Die Kreatur mit den Hufen
Marjory weinte über den Verlust von Bozo, ihrem fetten Malteser-Kater – das Tier war von seinem allnächtlichen Spaziergang nicht zurückgekehrt. In letzter Zeit waren in der Nachbarschaft mehrere Katzen spurlos verschwunden, und nun war Marjory untröstlich. Da ich es nicht ertragen konnte, Marjory weinen zu sehen, brach ich auf, um nach ihrem vermissten Liebling zu suchen, wenn ich auch wenig Hoffnung hatte, ihn zu finden. Leider kommt es nicht selten vor, dass irgendein Perverser seinen sadistischen Trieben freien Lauf lässt, indem er Tiere vergiftet, die ihren Besitzern viel bedeuten. Ich befürchtete, Bozo und die anderen Tiere, die in den letzten Monaten verschwunden waren, könnten solch einer degenerierten Person in die Hände gefallen sein.
Ich verließ das Anwesen der Familie Ash, und mein Weg führte mich an mehreren leeren, unkrautüberwucherten Grundstücken vorbei, bis ich schließlich das letzte Haus auf dieser Seite der Straße erreichte. Das Haus fiel fast auseinander, war sehr heruntergekommen und erst kürzlich von einem Mr. Stark bezogen worden, einem scheinbar alleinstehenden Pensionär aus dem Osten, der jedoch keinerlei Anstrengungen unternahm, es zu renovieren. Während ich das baufällige Haus betrachtete, das etwa hundert Meter von der Straße entfernt stand, kam mir der Gedanke, dass Mr. Stark möglicherweise etwas Licht in diese rätselhafte Angelegenheit bringen konnte.
Als ich durch das herunterhängende, rostige Eisentor trat und über einen Weg aus gesprungenen Steinplatten zum Haus ging, fiel mir die allgemeine Verwahrlosung des Anwesens auf. Über den neuen Eigentümer war wenig bekannt, und obwohl er nun schon seit etwa sechs Monaten mein Nachbar war, hatte ich ihn noch nicht persönlich kennengelernt. Man munkelte, dass er allein lebe, sogar ohne Bedienstete, obwohl er verkrüppelt war. Ein exzentrischer Wissenschaftler, sehr wortkarg und so wohlhabend, dass er sich voll und ganz seinen Hobbys widmen könne – das war jedenfalls die gängige Meinung.
Die breite Veranda, die nahezu mit Efeu überwuchert war, verlief entlang der gesamten Vorderseite sowie an beiden Seiten des Hauses. Als ich gerade den altmodischen Türklopfer betätigen wollte, hörte ich das Geräusch humpelnder, schleichender Schritte, und als ich mich umdrehte, sah ich den Hausbesitzer auf der Veranda um die Ecke hinken. Trotz seiner Behinderung war er eine beeindruckende Erscheinung. Sein Gesicht war das eines Asketen und Denkers, mit erhabener hoher Stirn, dichten schwarzen Augenbrauen, die sich beinahe in der Mitte trafen, und tiefen, dunklen Augen, die mich mit einem durchdringenden, magnetischen Blick ansahen. Seine schmale römische Nase hatte Ähnlichkeit mit dem Schnabel eines Raubvogels, seine dünnen Lippen verliehen ihm einen ernsten Ausdruck und sein kräftiger, hervorstehender Kiefer ließ ihn kompromisslos und entschlossen, ja beinahe brutal erscheinen. Er war nicht besonders groß, wäre es auch völlig gerade aufgerichtet nicht gewesen, aber sein dicker kurzer Hals und seine breiten Schultern zeugten von einer Kraft, auf die seine gebeugte Haltung nicht schließen ließ. Er konnte sich nur langsam und mit offensichtlicher Mühe bewegen, wobei er sich auf eine Krücke stützte, und ich sah, dass ein Bein auf unnatürliche Weise verdreht war und dass er einen speziellen Schuh trug, wie ihn Menschen mit Klumpfüßen brauchen.
Er sah mich fragend an und ich sagte: »Guten Morgen, Mr. Stark, bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich bin Michael Strang. Ich wohne im letzten Haus auf der anderen Straßenseite. Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie kürzlich vielleicht einen großen Malteser-Kater gesehen haben.«
Sein Blick durchbohrte mich beinahe. »Was bringt Sie dazu, zu glauben, ich könnte irgendetwas über eine Katze wissen?«, fragte er mit tiefer, zitternder Stimme.
»Nichts«, gestand ich und kam mir wie ein Narr vor. »Der Kater gehört meiner Verlobten, und es würde ihr das Herz brechen, ihn zu verlieren. Da Sie auf dieser Straßenseite ihr nächster Nachbar sind, hatte ich gehofft, es bestünde vielleicht die Möglichkeit, dass Sie das Tier gesehen haben.«
»Ich verstehe«, entgegnete er lächelnd. »Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann. Letzte Nacht habe ich zwar ein paar Katzen zwischen meinen Bäumen kreischen und miauen gehört – leider nur allzu deutlich, da ich wieder an meiner Schlaflosigkeit litt –, aber den Kater, den Sie meinen, habe ich nicht gesehen. Tut mir leid, von seinem Verschwinden zu hören. Möchten Sie nicht hereinkommen?«
Die Neugier, mehr über meinen Nachbarn zu erfahren, war groß, und so nahm ich seine Einladung an. Ich folgte ihm in sein Arbeitszimmer, in dem es nach Tabak und den ledernen Einbänden der Bücher roch. Interessiert ließ ich meinen Blick über die vielen Bände schweifen, die die Regale bis unter die Decke füllten, aber ich bekam nicht die Gelegenheit, mir die Titel näher anzuschauen, da sich mein Gastgeber als überraschend gesprächig herausstellte. Er schien sich über meine Anwesenheit zu freuen, und ich wusste, dass er sonst nur selten oder gar keinen Besuch bekam. Ich empfand ihn als sehr kultiviert, ein charmanter Gesprächspartner und ein überaus zuvorkommender Gastgeber. Aus einem antiken lackierten Schränkchen, dessen Tür aus einer hochglanzpolierten massiven Silberplatte zu bestehen schien, holte er Whiskey und Soda hervor, und während wir die Drinks genossen, wechselte er von einem interessanten Thema zum anderen. Einer beiläufigen Bemerkung entnahm er, dass ich mich sehr für die anthropologische Forschung von Professor Hendrik Brooler interessierte, und so erklärte er dessen Arbeit ausführlich und erläuterte einige Punkte, die mir bis dahin noch nicht ganz klar gewesen waren.
Fasziniert von der offenkundigen Belesenheit des Mannes, konnte ich mich erst nach fast einer Stunde wieder losreißen, und mein schlechtes Gewissen gegenüber Marjory, die auf Neuigkeiten von ihrem vermissten Bozo wartete, wuchs nun zusehends. Ich verabschiedete mich und versprach, bald wiederzukommen, und als ich zur Vordertüre hinausging, wurde mir bewusst, dass ich trotz allem nichts über meinen Gastgeber erfahren hatte. Er war sehr bedacht darauf gewesen, die Unterhaltung in unpersönlichen Bahnen zu halten. Auch wenn er nichts über Bozo wusste, sah ich dennoch als positives Zeichen an, dass wohl eine Katze im Haus lebte, denn während unserer Unterhaltung hatte ich über uns mehrfach ein Trippeln gehört. Doch als ich im Nachhinein genauer darüber nachdachte, hatte es eigentlich nicht nach einem herumrennenden Nagetier geklungen. Eher schon nach einem kleinen Kind, einem Lamm oder einem anderen kleinen Huftier, das immer wieder hin und her lief.
Meine gründliche Suche in der weiteren Nachbarschaft brachte keine Spur des vermissten Bozo, und so kehrte ich unverrichteter Dinge zu Marjory zurück. Als kleinen Trost brachte ich ihr eine tapsige, o-beinige Bulldogge mit, deren Gesicht wie das einer typischen Wasserspeier-Figur aussah und die das treueste Herz hatte, das je in einer Hundebrust schlug. Marjory weinte noch immer um den verlorenen Kater und nannte ihren neuen Vasallen zu seinem Andenken Bozo. Als ich sie verließ, tollte sie mit dem Hündchen im Garten umher, als sei sie zehn, nicht zwanzig Jahre alt.
Die Erinnerung an meine Unterhaltung mit Mr. Stark war noch sehr lebhaft, und so besuchte ich ihn in der folgenden Woche erneut. Einmal mehr war ich von seinem vielfältigen Wissensschatz sehr beeindruckt. Absichtlich sprach ich die unterschiedlichsten Themen an, und bei jedem erwies er sich als Meister des Fachs und drang tiefer in die Materie ein, als ich es je zuvor bei einem Gesprächspartner erlebt hatte. Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Philosophie – auf allen Gebieten war er gleichermaßen versiert. Obwohl ich von seinen Ausführungen wieder höchst fasziniert war, ertappte ich mich dabei, wie ich nach dem seltsamen Geräusch horchte, das ich beim letzten Mal gehört hatte, und ich wurde nicht enttäuscht. Dieses Mal war das Trippeln jedoch lauter, woraus ich schloss, dass sein Haustier gewachsen war. Vielleicht, so dachte ich, hielt er es im Haus, weil er fürchtete, es würde dasselbe Schicksal ereilen wie die verschwundenen Katzen. Weil das Haus, wie ich wusste, keinen Keller hatte, war es völlig natürlich, dass das Tier in einem Zimmer unter dem Dach hauste. Da Stark ein einsamer Mann ohne Freunde war, verspürte er wahrscheinlich große Zuneigung zu dem Tier, was auch immer es sein mochte.
Wir unterhielten uns bis tief in die Nacht; tatsächlich dämmerte es bereits, als ich mich endlich dazu zwang, mich zu verabschieden. Wie bei meinem letzten Besuch nahm er mir das Versprechen ab, bald wiederzukommen. Er entschuldigte sich dafür, dass er meine Besuche nicht erwidern konnte, da seine Krankheit ihm lediglich erlaubte, in den frühen Morgenstunden, bevor die Hitze des Tages hereinbrach, zur Ertüchtigung ein paar humpelnde Schritte über sein Anwesen zu machen.
Ich versicherte ihm, ihn bald wieder zu besuchen, aber trotz meiner festen Absicht hielten mich geschäftliche Verpflichtungen für mehrere Wochen von einem Besuch ab. Während dieser Zeit erfuhr ich von einem dieser mysteriösen Ereignisse, die nicht selten eine ganze Nachbarschaft in Aufruhr versetzen, um dann ungeklärt wieder in Vergessenheit zu geraten: Nun verschwanden auch Hunde – sie waren bislang von dem unbekannten Katzenräuber verschont geblieben –, und die betroffenen Besitzer konnten ihre ungeheure Wut nicht mehr zügeln.
Als ich an einem Nachmittag zu Fuß auf dem Nachhauseweg aus der Stadt war, holte mich Marjory in ihrem kleinen Roadster ein. Ich wusste sofort, dass etwas geschehen war, denn sie war sehr beunruhigt. Bozo, ihr ständiger Begleiter, zeigte mir ein respekteinflößendes Grinsen, leckte mir dann aber mit seiner langen feuchten Zunge freudig das Gesicht ab.
»Jemand hat letzte Nacht versucht, Bozo zu entführen, Michael«, sagte sie, und aus ihren tiefschwarzen Augen sprachen Sorge und Entrüstung. »Ich möchte wetten, dass es dieses furchtbare Ungeheuer war, das in letzter Zeit auch die anderen Haustiere gestohlen hat.«
Sie erzählte mir alles ganz genau, und es hatte den Anschein, als sei Bozo für den geheimnisvollen Übeltäter schlicht zu viel Hund gewesen. Die Familie hatte spät in der Nacht plötzlich Lärm gehört, der nach einem heftigen Kampf klang und vom wilden Heulen des großen Hundes begleitet wurde. Alle waren sofort zu Bozos Zwinger gerannt, und obwohl der Eindringling bereits verschwunden war und sie ihn nicht mehr stellen konnten, hörten sie noch deutlich, wie er davoneilte. Der Hund zerrte an seiner Kette, seine Augen leuchteten feuerrot, sein Fell hatte sich aufgestellt und er tat sein Missfallen mit einem tief donnernden Bellen kund. Von seinem Angreifer fehlte jedoch jede Spur – er war entkommen und über die hohe Gartenmauer geflohen.
Anscheinend hatte der Vorfall Bozos Misstrauen gegenüber Fremden geweckt, denn bereits am nächsten Morgen musste ich Mr. Stark zu Hilfe eilen und ihn vor dem Tier retten.
Wie bereits erwähnt, war Mr. Starks Anwesen das letzte auf seiner Straßenseite, meines das letzte auf der anderen. Mein Haus war auch gleichzeitig das allerletzte in der Straße und lag etwa dreihundert Meter von der vorderen Ecke von Starks großem bewaldeten Garten entfernt. An der anderen Ecke, die an die Straße und das Anwesen der Ashs grenzte, stand eine Gruppe kleiner Bäume auf einer der ungenutzten Grünflächen, die die beiden Anwesen voneinander trennte. Als ich auf meinem Weg zu den Ashs an diesem Hain vorbeiging, hörte ich plötzlich einen Aufschrei – die Hilferufe eines Mannes gepaart mit dem wütenden Knurren eines Hundes.
Ich stürzte zwischen den Bäumen hindurch und sah einen großen Hund, der immer wieder hochsprang und nach einer Gestalt schnappte, die sich an den unteren Ästen eines Baumes festklammerte. Der Hund war Bozo, die Gestalt war Mr. Stark, dem es trotz seiner Verkrüppelung gelungen war, sich außer Reichweite auf den Baum zu retten. Ebenso erschrocken wie erstaunt eilte ich zu Hilfe, zog Bozo mit einiger Mühe von seinem Opfer fort und schickte das beleidigte Tier nach Hause. Ich half Mr. Stark vom Baum herunter, und kaum dass er festen Boden unter den Füßen hatte, brach er völlig zusammen.
Ich konnte keine Verletzungen bei ihm feststellen, und er versicherte mir, nachdem er wieder etwas Atem geschöpft hatte, dass es ihm bis auf den Schock, die Angst und die Erschöpfung gut gehe. Er erzählte, er habe sich im Schatten der Bäume von einem zu langen Spaziergang über sein Anwesen erholen wollen, als der Hund plötzlich auftauchte und ihn angriff. Ich bat vielmals für Bozos Verhalten um Entschuldigung und versicherte ihm, dass so etwas nicht wieder passieren würde. Dann stützte ich ihn auf dem Weg in sein Arbeitszimmer, wo er sich auf dem Diwan ausstreckte, und reichte ihm ein Glas Whiskey Soda; die Getränke hatte ich in dem lackierten Schränkchen gefunden. Er reagierte sehr gelassen auf den Vorfall, versicherte mir, dass er keinen Schaden davongetragen hatte, und erklärte den Angriff damit, dass er für den Hund ein Fremder war.
Während er sprach, hörte ich im oberen Stock plötzlich wieder das Trappeln der Hufe, und ich erschrak, da das Geräusch viel lauter war als zuvor, wenn auch seltsam gedämpft. Es klang, als würde ein einjähriges Fohlen über Teppichboden gehen. Meine Neugier war groß, und ich konnte mich nur sehr schwer zurückhalten, um nicht nach der Ursache zu fragen, doch da dies anmaßend gewesen wäre und ich erkannte, dass Mr. Stark Ruhe und Erholung brauchte, verabschiedete ich mich, sobald er sich besser fühlte.
Etwa eine Woche später trug sich der erste der unheimlichen, rätselhaften Vorfälle zu. Wieder handelte es sich um ein unerklärbares Verschwinden, doch dieses Mal ging es nicht um eine Katze oder einen Hund – sondern um ein dreijähriges Kind, das noch kurz vor Sonnenuntergang in der Nähe des heimischen Gartens beim Spielen gesehen worden war. Es verschwand spurlos, kein Mensch hatte jedoch irgendetwas Verdächtiges beobachtet. Ich muss sicher nicht erwähnen, dass das Geschehen die gesamte Stadt in Aufruhr versetzte. Einige hatten das Verschwinden der Tiere mit der schieren Bösartigkeit des Täters erklärt, und der jüngste Vorfall deutete zweifellos darauf hin, dass hinter den Taten eine wirklich teuflische Person stand.
Die Polizei durchkämmte die ganze Stadt und die gesamte Umgebung, doch sie fand keinerlei Spur des vermissten Kindes – und innerhalb der nächsten zwei Wochen verschwanden an unterschiedlichen Orten der Stadt vier weitere Kinder. Die Eltern erhielten weder Briefe von Entführern, in denen Lösegeld gefordert wurde, noch gab es Anzeichen dafür, dass Feinde hier böswillig Rache verübten. Die Opfer wurden einfach von einer gähnenden Stille verschlungen, die undurchdringlich war. Vergeblich setzten die verzweifelten Bürger ihre Hoffnung auf die Zivilbehörden, die jedoch bereits alles getan hatten, was in ihrer Macht stand, und ebenso ratlos waren wie die Öffentlichkeit.
Man dachte darüber nach, den Gouverneur um die Entsendung von Soldaten zu bitten, die in der Stadt patrouillieren sollten; viele Männer gingen nur noch bewaffnet aus dem Haus und kehrten schon lange vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu ihren Familien zurück. Finstere Gerüchte, dass übernatürliche Kräfte am Werk seien, machten flüsternd die Runde, und viele sprachen von unheimlichen Vorahnungen, da es keinem Sterblichen möglich sein konnte, Kinder zu stehlen und dabei so lange unverdächtig und unerkannt zu bleiben. Hinter dem Verschwinden der Kinder lag jedoch kein unerklärliches Geheimnis. Es war schlicht und einfach unmöglich, jede Ecke einer so großen Stadt zu bewachen und jederzeit ein Auge auf jedes einzelne Kind zu haben. Trotz elterlicher Warnungen und Anordnungen hielten sie sich weiterhin in einsamen Parks auf und spielten auch nach Sonnenuntergang noch im Freien, sodass die Dunkelheit bereits hereinbrach, wenn sie nach Hause liefen. Es musste kein jenseitiger Entführer sein, der in Parks oder auf Spielplätzen in den Schatten der Bäume lauerte, um sich ein Kind zu schnappen, das ein Stück hinter seine Kameraden zurückgefallen war. Selbst auf einsamen Straßen oder in dunklen Gassen konnte ein solches Verbrechen unbemerkt geschehen. Der Schrecken lag weniger in der Art, wie die Kinder gestohlen wurden, als eher in der Tatsache, dass sie gestohlen wurden. Hinter den Taten schien weder ein wahnsinniges noch nachvollziehbares Motiv zu stehen. Eine Atmosphäre der Angst hatte sich wie ein Tuch über die Stadt gebreitet, und durch dieses Tuch rollte eine Welle des Entsetzens und des Schreckens.
In einem der abgelegeneren Parks am Rande der Stadt wurde ein junges Paar, das dort intime Stunden der Zweisamkeit genießen wollte, von einem furchtbaren Schrei zu Tode erschreckt, der aus einem dunklen Wäldchen zu ihnen herüberdrang. Die beiden wagten nicht, sich zu bewegen, aber sie beobachteten, wie eine gedrungene, schattenhafte Gestalt erschien, die ganz zweifellos eine menschliche Leiche auf ihrem Rücken wegschleppte. Die grauenhafte Gestalt verschwand zwischen den Bäumen, und das Paar, vor Angst fast von Sinnen, raste mit dem Wagen in Richtung der hellen Lichter der Stadt zurück. Zitternd und völlig außer Atem erzählten sie dem Polizeichef, was sie beobachtet hatten, und innerhalb kürzester Zeit durchsuchten alle verfügbaren Kräfte den Park. Es war jedoch bereits zu spät – dem unbekannten Mörder, ob Mensch oder Bestie, war die Flucht gelungen. In dem Wäldchen, aus dem der Täter gekommen war, wurde ein schäbiger Hut gefunden, der zerknüllt und von Blutflecken bedeckt war, und einer der Polizisten erkannte ihn als den Hut eines Landstreichers, den er am Tag zuvor in Gewahrsam genommen, aber bald wieder auf freien Fuß gesetzt hatte. Der Herumtreiber musste in dem Park geschlafen haben, als das Unheil zuschlug.
Ansonsten wurden keinerlei Hinweise gefunden. In dem festen federnden Boden und dichten Gras waren keine Fußspuren zu erkennen, und der rätselhafte Vorfall war ebenso mysteriös wie alle anderen zuvor. Die Angst, die die Menschen in der Stadt erfasst hatte, nahm nun beinahe unerträgliche Ausmaße an. Ich dachte oft an Mr. Stark, der ganz allein und verkrüppelt in diesem finsteren alten Haus lebte, mehr oder weniger völlig isoliert, und ich war in großer Sorge um ihn. Ich machte es mir zur Gewohnheit, fast täglich bei ihm vorbeizuschauen, um mich zu vergewissern, dass es ihm gut ging. Diese Besuche waren meist sehr kurz. Mr. Stark wirkte gedankenverloren, und obwohl er immer freundlich war, hatte ich das Gefühl, dass er mich als etwas aufdringlich empfand, und ich wollte seine Privatsphäre nicht verletzen. Tatsächlich habe ich während dieser Zeit sein Haus nie betreten, da ich ihn stets bei seinem hinkenden Spaziergang durch den Garten oder beim Entspannen in einer Hängematte vorfand, die er zwischen zwei großen Eichen gespannt hatte. Entweder machten ihm seine Gebrechen mehr zu schaffen als sonst oder die schrecklichen Geschehnisse, die die Stadt in Atem hielten, versetzten ihn, genau wie alle anderen, in Sorge. Er wirkte meist müde, seine Augen lagen hinter tiefen Schatten, und er war von psychischem Stress oder körperlicher Erschöpfung schwer gezeichnet.
Einige Tage nach dem Verschwinden des Landstreichers ermahnten die städtischen Behörden alle Bürger zur Wachsamkeit, da man aufgrund vergangener Ereignisse befürchtete, dass der unbekannte Mörder bald wieder zuschlagen würde, vielleicht sogar in dieser Nacht. Die Anzahl der Polizeikräfte war fast verdoppelt worden, und darüber hinaus wurden einige Bürger als Zusatzkräfte der Polizei vereidigt. Schwer bewaffnete Männer mit finsterem, entschlossenem Blick patrouillierten durch die Straßen, und als die Nacht hereinbrach, legte sich eine unerträgliche Spannung über die Stadt, die einem fast die Luft abschnürte.
Kurz nach Einbruch der Dunkelheit klingelte mein Telefon. Es war Stark.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, zu mir herüberzukommen?«, fragte er, und es klang fast entschuldigend. »Die Tür an meinem Schränkchen hat sich verklemmt, ich kann es nicht öffnen. Ich wollte Sie nicht stören, aber es ist zu spät, um noch einen Handwerker zu rufen, und alle Geschäfte haben bereits geschlossen. Mein Schlafmittel ist in dem Schränkchen, und wenn ich es nicht nehme, steht mir eine elende Nacht bevor; ich verspüre schon die ersten Anzeichen der Schlaflosigkeit.«
»Ich bin sofort bei Ihnen«, versprach ich.
Ich eilte zu ihm hinüber, und als er mich ins Haus führte, entschuldigte er sich mehrmals.
»Es tut mir entsetzlich leid, dass ich Ihnen solche Umstände bereite«, sagte er, »aber ich habe einfach nicht genug Kraft, um die Tür aufzubrechen, und ohne Schlafmittel wälze ich mich die ganze Nacht unruhig im Bett.«
Im Haus gab es keinen Strom, aber mehrere Kerzen auf dem Tisch verbreiteten ausreichend Licht. Ich kniete mich vor das lackierte Schränkchen und machte mich an der Tür zu schaffen. Wie bereits erwähnt, schien die Tür aus einer silbernen Platte zu bestehen. Als ich versuchte, das Schränkchen zu öffnen, fiel mein Blick auf diese Platte, die so glänzend poliert war, dass man sich darin spiegeln konnte. Dann gefror mir das Blut in den Adern: Über meiner Schulter sah ich das Spiegelbild von John Stark, doch er sah fremd und schrecklich entstellt aus. In seiner Hand hielt er einen Schlaghammer, und als er sich mir schleichend näherte, hob er ihn langsam an. Ich sprang abrupt auf und drehte mich zu ihm um. Sein Gesicht war so unergründlich wie immer, doch durch meine plötzliche Reaktion hatte sich ein Ausdruck der Verblüffung auf seine Züge gelegt. Er streckte mir den Hammer entgegen.
»Vielleicht geht es hiermit.«
Ich nahm ihn wortlos entgegen, wandte meinen Blick dabei nicht von Stark ab, und mit einem heftigen Hieb sprang die Tür des Schränkchens auf. Seine Augen weiteten sich überrascht, und für einen Moment sahen wir einander an, ohne etwas zu sagen. Es lag eine beinahe elektrische Spannung in der Luft, und dann hörte ich über mir wieder das Trampeln der Hufe. Eine unheimliche Kälte durchfuhr mich wie eine namenlose Angst – ich hätte jeden Eid geschworen, dass in den Räumen über mir ein Pferd oder sogar ein noch größeres Tier trabte!
Ich warf den Hammer zu Boden, stürmte ohne ein Wort aus dem Haus und atmete erst wieder völlig ruhig, als ich meine Bibliothek erreicht hatte. Dort ließ ich mich grübelnd nieder, doch mein Verstand war ein chaotisches Durcheinander. Hatte ich mich zum Narren gemacht? War der höllische Ausdruck auf John Starks Gesicht, als er sich hinter mir anschlich, nur eine verzerrte Spiegelung gewesen? War die Fantasie mit mir durchgegangen? Oder – und bei diesem Gedanken drangen dunkle Ängste in mein Bewusstsein – hatte eben diese Spiegelung in der silbernen Platte mein Leben gerettet? War John Stark wahnsinnig?
Mich schüttelte es bei diesem schrecklichen Gedanken. War etwa er für die verabscheuungswürdigen Verbrechen der letzten Zeit verantwortlich? Dieser Verdacht war absolut haltlos. Welchen Grund könnte ein kultivierter, älterer Gelehrter haben, Kinder zu entführen und Landstreicher umzubringen? Wieder regten sich Ängste in mir, dass er möglicherweise doch ein Motiv haben könnte – vor meinem inneren Auge entstanden schauderhafte Bilder von einem grauenvollen Labor, in dem ein verrückter Wissenschaftler entsetzliche Experimente an Menschen durchführte.
Dann musste ich über mich selbst lachen. Selbst wenn John Stark wirklich wahnsinnig war, so lagen die kürzlich begangenen Verbrechen doch weit außerhalb seiner körperlichen Kräfte. Nur ein Mann mit beinahe übermenschlichen Fähigkeiten vermochte lebhafte Kinder lautlos fortzuschleppen und die Leiche eines Ermordeten auf seinen Schultern zu tragen. Für einen Krüppel war dies unmöglich.
Die Höflichkeit gebot es, dass ich noch einmal zu Mr. Stark ging und mich für mein albernes Benehmen bei ihm entschuldigte – aber dann traf mich eine plötzliche Erkenntnis wie ein eiskalter Wasserstrahl. Ich hatte etwas gesehen, aber nicht bewusst wahrgenommen, sodass es sich nur in meinem Unterbewusstsein festgesetzt hatte: Als ich mich bei der Reparatur des lackierten Schränkchens zu John Stark umgedreht hatte, stand er aufrecht vor mir, ohne Krücke.
Verwirrt schüttelte ich den Kopf, wies den Gedanken von mir und ließ mich mit einem Buch auf meinem Lesesessel nieder. Das Buch, das ich nur zufällig gegriffen hatte, eignete sich nicht sonderlich gut dazu, mich aus den dunklen Schatten meiner quälenden Gedanken zu führen. Ich hielt die äußerst seltene Düsseldorf-Ausgabe von Von Junzts Unaussprechliche Kulte in Händen, auch das »Schwarze Buch« genannt, was nicht an seinem Ledereinband mit den Eisenklammern liegt, sondern an seinem finsteren Inhalt. Ich schlug das Buch auf einer beliebigen Seite auf und vertiefte mich in das Kapitel über die Heraufbeschwörung von Dämonen aus der Leere. Mehr als jemals zuvor ahnte ich, dass ein tiefgreifendes, dunkles Wissen hinter den unglaublichen Behauptungen des Autors stand, als ich von unbekannten, gottlosen Welten las. Laut von Junzt wirken grausame unerklärliche Kräfte aus diesen Welten, die von blasphemischen Wesen bewohnt werden, auf unser Universum ein. Von Zeit zu Zeit durchdringen sie auf Anweisung böser Zauberer mit schrecklicher Macht den Schleier zwischen den Welten, um den Verstand der Menschen zu zerstören und ihren Durst an deren Blut zu stillen.
Über der Lektüre döste ich schließlich ein, und ich erwachte aus meinem Schlummer, als sich eine kalte Angst wie ein Schatten auf meine Seele legte. In meinen unruhigen Träumen hatte ich Marjory ganz leise nach mir rufen gehört, so als sei sie durch neblige, unendlich tiefe Abgründe von mir getrennt. Aus ihrer Stimme sprach entsetzliche Angst, die das Blut in meinen Adern erstarren ließ, und sie klang, als würde sie von einem scheußlichen Schrecken bedroht, der die menschliche Vorstellungskraft bei Weitem überstieg. Der Albtraum ließ meinen ganzen Körper erschaudern, und mir war überall kalter Schweiß ausgebrochen.
Ich griff zum Telefon und rief bei den Ashs an. Mrs. Ash meldete sich und ich bat darum, mit Marjory sprechen zu dürfen.
Als sie sprach, spürte ich die Angst in ihrer Stimme durch die Leitung. »Aber Michael, Marjory ist schon vor über einer Stunde gegangen! Ich habe gehört, wie sie telefonierte, und dann sagte sie, dass du dich im Wäldchen an der Ecke des Stark-Anwesens mit ihr treffen willst, um einen Spaziergang zu machen. Ich dachte noch, dass es merkwürdig ist, dass du sie nicht wie sonst zu Hause abholst, und mir gefiel der Gedanke nicht, sie alleine ausgehen zu lassen, aber ich dachte, du müsstest es schließlich am besten wissen – du weißt ja, dass wir dir stets blind vertrauen, Michael –, also habe ich sie gehen lassen. Du denkst doch nicht … du denkst doch nicht … dass ihr irgendetwas … irgendetwas …«
»O nein!«, lachte ich, aber mein Lachen klang hohl und meine Kehle war wie ausgetrocknet. »Ihr ist nichts passiert, Mrs. Ash. Ich bringe sie sofort nach Hause, es dauert nicht lange.«
Als ich auflegte und mich abwandte, hörte ich draußen vor der Tür ein Geräusch – ein Kratzen, das von einem leisen Wimmern begleitet wurde. Kleinigkeiten können unter gewissen Umständen schreckliche Ängste auslösen – mir stellten sich die Haare zu Berge und die Zunge blieb an meinem Gaumen kleben. Ich wusste nicht, was ich zu erwarten hatte, als ich die Tür aufriss. Ein Schrei brach aus mir heraus, als eine staubige, blutbefleckte Gestalt ins Haus humpelte und gegen meine Beine taumelte. Es war Marjorys Hund, Bozo. Allem Anschein nach war er auf brutale Weise geprügelt worden. Ein Ohr war gespalten, und er trug am ganzen Körper Dutzende von verfärbten Flecken und offenen Wunden.
Er schnappte nach meinem Hosenbein und schob mich in Richtung Tür, wobei er ein tiefes Knurren vernehmen ließ. In mir kochte eine höllische Wut auf, und ich wollte ihm gerade folgen, als mir der Gedanke kam, eine Waffe mitzunehmen. Im selben Moment erinnerte ich mich jedoch, dass ich meinen Revolver einem Freund geliehen hatte, der sich nachts nicht mehr unbewaffnet auf die Straße traute. Mein Blick fiel auf ein großes Breitschwert, das an der Wand hing. Die Waffe war seit acht Jahrhunderten in Familienbesitz und war schon auf unzähligen Schlachtfeldern in Blut getränkt worden, seit sie zum ersten Mal am Gürtel eines meiner Vorfahren, eines Kreuzritters, gehangen hatte.
Ich zog das Schwert aus der Scheide, in der es seit hundert Jahren unbehelligt geruht hatte, und der kalte blaue Stahl glänzte makellos im Licht. Dann folgte ich dem knurrenden Hund in die Nacht. Er schwankte zwar etwas, war aber dennoch schnell, und ich hatte Mühe, mit ihm mitzuhalten. Intuitiv hatte ich geahnt, wohin er mich führen würde – zum Haus von John Stark.
Als wir Starks Anwesen erreicht hatten, ergriff ich Bozos Halsband und zog ihn zurück, als er gerade über die zerfallene Mauer springen wollte. Mir war nun alles klar. John Stark war das personifizierte Böse. Er hatte die Stadt in Angst und Schrecken versetzt. Ich erkannte seine Methode wieder – mit einem Telefonanruf hatte er sein Opfer zu sich gelockt. Auch ich war bereits in diese Falle getappt, aber durch einen glücklichen Zufall entkommen. Also hatte er Marjory ausgewählt – es war ihm gewiss nicht schwergefallen, meine Stimme zu imitieren. Was auch immer er war – mörderischer Irrer oder verrückter Wissenschaftler –, ich wusste, dass sich Marjory irgendwo in diesem finsteren Haus befand, gefangen oder bereits tot. Ich wollte Stark nicht die Möglichkeit geben, mich zu erschießen, indem ich ihn offen angriff. Rasende Wut überkam mich, und ich spürte eine Kraft in mir, die oft durch außergewöhnliche Leidenschaft freigesetzt wird. Ich würde dieses finstere Haus betreten und John Stark mit jener Klinge den Kopf abschlagen, die einst die Hälse von Sarazenen, Piraten und Verrätern durchtrennt hatte.
Ich befahl Bozo, hinter mir zu bleiben, wandte mich von der Straße ab und ging schnell, aber vorsichtig an der Gartenmauer entlang, bis ich auf der Höhe der hinteren Hauswand war. Ein Schimmer über den Bäumen im Osten mahnte mich, dass der Mond schon aufging – ich wollte bereits im Haus sein, bevor mich eventuelle Beobachter in seinem Licht erkennen konnten. Bozo folgte mir wie ein Schatten, als ich über die zerbrochene Mauer kletterte und den Garten durchquerte; ich hielt mich dabei stets im Schatten der Bäume.
Das finstere Haus lag in tiefer Stille, als ich auf die hintere Veranda schlich, die Klinge kampfbereit in meiner Hand. Bozo schnüffelte an der Tür, und ein Winseln drang aus seiner Kehle. Ich kauerte mich nieder und wartete, ob etwas passierte. Ich wusste weder, welche Gefahren in diesem geheimnisvollen, dunklen Gebäude auf mich warteten, noch ob ich es mit einem einzelnen Wahnsinnigen oder einer ganzen Bande von Mördern aufnehmen musste. Ich will mich nicht als besonders mutig bezeichnen, aber die unheimliche Rage, die in mir tobte, löschte jeden Gedanken an persönliche Ängste aus. Vorsichtig versuchte ich, die Tür zu öffnen. Das Haus war mir zwar nicht sonderlich vertraut, ich glaubte aber, dass die Tür in einen Vorratsraum führte. Sie war von innen verschlossen. Ich schob die Schwertspitze in den Spalt zwischen Tür und Rahmen und stemmte mich vorsichtig, aber kräftig dagegen. Es war unmöglich, die antike Klinge, geschmiedet mit uralter handwerklicher Kunstfertigkeit, zu zerbrechen, und ich war mir sicher, dass irgendetwas an der Tür nachgeben musste, wenn ich meine ganze, recht beträchtliche Kraft aufbrachte – es war das altmodische Schloss, das nachgab. Dann brach die Tür mit einem Knarren auf, das mir in der völligen Stille schrecklich laut vorkam.
Während ich eintrat, versuchte ich angestrengt in der völligen Dunkelheit etwas zu erkennen. Bozo huschte lautlos an mir vorbei und verschwand in der Finsternis. Um mich herum herrschte vollkommene Stille, und plötzlich jagte mir das Klirren einer Kette einen Schauder namenloser Angst über den Rücken. Ich wirbelte herum, meine Haare sträubten sich, ich hob das Schwert an – und dann hörte ich das gedämpfte Schluchzen einer Frau.
Ich wagte es, ein Streichholz anzuzünden. Im schwachen Schein erkannte ich ein großes staubiges Zimmer, in dem sich jede Menge Gerümpel zu zahllosen Bergen auftürmte – und in einer Ecke des Raumes kauerte eine Gestalt, die wie ein bemitleidenswertes Mädchen aussah. Es war Marjory, und Bozo war bereits bei ihr und leckte ihr winselnd übers Gesicht. Stark war nirgendwo zu sehen, und die einzige andere Tür, die aus dem Raum führte, war verschlossen. Ich trat rasch hinüber und schob den altmodischen Riegel zur Seite. Dann zündete ich einen Kerzenstummel an, den ich auf dem Tisch gefunden hatte, und eilte zu Marjory. Stark konnte zwar unerwartet durch die Außentür zu uns hereinkommen, aber ich wusste, dass Bozo uns warnen würde, falls er sich näherte. Der Hund zeigte keinerlei Anzeichen von Nervosität oder Zorn, die auf die Anwesenheit eines versteckten Feindes hingedeutet hätten, doch ab und an blickte er zur Zimmerdecke hinauf und ließ ein tiefes, beunruhigendes Knurren vernehmen.
Marjory war geknebelt, ihre Hände waren hinter ihrem Rücken gefesselt. Um ihre schlanke Taille lag eine kleine Kette, mit der sie an einen schweren Ring in der Wand gefesselt war, aber der Schlüssel steckte im Schloss. Ich befreite sie sofort, und als sie ihre Arme krampfhaft um mich schlang, wurde sie von einem heftigen Zittern geschüttelt. Sie sah mich aus ihren großen dunklen Augen an, schien mich jedoch nicht zu erkennen, aus ihrem Blick sprach ein Schrecken, der meine Seele erschütterte, und eine nie gekannte, unheimliche Vorahnung ließ das Blut in meinen Adern gefrieren.
»Marjory!«, keuchte ich. »Was um Himmels willen ist mit dir passiert? Hab keine Angst, dir wird nichts geschehen. Sieh mich nicht so an! Um Gottes willen, Marjory …«
»Hör doch!«, flüsterte sie zitternd. »Das Trampeln – das furchtbare Trampeln der Hufe!«
Ich riss den Kopf hoch und sah, wie Bozo, bei dem sich jedes einzelne Haar aufgestellt hatte, zusammenzuckte. Über unseren Köpfen erklang das Stampfen der Hufe, aber nun waren die Tritte gigantisch, elefantös. Bei jedem Schritt erschütterte das ganze Haus. Es lief mir eiskalt über den Rücken.
»Was um Himmels willen ist das?«, flüsterte ich.
Marjory presste sich noch enger an mich.
»Ich weiß es nicht! Ich wage nicht, darüber nachzudenken! Wir müssen von hier weg! Lass uns schnell fliehen! Es wird zu uns herunterkommen – es wird aus seinem Gefängnis ausbrechen. Ich höre es nun schon seit Stunden …«
»Wo ist Stark?«, fragte ich leise.
»Dort … dort oben!« Sie erschauderte erneut. »Ich erzähle dir rasch alles – aber dann müssen wir fliehen! Ich fand, dass deine Stimme seltsam klang, als du mich angerufen hast, aber ich habe mir nichts weiter dabei gedacht und bin hinausgegangen, um dich zu treffen. Ich habe Bozo mitgenommen, weil ich mich draußen in der Dunkelheit alleine gefürchtet hätte. Als ich dann im Schatten des Wäldchens stand, sprang mich etwas an. Bozo bellte und stürzte sich auf den Angreifer, aber der schlug wieder und wieder mit einem schweren Knüppel auf ihn ein, auch als er schon auf dem Boden lag. Ich habe mich die ganze Zeit gewehrt und zu schreien versucht, aber diese Kreatur drückte mir mit einer riesigen, gorillaartigen Hand die Kehle zu und erwürgte mich beinahe. Dann warf sie mich über ihre Schulter und trug mich durch das Wäldchen und über die Mauer zu Starks Haus. Ich war kaum noch bei Bewusstsein, und erst als er mich in diesen Raum brachte, sah ich, dass es John Stark war. Er humpelte jedoch nicht und bewegte sich mit der Leichtigkeit eines großen Affen. Er trug sehr enge schwarze Kleidung, sodass er in der Dunkelheit kaum zu erkennen war.
Ich flehte ihn vergeblich an, Erbarmen mit mir zu haben, doch er knebelte mich und fesselte meine Hände. Dann kettete er mich an die Wand, ließ den Schlüssel jedoch stecken, so als wolle er mich bald holen kommen. Ich glaube, er ist wahnsinnig – aber er hat auch vor irgendetwas Angst. In seinen Augen flammte ein unheimlicher Glanz und seine Hände zitterten, wie bei einer Schüttellähmung. Er sagte ›Du fragst dich sicher, weshalb ich dich hierhergebracht habe. Ich werde es dir sagen, es macht keinen Unterschied, ob du es weißt oder nicht – in einer Stunde wirst du überhaupt nichts mehr wissen!
Morgen werden die Zeitungen voll von Meldungen darüber sein, dass der geheimnisvolle Entführer wieder zugeschlagen hat, direkt vor der Nase der Polizei! Nun, ich fürchte, die werden sich bald mit anderen Dingen befassen müssen als mit gelegentlich vermissten Personen. Eine weniger gefestigte Person als ich könnte schnell überheblich werden, wenn es ihr, wie mir, gelingt, die Behörden auszutricksen – aber es war mir ein Leichtes, mir diese dummen Narren vom Leib zu halten. Mein Stolz wird durch weit Größeres genährt. Meine Planungen waren sehr gut. Als ich das Geschöpf erschaffen habe, wusste ich, dass es Nahrung brauchen würde – sehr viel Nahrung. Ich bin hierhergezogen, weil man mich hier nicht kannte und ich so eine Lähmung und körperliche Schwäche vortäuschen konnte – ich, der ich über die Muskelkraft eines Riesen verfüge! Niemand hatte mich im Verdacht – niemand außer Michael Strang. Heute Abend sah ich Zweifel in seinen Augen – ich hätte ihn niederschlagen sollen, obwohl er mich gesehen hatte, hätte den vielleicht tödlichen Kampf mit ihm aufnehmen sollen, auch wenn er sehr stark ist …
Du verstehst mich nicht. Ich sehe es in deinen Augen – du verstehst mich nicht. Ich will versuchen, es dir zu erklären. Die Menschen halten mich für sehr kultiviert, doch sie haben keine Ahnung, wie weit mein Wissen wirklich reicht. Ich bin weiter gegangen, als es je ein Mensch im Bereich der Kunst oder der Wissenschaft getan hat. Beide bieten nur Nahrung für armselige Geister, finde ich. Ich bin viel tiefer gegangen. Ich habe mit dem Okkulten experimentiert wie ein Wissenschaftler. So habe ich erkannt, dass ein weiser Mensch durch besondere uralte schwarze Künste den Schleier, der die Universen voneinander trennt, zur Seite schieben und gottlose Gestalten auf diese Erde holen kann. Ich habe mich sofort an die Arbeit gemacht, um meine Theorie zu beweisen. Du fragst dich weshalb, nicht wahr? Warum machen Wissenschaftler Experimente? Der Beweis ihrer Theorie ist Grund genug – das Wissen, das sie dabei erwerben, ist der Zweck, der die Mittel heiligt. Dein Gehirn würde vertrocknen und zerbröseln, wenn ich versuchen wollte, dir zu erklären, welche Beschwörungen, Zaubersprüche und seltsamen Besänftigungen ich ausgesprochen habe, um dieses wimmernde, schreiende, nackte Ding aus der Leere hierherzulocken.
Es war nicht leicht. Monatelang habe ich recherchiert und mich gequält, ich tauchte tief in blasphemische Bücher und modrige Manuskripte voller gottloser Überlieferungen ein. Dabei tastete ich mich in die äußersten, dunkelsten Räume vor, und mein körperloser Geist drang immer weiter in sie ein, und dann spürte ich die Existenz und die Anwesenheit unheilvoller Wesen und versuchte, mit ihnen in Kontakt zu treten, um wenigstens eines in dieses materielle Universum zu locken. Lange Zeit fühlte ich lediglich, wie es die äußersten Ränder meines eigenen Bewusstseins streifte. Doch schließlich gelang es mir dank düsterer Opfer und uralter Rituale, es über die Kluft zu ziehen. Anfangs war es nur ein breiter, anthropomorpher Schatten an der Wand. Ich konnte beobachten, wie es sich langsam aus dem Nichts zu einem lebendigen Wesen unserer materiellen Sphäre entwickelte. Ich sah, wie seine Augen in den Schatten brannten und wie die Atome seiner nicht-weltlichen Substanz herumzuwirbeln begannen, sich veränderten, klarer wurden und schrumpften, und während sie schrumpften, entstanden Kristalle, und schließlich verbanden diese Kristalle sich zu der Art von Materie, die wir kennen. Dann lag vor mir auf dem Boden das wimmernde, schreiende, nackte Ding, das aus den Abgründen des Universums gekommen war, und als ich seine Natur erkannte, erschrak auch ich und hätte beinahe von meinem Vorhaben abgelassen.
Anfangs war es nicht größer als eine Kröte. Aber ich habe es fürsorglich gefüttert – ich wusste, dass es nur durch frisches Blut zu Kräften kommen würde. Erst habe ich ihm lebende Fliegen und Spinnen gegeben, Insekten, die anderen Lebewesen Blut aussaugen. Zu Beginn ist es zwar nur langsam gewachsen, aber es ist gewachsen. Dann habe ich ihm größere Tiere verfüttert – Mäuse, Ratten, Hasen und schließlich Katzen. Irgendwann war es selbst nach einem ausgewachsenen Hund noch nicht satt.
Ich erkannte, wohin das führte, war aber entschlossen, mich nicht beirren zu lassen. Also habe ich ein kleines Kind gestohlen und ihm zu fressen gegeben, und danach rührte es nichts anderes mehr an. Da erfasste zum ersten Mal Angst meine Seele. Das Ding nahm durch das menschliche Blut erschreckende, widerwärtige Ausmaße an. Es machte mir wirklich Angst. Ich betrachtete es nicht länger mit Stolz. Es bereitete mir keine Freude mehr, ihm beim Fressen der Beute zuzusehen, die ich gefangen hatte. Ich war in einer Falle gefangen, die ich mir selbst gestellt hatte. Wenn es auch nur für kürzeste Zeit kein Futter bekam, wurde das Ding gefährlich für mich. Es verlangte immer öfter nach Nahrung, und so war ich gezwungen, verzweifelte Maßnahmen zu ergreifen, um seinen großen Hunger zu stillen.
Heute Nacht ist dein Geliebter durch reines Glück jenem Schicksal entronnen, das dich nun ereilt hat. Ich hege keinen Groll gegen Michael Strang. Die Notwendigkeit ist ein grausamer Lehrmeister. Es wird mir kein Vergnügen bereiten, dich dem Ungeheuer lebend zum Fraß vorzuwerfen und zuzusehen, wie du dich vor ihm auf dem Boden windest. Aber ich habe keine andere Wahl. Um mich selbst zu retten, muss ich ihm weiterhin Menschenblut geben, sonst falle auch ich ihm zum Opfer. Du fragst dich sicher, weshalb ich nicht einfach zerstöre, was ich erschaffen habe. Diese Frage habe ich mir auch schon gestellt. Ich wage nicht, es zu versuchen. Ich bezweifle, dass ein Mensch es töten kann. Ich bin nicht länger Herr meines Geistes. Ich, der ich einst sein Meister war, bin nun nichts weiter als ein Sklave, der es mit Nahrung versorgt. Seine schreckliche, unmenschliche Intelligenz hat mir meine Willenskraft geraubt und mich versklavt. Komme, was wolle – ich muss es weiterhin füttern!
Es wird weiter wachsen, bis es schließlich sein Gefängnis sprengt, geifernd über die Welt zieht und weitere Opfer reißt. Nach den letzten Fütterungen wuchs es jedes Mal um ein Vielfaches an. Wer weiß, ob es jemals zu wachsen aufhört. Aber ich wage nicht, ihm das Futter zu verweigern.‹
Dann zuckte er zusammen, als das Haus durch ein donnerndes Stampfen im oberen Stockwerk erschüttert wurde, und er wurde leichenblass. ›Es ist erwacht und hat Hunger‹, zischte er. ›Ich werde zu ihm gehen und ihm sagen, dass es noch zu früh für eine Fütterung ist!‹ Er nahm die Kerze, die auf dem Tisch brannte, und rannte aus dem Raum. Ich hörte, wie er die Treppen hinaufstieg …« Sie versteckte das Gesicht in ihren Händen, und ihr schlanker Körper wurde von einem Weinen geschüttelt.
»Ich hörte einen schrecklichen Schrei«, wimmerte sie, »dann wurde es bis auf ein furchtbar herzzerreißendes, knirschendes Geräusch ganz still, und das Bam-Bam-Bam der Hufe setzte wieder ein! Ich lag die ganze Zeit hier – es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Einmal hörte ich einen Hund jaulend an der Haustür kratzen und wusste, das Bozo das Bewusstsein wiedererlangt hatte und mir hierher gefolgt war. Ich konnte nicht nach ihm rufen und er verschwand bald wieder, aber ich lag hier, völlig allein, und lauschte und horchte …«
Ich zitterte – mir war, als habe mich ein kalter Wind gestreift, der nicht von dieser Welt war. Dann erhob ich mich und umfasste fest das antike Schwert.
Marjory sprang auf und umklammerte mich krampfhaft. »O Michael, lass uns gehen!«
»Warte!« Ein unüberwindbarer Drang überkam mich. »Bevor ich gehe, muss ich sehen, was sich dort oben verbirgt.«
Sie schrie verzweifelt auf und umklammerte mich noch fester.
»Nein, Michael, bitte nicht! Bei Gott, du weißt nicht, was du da sagst! Es ist ein schreckliches Wesen, nicht von dieser Welt – ein grauenhaftes Wesen von irgendwo dort außerhalb! Menschliche Waffen können ihm nichts anhaben. Geh nicht – um meinetwillen, Michael, geh nicht! Wirf dein Leben nicht weg!«
Ich schüttelte den Kopf.
»Es geht mir nicht um Heldenmut, Marjory, oder um reine Neugier. Ich schulde es den Kindern – den hilflosen Bürgern dieser Stadt. Hat Stark nicht gesagt, dass das Biest aus seinem Gefängnis ausbrechen wird? Nein, ich muss mich ihm jetzt entgegenstellen, so lange es noch in diesem Haus gefangen ist.«
»Aber was kannst du schon mit deiner kümmerlichen Waffe ausrichten?«, weinte sie händeringend.
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Aber eines weiß ich – dass dämonisches Verlangen nicht stärker ist als menschlicher Hass, und dass diese Klinge, die in alten Zeiten Hexen, Zauberer, Vampire und Werwölfe geschlagen hat, es auch mit den widerwärtigen Armeen der Hölle aufnehmen kann. Geh! Nimm den Hund und lauf so schnell du kannst nach Hause!«
Trotz ihrer Proteste und ihres Flehens löste ich mich aus ihrer Umklammerung, schob sie sanft nach draußen und schloss mit einem Blick auf ihr verzweifeltes, tränenüberströmtes Gesicht die Tür. Dann nahm ich die Kerze und lief schnell in die Diele hinaus, an die der Vorratsraum anschloss. Die Treppe lag dunkel und bedrohlich vor mir – ein schwarzer Quell der Schatten. Plötzlich erlosch die Kerze in meiner Hand durch einen schwachen Luftzug. Ich durchsuchte meine Taschen, musste jedoch feststellen, dass ich kein weiteres Streichholz bei mir hatte, um sie wieder anzuzünden. Der Mond schien schwach durch die weit oben liegenden kleinen Fenster, und in diesem fahlen Schein schritt ich die dunklen Stufen hinauf, unaufhaltsam von einer Kraft getrieben, die stärker war als jede Furcht, das Schwert meiner kriegerischen Vorfahren fest in meiner Hand.
Die ganze Zeit war das Getöse der riesigen Hufe, die hin und her stampften, von oben zu hören. Mit jedem Stampfen gefror mir das Blut in den Adern, und kalter Schweiß bedeckte meinen kalten Körper. Ich wusste, dass dieses Trampeln nicht von irdischen Füßen stammte. All die düsteren, schreckensreichen Ahnungen, die sich hinter uralten Ängsten verbargen, drangen flüsternd in meinen Geist ein. Bilder von vagen fantastischen Gestalten, die in meinem Unterbewusstsein lauerten, erhoben sich zu fürchterlicher, gigantischer Größe, und all die Erinnerungen an längst vergessene, grausame Völker erwachten erneut und suchten meinen Verstand heim. Jeder Widerhall der schwerfälligen Tritte erweckte in meiner Seele entsetzliche, nebelhafte Bilder blasser Erinnerungen, aber ich ging dennoch weiter.
Die Tür am Ende der Treppe war mit einem Schnappschloss versehen – scheinbar von innen und außen, denn als ich die Klammer gelöst hatte, ließ sich die massive Tür trotzdem nicht öffnen. Hinter der Tür war weiterhin das elefantöse Stampfen zu hören. Wie im Rausch – ich fürchtete, meine Entschlossenheit könnte schreiender, panischer Verzweiflung weichen – schlug ich mit meinem Schwert dreimal kräftig auf die Tür ein, sodass die Latten zersplitterten. Dann stieß ich die zerstörte Tür ganz auf und betrat das Zimmer.
Das Obergeschoss bestand aus einem einzigen großen Raum. Er wurde durch schwaches Mondlicht erleuchtet, das durch die fest vernagelten Fenster hereinschien. Das große Zimmer wirkte gespenstisch – das Licht fiel in weißen Balken auf ein Meer aus wogenden Schatten. Unwillkürlich entfuhr mir ein unmenschlich klingender Schrei.
Vor mir stand der fleischgewordene Schrecken. Im Mondlicht erkannte ich vage eine albtraumhafte, wahnwitzige Gestalt. Doppelt so groß wie ein erwachsener Mann, waren ihre Konturen denen eines Menschen nicht unähnlich, doch ihre riesigen Beine endeten in gigantischen Hufen, und statt Armen wanden sich ein Dutzend Tentakel wie Schlangen um den riesenhaften, massigen Körper. Die fleckige, reptilienartige Haut der Kreatur erinnerte mich an einen Leprakranken, und als sie sich geifernd mit blutbefleckten Wangen zu mir umdrehte und mich aus brennenden Augen anfunkelte, die aus Millionen Facetten zu bestehen schienen, wurde mein Schrecken noch größer. An seinem vortretenden, missgebildeten Kopf war nichts Menschliches – und so wahr mir Gott helfe, es war auch nichts Bestialisches an ihm, denn das Bestialische kann der Mensch begreifen. Um meinen gesunden Verstand zu wahren, wandte ich den Blick von dem grausamen Kopf ab, doch mein Blick fiel auf ein anderes, schreckliches Bild, dessen ungeheure Grausamkeit sich sofort in mein Gehirn brannte: Neben den riesigen Hufen lagen die von Reißzähnen abgetrennten Körperteile eines Menschen. Der Kopf wurde von einem Mondstrahl beleuchtet – aus den glasigen, toten Augen sprach unfassbares Grauen. Es war der Kopf von John Stark.
Furcht kann so immense Ausmaße annehmen, dass sie sich in sich selbst verliert. Als ich wie angewurzelt dort stand und mein grauenhafter Feind durch all die verstreuten Überreste auf mich zustampfte, wurde meine Angst von einem roten Feuersturm wahnsinniger Rage hinweggefegt. Mit schwingendem Schwert trat ich dem Ungeheuer entgegen – die pfeifende Klinge trennte die Hälfte seiner Fangarme ab, die sich nun wie Schlangen auf dem Boden wanden.
Mit einem abscheulich schrillen Kreischen bäumte sich das Monster hoch über meinem Kopf auf, und seine fürchterlichen Hufe krachten mit einem schrecklichen Donnern zu Boden. Durch dieses mächtige Stampfen knickten meine ausgestreckten Arme wie Streichhölzer ein und ich fiel zu Boden. In einem grauenhaften Totentanz stürzte das Ungeheuer mit einem markerschütternden Triumphgeheul schwerfällig auf mich zu. Das gesamte Gebäude ächzte und schwankte.
Irgendwie gelang es mir, zur Seite zu rollen und den tödlichen Hufen zu entkommen, die mich sonst zu rotem Brei zerquetscht hätten. Ich kam wieder auf die Beine, und in mir setzte sich ein Gedanke fest: Mein Gegner mochte zwar aus gestaltloser Leere zu fester Masse erwachsen sein, doch offensichtlich konnte man ihn mit herkömmlichen Waffen verletzen. Mit meiner unverletzten Hand ergriff ich das Schwert, das vor uralten Zeiten ein heiliger Mann für den Kampf gegen die Mächte der Finsternis gesegnet hatte, und eine blutrote Welle der Angriffslust schwappte über mich hinweg.
Die Bestie drehte sich unbeholfen zu mir um, und mit einem wortlosen Kampfschrei stürzte ich mich mit voller Körperkraft auf sie. Ich wirbelte das große Schwert wild durch die Luft. Die Klinge schlug geradewegs durch die breiige, weiche Masse, sodass der widerliche Oberkörper zur einen Seite fiel, die riesigen Beine zur anderen.
Doch die Kreatur war noch nicht tot – sie schlängelte mit ihren Tentakeln auf mich zu, erhob ihren grauenhaften Kopf, ihre Augen funkelten angstvoll, und mit ihrer gespaltenen Zunge bespuckte sie mich mit Gift. Ich schwang mein Schwert und schlug immer wieder zu, bis ich das Scheusal in kleine Teile zerlegt hatte, die jedes für sich über den Boden schlängelten, als sei ihnen ein eigenes Leben gegeben. Erst als ich den Kopf in Stücke geschlagen hatte, sah ich, wie sich die Form und Beschaffenheit der verstreuten Einzelteile veränderte. Im Körper des Biestes schien es keinen einzigen Knochen zu geben. Abgesehen von den riesigen festen Hufen und den krokodilartigen Reißzähnen, war alles an ihm widerlich schlaff und matschig, wie bei einer Kröte oder einer Spinne.
Nun sah ich, wie die einzelnen Fragmente zu einer schwarzen, stinkenden, zähflüssigen Masse verschmolzen, die über die menschlichen Überreste floss, die einst John Stark gewesen waren. In diesen schwarzen Wogen zerfielen die Körper- und Knochenteile immer mehr und lösten sich schließlich völlig auf, wie Salz sich in Wasser auflöst, erblassten, verschwanden letztlich ganz und wurden eins mit dem entsetzlichen schwarzen Strudel, der in der Mitte des Raumes wirbelte, wobei sie in unzähligen Lichtfacetten und -strahlen erleuchteten – wie die Augen von Millionen riesiger Spinnen. Ich drehte mich um und rannte nach unten.
Am Fuß der Treppe stolperte ich über einen weichen Haufen, und ein vertrautes Weinen holte mich aus dem Labyrinth unbegreiflicher Schrecken zurück, in das ich gefallen war. Marjory hatte nicht auf mich gehört – sie war zu diesem Schreckenshaus zurückgekehrt. In tiefer Ohnmacht lag sie vor mir, und der treue Bozo wachte über sie. Ich habe keinen Zweifel daran, dass er, hätte ich den grausamen Kampf verloren und wäre das Ungeheuer die Treppe hinuntergewankt, sein Leben gegeben hätte, um sein Frauchen zu retten. Mit einem Seufzer hob ich das Mädchen hoch und drückte ihren schlaffen Körper an mich, und Bozo zuckte zusammen und knurrte, als er die vom Mondlicht erhellten Stufen hinaufsah. Eine schwarz glänzende Welle kroch schwerfällig die Treppe hinunter.
Ich rannte los, als fliehe ich aus der Hölle, doch in dem alten Vorratsraum hielt ich kurz inne, um hastig mit einer Hand über den Tisch zu streichen, auf dem ich zuvor die Kerzen gefunden hatte. Auf dem Tisch lagen mehrere abgebrannte Streichhölzer, aber dazwischen fand ich ein unbenutztes. Schnell zündete ich es an und warf es brennend in einen staubigen Papierhaufen neben der Wand. Das Holz war alt und trocken; es ging rasch in Flammen auf und brannte lichterloh.
Als ich gemeinsam mit Marjory und Bozo ins Feuer starrte, wusste ich etwas, das die aus dem Schlaf gerissenen Bürger der Stadt nicht einmal ahnten: Das Grauen, das über die Stadt und das umliegende Land hereingebrochen war, verschwand in diesen Flammen, und wie ich inständig hoffte – für immer.