jahren in diesem Haus geschehen, dass ein so furchtbarer Fluch auf ihm lastet?«
Joan erschauderte. »Ich weiß es nicht. Die Leute, denen es vor dem Krieg gehörte, mussten es danach verkaufen. Offensichtlich haben die neuen Bewohner es völlig verfallen lassen. Kurz vor dem Tod des letzten Eigentümers ist aber etwas Seltsames passiert: Ein riesiger Menschenaffe ist aus einem Zirkus, der damals durch die Gegend zog, entwischt und hat Zuflucht in dem Haus gesucht. Das arme Tier hatte unter schrecklichen Misshandlungen zu leiden, und als seine Besitzer versuchten, es wieder einzufangen, wehrte es sich so heftig, dass sie es töten mussten. Das war vor über zwanzig Jahren. Kurz darauf stürzte der Hausbesitzer aus einem der oberen Fenster und starb. Man nahm an, dass er sich umgebracht hat oder geschlafwandelt war, aber …«
»Nein!« Mich durchfuhr plötzlich ein eiskalter Schauer. »Er wurde von einem Ding durch sämtliche Zimmer dieses Hauses gejagt, das so schrecklich war, dass selbst der Tod ein willkommener Ausweg zu sein schien. Und dieser junge Mann auf der Durchreise – ich weiß, was ihn getötet hat. Und Joe Cagle …«
»Joe Cagle!« Joan fuhr erschrocken hoch. »Wo …?«
»Keine Angst – er kann dir nichts mehr tun. Bitte frag’ mich dazu nichts mehr. Nein, ich habe ihn nicht getötet. Sein Tod war schrecklicher als irgendein Ende, das ich ihm hätte bereiten können. Es scheint Welten und Schatten von Welten zu geben, von denen wir nicht das Geringste wissen, und in den finsteren Schatten unserer eigenen Welt lauern bestialische irdische Geister, die ihre Zeit bereits weit überdauert haben. Komm, lass uns gehen.«
Joan hatte ein zweites Pferd mitgebracht und die Tiere ein Stück vom Haus entfernt angebunden. Ich bat sie, aufzusteigen, und trotz ihrer ängstlichen Einwände kehrte ich noch einmal zur Villa zurück. Ich wagte mich jedoch nur bis auf Höhe des ersten Fensters im ersten Stock heran und blieb nur wenige Augenblicke stehen. Danach stieg auch ich auf mein Pferd, und gemeinsam ritten Joan und ich auf der alten Transportstraße zurück. Die Sterne verblassten langsam, und im Osten wurde der Himmel im Licht des kommenden Morgens immer heller.
»Du hast mir noch nicht gesagt, wovon dieses Haus heimgesucht wird«, sagte Joan mit flüsternder Stimme, »aber ich kann es mir denken. Was sollen wir jetzt tun?«
Als Antwort drehte ich mich in meinem Sattel um und deutete mit dem Finger. Wir waren um eine Wegbiegung geritten und konnten das alte Haus zwischen den Bäumen gerade noch erkennen. Plötzlich schnellte ein Speer aus Feuer empor, Rauch stieg in den Morgenhimmel auf, und wenige Minuten später hörten wir ein tiefes Grollen, als das gesamte Haus inmitten wütend züngelnder Flammen in sich zusammenstürzte – in den Flammen des Feuers, das ich entzündet hatte, bevor wir aufgebrochen waren. Schon unsere Vorfahren wussten, dass allein das Feuer alles zu zerstören vermag – und während ich zusah, wie das Haus einstürzte, wusste ich, dass der Geist des toten Menschenaffen vernichtet war, und dass die Kiefernwälder für immer vom Schatten der Bestie befreit waren.