Das Schädelgesicht

Kapitel 1: Das Gesicht im Nebel

O Herz, da die Welt nichts als Schatten und Schein

Warum quälst Du Dich ab in unendlicher Pein?

Omar Khayyam

Das erste Mal ergriff der Schrecken in der unkonkretesten aller Welten von mir konkreten Besitz: in einem Haschischtraum. Ich war zu einer Reise jenseits von Raum und Zeit durch die seltsamen Sphären aufgebrochen, die zu diesem Daseinszustand gehören: eine Million Meilen entfernt von der Erde und allem Irdischen. Und doch spürte ich, wie etwas über die unbekannte Leere hinweg nach mir griff. Etwas, das rücksichtslos an dem Vorhang zerrte, der meine Illusionen umschloss, und in meine Visionen eindrang.

Ich kehrte nicht wirklich in meinen alltäglichen Wachzustand zurück. Und doch sah und bemerkte ich Dinge, die nicht zu dem Traum passen wollten, an dem ich mich in jenem Augenblick berauschte. Auf jemanden, der nie die Freuden des Haschisch erlebt hat, muss meine Erklärung chaotisch und unmöglich wirken. Dennoch nahm ich wahr, dass da Nebel zerrissen, und dann drängte sich dieses Gesicht in mein Blickfeld.

Zuerst hielt ich es bloß für einen Totenschädel, aber dann sah ich, dass er grässlich gelb, nicht etwa weiß war und mit einem abscheulichen Leben erfüllt. Die Augen glühten tief in ihren Höhlen und die Kiefer bewegten sich, als würden sie sprechen. Den Körper selbst, mit Ausnahme der schmalen, hohen Schultern, konnte ich nur vage und undeutlich erkennen, aber die vor und unter dem Schädel in den Nebeln schwebenden Hände waren auf entsetzliche Weise lebendig und jagten mir Angstschauder über den Rücken. Wie die Hände einer Mumie wirkten sie, lang, schlank und gelb, mit knorrigen Gelenken und grausam gekrümmten Krallen.

Und dann, wie um das undefinierbare Entsetzen komplett zu machen, das unaufhaltsam von mir Besitz ergriff, erklang eine Stimme – stellen Sie sich einen Mann vor, der schon so lange tot ist, dass seine Stimmbänder rostig geworden sind und das Sprechen verlernt zu haben scheinen. Das war der Gedanke, der sich mir aufdrängte und mir Furcht einjagte, während ich ihren Worten lauschte.

»Ein kräftiger Kerl, der uns irgendwie nützlich sein könnte. Sorge dafür, dass er so viel Haschisch bekommt, wie er braucht.«

Dann wich das Gesicht von mir zurück, gerade als ich begriff, dass er von mir sprach, und die Nebel wallten sich wieder zusammen. Und doch hatte ich einen Moment lang ein verblüffend klares Bild vor mir. Ich schnaufte – oder versuchte es zumindest. Denn über der hochgezogenen, merkwürdigen Schulter der Erscheinung war einen Moment lang ein Gesicht ganz deutlich zu erkennen. Sein Besitzer schien mich zu mustern. Rote, halb geöffnete Lippen, lange, dunkle Wimpern, die feuchte Augen umrahmten, eine schimmernde Wolke aus Haar … über die Schultern des Schreckens blickte mir einen Augenblick lang atemberaubende Schönheit direkt ins Gesicht.

Kapitel 2: Sklave des Haschisch

Vom Zentrum der Erde durchs siebte Tor

Stieg ich auf den Thron des Saturn empor.

Omar Khayyam

Mein Traum von dem Schädelgesicht überwand die für gewöhnlich unpassierbare Grenze zwischen dem Zauber des Haschisch und dem Stumpfsinn des Alltags. Ich hockte im Schneidersitz auf einer Matte in Yun Shatus Tempel der Träume und setzte die schwindenden Kräfte meines im Zerfall begriffenen Gehirns darauf an, sich an Ereignisse und Gesichter zu erinnern.

Dieser letzte Traum war völlig anders gewesen als alle, die ich jemals zuvor gehabt hatte. Er riss mich aus meiner Gleichgültigkeit und ich wollte seiner Herkunft auf den Grund gehen. Als ich angefangen hatte, mit Haschisch zu experimentieren, bemühte ich mich, physikalische oder psychische Erklärungen für die damit verbundenen, wild wuchernden Illusionen zu finden. In letzter Zeit begnügte ich mich damit, einfach zu genießen, ohne mich mit Ursache und Wirkung auseinanderzusetzen.

Wie war zu erklären, dass mir diese Vision so unerklärlich vertraut erschien? Ich nahm meinen pochenden Schädel zwischen die Hände und suchte mühsam nach einem Hinweis. Ein lebender Toter und ein Mädchen von ungewöhnlicher Schönheit, das über seine Schulter geblickt hatte. Und dann erinnerte ich mich.

Einst im Nebel der Tage und Nächte, der die Erinnerung eines Haschischsüchtigen verschleiert, war mein Geld zur Neige gegangen. Es schien mir Jahre, vielleicht sogar Jahrhunderte her zu sein, aber mein stockender Verstand sagte mir, dass es eigentlich nur ein paar Tage gewesen sein konnten. Jedenfalls war ich wie gewöhnlich in Yun Shatus schäbiger Kneipe erschienen und war von seinem kräftigen Helfer Hassim hinausgeworfen worden, als sich herausstellte, dass ich kein Geld mehr besaß.

Während meine kleine Welt in ihre Einzelteile zerfiel und meine Nerven wie gespannte Klaviersaiten vor Gier zitterten, kauerte ich in der Gosse. Ich gab Laute von mir wie ein Tier, bis Hassim herausstolziert kam und mein Jammern mit einem Schlag zum Schweigen brachte, der mich halb benommen zu Boden sinken ließ.

Als ich mich schließlich wieder erhob, taumelnd und mit keinem anderen Gedanken als an den Fluss, der ganz in meiner Nähe mit kühlem Murmeln dahinplätscherte – als ich mich also erhob, legte sich eine sanfte Hand auf meinen Arm, so als würde mich eine Rose berühren. Ich fuhr erschreckt herum und stand verzaubert vor lauter Liebreiz, der sich meinem Blick darbot. Dunkle Augen, feucht vor Mitleid, musterten mich und die schmale Hand auf meinem zerlumpten Ärmel zog mich zur Tür des Tempels der Träume. Ich zuckte zurück, aber eine leise Stimme, weich und melodisch, drängte mich und erfüllte mich auf seltsame Weise mit Vertrauen, sodass ich meiner schönen Führerin mit schwankenden Schritten folgte.

An der Tür erwartete uns Hassim mit erhobenen Pranken und einem finsteren Blick auf seinem affenähnlichen Gesicht. Aber wie ich so geduckt dastand und jeden Augenblick mit einem Schlag rechnete, hielt er inne, als er die erhobene Hand des Mädchens und ihre gebieterisch klingende Stimme wahrnahm.

Ich verstand nicht, was sie genau sagte, aber ich nahm wie durch einen Schleier wahr, dass sie dem Schwarzen Geld gab. Dann führte sie mich zu einem Diwan, bedeutete mir, mich hinzulegen, und rückte mir die Kissen zurecht, als wäre ich der König von Ägypten und nicht ein zerlumpter, schmutziger Abtrünniger, der nur noch für das Haschisch lebte. Ihre schlanke Hand ruhte einen Moment lang kühl auf meiner Stirn, dann war sie verschwunden. Yussef Ali kam und brachte mir den Stoff, nach dem meine Seele lechzte – und bald wanderte ich aufs Neue durch jene fremden und exotischen Länder, wie sie nur ein Sklave des Haschisch kennt.

Als ich so auf der Matte saß und über den Traum mit dem Schädelgesicht nachgrübelte, stellte ich mir weitere Fragen. Seit das unbekannte Mädchen mich zurück in die Kaschemme geführt hatte, kam und ging ich wie früher, als ich noch genügend Geld gehabt hatte, um Yun Shatu zu bezahlen. Offensichtlich bezahlte jetzt jemand für mich, und während mein Unterbewusstsein mir einredete, dass es das Mädchen war, hatte mein eingerostetes Gehirn es nicht geschafft, diese Tatsache in ihrer Gänze zu erfassen oder sich zu fragen, warum sie das tat. Wozu auch fragen? Jemand bezahlte und die bunten Träume dauerten an, wen kümmerte es also? Aber jetzt stelle ich mir trotzdem Fragen, denn das Mädchen, das mich vor Hassim beschützt und mir das Haschisch beschert hatte, war dasselbe Mädchen, das ich in meinem Traum mit dem Schädelgesicht gesehen hatte.

Durch den Sumpf meiner Erniedrigung drang ihr Lockruf wie ein Messer, das mein Herz durchbohrte. Er brachte auf merkwürdige Art und Weise die Erinnerung an jene Tage zurück, als ich ein Mann wie andere Männer gewesen war – und noch kein hündisch kriechender Sklave meiner Träume. Fern und blass waren sie, schimmernde Inseln im Nebel der Jahre – aber was für eine dunkle See lag doch dazwischen!

Ich blickte auf meinen ausgefransten Ärmel und die schmutzige, wie eine Klaue wirkende Hand, die aus ihm hervorragte. Ich spähte durch den dichten Rauch, der den schäbigen Raum vernebelte, sah auf die niedrigen Pritschen entlang der Wand, auf denen die glasig ins Leere starrenden Träumer lagen – Sklaven wie ich, Sklaven des Haschisch oder des Opiums. Ich starrte auf die lautlos in ihren Pantoffeln hin und her huschenden Chinesen, die Pfeifen oder glühende Kugeln mit konzentriertem Fegefeuer über winzig flackernden Flammen entzündeten. Und ich starrte Hassim an, der mit verschränkten Armen wie eine große Statue aus schwarzem Basalt neben der Tür stand.

Ich zitterte und verbarg mein Gesicht in den Händen, weil ich im schwachen Dämmerlicht, das mich dem Menschsein wieder näher brachte, erkannte, dass dieser letzte und grausamste aller Träume nutzlos war – ich hatte ein Meer überquert, das mich nie wieder nach Hause bringen konnte, mich von der Welt gewöhnlicher Männer und Frauen entfernte. Nichts blieb mir, als diesen Traum zu ertränken, so wie ich all meine anderen Träume ertränkt hatte – schnell und in der Hoffnung, bald jene endlosen Weiten zu erreichen, die jenseits aller Träume liegen.

So sind sie, diese flüchtigen Momente der Klarheit und der Sehnsucht, welche den Sklaven der Droge den Schleier entreißen – unerklärlich und zugleich hoffnungslos unerreichbar.

Also kehrte ich in meine leeren Träume zurück, in mein Trugbild der Illusionen. Aber manchmal, so wie ein Schwert, das einen Nebel zerteilt, schwebte das Leuchten dunkler Augen und schimmernden Haars wie halb vergessene Musik durch die Hügel, Täler und Seen meiner Visionen.

Sie fragen sich sicher, wie ich, Stephen Costigan, Amerikaner und kulturell gebildeter Mann mit gewissen Errungenschaften, in einer schmierigen Kneipe im Limehouse-Viertel von London gestrandet war? Die Antwort ist einfach: Ich bin kein abgestumpfter Lüstling, der in den Geheimnissen des Orients nach neuer Erfüllung sucht, nein. Meine Antwort lautet – Argonne! Himmel, diese eine Schlacht deckt wirklich sämtliche Dimensionen des Schreckens ab! Kriegsneurosen. Schier endlos erscheinende Tage und Nächte. Die brüllende rote Hölle des Niemandslands, in der ich mich mit von Kanonen und Bajonetten zerfetztem, blutigem Fleisch wiederfand. Mein Körper hat sich davon erholt. Ich weiß nicht einmal genau, wie. Mein Geist hingegen niemals.

Die Flammenhöllen und wabernden Schatten in meinem gequälten Geist trieben mich die Stufen der Erniedrigung immer weiter hinunter, frei von jeglichem Gefühl, bis ich in Yun Shatus Tempel der Träume Linderung fand. Hier tauschte ich meine roten Träume gegen andere ein – Haschischvisionen, mit denen ein Mann in die Abgründe blutroter Höllen hinabstürzen oder in jene namenlosen Höhen aufsteigen kann, wo die Sterne unter seinen Füßen wie Stecknadeln aus Diamant aufblitzen.

Ich durchlebte nicht die Visionen von Trinkern und Bestien. Stattdessen erreichte ich das Unerreichbare und fand im Angesicht des Unbekannten in kosmischer Ruhe Antwort auf die großen Fragen. Auf gewisse Weise war ich damit zufrieden, bis der Anblick von glattem Haar und scharlachroten Lippen mein im Traum aufgebautes Universum wegfegte und mich schaudernd in seinen Ruinen zurückließ.

Kapitel 3: Meister des Verderbens

Und Er, der Dich ins Feld hineinschleudert

Er weiß wirklich alles – Er weiß! Er weiß!

Omar Khayyam

Eine Hand schüttelte mich unsanft, als ich träge aus meiner jüngsten Ausschweifung erwachte.

»Der Meister verlangt nach dir! Steh auf, du Schwein!«

Hassim war es, der mich schüttelte und so zu mir sprach.

»Zur Hölle mit dem Meister!«, antwortete ich, denn ich hasste Hassim – und fürchtete ihn.

»Steh auf oder du bekommst kein Haschisch mehr«, lautete seine brutale Antwort, und ich erhob mich zitternd und hastig.

Ich folgte dem hünenhaften Schwarzen. Er führte mich in den hinteren Teil des Gebäudes und wich dabei geschickt den armseligen Wracks von Träumern auf dem Boden aus.

»Alle Mann an Deck!«, dröhnte die Stimme eines Seemanns von einer Pritsche. »Alle Mann!«

Hassim riss die Tür am hinteren Ende auf und bedeutete mir, einzutreten. Ich war nie zuvor durch jene Tür getreten und hatte immer angenommen, dass sie in Yun Shatus private Räumlichkeiten führte. Aber im Inneren fanden sich lediglich eine Pritsche, eine Bronzefigur, vor der Weihrauch brannte, und ein schwerer Tisch.

Hassim bedachte mich mit einem finsteren Blick und packte den Tisch, als wollte er ihn drehen. Tatsächlich fing er an zu rotieren, als stünde er auf einer beweglichen Plattform. Ein Teil des Fußbodens drehte sich mit und gab den Blick auf eine verborgene Falltür frei. Stufen führten hinab in die Dunkelheit.

Hassim entzündete eine Kerze und forderte mich mit einer schroffen Handbewegung auf, hinunterzusteigen. Ich gehorchte mit der trägen Folgsamkeit eines Rauschgiftsüchtigen, und der Farbige folgte mir, schloss die Tür über uns und sicherte sie mit einem eisernen, an ihrer Unterseite befestigten Hebel. Im Halbdunkel kletterten wir die wacklige Treppe hinab – neun oder zehn Stufen waren es, schätze ich – und fanden uns dann in einem schmalen Korridor wieder.

Hier übernahm Hassim wieder die Führung und hielt dabei die Kerze vor sich in die Höhe. Die Ränder des höhlenähnlichen Gangs konnte ich kaum ausmachen, ahnte aber, dass er nicht besonders breit war. Im flackernden Kerzenlicht konnte man erkennen, dass es keinerlei Mobiliar gab, sah man von ein paar seltsam aussehenden Truhen ab, die die Wände säumten – Behälter für Opium und anderes Rauschgift, vermutete ich.

Ein ständiges Rascheln und kleine rote Augen, die gelegentlich aufblitzten, bevölkerten die Schatten. Das deutete darauf hin, dass es hier in großer Zahl Ratten gab, wie sie sich am Themse-Ufer in diesem Stadtviertel tummelten.

In der Dunkelheit vor uns waren wieder Treppenstufen zu erkennen, als der Korridor unvermittelt endete. Hassim führte mich nach oben und klopfte dort viermal gegen Bretter, die wie die Unterseite eines Fußbodens aussahen. Eine verborgene Tür öffnete sich und weiches, trügerisches Licht strömte hindurch.

Hassim schubste mich grob nach oben, dann stand ich blinzelnd in einer Umgebung, wie ich sie selbst in meinen wahnwitzigsten Opiumträumen nie zu Gesicht bekommen hatte. Ich stand in einem Dschungel von Palmen, durch den sich eine Million grellbunter Drachen wand! Als sich meine verblüfften Augen allmählich an das Licht gewöhnt hatten, sah ich, dass ich nicht etwa plötzlich auf einen anderen Planeten versetzt worden war, wie ich zunächst gedacht hatte. Die Palmen waren da und die Drachen, aber die Bäume waren künstlich und standen in großen Töpfen, während sich die Drachen als Motiv auf schweren Teppichen wiederfanden, die an den Wänden hingen.

Der Raum selbst war eine monströse Angelegenheit – übermenschlich groß, wie es mir vorkam. Dicker Rauch, gelb und irgendwie tropisch wirkend, hing in der Luft, vernebelte die Decke und durchkreuzte die Blicke nach oben. Der Rauch ging, wie ich jetzt sah, von einem Altar vor der Wand zu meiner Linken aus.

Ich zuckte zusammen. Durch den safranfarben wallenden Nebel blickten mich scheußlich große, glänzende Augen an und die verhangenen Umrisse eines tierischen Götzen nahmen undeutlich Gestalt an. Ich sah mich verstört um, registrierte die orientalischen Diwans und Sofas und das bizarre Mobiliar, dann verharrte mein Blick auf einer mit Lack bedeckten Abtrennung unmittelbar vor mir.

Ich konnte nicht hindurchsehen und sie schien jeglichen Schall zu schlucken. Trotzdem spürte ich Augen, die sich durch das Material in mein Bewusstsein bohrten. Augen, die sich in die Tiefe meiner Seele zu brennen schienen. Eine seltsame Aura des Bösen ging von dieser Wand mit ihren unheimlichen Schnitzereien und gottlosen Verzierungen aus.

Hassim machte eine grüßende Bewegung, so wie man sie im Orient vollzieht, eine Verbeugung, bei der die Hand erst die Stirn und dann das Herz berührt. Dann trat er ohne ein Wort beiseite und verschränkte die Arme wie eine Statue über seiner Brust.

Plötzlich durchbrach eine Stimme die schwere und drückende Stille: »Du, der du ein Schwein geworden bist, würdest du gerne wieder ein Mann sein?«

Ich erschauderte. Die Stimme klang unmenschlich, kalt – ja mehr noch, man hatte den Eindruck als würde sie von lange nicht mehr benutzten Stimmbändern erzeugt – die Stimme, die ich in meinem Traum gehört hatte!

»Ja«, erwiderte ich wie in Trance. »Ich würde gerne wieder ein Mann sein.«

Eine Weile herrschte Stille, dann war die Stimme wieder zu vernehmen, diesmal mit einem bösartig flüsternden Unterton, begleitet von einem Geräusch, das klang, als würden Fledermäuse durch eine Höhle fliegen.

»Ich werde dich wieder zu einem Mann machen, weil ich ein Freund aller gebrochenen Männer bin. Ich werde dafür nichts fordern, auch keine Dankbarkeit. Ich gebe dir ein Zeichen, um mein Versprechen und mein Gelöbnis zu besiegeln. Streck deine Hand durch die Trennwand.«

Diese merkwürdigen, schwer verständlich artikulierten Worte verblüfften mich. Nachdem die unsichtbare Stimme ihren letzten Befehl wiederholte, trat ich vor und schob meine Hand durch einen Schlitz, der sich lautlos in der Wand geöffnet hatte. Ich spürte, wie ein eiserner Griff mein Handgelenk packte und etwas, das siebenmal kälter war als Eis, berührte die Innenfläche. Dann wurde losgelassen, und als ich meine Hand zurückzog, erblickte ich an der Daumenwurzel ein seltsames Symbol mit blauer Färbung – es sah aus wie ein Skorpion.

Jetzt sprach die Stimme wieder, diesmal in einer zischelnden Sprache, die ich nicht verstand, und Hassim trat unterwürfig vor. Er griff um den Wandschirm herum und drehte sich dann zu mir. Er hielt jetzt einen Kelch mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit in Händen, den er mir mit einer ironischen Verbeugung überreichte. Ich nahm ihn zögernd entgegen.

»Trinke und fürchte dich nicht«, sprach die unsichtbare Stimme. »Es ist nur ein ägyptischer Wein mit lebensspendenden Eigenschaften.«

Also hob ich den Kelch und leerte ihn. Der Geschmack war nicht unangenehm, und schon während ich Hassim den Becher zurückgab, schien neues Leben und Kraft durch meine müden Venen zu fließen.

»Bleibe in Yun Shatus Haus«, forderte die Stimme. »Du wirst Nahrung und ein Bett bekommen, bis du stark genug bist, um für deinen Unterhalt zu arbeiten. Du wirst kein Haschisch konsumieren und es auch nicht brauchen. Geh!«

Wie betäubt folgte ich Hassim zurück durch die versteckte Klappe, kletterte die Treppen hinab und lief durch den dunklen Korridor zurück zur ersten Tür, die uns wieder in den Tempel der Träume brachte.

Als wir aus dem Hinterzimmer in den Hauptraum der Träumer traten, wandte ich mich fragend zu dem Farbigen um.

»Meister? Meister von was? Meister des Lebens?«

Hassim lachte wild und spöttisch.

»Meister des Verderbens!«

Kapitel 4: Die Spinne und die Fliege

Da war ein Tor, den Schlüssel fand ich nicht;

ein Schleier auch, doch durch ihn drang kein Licht.

Omar Khayyam

Ich saß auf Yun Shatus Kissen und grübelte. Mein Verstand war dabei so klar, dass es mir neu und zugleich fremd vorkam. Überhaupt schienen mir all meine Empfindungen neu und fremd zu sein. Ich hatte das Gefühl, ich wäre aus einem ungeheuer langen Schlaf erwacht. Obwohl meine Gedanken träge flossen, verspürte ich das Gefühl, etwas habe die Spinnweben, die sie zäh und unbeweglich gemacht hatten, teilweise weggewischt.

Ich strich mir mit der Hand über die Stirn und spürte ein Pochen. Ich war schwach und zittrig, aber irgendwie hungrig – nicht nach Rauschgift, sondern nach Nahrung. Was war in dem Becher gewesen, den ich in dem Raum der Geheimnisse ausgetrunken hatte? Und warum hatte der »Meister« aus all den Jammergestalten bei Yun Shatu gerade mich zur Rettung auserwählt?

Und wer war dieser Meister überhaupt? Irgendwie klang das Wort auf unbestimmte Art vertraut – ich kämpfte um meine Erinnerung. Ja – ich hatte es vernommen, als ich halb wach auf den Pritschen oder auf dem Boden lag – gehört, wie Yun Shatu oder Hassim oder Yussef Ali, der Maure, das Wort zischelnd flüsterten. Es in ihren leisen Unterhaltungen aufgeschnappt, immer durchmischt mit Begriffen, die ich nicht verstand. War denn etwa nicht Yun Shatu der Meister des Tempels der Träume? Ich hatte wie die anderen Süchtigen geglaubt, der verwelkte Chinamann herrsche uneingeschränkt über dieses düstere Reich und Hassim und Yussef Ali wären seine Bediensteten. Und die vier jungen Chinesen, die mit Yun Shatu Opium rösteten – sie würden ebenso von Yun Shatu bezahlt, so glaubten wir, wie Yar Khan, der Afghane, und Santiago, der Haitianer, und Ganra Singh, der abtrünnige Sikh. Allesamt abhängig vom Herrn des Opiums dank Gold oder Furcht.

Denn Yun Shatu galt als Macht in der Chinatown Londons; ich hatte gehört, dass sich sein Einfluss über die Meere bis hin zu den mächtigen und geheimnisvollen Tongs erstreckte. War das Yun Shatu hinter der Trennwand gewesen? Nein – ich kannte die Stimme des Chinesen. Außerdem hatte ich ihn vor dem Tempel herumwerkeln gesehen, als ich durch die Hintertür eintrat.

Ein anderer Gedanke schoss mir durch den Kopf. Wenn ich in den späten Nachtstunden oder im frühen Grau der Morgendämmerung halb benommen dagelegen hatte, waren mir häufig Männer und Frauen aufgefallen, die sich in den Tempel davonstahlen. Männer, deren Kleidung und Verhalten seltsam fehl am Platz und unpassend wirkten. Hochgewachsene, aufrechte Männer, häufig in vornehmer Kleidung, mit tief in die Stirn gezogenen Hüten. Gepflegte Damen mit Schleier und teuren Gewändern aus Seide und Pelz. Nie erschienen zwei von ihnen gleichzeitig, immer kamen sie einzeln und verbargen ihre Gesichter, huschten zum Hintereingang, wo sie den Tempel betraten und Stunden später manchmal wieder herauskamen.

Da ich wusste, dass das Bedürfnis nach Rauschgift auch vor besseren Kreisen nicht haltmacht, hatte ich mir darüber nie großartig Gedanken gemacht, hatte angenommen, dass dies der Sucht zum Opfer gefallene wohlhabende Männer und Frauen der Gesellschaft waren. Und hatte vermutet, dass es irgendwo im hinteren Bereich des Gebäudes einen besonderen Raum für Leute wie sie gab. Aber jetzt kamen mir erste Zweifel – manchmal waren diese Personen nur ein paar Augenblicke geblieben –, war es wirklich immer das Opium gewesen, das sie herführte, oder gingen auch sie durch jenen geheimnisvollen Korridor und sprachen mit dem, der sich hinter der Trennwand verbarg?

Ich stellte mir einen großen Spezialisten vor, zu dem Menschen aller Klassen kamen, um sich von ihrer Sucht befreien zu lassen. Aber es kam mir seltsam vor, dass sich so jemand ausgerechnet eine Rauschgiftspelunke aussuchte, um zu praktizieren – und noch seltsamer, dass der Besitzer jenes Hauses ihm offenbar solche Ehrfurcht entgegenbrachte.

Ich hörte auf zu grübeln, als mein Kopf vor lauter Nachdenken zu schmerzen begann und mein Bauch knurrend nach Nahrung verlangte. Yussef Ali brachte mir Essen auf einem Tablett, so schnell, dass es mich verblüffte. Außerdem verbeugte er sich tief, als er mich verließ, und ich geriet erneut ins Grübeln. Diesmal fragte ich mich, was meinen Status im Tempel der Träume wohl so positiv verändert haben mochte.

Ich fragte mich, was Er hinter der Wand von mir wollte. Nicht eine Sekunde glaubte ich daran, dass er mir seine wahre Absicht verraten hatte. Das Leben in der Unterwelt hatte mich gelehrt, dass niemand etwas zu verschenken hat. Und zur Unterwelt gehörte auch der geheimnisvolle Raum, so kunstvoll und bizarr er auch wirkte. Wo genau mochte er sich befinden? Wie weit war ich wirklich durch den Korridor gegangen? Ich zuckte die Achseln und fragte mich, ob es sich nicht doch um eine Haschischvision handelte. Doch dann fiel mein Blick auf meine Hand – und ich konnte klar die Umrisse des Skorpions erkennen.

»Alle Mann an Deck!«, dröhnte die Stimme des Seemanns auf der Pritsche. »Alle Mann!«

Mit Einzelheiten der nächsten paar Tage würde ich wohl jeden langweilen, der nicht selbst schon das qualvolle Sklaventum des Rauschgifts kennengelernt hat. Ich wartete, dass die Sucht mich wieder packen würde – wartete in bitterer Hoffnungslosigkeit. Den ganzen Tag, die ganze Nacht … noch einen Tag … und dann erkannte mein zweifelnder Verstand, dass ein Wunder geschehen war. Entgegen allen Theorien und Erkenntnissen der Wissenschaft und des gesunden Menschenverstandes hatte mich das Verlangen nach Stoff so plötzlich und vollkommen verlassen wie ein schlimmer Traum! Zuerst wollte ich meinen Empfindungen nicht trauen und fürchtete, mich immer noch im Griff eines Rauschgifttraums zu befinden.

Und doch war es wahr. Seit dem Augenblick, als ich in dem geheimnisvollen Raum den Becher geleert hatte, spürte ich nicht mehr das geringste Verlangen nach dem Zeug, das für mich lange das Wichtigste im Leben gewesen war. Mir schoss durch den Kopf, dass das irgendwie gottlos war und allen Regeln der Natur widersprach. Wenn das Schreckenswesen hinter der Wand das Geheimnis kannte, die furchtbare Macht des Haschisch zu brechen, welche anderen Mysterien hatte es wohl noch enträtselt? Welche unvorstellbare Macht besaß es? Die Vorstellung des Bösen wand sich wie eine Schlange durch mein Bewusstsein.

Ich blieb in Yun Shatus Haus, ausgestreckt auf eine Pritsche oder auf Kissen, die über den Boden verteilt waren, aß und trank, wenn mir danach war. Aber jetzt, wo ich kurz davor stand, wieder ein normaler Mensch zu werden, empfand ich meine Umgebung als zunehmend widerwärtiger. Der Anblick der erbärmlichen, sich in ihren Träumen windenden Leute um mich herum erinnerte mich auf unangenehme Weise daran, wie ich selbst einmal gewesen war. Es stieß mich ab und verursachte Übelkeit in mir.

Also stand ich eines Tages auf, als mich niemand beobachtete, ging auf die Straße hinaus und schlenderte runter an den Fluss. Die von Rauch und üblen Gerüchen getränkte Luft füllte meine Lungen mit seltsamer Frische und schenkte meinem Körper, der früher einmal kräftig gewesen war, frische Energie. Ich interessierte mich für die Männer, die dort lebten und arbeiteten, und der Anblick eines Schiffes, das an einem der Kais entladen wurde, erregte mich regelrecht.

Nur wenige Hafenarbeiter waren an Deck und kurzerhand packte ich mit an, hob und schleppte mit ihnen gemeinsam Säcke und Ballen. Und obwohl mir der Schweiß in Strömen über die Stirn lief und meine Glieder vor Anstrengung zitterten, genoss ich den Gedanken, dass ich wenigstens wieder in der Lage war, für mich selbst zu sorgen – ganz gleich, wie primitiv und langweilig die Arbeit auch sein mochte.

Als ich an jenem Abend zu Yun Shatus Tempel zurückkehrte, todmüde, aber mit einer neu entdeckten Kraft, wie sie nur ehrliche Anstrengung verleiht, trat mir Hassim an der Tür entgegen.

»Wo bist du gewesen?«, fragte er schroff.

»Ich habe an den Kais gearbeitet«, antwortete ich knapp.

»Du brauchst nicht an den Kais zu arbeiten«, knurrte er. »Der Meister hat Arbeit für dich.«

Er ging voraus, und wieder folgte ich ihm die dunkle Treppe hinab und durch den Korridor unter der Erde. Diesmal war meine Wahrnehmung nicht durch die Drogen verschleiert, und ich erkannte, dass der Tunnel nicht länger als zehn oder zwölf Meter sein konnte. Danach stand ich erneut vor der lackierten Trennwand und lauschte der unmenschlichen Stimme des lebenden Todes.

»Ich kann dir Arbeit geben«, sagte die Stimme. »Bist du bereit, für mich zu arbeiten?«

Ich stimmte sofort zu. Schließlich stand ich trotz der Angst, die die Stimme in mir erzeugte, tief in der Schuld ihres Besitzers.

»Gut. Nimm das hier.«

Als ich einen Schritt in Richtung auf den Wandschirm tat, brachte mich ein scharfer Befehl zum Stehen. Hassim trat vor und griff hinter den Schirm und nahm, was man ihm hinhielt. Ein Bündel Bilder und Papiere, wie mir schien.

»Studiere sie«, sagte Er hinter dem Schirm. »Lerne alles, was du kannst, über den abgebildeten Mann. Yun Shatu wird dir Geld geben; kauf dir Kleidung, wie Seeleute sie tragen, und nimm dir ein Zimmer vor dem Tempel. Nach zwei Tagen wird Hassim dich wieder zu mir bringen. Geh!«

Als sich die verborgene Tür über mir schloss, wurde ich den Eindruck nicht los, dass die Augen der Statue mich durch den ständigen Rauch spöttisch musterten.

Im vorderen Teil des Tempels der Träume gab es Zimmer, die vermietet wurden. Eine Tarnung, um dem Gebäude den Anstrich einer Hafenpension zu geben. Die Polizei hatte Yun Shatu mehrmals aufgesucht, aber nie belastendes Material gegen ihn gefunden.

Und so mietete ich mich in einem dieser Räume ein und machte mich daran, die mir übergebenen Dokumente zu studieren.

Die Bilder zeigten alle denselben Mann. Er war groß und kräftig, von ähnlichem Körperbau wie ich und mit einem vergleichbar geschnittenen Gesicht. Der wesentliche Unterschied war, dass er einen dichten Bart trug und seine Haare im Gegensatz zu meinen blond und nicht dunkel waren. Wie ich den beigefügten Papieren entnehmen konnte, handelte es sich um Major Fairlan Morley, einen Sonderkommissar für die britischen Provinzen Natal und Transvaal. Amt und Titel waren mir neu, und ich fragte mich, welche Querverbindung es zwischen einem für Afrika zuständigen Beamten und einer Opiumhöhle am Ufer der Themse geben mochte.

Die Papiere enthielten umfangreiche Daten, die offenbar aus authentischen Quellen abgeschrieben waren und sich alle auf Major Morley bezogen. Dazu kamen zahlreiche private Unterlagen mit Einzelheiten über das Leben des Majors. Auf einem weiteren Blatt fand ich eine ausführliche Beschreibung vom Aussehen Morleys und seinen Gewohnheiten. Einige davon erschienen mir höchst belanglos. Ich fragte mich, welchen Zweck das alles hatte und wie Er hinter dem Schirm in den Besitz so vertraulicher Details gekommen sein mochte.

Ich fand keine Hinweise, die mir diese Frage hätten beantworten können. Deshalb widmete ich meine gesamte Energie der gestellten Aufgabe. Ich stand tief in der Schuld des unbekannten Mannes, der mir den Auftrag erteilt hatte, und war fest entschlossen, mich nach besten Kräften zu revanchieren. Damals deutete noch nichts darauf hin, dass es sich um eine Falle handelte.

Kapitel 5: Der Mann auf der Couch

Den hat eine Houri der Lanzen gesäugt,

der so seinen Tod verlacht.

Rudyard Kipling

Als die beiden Tage um waren, winkte Hassim mich zu sich, als er mich im Opiumraum stehen sah. Ich ging mit wendigen Schritten zu ihm und war mir sicher, dass ich den Papieren alles entlockt hatte, was hinsichtlich Morley von Bedeutung war. Ich war ein neuer Mensch geworden. Meine geistige Beweglichkeit und mein körperlicher Zustand überraschten mich selbst – manchmal kamen sie mir fast unnatürlich vor.

Hassim musterte mich aus zusammengekniffenen Augen und wies mich wieder an, ihm zu folgen. Als wir durch den Raum gingen, fiel mein Blick auf einen Mann, der auf einer Couch dicht an der Wand lag und Opium rauchte. An seinen zerlumpten, schmutzigen Kleidern war nichts Verdächtiges, auch nicht an seinem dreckigen, bärtigen Gesicht oder seinem glasigen Blick. Und doch nahmen meine ungewöhnlich geschärften Augen irgendetwas wahr, das nicht zu seinem ungepflegten Körper passte und das auch die zerlumpten Kleider nicht verbergen konnten.

Hassim rief mich ungeduldig und ich wandte mich von dem Mann ab. Wir betraten das Hinterzimmer, und als Hassim die Tür schloss und den Tisch drehte, bewegte dieser sich von selbst, und eine Gestalt schob sich durch die verborgene Tür. Der Sikh, Ganra Singh, ein schlanker, bösartig blickender Riese, kam hinaus. Er ging auf die Tür zu, die in den Opiumraum führte, und blieb davor stehen, bis wir hinuntergestiegen waren und die geheime Tür hinter uns geschlossen hatten.

Wieder stand ich im wallenden gelben Rauch und lauschte der verborgenen Stimme.

»Glaubst du, genug über Major Morley zu wissen, um in seine Identität schlüpfen zu können?«

»Ohne Zweifel könnte ich das«, antwortete ich verblüfft. »Es sei denn, ich würde auf jemanden treffen, der ihn näher kennt.«

»Ich werde dafür Sorge tragen, dass das nicht passiert. Hör mir jetzt gut zu. Morgen schiffst du dich auf dem ersten Boot nach Calais ein. Dort wirst du einen meiner Agenten treffen. Er wird dich sofort ansprechen, wenn du den Kai betrittst, um dir weitere Anweisungen zu geben. Du wirst zweiter Klasse reisen und jedes Gespräch mit Fremden vermeiden. Nimm die Papiere mit. Der Agent wird dir bei der Verwandlung helfen. Deine Maskerade wird in Calais beginnen. Das ist alles. Geh!«

Ich ging und meine Verblüffung wuchs. Das ganze Theater hatte offenbar einen Sinn, auch wenn ich ihn nicht erkannte. Zurück im Opiumraum, forderte Hassim mich auf, auf den Kissen Platz zu nehmen und auf seine Rückkehr zu warten. Als ich nachfragte, knurrte er, er würde jetzt gehen, um, wie man es ihm befohlen hatte, ein Ticket für die Kanalfähre zu kaufen.

Er ging und ich setzte mich, lehnte mich mit dem Rücken an die Wand. Während ich so saß und grübelte, hatte ich plötzlich das Gefühl, Augen auf mir zu spüren, die mich so scharf musterten, dass es mir Unbehagen bereitete. Ich blickte auf, aber da schien niemand zu sein, der mich beobachtete. Der Rauch zog wie üblich durch den überhitzten Raum. Yussef Ali und die Chinesen huschten hin und her und versorgten die Träumenden.

Unvermittelt öffnete sich die Tür des Hinterzimmers, und eine fremdartige, widerwärtige Gestalt trat mit stockenden Schritten heraus. Nicht alle, die Zugang zu Yun Shatus Hinterzimmer erhielten, waren Aristokraten oder Mitglieder der besseren Gesellschaft. Dieser zählte eindeutig zu den Ausnahmen. Ich hatte ihn schon mehrmals kommen und gehen sehen. Eine hochgewachsene, hagere Gestalt in formlosen, zerlumpten Kleidern, die ihr Gesicht völlig verbarg. Aber das war vermutlich besser so, denn seine Lumpen versteckten ohne Zweifel einen grausigen Anblick. Der Mann war ein Leprakranker. Irgendwie musste er den scharfen Blicken der öffentlichen Wächter entkommen sein, wie so manche, die man gelegentlich in den düsteren und geheimnisvolleren Regionen des East End antraf – ein Geheimnis selbst für die armseligsten Bewohner von Limehouse.

Plötzlich nahm mein überempfindliches Bewusstsein eine Veränderung wahr. Der Leprakranke humpelte zur Tür hinaus und schloss sie hinter sich. Mein Blick wanderte instinktiv zur Couch, wo der Mann lag, der vorher meinen Verdacht geweckt hatte. Ich hätte schwören können, dass mich eiskalte, stählerne Augen drohend anfunkelten, ehe sie sich blitzschnell wieder schlossen. Ich trat mit einem Schritt näher und beugte mich über ihn. Etwas an seinem Gesicht schien mir unnatürlich zu sein – die gesunde Bronzetönung unter der Blässe.

»Yun Shatu!«, rief ich. »Ein Spion ist im Haus!«

Dann geschah alles mit verblüffender Geschwindigkeit. Der Mann auf der Couch sprang wie ein Raubtier in die Höhe, ein Revolver blitzte in seiner Hand. Ein sehniger Arm stieß mich zur Seite, als ich ihn zu packen versuchte, und eine scharfe befehlsgewohnte Stimme übertönte das Gewirr von Stimmen, das plötzlich den Raum erfüllte.

»Hey! Du da! Bleib stehen!«

Die Waffe in der Hand des Fremden war auf den Leprakranken gerichtet, der mit langen Schritten zur Eingangstür rannte!

Ringsum herrschte blankes Chaos. Yun Shatu schnatterte lautstark auf Chinesisch, und die vier jungen Chinesen und Yussef Ali kamen von allen Seiten angerannt und hielten Messer in ihren Händen.

All das erkannte ich mit unnatürlicher Klarheit, während ich mir das Gesicht des Fremden einprägte. Der fliehende Leprakranke machte keine Anstalten, stehen zu bleiben, doch ich sah, wie die Augen sich zu stählerner Entschlossenheit verengten, als er über den Lauf des Revolvers zielte – in seinen Gesichtszügen erkannte ich die grimmige Entschlossenheit zu töten. Der Leprakranke hatte die Tür nach draußen fast erreicht, aber der Tod würde zuschlagen, bevor er hindurchtreten konnte.

Und dann, in dem Augenblick, als der Finger des Fremden sich um den Abzug spannte, warf ich mich nach vorne, und meine rechte Faust krachte gegen sein Kinn. Er ging wie von einem Hammer getroffen zu Boden. Der Revolver entlud sich wirkungslos in die Luft.

In diesem Augenblick wurde mir in einem plötzlichen Moment der Klarheit, wie man ihn manchmal erlebt, bewusst, dass es sich bei dem Leprakranken um Ihn – den Mann hinter der Wand – handelte! Ich beugte mich über ihn. Er war zwar nicht völlig bewusstlos, aber mein gewaltiger Schlag hatte ihn kurzzeitig außer Gefecht gesetzt. Er bemühte sich aufzustehen, sichtbar benommen, aber ich stieß ihn unsanft wieder zu Boden, zerrte an dem falschen Bart, den er trug, und riss ihn ab. Ein schmales, gebräuntes Gesicht kam zum Vorschein. Nicht einmal der künstliche Schmutz und die Farbe konnten seine kräftigen Konturen kaschieren.

Jetzt beugte sich Yussef Ali über ihn, den Dolch in der Hand, die Augen zu mörderischen Schlitzen verengt. Die braune, sehnige Hand hob sich – ich packte sie am Gelenk.

»Nicht so schnell, du schwarzer Teufel! Was hast du vor?«

»Das ist John Gordon«, zischte er, »der größte Feind des Meisters! Er muss sterben, verflucht sollst du sein!«

John Gordon! Der Name kam mir irgendwie bekannt vor, und doch konnte ich nicht direkt eine Verbindung zur Londoner Polizei herstellen oder begreifen, was die Anwesenheit des Mannes in Yun Shatus Rauschgiftkneipe zu bedeuten hatte. Aber in einem Punkt stand mein Entschluss fest.

»Du wirst ihn jedenfalls nicht töten. Aufstehen!« Mein letztes Kommando galt Gordon, der sich nach wie vor benommen mit meiner Hilfe aufrappelte.

»Der Schlag hätte einen Stier fällen können«, sagte ich verblüfft, »ich wusste nicht, dass ich das in mir habe.«

Der falsche Leprakranke war verschwunden. Yun Shatu stand da und starrte mich, die Hände in den weiten Ärmeln verborgen, reglos wie eine Statue an. Yussef Ali trat einen Schritt zurück, fluchte aggressiv vor sich hin und strich mit dem Daumen über die Schneide seines Dolchs, als ich Gordon aus dem Opiumraum und durch die unschuldig wirkende Bar führte, die ihn von der Straße trennte.

Draußen auf der Straße sagte ich zu ihm: »Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind oder was Sie hier suchen, aber Sie sehen, dass das ein äußerst ungesunder Ort für Sie ist. Hören Sie auf meinen Rat und lassen Sie sich hier nicht mehr blicken!«

Als einzige Reaktion darauf warf er suchende Blicke um sich. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging mit schnellen, nach wie vor etwas unsicheren Schritten auf der Straße davon.

Kapitel 6: Das Mädchen aus dem Traum

Aus letztem düster’m Thule fand

Ich jüngst erst her in dieses Land.

Edgar Allan Poe

Draußen vor meinem Zimmer waren leise Schritte zu hören. Der Knauf drehte sich vorsichtig, dann öffnete die Tür sich langsam. Ich sprang keuchend auf. Rote Lippen, halb geöffnet, dunkle Augen wie tiefe Seen des Wunders, eine Fülle glänzenden Haars – so stand das Mädchen aus meinen Träumen in der dunklen Türöffnung!

Sie trat ein und schloss mit einer geschmeidigen halben Drehung die Tür hinter sich. Ich sprang auf und streckte ihr die Hände entgegen, erstarrte aber in meiner Bewegung, als sie einen Finger an die Lippen legte.

»Du darfst nicht laut sprechen«, flüsterte sie fast. »Er hat nicht gesagt, dass ich nicht zu dir kommen darf. Aber trotzdem ...«

Ihre Stimme war weich und musikalisch mit einem Hauch von Akzent, den ich ganz reizend fand. Was das Mädchen selbst anging, so deutete jede Bewegung, jeder Ton auf den Orient. Sie war ein duftender Hauch aus dem Osten, vom nachtschwarzen Haar, das sich hoch über ihrer Alabasterstirn türmte, bis hinunter zu den kleinen Füßen, die in spitzen Pantoffeln mit hohen Absätzen steckten, verkörperte sie das höchste Ideal asiatischer Lieblichkeit. Ein Effekt, den die englische Bluse und der Rock, die sie trug, eher noch verstärkte.

»Du bist schön«, sagte ich wie benommen. »Wer bist du?«

»Ich bin Zuleika«, antwortete sie mit einem scheuen Lächeln. »Ich – es freut mich, dass du mich magst. Ich bin froh, dass mit deinen Haschischträumen Schluss ist.«

Seltsam, dass ein so schmächtiges Ding mein Herz so wild schlagen ließ.

»Das verdanke ich alles dir, Zuleika«, sagte ich mit heiserer Stimme. »Hätte ich nicht jede Stunde, seit du mich aus der Gosse geholt hast, von dir geträumt, wäre ich nicht stark genug gewesen, auf die Befreiung von meinem Fluch zu hoffen.«

Sie errötete, und ihre weißen Finger schlangen sich nervös ineinander. »Du verlässt morgen England?«, fragte sie plötzlich.

»Ja. Hassim ist noch nicht mit meinem Ticket zurück.« Ich zögerte plötzlich, erinnerte mich daran, dass mir Stillschweigen befohlen worden war.

»Ja, ich weiß, ich weiß!«, flüsterte sie schnell. Ihre Augen weiteten sich dabei. »Und John Gordon ist hier gewesen! Er hat dich gesehen!«

»Ja!«

Sie trat mit einer schnellen, fließenden Bewegung auf mich zu. »Du sollst dich als jemand anderer ausgeben! Hör zu, Gordon darf dich dabei unter keinen Umständen sehen! Er würde dich erkennen, ganz egal, wie gut deine Maske ist! Er ist ein schrecklicher Mann!«

»Ich begreife nicht«, sagte ich völlig verwirrt. »Wie hat der Meister meine Haschischsucht gebrochen? Wer ist dieser Gordon und warum kommt er hierher? Weshalb verkleidet der Meister sich als Leprakranker – und wer ist er überhaupt? Und am wichtigsten, weshalb soll ich mich für einen Mann ausgeben, den ich noch nie gesehen und von dem ich noch nie gehört habe?«

»Ich darf nicht – ich traue mich nicht, es dir zu sagen!«, flüsterte sie und ihr Gesicht wurde bleich. »Ich ...«

Irgendwo im Haus war der schwache Klang eines chinesischen Gongs zu hören. Das Mädchen zuckte zusammen wie eine verschreckte Gazelle.

»Ich muss gehen! Er verlangt nach mir!«

Sie öffnete die Tür, huschte hinaus, blieb kurz stehen und elektrisierte mich mit ihrem leidenschaftlichen Ruf: »Oh, sei vorsichtig, sei sehr vorsichtig, Sahib!«

Dann war sie verschwunden.

Kapitel 7: Der Mann mit dem Totenschädel

Welche Kett’ und Hammer fand

in welch’ Esse den Verstand?

Welcher Amboss, welche Welt

Deine Todesschrecken hält?

William Blake

Nachdem mich meine schöne und so geheimnisvolle Besucherin verlassen hatte, saß ich eine Weile in Gedanken versunken da und versuchte, dem Rätsel auf den Grund zu kommen. Ein paar Erklärungsversuche hatte ich bald parat: Yun Shatu, der Opium-Lord, könnte der Agent oder Diener einer Organisation oder eines einzelnen Auftraggebers sein. Es ging nicht lediglich darum, Rauschgiftsüchtige im Tempel der Träume zu versorgen. Nein, gebraucht wurden Mitarbeiter aus allen Klassen der Gesellschaft. Mit anderen Worten, ich sollte mich einer Gruppe von Opiumschmugglern anschließen, die in gigantischem Ausmaß tätig war. Gordon hatte diesen Fall ohne Zweifel untersucht, und allein schon seine Anwesenheit deutete an, dass es sich um keinen gewöhnlichen Kriminalfall handelte. Ich wusste nämlich, dass er eine hohe Position bei der englischen Regierung bekleidete, wenn auch nicht genau, in welcher Funktion.

Opium oder nicht, ich war entschlossen, meine Verpflichtung gegenüber dem Meister zu erfüllen. Die dunklen Pfade, auf denen ich mich bewegt hatte, hatten mich moralisch abgestumpft. Dass ich im Begriff war, ein verabscheuungswürdiges Verbrechen zu begehen, kam mir nicht in den Sinn. Ich war härter geworden und das Gefühl, eine Schuld begleichen zu müssen, vergrößerte sich beim bloßen Gedanken an das Mädchen ins Unermessliche.

Dem Meister hatte ich es zu verdanken, dass ich wieder auf eigenen Füßen stehen und ihr in die Augen sehen konnte, wie ein Mann das sollte. Wenn er mich also als Rauschgiftschmuggler haben wollte, warum nicht? Ohne Zweifel sollte ich in die Rolle eines Mannes schlüpfen, der bei der Regierung hoch geschätzt war und gegen den die Zollbeamten deshalb keine Handhabe besaßen. Sollte ich etwa irgendeinen seltenen Erzeuger von Träumen, eine besondere Droge, nach England schmuggeln?

Diese Gedanken beschäftigten mich, als ich die Treppe hinunterging, aber es schwangen auch weitaus verlockendere Gedanken mit. Was war der Grund, dass das Mädchen wie eine Rose in einem Müllhaufen hier in der schmutzigen Absteige wohnte, und wer war sie?

Als ich die äußere Bar betrat, betrat Hassim den Raum. Er blickte finster, fast verärgert, und ich glaubte, auch Furcht in seinen Zügen zu erkennen. Er hielt eine zusammengefaltete Zeitung in der Hand.

»Ich habe gesagt, du sollst im Opiumraum warten«, herrschte er mich an.

»Du warst so lange weg, dass ich in mein Zimmer hinaufgegangen bin. Hast du das Ticket?«

Er gab nur ein Knurren von sich und zwängte sich an mir vorbei in den Opiumraum. Ich stand an der Tür und beobachtete, wie er im Hinterzimmer verschwand. Meine Verwirrung wuchs. Als sich nämlich Hassim an mir vorbeigedrängt hatte, war mir auf der Titelseite der Zeitung etwas aufgefallen. Etwas, worauf sich sein schwarzer Daumen drückte, als wolle er die Meldung auf keinen Fall aus den Augen verlieren.

Mit dem unnatürlich klaren Denken und Handeln, das mir in jenen Tagen zu eigen war, hatte ich die ersten Zeilen blitzschnell überflogen:

Sonderkommissar für Afrika

ermordet aufgefunden

Die Leiche von Major Fairlan Morley ist gestern im Rumpf eines heruntergewirtschafteten Schiffs in Bordeaux entdeckt worden …

Mehr hatte ich nicht erkennen können, aber das allein reichte aus, um mich nachdenklich zu machen! Allmählich nahm die Angelegenheit hässliche Züge an. Und dennoch –

Ein weiterer Tag verstrich. Als ich Hassim fragte, erklärte er kurz angebunden, die Pläne hätten sich geändert und ich solle nicht nach Frankreich reisen. Später am Abend kam er erneut zu mir und forderte mich wieder auf, ihm in den Raum der Geheimnisse zu folgen.

Ich stand vor der lackierten Wand, der gelbliche Rauch brannte in meiner Nase, die gewebten Drachen wanden sich über die Teppiche und die Palmen ragten dick und bedrückend in die Höhe.

»Unsere Pläne haben sich geändert«, erklärte die verborgene Stimme. »Du wirst nicht nach Frankreich reisen, wie es vorher entschieden worden war. Aber ich habe eine andere Arbeit für dich. Vielleicht entspricht sie auch besser deinen Fähigkeiten. Ich muss nämlich zugeben, dass du mich in letzter Zeit enttäuscht hast. Du hast dich da neulich in etwas eingemischt, was mir in Zukunft noch große Probleme bereiten wird.«

Ich sagte nichts, spürte aber, wie der Zorn in mir wuchs.

»Obwohl einer meiner vertrautesten Diener versucht hat, dich daran zu hindern«, fuhr die tonlose Stimme fort, ohne irgendwelche Emotionen erkennen zu lassen, sie wurde nur etwas lauter, »hast du darauf bestanden, meinen erklärten Todfeind entkommen zu lassen. In Zukunft musst du umsichtiger sein.«

»Ich habe dein Leben gerettet!«, widersprach ich ärgerlich.

»Und allein deshalb sehe ich über deinen Fehler hinweg – dieses eine Mal!«

Jetzt konnte ich meine Wut kaum noch beherrschen.

»Dieses eine Mal! Mach dieses eine Mal das Beste daraus, denn ich versichere dir, ein nächstes Mal wird es nicht geben. Ich stehe tiefer in deiner Schuld, als ich es jemals wieder wettmachen kann, aber das macht mich noch lange nicht zu deinem Sklaven. Ich habe dein Leben gerettet, die Schuld ist damit so gut getilgt, wie ein Mann das nur kann! Geh du künftig wieder deinen Weg. Und ich gehe meinen!«

Ein unterdrücktes widerwärtiges Lachen war die Antwort. Es klang wie das Zischen eines Reptils.

»Du Narr. Du wirst mit den Mühen deines ganzen Lebens bezahlen! Du sagst, du wärst nicht mein Sklave? Ich sage, du bist es – so wie der schwarze Hassim da neben dir mein Sklave ist – und so wie das Mädchen Zuleika, die dich mit ihrer Schönheit verhext hat.«

Diese Worte ließen eine Welle von heißem Blut in mein Gehirn strömen und ich spürte eine Aggression in mir, die einen Moment lang das klare Denken unmöglich machte. Obwohl in diesen Tagen all meine Stimmungen und Sinne geschärft schienen, ging diese Aufwallung von Emotionen weit über die Wut hinaus, die ich noch kurz zuvor verspürt hatte.

»Zur Hölle!«, kreischte ich. »Du Teufel – wer bist du und was verleiht dir eine solche Macht über mich? Ich will dich sehen oder sterben!«

Hassim sprang mich an, aber ich stieß ihn zurück, hastete mit einem langen Schritt an die Trennwand und stieß sie mit bislang ungekannter Kraft beiseite. Dann zuckte ich zurück, meine Hände erstarrten ausgestreckt, ein Schrei stahl sich auf meine Lippen. Eine hochgewachsene, hagere Gestalt stand vor mir, auf groteske Weise in einen seidenen, mit Brokat bestickten Umhang gehüllt. Dieser fiel zu Boden.

Aus den Ärmeln des Umhangs ragten Hände, die mich mit schleichendem Entsetzen erfüllten – lange, räuberische Klauen mit dünnen, knochigen Fingern und gekrümmten Krallen – bräunlich-gelbe Pergamenthaut, verkümmert wie die Hände eines längst verstorbenen Menschen.

Die Hände – aber, oh Gott, erst dieses Gesicht! Ein Schädel, an dem nicht mehr der kleinste Rest von Fleisch haftete, aber auf dem straffe, bräunlich-gelbe Haut wucherte und jedes Detail dieses schrecklichen Totenkopfs scharf hervortreten ließ. Die Stirn war hoch, irgendwie prächtig, aber zu den Schläfen hin wurde der Schädel seltsam schmal. Unter der Stirn, die wie ein Vordach dort ragte, wo sich sonst die Augenbrauen befanden, funkelten große Augen, Tümpel aus gelbem Feuer. Die Nase hatte eine hohe Wurzel und war ganz schmal, der Mund wie ein farbloser Schnitt, eine Narbe zwischen dünnen, grausamen Lippen. Ein langer, knochiger Hals trug diese furchterregende Vision und machte die Wirkung eines reptilischen Dämons aus einer mittelalterlichen Hölle perfekt.

Ich sah mich Auge in Auge mit dem Totenschädel-Mann aus meinen Träumen.

Kapitel 8: Schwarze Weisheit

Im Geist eine schleichende Ruine

im Leben ein wahrer Sumpf

Gebrochen das Herz in der Brust der Welt

Am Ende des Gierens Triumph

G. K. Chesterton

Der schreckliche Anblick verdrängte kurz jeden Gedanken an Widerstand aus meinem Bewusstsein. Das Blut erstarrte in meinen Venen. Ich stand reglos da und hörte, wie Hassim hinter mir grimmig auflachte. Die Augen in dem ausgezehrten Gesicht starrten mich voll bösartigem Feuer an und die satanische Wut, die in ihnen loderte, ließ mich erblassen.

Dann lachte das Schreckensgebilde und begann zischelnd zu sprechen:

»Ich erweise Ihnen eine große Ehre, Mr. Costigan. Es gibt nur sehr wenige, selbst unter meinen eigenen Dienern, die von sich behaupten können, dass sie mein Gesicht gesehen haben und noch leben. Ich denke, du wirst mir lebend nützlicher sein als tot.«

Ich schwieg und war völlig entnervt. Die Vorstellung, dass dieser Mann lebte, fiel mir schwer, weil sich der Gedanke daran durch sein Aussehen verbot. Er wirkte auf schreckliche Art und Weise wie eine Mumie. Dennoch bewegten sich seine Lippen beim Sprechen und in seinen Augen flackerte eine besonders widerliche Form von Leben auf.

»Du wirst tun, was ich sage«, erklärte er abrupt und seine Stimme klang jetzt befehlsgewohnt. »Du kennst ohne Zweifel Sir Haldred Frenton oder kannst zumindest mit seinem Namen etwas anfangen?«

»Ja.«

Jeder kultivierte Mensch in Europa und Amerika kannte die Reisebeschreibungen von Sir Haldred Frenton, einem Schriftsteller und Abenteurer.

»Du wirst noch heute Abend zum Anwesen von Sir Haldred gehen …«

»Ja?«

»Und ihn töten!«

Ich taumelte im wahrsten Sinne des Wortes. Dieser Befehl war unglaublich, unfassbar! Ich war tief gesunken, tief genug, um Opium zu schmuggeln. Aber bewusst einen Menschen umzubringen, den ich noch nie zuvor gesehen hatte, einen Menschen, der für seine guten Taten bekannt war! Das war so abartig, dass es meine Vorstellungskraft überstieg.

»Du weigerst dich nicht?«

Seine Stimme zischte, man konnte den Spott aus ihr heraushören. Es klang wie bei einer Schlange. »Weigern?«, schrie ich und fand endlich meine Stimme wieder. »Weigern? Du Ausgeburt des Teufels! Natürlich weigere ich mich, du …«

Sein Wesen war so selbstbewusst und kalt, dass es mich erstarren ließ – mir blieben die Worte regelrecht im Hals stecken.

»Du Narr!«, sagte er ruhig. »Ich habe die Ketten des Haschisch zerbrochen, und weißt du wie? In vier Minuten wirst du es wissen und den Tag deiner Geburt verfluchen! Kam es dir nicht seltsam vor, wie schnell deine Gedanken und wie ausdauernd dein Körper waren? Bei einem Hirn, das eingerostet und träge sein sollte, einem Körper, an dem Jahre des Missbrauchs ihre Spuren hinterlassen haben? Der Schlag, den du John Gordon versetzt hast – kam dir nicht die Frage in den Sinn, woher du diese Kraft nimmst? Die Leichtigkeit, mit der du dir das Wissen über Major Morley angeeignet hast – sie verwundert dich nicht? Du Narr, dich binden Ketten aus Stahl und Blut und Feuer an mich! Ich war es, der dich am Leben und bei Verstand gehalten hat, ich allein. Man hat dir täglich das rettende Elixier im Wein verabreicht. Ohne dieses Elixier könntest du nicht leben und bei Verstand bleiben. Und ich, nur ich allein, kenne seine Zusammensetzung!«

Er schaute auf eine eigenartige Uhr, die auf einem Tisch neben seinem Ellenbogen stand.

»Diesmal habe ich Yun Shatu angewiesen, auf das Elixier zu verzichten. Ich habe damit gerechnet, dass du rebellierst. Die Zeit ist nah – ha, die Zeit schlägt zu!«

Er sagte noch etwas anderes, aber ich hörte es schon nicht mehr. Ich sah nichts und konnte auch nichts mehr fühlen im menschlichen Sinne des Wortes. Ich wand mich zu seinen Füßen, schrie und stammelte, während ich Höllenqualen durchlitt, wie man sie sich nicht vorzustellen vermag.

Ja, jetzt wusste ich es! Er hatte mir einfach ein deutlich stärkeres Rauschgift verabreicht, um die Wirkung des Haschisch zu überdecken. Das erklärte meine fast schon übernatürlichen Fähigkeiten – ich hatte unter der Einwirkung von etwas gehandelt, in dem sich alle Höllen vereinten. Etwas, das wie Heroin stimulierte, aber dessen Wirkung vom Opfer unbemerkt blieb. Ich hatte keine Ahnung, um was es sich handelte. Vermutlich wusste es nur jenes teuflische Wesen, das da vor mir stand und mich mit grimmiger Belustigung beobachtete. Aber das Gift hatte mein Gehirn stimuliert und meinen Kreislauf davon abhängig gemacht. Und jetzt zerriss die entsetzliche Gier danach meine Seele.

Niemals, nicht einmal in den Augenblicken größter Angst auf dem Schlachtfeld oder Momenten, in denen mich das Verlangen nach Haschisch zerriss, habe ich je etwas Ähnliches erlebt. In mir brannten tausend Höllen, zugleich hatte ich das Gefühl, etwas, das hundertmal kälter war als Eis, würde von mir Besitz ergreifen.

Es riss mich in die tiefsten Höhlen der Folter hinab und stieß mich im selben Moment auf die höchsten Gipfel der Qual – eine Million brüllender Teufel drangen auf mich ein, stachen auf mich ein, schrien und brüllten. Knochen für Knochen, Ader für Ader, Zelle für Zelle spürte ich, wie mein Körper sich auflöste und in blutigen Atomen quer durchs Universum geschleudert wurde. Und jede einzelne Zelle war ein ganzer Verbund aus zitternden, brüllenden Nerven. In den fernen Weiten des Alls sammelten sie sich wieder, um sich zu einer noch weitaus größeren Qual zu vereinen.

Durch die feurig-blutigen Nebel hörte ich meine eigene Stimme schreien, ein monotones Wimmern. Dann sah ich mit vor Entsetzen geweiteten Augen den goldenen Kelch, wie er von einer klauenähnlichen Hand gehalten langsam in mein Blickfeld schwebte – einen Kelch, der mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt war.

Mit einem bestialischen Schrei ergriff ich ihn mit beiden Händen, nahm nur schemenhaft wahr, dass der Stiel aus Metall unter meinen Fingern nachgab. Ich spürte den Rand des Kelchs an meinen Lippen und trank in rasender Hast, ohne darauf zu achten, dass Teile der Flüssigkeit auf meine Brust hinabtropften.

Kapitel 9: Kathulos von Ägypten

Die Nacht thront dreifach über dir,

der Himmel als eisernes Mark.

G. K. Chesterton

Er mit dem Schädelgesicht stand vor mir und musterte mich kritisch, als ich keuchend und völlig erschöpft auf einer Couch saß. Er hielt den Kelch in der Hand und betrachtete den goldenen Stiel, der so zerdrückt war, dass man keine Form mehr erkennen konnte. Das war ich in meiner Gier gewesen.

»Übermenschliche Kraft, selbst für einen Mann in deinem Zustand«, proklamierte er in einer Art knarrenden Pedanterie. »Ich bezweifle, dass selbst Hassim dazu imstande wäre. Bist du jetzt bereit, meine Anweisungen entgegenzunehmen?«

Ich nickte wortlos. Dabei strömte das Elixier mit seiner höllischen Kraft durch meine Venen und regenerierte meinen ausgebrannten Körper. Ich fragte mich, wie lange ein Mann so leben konnte – ständig ausgemergelt und künstlich wieder aufgebaut.

»Man wird dir eine Verkleidung geben und du wirst allein zu Frentons Anwesen gehen. Niemand vermutet irgendwelche Anschläge gegen Sir Haldred. Deshalb sollte es vergleichsweise leicht sein, dir Zugang zum Anwesen und zum Haus selbst zu verschaffen. Die Verkleidung – eine Verkleidung von besonderer Art – ziehst du erst unmittelbar, bevor du das Anwesen betrittst, an. Dann wirst du dich zu Frentons Zimmer begeben und ihm mit bloßer Hand das Genick brechen – das ist entscheidend –«

Die Stimme dröhnte weiter, erteilte ihre grausigen Anweisungen in erschreckend beiläufiger, fast schon selbstverständlicher Manier. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn.

»Nach der Tat wirst du das Anwesen verlassen und dafür sorgen, dass irgendwo deutlich sichtbar ein Abdruck deiner Hand zu sehen ist. Das Fahrzeug, das an einem sicheren Ort in der Nähe auf dich warten wird, bringt dich hierher zurück. Vorher legst du deine Verkleidung ab. Für den Fall, dass es zu Komplikationen kommt, gibt es genügend Männer, die beschwören werden, dass du die ganze Nacht im Tempel der Träume verbracht und ihn nie verlassen hast. Aber es darf auf keinen Fall passieren, dass du entdeckt wirst! Sei auf der Hut und erledige deine Aufgabe zuverlässig. Die Alternative kennst du jetzt.«

Ich kehrte diesmal nicht ins Opiumhaus zurück, sondern wurde durch gewundene, mit schweren Teppichen abgehängte Gänge in eine kleine Kammer geführt, in der lediglich eine orientalisch anmutende Couch stand. Hassim gab mir zu verstehen, dass ich bis zum Einbruch der Nacht hier warten müsse, und ließ mich dann allein. Die Tür wurde geschlossen, aber ich versuchte gar nicht erst festzustellen, ob sie versperrt war. Der Meister mit dem Gesicht eines Totenschädels brauchte keine Schlösser und Riegel, um mich von der Flucht abzuhalten.

So saß ich denn auf der Couch in der bizarren Umgebung eines Raums, der gut Teil eines indischen Harems hätte sein können. Ich setzte mich nüchtern mit den Tatsachen auseinander und bereitete mich auf das Gefecht vor. In mir steckte noch mehr Männlichkeit, als das Scheusal annahm. Und dazu fügte sich schwarze Verzweiflung. Ich traf meine Wahl und entschied mich für den einzigen Weg, der mir noch blieb.

Plötzlich öffnete sich leise die Tür. Eine Eingebung sagte mir, wer da zu mir kam, und ich wurde nicht enttäuscht. Da stand Zuleika. Wie eine strahlende Vision, eine Vision, die mich verspottete, die meine Verzweiflung noch tiefer, noch schwärzer werden ließ und mich doch mit wildem Sehnen und unsinniger Freude erfüllte.

Sie trug ein Tablett mit Speisen, das sie neben mich stellte, dann setzte sie sich auf die Couch und ihre großen Augen fixierten mein Gesicht. Sie glich einer Blume in einer Schlangengrube und ihre Schönheit eroberte mein Herz im Sturm.

»Steephen!«, flüsterte sie und mich erfasste Entzücken, als ich zum ersten Mal hörte, dass sie meinen Namen aussprach.

Plötzlich glänzten Tränen in den leuchtenden Augen und sie legte ihre schmale Hand auf meinen Arm. Ich ergriff sie mit meinen beiden rauen Pranken.

»Sie haben dir eine Aufgabe gestellt, die du fürchtest und hasst!«, stammelte sie.

»Ja.« Beinahe hätte ich gelacht. »Aber ich werde sie täuschen! Zuleika, sag mir, was hat das alles zu bedeuten?«

Sie blickte verängstigt um sich.

»Ich weiß es nicht …«, zögerte sie. »Die Bedrängnis, in der du dich befindest, ist allein meine Schuld, aber – ich hatte noch Hoffnung – Steephen. Ich habe dich beobachtet, monatelang, seit du zu Yun Shatu gekommen bist. Du hast mich nicht gesehen, aber ich habe dich gesehen. Und ich habe in dir nicht den zerbrochenen Trunkenbold gesehen, auf den deine Lumpen hindeuteten, sondern eine verwundete Seele, die auf den Schlachtfeldern des Lebens auf schreckliche Weise verletzt wurde. Tief in meinem Herzen habe ich dich bedauert. Als Hassim dich dann an jenem Tag misshandelt hat« – wieder traten ihr Tränen in die Augen –, »konnte ich es nicht ertragen. Ich wusste, wie du gelitten hast, weil du kein Haschisch bekamst. Also habe ich Yun Shatu bezahlt, und dann bin ich zum Meister gegangen und – ich – oh, du wirst mich dafür hassen!«, schluchzte sie.

»Nein – nein – niemals …«

»Ich habe ihm gesagt, dass du ein Mann seist, der ihm nützlich sein könnte, und habe ihn angefleht, er solle Yun Shatu dazu bringen, dir das zu geben, was du brauchst. Du warst ihm bereits aufgefallen, denn er hat das Auge eines Sklavenhändlers, und die ganze Welt ist sein Sklavenmarkt. Also hat er Yun Shatu angewiesen, das zu tun, worum ich ihn gebeten hatte, und jetzt – ach, wärst du nur so geblieben, wie du warst, mein Freund.«

»Nein! Nein!«, rief ich. »Ich habe ein paar Tage der Wiederherstellung erlebt, selbst wenn sie nicht echt war! Ich stand als Mann vor dir. Das ist mir mehr wert als alles andere!«

Alles, was ich für sie empfand, muss ihr aus meinen Augen entgegengeleuchtet haben, denn sie senkte den Blick und errötete. Man frage mich nicht, wie die Liebe einen Mann erfasst; aber ich wusste, dass ich Zuleika liebte – dieses geheimnisvolle orientalische Mädchen. Wie ich sie seit dem Augenblick geliebt hatte, als ich sie zum ersten Mal sah. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie meine Zuneigung in gewissem Maße erwiderte. Diese Erkenntnis ließ den Pfad, für den ich mich entschieden hatte, noch dunkler und trostloser erscheinen. Und dennoch, weil die reine Liebe einem Mann immer Kraft gibt, gab sie auch mir den Mut, das zu tun, was ich tun musste.

»Zuleika«, sagte ich eilig, »die Zeit vergeht wie im Flug und es gibt Dinge, die ich erfahren muss. Sag mir, wer bist du und weshalb bist du in diesem Höllenloch geblieben?«

»Ich bin Zuleika – das ist alles, was ich weiß. Nach Blut und Geburt bin ich Tscherkessin; Türken haben mich als kleines Kind meinen Eltern geraubt. Danach wurde ich in einem Harem in Stambul großgezogen. Und wenn ich auch noch zu jung war, um zu heiraten, so hat mein Meister mich doch als Geschenk … Ihm … gegeben.«

»Und wer ist er, dieser Mann mit dem Totenschädelgesicht?«

»Er ist Kathulos von Ägypten – das ist alles, was ich weiß. Mein Meister.«

»Ein Ägypter? Was tut er dann in London, warum all diese Geheimnisse?«

Ihre Finger schlangen sich nervös ineinander.

»Steephen, bitte, sprich leiser. Es gibt immer jemanden, der lauscht, und zwar überall. Ich weiß nicht, wer der Meister ist oder weshalb er hier ist und weshalb er diese Dinge tut. Ich schwöre es bei Allah! Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen. Manchmal kommen bedeutend aussehende Männer in diesen Raum hier und werden vom Meister empfangen. Nicht dort, wo du ihn gesehen hast – und dann muss ich vor ihnen tanzen und hinterher ein bisschen mit ihnen flirten. Und ich muss ihm immer genau erzählen, was sie alles zu mir gesagt haben. Überall muss ich das tun – in der Türkei, in den Berberstaaten, in Ägypten, in Frankreich und in England. Der Meister hat mir Französisch und Englisch beigebracht und mich in vielen Dingen selbst unterrichtet und ausgebildet. Er ist der größte Magier auf der Welt und weiß alles über uralte Zauber und vieles andere.«

»Zuleika«, sagte ich, »mein Rennen ist bald gelaufen, aber ich würde dich gerne hier herausholen – komm mit mir, und ich schwöre dir, ich schaffe dich von diesem Scheusal weg!«

Sie schauderte und verbarg ihr Gesicht in den Händen.

»Nein, nein, das kann ich nicht.«

»Zuleika«, fragte ich mit sanfter Stimme, »welche Macht hat er über dich, Kleines – auch Rauschgift?«

»Nein, nein!«, wimmerte sie. »Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, aber ich kann nicht – ich werde ihm nie entkommen!«

Ich saß ein paar Augenblicke benommen da, dann fragte ich: »Zuleika, wo sind wir jetzt?«

»Dieses Gebäude ist ein verlassenes Lagerhaus hinter dem Tempel der Träume.«

»Das habe ich mir gedacht. Was ist in den Truhen im Tunnel?«

»Das weiß ich nicht.«

Dann fing sie plötzlich leise zu weinen an. »Auch du bist ein Sklave so wie ich, obwohl du so stark und freundlich bist. Oh, Steephen, ich kann es nicht ertragen!«

Ich lächelte. »Komm ganz nahe zu mir, Zuleika, dann verrate ich dir, wie ich diesen Kathulos täuschen werde.«

Sie blickte besorgt zur Tür.

»Du musst leise sprechen. Ich werde in deinen Armen liegen und du musst mir ins Ohr flüstern, während du so tust, als würdest du mich umarmen.«

Sie drängte sich an mich, und dort, auf der Couch mit den Drachenmustern, in jenem Haus des Schreckens, spürte ich zum ersten Mal, wie herrlich es war, Zuleikas schlanke Gestalt in meine Arme zu schmiegen. Ich spürte, wie ihre weiche Wange sich an meine Brust presste, ihr Duft stieg in meine Nase, ihr Haar vor meinen Augen. Meine Sinne taumelten, dann flüsterten meine Lippen, begraben in ihrem seidigen Haar:

»Ich werde zuerst Sir Haldred Frenton warnen – und dann werde ich John Gordon aufsuchen und ihm von dieser Lasterhöhle berichten. Ich werde die Polizei hierherführen, und du musst aufmerksam beobachten und jederzeit bereit sein, dich vor Ihm zu verstecken – bis wir die Tür aufbrechen und ihn töten oder fangen. Und dann wirst du frei sein.«

»Aber du!«, stieß sie erbleichend hervor. »Du brauchst doch das Elixier, und nur er …«

»Ich weiß, wie ich ihn überlisten kann, meine Kleine«, erwiderte ich.

Sie wurde bemitleidenswert blass und ihre weibliche Intuition zog sofort die richtigen Schlüsse.

»Du wirst dich töten!«

Und so sehr es mich schmerzte, ihre Gefühle zu sehen, spürte ich doch qualvolles Entzücken darüber, dass sie so für mich empfand. Ihr Arm schlang sich fester um meinen Hals.

»Tu es nicht, Steephen!«, flehte sie. »Es ist besser zu leben, selbst …«

»Nein, nicht um jeden Preis. Manchmal ist es besser, in Würde unterzugehen, solange man noch einen Rest von Männlichkeit in sich trägt.«

Sie starrte mich einen Augenblick lang entsetzt an, dann presste sie unvermittelt ihre roten Lippen auf meine, sprang auf und rannte hinaus. Was die Liebe doch für merkwürdige Wege geht. Wie zwei gestrandete Schiffe an den Ufern des Lebens waren wir unaufhaltsam aufeinander zugetrieben. Und obwohl wir keine Liebeserklärung ausgetauscht hatten, hörten wir doch deutlich die Stimme unserer Herzen. Durch Schmutz und Lumpen und ihre Sklavenkleidung spürten wir, was unsere Herzen füreinander empfanden. Wir liebten einander so natürlich und rein, wie es uns vom Anbeginn der Zeiten an bestimmt war.

Doch dieser Anfang ging einher mit einem Ende für mich – denn sobald ich meine Aufgabe erfüllt hatte und bevor ich erneut die Qualen meiner Sucht verspürte, würden Leben und Schönheit und Qual gemeinsam mit der unabwendbaren Endgültigkeit einer Revolverkugel ausgelöscht, die mein verfaulendes Gehirn zerschmetterte. Besser ein sauberer Tod als –

Die Tür öffnete sich erneut, und Yussef Ali trat ein.

»Die Stunde für den Aufbruch naht«, sagte er knapp. »Steh auf und folge mir.«

Ich hatte natürlich keine Ahnung, wie spät es war. Die Kammer, in der ich mich befand, besaß kein Fenster nach draußen – auch sonst waren mir keine aufgefallen. Die Räume wurden von Kerzen beleuchtet, die in Weihrauchfässern von der Decke hingen. Als ich aufstand, warf der schlanke, junge Maure einen finsteren Blick in meine Richtung.

»Das ist eine Sache zwischen dir und mir«, sagte er mit zischender Stimme. »Wir sind Diener desselben Meisters – aber das betrifft nur uns allein. Halte dich von Zuleika fern – der Meister hat sie mir in den Tagen des Imperiums versprochen.«

Meine Augen verengten sich zu Schlitzen, als ich in das düster dreinblickende, hübsche Gesicht des Orientalen sah. In mir wallte Hass auf, wie ich ihn selten erlebt hatte. Meine Finger öffneten und schlossen sich mechanisch, und der Maure, dem das nicht entgangen war, trat einen Schritt zurück und stemmte die Hände in seinen Gürtel.

»Nicht jetzt – jetzt gibt es für uns Arbeit – aber vielleicht später.« Und dann, urplötzlich, in einer kalten Aufwallung von Hass: »Schwein! Affenmensch! Wenn der Meister mit dir fertig ist, werde ich meinen Dolch in dein Herz stoßen!«

Ich lachte grimmig.

»Sorge dafür, dass das bald geschieht, du Wüstenschlange, sonst zerdrücke ich dein Rückgrat mit beiden Händen.«

Kapitel 10: Das dunkle Haus

Gegen von Menschenhand erschaff’ne Fesseln und Qualen

Allein – endlich – und ohne Hilfe lass ich and’re zahlen!

Talbot Mundy

Ich folgte Yussef Ali durch die gewundenen Gänge, dann die Treppe hinunter – Kathulos hielt sich nicht im Raum mit der Trennwand auf – weiter durch den Tunnel, die Räumlichkeiten des Tempels der Träume. Wir traten hinaus auf den Bürgersteig, wo die Straßenlaternen verträumt durch den Nebel und einen leichten Nieselregen strahlten. Auf der anderen Straßenseite stand ein Auto. Die Vorhänge hinter den Scheiben waren zugezogen.

»Der Wagen ist für dich«, sagte Hassim, der zu uns getreten war. »Steig ganz normal ein. Verhalte dich nicht verdächtig. Vielleicht werden wir beobachtet. Der Fahrer weiß, was zu tun ist.«

Dann kehrten er und Yussef in die Bar zurück, und ich machte einen einzigen Schritt auf den Bürgersteig zu.

»Steephen!«

Eine Stimme, die meinem Herz einen freudigen Stich versetzte, sprach meinen Namen! Eine weiße Hand winkte aus den Schatten einer Türöffnung zu mir herüber. Ich ging schnell zu ihr.

»Zuleika!«

»Schschsch!«

Sie umklammerte meinen Arm und drückte mir etwas in die Hand. Undeutlich konnte ich erkennen, dass es sich um ein kleines goldenes Fläschchen handelte.

»Versteck das! Schnell!«, flüsterte sie eindringlich. »Komm nicht hierher zurück, sondern tauche an einem anderen Ort unter. Die Phiole ist mit dem Elixier gefüllt – ich werde versuchen, dir mehr davon zu besorgen, ehe der Nachschub ausgeht. Du musst nach einer Möglichkeit suchen, dich mit mir in Verbindung zu setzen.«

»Ja, aber wo hast du das denn her?«, fragte ich verblüfft.

»Ich habe es dem Meister gestohlen! Und jetzt muss ich gehen, bevor er mich vermisst.«

Sie sprang in die Türöffnung zurück und verschwand. Ich stand unschlüssig da. Ich war davon überzeugt, dass sie mit dieser Tat ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Ängstlich fragte ich mich, was Kathulos tun würde, sollte der Diebstahl entdeckt werden. Aber es wäre zu auffällig, in das Haus zurückzukehren. Ich hielt es für besser, an meinem Plan festzuhalten und zuzuschlagen, ehe Er mit dem Totenschädelgesicht bemerkte, dass sein Sklave ein doppeltes Spiel trieb.

Also überquerte ich die Straße und ging zum wartenden Auto. Der Fahrer war ein hagerer, mittelgroßer Farbiger, den ich nie zuvor gesehen hatte. Ich musterte ihn scharf und fragte mich, wie viel er mitbekommen hatte. Aber er ließ keine Anzeichen erkennen, etwas gesehen zu haben. Und selbst falls ihm aufgefallen war, wie ich zurück in die Schatten trat, konnte er nicht wahrgenommen haben, was dort geschehen war, oder das Mädchen erkannt haben, das stand für mich fest.

Er nickte bloß, als ich mich auf den Rücksitz des Wagens plumpsen ließ, und im nächsten Augenblick rollten wir über die verlassenen, mit einer Nebeldecke überzogenen Straßen davon. Bei dem Bündel, das neben mir auf dem Sitz lag, konnte es sich eigentlich nur um die Verkleidung handeln, die der Ägypter erwähnt hatte.

Meine Empfindungen, als ich durch jene regnerische Nebelnacht rollte, lassen sich kaum angemessen beschreiben. Es kam mir vor, als wäre ich bereits tot, und die leeren, öden Straßen um mich herum wären die Pfade des Jenseits, über die mein Geist nun bis in alle Ewigkeit ziehen musste. In meinem Herz machte sich eine quälende Freude und zugleich düstere Verzweiflung breit – die Verzweiflung eines dem Untergang geweihten Mannes. Nicht, dass der Tod selbst mir solchen Schrecken bereitete – ein Rauschgiftsüchtiger stirbt viele Tode –, aber es fiel schwer, genau in dem Augenblick aus dem Leben zu scheiden, als Liebe in mein ödes Leben getreten war. Außerdem war ich noch jung.

Ein bitteres Lächeln huschte über meine Lippen – sie waren auch jung gewesen, die Männer, die neben mir im Niemandsland gestorben waren. Ich schob meinen Ärmel zurück und ballte die Fäuste, spannte meine Muskeln an. An meinem ganzen Körper gab es kein überflüssiges Gramm Fett. Viel von meinem festen Fleisch war geschwunden, aber die Muskelstränge meines Bizeps traten immer noch wie eiserne Knoten hervor und deuteten massive Kraftreserven an. Aber ich wusste, dass das nur Fassade war, dass ich in Wirklichkeit ein zerbrochenes Wrack war. Mir verlieh lediglich das künstliche Feuer des Elixiers vorübergehend Kräfte, ansonsten hätte mich selbst ein schwächliches Mädchen zu Fall bringen können.

Das Auto hielt zwischen ein paar Bäumen. Wir befanden uns am Rand eines exklusiven Vororts und Mitternacht war bereits vorbei. Durch die Bäume ragte vor den fernen Lichtern des nächtlichen London dunkel ein großes Haus auf.

»Hier warte ich«, sagte der Fahrer. »Von der Straße oder vom Haus aus kann niemand den Wagen sehen.«

Im Licht eines Streichholzes, das ich so hielt, dass man seinen Schein von draußen nicht sehen konnte, untersuchte ich die »Verkleidung« und hatte Mühe, nicht in irres Lachen auszubrechen. Bei dem Kostüm handelte es sich um das komplette Fell eines Gorillas! Ich klemmte mir das Bündel unter den Arm und trottete auf die Mauer zu, die das fremde Anwesen umgab. Ein paar Schritte, und die Bäume, hinter denen sich der Farbige mit dem Wagen versteckt hielt, verschwammen zu einer dunklen Masse. Ich glaubte nicht, dass er mich sehen konnte, aber sicherheitshalber ging ich nicht auf das eiserne Tor an der Vorderseite des Hauses zu, sondern auf die Mauer an der Seite, wo es kein Tor gab.

Im Haus war kein Licht zu sehen. Sir Haldred war Junggeselle, und mir schien sicher, dass die Dienstboten längst zu Bett gegangen waren. Ich kletterte ohne Mühe über die Mauer und schlich mich über den dunklen Rasen zu einer Pforte an der Seite des Gebäudes. Die grässliche »Verkleidung« trug ich unter dem Arm. Die Tür war versperrt, wie ich das erwartet hatte, und ich wollte niemanden wecken, bis ich sicher ins Innere gelangt war, wo der Klang von Stimmen nicht bis zu einem möglichen Verfolger dringen konnte. Ich ergriff den Türknopf mit beiden Händen und begann mit der unmenschlichen Kraft, die mir das Elixier verliehen hatte, daran zu drehen. Der Knopf drehte sich in meinen Händen, und das Schloss zerbrach unvermittelt mit einem Knall, der wie ein Kanonenschuss durch die Stille hallte. Im nächsten Augenblick war ich im Haus und hatte die Tür hinter mir geschlossen.

Ich machte einen einzigen Schritt durch die Dunkelheit in die Richtung, in der ich die Treppe vermutete, und blieb stehen, als ein Lichtstrahl mein Gesicht traf. Ich nahm das Glänzen einer Pistolenmündung wahr. Dahinter schwebte ein schmales, überschattetes Gesicht.

»Stehen bleiben und Hände hoch!«

Wie verlangt hob ich meine Hände und ließ das Bündel zu Boden gleiten. Ich hatte diese Stimme nur ein einziges Mal gehört, aber ich erkannte sie – wusste sofort, dass es sich bei dem Mann mit der Lampe und der Pistole um John Gordon handelte.

»Wie viele außer dir sind noch hier?«

Seine Stimme klang scharf und herrisch.

»Ich bin allein«, antwortete ich. »Bringen Sie mich in ein Zimmer, wo man das Licht nicht von draußen sehen kann, dann werde ich Ihnen einige Dinge erzählen, die Sie interessieren dürften.«

Er blieb stumm und bedeutete mir dann mit einer kurzen Handbewegung, das zu Boden gefallene Bündel wieder aufzuheben, trat dann zur Seite und signalisierte mir, ihm ins nächste Zimmer zu folgen. Dort führte er mich zu einer Treppe und an ihrem oberen Ende zu einer Tür, wo er schließlich das Licht anknipste.

Wir betraten einen Raum, dessen Vorhänge zugezogen waren. Gordon hatte mich die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen, und nun stand er da und hielt mich immer noch mit seinem Revolver in Schach. Er trug jetzt konventionelle Kleidung, und ich sah einen groß gewachsenen, schlanken, aber kräftigen Mann vor mir, größer als ich, aber nicht so kräftig gebaut. Er hatte stahlgraue Augen und ein Gesicht mit markanten, scharf geschnittenen Zügen. Etwas an dem Mann zog mich an, während ich einen Bluterguss an seinem Kinn betrachtete. Hier musste ihn bei unserem letzten Zusammentreffen meine Faust getroffen haben.

»Ich kann einfach nicht glauben«, meinte er scharf, »dass diese offensichtliche Ungeschicklichkeit und mangelnde Raffinesse keine Masche sind. Bestimmt haben Sie Ihre Gründe dafür, dass Sie mit mir in einem abgelegenen Raum sein wollen, aber ich versichere Ihnen, Sir Haldred ist trotzdem bestens beschützt. Stillhalten.«

Er drückte mir den Lauf seines Revolvers gegen die Brust und tastete mit der anderen Hand über meine Kleider, forschte nach verborgenen Waffen und schien ein wenig überrascht, als er keine fand.

»Trotzdem«, murmelte er wie im Selbstgespräch, »ein Mann, der mit bloßer Hand ein eisernes Schloss sprengen kann, braucht natürlich keine Waffen.«

»Sie vergeuden wertvolle Zeit«, sagte ich ungeduldig. »Man hat mich heute Nacht hierhergeschickt, um Sir Haldred Frenton zu töten …«

»Wer?« Die Frage kam wie ein Schuss.

»Der Mann, der sich manchmal als Leprakranker verkleidet.«

Er nickte, und seine Augen funkelten.

»Dann war mein Verdacht also richtig.«

»Ohne Zweifel. Hören Sie mir gut zu – wollen Sie, dass dieser Mann verhaftet oder getötet wird?«

Gordon lachte grimmig.

»Es hat wenig Sinn, jemandem, der an seiner Hand das Zeichen des Skorpions trägt, diese Frage zu beantworten.«

»Dann folgen Sie meinem Rat und Ihr Wunsch wird in Erfüllung gehen.«

Seine Augen verengten sich misstrauisch.

»Das war also der Grund, weshalb Sie mit so viel Getöse hier eingedrungen sind und keinen Widerstand geleistet haben«, sagte er langsam. »Hat das Rauschgift, das Ihre Augen so weitet, den Verstand so sehr beeinträchtigt, dass Sie glauben, Sie könnten mich in einen Hinterhalt locken?«

Ich presste die Hände gegen meine Schläfen. Die Zeit lief mir davon und jeder Augenblick zählte – wie konnte ich diesen Mann von meinen ehrlichen Absichten überzeugen?

»Hören Sie: Mein Name ist Stephen Costigan. Ich bin Amerikaner. Ich war regelmäßiger Gast in Yun Shatus Kneipe, und süchtig nach Haschisch, wie Sie ganz richtig erkannt haben. Jetzt aber bin ich Sklave eines weitaus stärkeren Gifts. Auf diese Weise ist es dem Mann, den Sie als falschen Leprakranken kennen und den Yun Shatu und seine Kumpane ›Meister‹ nennen, gelungen, Macht über mich zu gewinnen. Er hat mich hierhergeschickt. Ich soll Sir Haldred ermorden – warum, weiß nur Gott allein. Aber ich habe mir eine Atempause verschafft, indem ich mir einen gewissen Vorrat dieses Rauschmittels gesichert habe, das ich zum Leben brauche. Ich fürchte und hasse diesen Meister. Hören Sie mir zu, und ich schwöre Ihnen bei allen Heiligen und Unheiligen, dass der falsche Leprakranke in Ihrer Gewalt sein wird, noch ehe die Sonne aufgeht!«

Ich konnte erkennen, dass Gordon, ohne es zu wollen, beeindruckt war.

»Sprechen Sie schnell!«, herrschte er mich an.

Ich konnte spüren, dass er mir noch nicht glaubte, und fürchtete, alles könnte umsonst gewesen sein.

»Wenn Sie nicht mit mir zusammenarbeiten wollen«, sagte ich, »dann lassen Sie mich gehen und ich werde irgendwie Mittel und Wege finden, an den Meister heranzukommen und ihn zu töten. Ich habe nicht viel Zeit – meine Stunden sind gezählt, und noch konnte ich meine Rache nicht in die Tat umsetzen.«

»Lassen Sie mich hören, was Sie vorhaben, aber flott«, erwiderte Gordon.

»Es ist ganz einfach. Ich werde in den Schlupfwinkel des Meisters zurückkehren und ihm sagen, dass ich den Mord begangen habe, mit dem er mich beauftragt hat. Sie müssen mir mit Ihren Männern folgen und das Haus umstellen, während ich den Meister mit meinem Bericht ablenke. Dann brechen Sie auf mein Zeichen die Türen auf und töten ihn oder nehmen ihn fest.«

Gordon runzelte die Stirn. »Wo ist dieses Haus?«

»Der Lagerschuppen hinter Yun Shatus Kneipe ist zu einer Art orientalischem Palast umgebaut worden.«

»Der Lagerschuppen!«, rief er aus. »Wie kann das sein? Daran hatte ich zuerst auch gedacht, aber dann habe ich ihn sorgfältig von außen untersucht. Die Fenster sind vernagelt und von Spinnennetzen übersät. Sämtliche Türen sind von außen verbarrikadiert und die Siegel, die anzeigen, dass der Lagerschuppen verlassen ist, wurden nie gebrochen oder zerstört.«

»Sie haben von unten einen Tunnel gegraben«, antwortete ich. »Der Tempel der Träume ist direkt mit dem Lagerhaus verbunden.«

»Ich bin durch die Gasse zwischen den beiden Gebäuden gegangen«, sagte Gordon, »Die zur Gasse führenden Türen des Lagerschuppens sind, wie ich schon erwähnte, von außen vernagelt, so wie die ursprünglichen Besitzer sie verlassen haben. Es gibt offensichtlich keinerlei Hinterausgang vom Tempel der Träume.«

»So hören Sie mir doch zu! Ein Tunnel verbindet die Gebäude. Ein Zugang befindet sich im Hinterzimmer von Yun Shatus Kneipe, der andere im Götzenraum des Lagerhauses.«

»Ich war in Yun Shatus Hinterzimmer und habe keine derartige Verbindungstür gesehen.«

»Der Tisch steht darauf. Ist Ihnen der schwere Tisch mitten im Raum aufgefallen? Wenn Sie ihn gedreht hätten, hätte sich die Geheimtür im Boden geöffnet. Mein Plan lautet wie folgt: Ich werde durch den Tempel der Träume hineingehen und mich mit dem Meister im Götzenraum treffen. Sie werden Ihre Männer unterdessen vor dem Lagerhaus postieren und weitere auf der anderen Straße vor dem Tempel der Träume warten lassen. Yun Shatus Gebäude grenzt, wie Sie wissen, an das Ufer der Themse. Das Lagerhaus, das zur gegenüberliegenden Seite ausgerichtet ist, liegt an einer schmalen, parallel zum Fluss verlaufenden Straße.

Auf mein Zeichen lassen Sie Ihre Männer in dieser Straße die Eingangstür zum Lagerhaus aufbrechen und stürmen es. Gleichzeitig sollten die Beamten vor Yun Shatus Kneipe durch den Tempel der Träume eindringen. Stürmen Sie das Hinterzimmer und erschießen sie gnadenlos alle, die sie aufzuhalten versuchen. Dann öffnen Sie die Geheimtür im Boden, wie ich es erklärt habe. Meines Wissens gibt es keinen anderen Ausgang aus dem Versteck des Meisters. Deshalb werden er und seine Diener zwangsläufig versuchen, durch den Tunnel zu entkommen. Auf die Weise sind sie von beiden Seiten eingekesselt.«

Gordon überlegte, während ich mit gespanntem Interesse sein Gesicht beobachtete.

»Das könnte eine Falle sein«, murmelte er. »Oder vielleicht auch ein Versuch, mich von Sir Haldred wegzulocken, aber …«

Ich hielt den Atem an.

»Ich bin von Natur ein Spieler«, sagte er langsam. »Ich werde mich auf mein Bauchgefühl verlassen – aber Gott stehe Ihnen bei, falls Sie mich anlügen!«

Ich sprang auf.

»Dem Himmel sei Dank! Und jetzt helfen Sie mir, in dieses Kostüm zu schlüpfen. Ich muss es tragen, wenn ich zu dem Auto zurückkehre, das auf mich wartet.«

Seine Augen verengten sich, als ich die schreckliche Maskerade ausschüttelte und begann, sie anzulegen.

»Hier zeigt sich die Hand des Meisters. Man hat Sie bestimmt angewiesen, Spuren Ihrer Hände in diesen scheußlichen Handschuhen zu hinterlassen?«

»Ja, obwohl mir der Grund dafür schleierhaft ist.«

»Ich glaube, ich kenne ihn – der Meister ist dafür berüchtigt, dass er bei seinen Verbrechen keine Spuren hinterlässt. Heute Abend ist aus einem Zoo ganz in der Nähe ein großer Affe entkommen. Wenn ich jetzt diese Verkleidung sehe, scheint mir das kein Zufall zu sein. Man hätte die Schuld an Sir Haldreds Tod dem Affen zugeschoben.«

In den Anzug zu steigen war einfach, und die Illusion der Verkleidung war so perfekt, dass mich ein Schaudern überkam, als ich mich in einem Spiegel betrachtete.

»Jetzt ist es zwei Uhr«, sagte Gordon. »Wenn man die Zeit einkalkuliert, die Sie brauchen, um zurück nach Limehouse zu kommen, und die notwendigen Vorbereitungen, um meine Männer an Ort und Stelle zu bringen, kann ich Ihnen versprechen, dass das Haus um halb fünf von allen Seiten umstellt sein wird. Geben Sie mir einen Vorsprung – warten Sie hier, bis ich das Haus verlassen habe, damit ich mindestens so früh wie Sie an Ort und Stelle bin.«

»Gut!« Ich ergriff impulsiv seine Hand. »Ihnen wird sicherlich ein Mädchen begegnen. Es hat mit den schrecklichen Taten des Meisters nichts zu tun. Sie ist genau wie ich lediglich ein Opfer der Umstände. Gehen Sie sanft mit ihr um.«

»Das verspreche ich Ihnen. Auf was für ein Signal soll ich achten?«

»Ich habe keine Möglichkeit, Ihnen ein Signal zu geben. Überhaupt bezweifle ich, dass man draußen auf der Straße irgendwelche Geräusche aus dem Haus hören würde. Lassen Sie Ihre Männer einfach um Punkt fünf zuschlagen.«

Ich wandte mich zum Gehen.

»Ein Mann erwartet Sie mit einem Wagen, stimmt das? Haben Sie die Befürchtung, dass er Verdacht schöpft?«

»Ich habe Mittel und Wege, das herauszufinden«, erwiderte ich grimmig. »Sollte er wirklich misstrauisch werden, dann kehre ich allein in den Tempel der Träume zurück.«

Kapitel 11: Vier Uhr vierunddreißig

Doch es herrschte ungebrochen

Schweigen, aus dem Dunkel krochen

Keine Zeichen.

Edgar Allan Poe

Die Tür schloss sich leise hinter mir, das große dunkle Haus ragte noch finsterer als zuvor hinter mir auf. Gebückt rannte ich über den feuchten Rasen, zweifellos eine groteske, unheimliche Gestalt. Jeder, der mich sah, hätte mich sicher nicht für einen Menschen, sondern für einen riesigen Affen gehalten. So geschickt hatte der Meister geplant.

Ich kletterte über die Mauer, ließ mich auf der anderen Seite herunterfallen und hastete durch die Finsternis und den stetig fallenden Nieselregen zur Baumgruppe, wo das Auto abfahrbereit wartete.

Der Fahrer lehnte sich aus dem Vordersitz heraus. Ich atmete keuchend und versuchte, mich wie ein Mann zu benehmen, der gerade kaltblütig gemordet hatte und vom Tatort geflohen war.

»Du hast nichts gehört, kein Geräusch, keinen Schrei?«, zischte ich und packte ihn am Arm.

»Keinen Lärm, nur ein leichtes Krachen, als Sie hineingegangen sind«, antwortete er. »Sie haben gute Arbeit geleistet – niemand, der auf der Straße vorbeikam, könnte Verdacht geschöpft haben.«

»Bist du die ganze Zeit im Wagen geblieben?«, fragte ich. Als er das bestätigte, packte ich ihn am Fußknöchel und strich mit der Hand über seine Schuhsohle. Sie war vollkommen trocken, genauso wie sein Hosenaufschlag. Zufrieden kletterte ich auf den Rücksitz. Wenn er auch nur einen Schritt ins Freie gemacht hätte, wäre eine verräterische Feuchtigkeit an Schuh und Hose nicht zu vermeiden gewesen.

Ich wies ihn an, den Motor so lange nicht zu starten, bis ich das Affenfell abgestreift hatte. Dann rasten wir durch die Nacht und mich überkamen Zweifel und Unsicherheit. Weshalb in aller Welt sollte Gordon einem Fremden und noch dazu einem ehemaligen Komplizen des Meisters vertrauen? Würde er meine Geschichte nicht als Hirngespinst eines Rauschgiftsüchtigen abtun? Oder einfach als Lüge mit der Absicht, ihn in eine Falle zu locken oder zu täuschen? Andererseits, weshalb hatte er mich gehen lassen, wenn er mir nicht glaubte?

Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen. Jedenfalls würde nichts, was Gordon tat oder nicht tat, am Ende mein Schicksal beeinflussen. Ja, Zuleika hatte mir das Elixier gegeben, aber die Ration würde nur für wenige Tage reichen. Ich dachte die ganze Zeit an sie. Und noch größer als der Wunsch nach Rache an Kathulos war die Hoffnung, dass Gordon Zuleika aus den Klauen des Unholds würde befreien können. Wenn Gordon mich im Stich ließe, hatte ich immer noch meine Hände, dachte ich grimmig. Und wenn ich die knochige Gestalt des Totenschädelgesichtigen zu fassen bekam –

Plötzlich musste ich an Yussef Ali und seine seltsamen Worte denken, deren Bedeutung mir erst jetzt bewusst wurde. »Der Meister hat sie mir in den Tagen des Imperiums versprochen!«

Die Tage des Imperiums – was konnte das bedeuten?

Endlich hielt das Fahrzeug vor dem Gebäude, in dem sich der Tempel der Träume verbarg. Es lag jetzt dunkel und still vor uns. Die Fahrt war mir endlos vorgekommen, und als ich ausstieg und auf die Uhr am Armaturenbrett des Wagens schaute, machte mein Herz einen Satz. Es war 04:34 Uhr, und wenn meine Augen mich nicht täuschten, konnte ich in dem Schatten auf der anderen Straßenseite Bewegung erkennen. Zu dieser späten Stunde konnte das nur zwei Dinge bedeuten – entweder wartete irgendein Bediensteter des Meisters auf meine Rückkehr, oder Gordon hatte Wort gehalten. Der Farbige fuhr weg und ich öffnete die Tür, durchquerte die verlassene Bar und betrat den Opiumraum. Die Träumer lagen überall auf den Pritschen und dem Boden, denn Orte wie dieser kennen weder Tag noch Nacht wie bei normalen Menschen. Alle lagen in trunkenem Schlummer.

Die Lampen schimmerten durch den Rauch. Schweigen hing wie Nebel in der Luft.

Kapitel 12: Die Uhr schlägt fünf

Er sah gigantische Spuren des Todes

Und vielfache Anzeichen des Unheils.

G. K. Chesterton

Zwei der jungen Chinesen hockten zwischen den flackernden Feuern und starrten mich mit unbewegter Miene an, als ich mir meinen Weg zwischen den Liegenden hindurch bahnte und zur hinteren Tür ging. Zum ersten Mal durchquerte ich den Korridor allein und ertappte mich erneut bei dem Gedanken, was wohl in den seltsamen Truhen verborgen sein mochte, die an den Wänden standen.

Ich klopfte viermal an die Unterseite der Falltür, und im nächsten Augenblick stand ich im Götzenraum. Mir stockte verblüfft der Atem – das lag aber nicht etwa daran, dass mir Kathulos in all seiner Schrecklichkeit an einem Tisch gegenübersaß. Abgesehen von dem Tisch, dem Stuhl, auf dem der Totenschädelgesichtige saß, und dem Altar – jetzt frei von Weihrauch – war der Raum völlig kahl! Mein Blick fiel auf düstere, rohe Wände des ungenutzten Lagerschuppens, nicht aber auf die kostbaren Teppiche, an die ich mich gewöhnt hatte. Die Palmen, die Statuen, die Trennwand – alles war verschwunden.

»Ah, Mr. Costigan, Sie wundern sich ohne Zweifel.«

Die tot wirkende Stimme des Meisters riss mich aus meinen Gedanken. Seine Schlangenaugen glitzerten unheilvoll. Die langen, gelben Finger schienen auf dem Tisch ständig in Bewegung zu sein.

»Ohne Zweifel hast du mich für einen vertrauensseligen Narren gehalten!«, herrschte er mich plötzlich an. »Hast du geglaubt, ich würde dich nicht beobachten lassen? Du Narr. Yussef Ali war in jedem Augenblick ganz in deiner Nähe!«

Einen Moment lang stand ich sprachlos und aufgrund seiner Worte wie erstarrt da. Doch als mir bewusst wurde, was er da gesagt hatte, warf ich mich mit einem Aufschrei nach vorne. Im gleichen Augenblick, noch ehe meine zupackenden Finger sich um die Horrorgestalt auf der anderen Seite des Tisches schließen konnten, kamen von allen Seiten Männer herangestürzt. Ich wirbelte herum und wählte mit dem ungetrübten Blick des Hasses Yussef Ali aus all den von Wut verzerrten Gesichtern aus und knallte ihm mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft die rechte Faust gegen die Schläfe. Als er zu Boden ging, brachte Hassim mich zu Fall und ein Chinese schleuderte ein Fangnetz über meine Schultern. Ich stemmte mich hoch und zerfetzte das Netz, als bestünde es aus Bindfaden. Doch in dem Augenblick streckte mich ein Totschläger in der Hand von Ganra Singh zu Boden. Benommen und blutend blieb ich liegen.

Schmale, sehnige Hände packten mich und fesselten mich mit Bändern, die brutal in mein Fleisch schnitten. Als ich aus dem Abgrund halber Bewusstlosigkeit auftauchte, lag ich auf dem Altar. Der maskierte Kathulos beugte sich wie ein hagerer Elfenbeinturm über mich. Ganra Singh, Yar Khan, Yun Shatu und ein paar andere, die ich als regelmäßige Besucher im Tempel der Träume kannte, umstanden den Altar im Halbkreis. Dahinter – und ihr Anblick versetzte mir einen tiefen Stich ins Herz – sah ich Zuleika, die sich in eine Türnische duckte, das Gesicht weiß, die Hände in einer Geste voll fassungslosem Schrecken gegen die Wangen gepresst.

»Ich habe dir nicht völlig vertraut«, sagte Kathulos in seiner zischelnden Sprechweise, »also habe ich Yussef Ali hinter dir hergeschickt. Er hat die Baumgruppe vor dir erreicht, ist dir in das Anwesen gefolgt und hat deine hochinteressante Unterredung mit John Gordon belauscht – er ist wie eine Katze an der Hauswand emporgeklettert und hat sich an den Dachsims geklammert. Dein Fahrer fuhr absichtlich langsam, um Yussef Ali genügend Zeit zu geben vor dir zurückzukommen – ich hatte ohnehin beschlossen, meine Bleibe zu wechseln. Mein Mobiliar ist bereits zu einem anderen Haus unterwegs. Sobald wir den Verräter beseitigt haben – dich! –, werden wir dieses Gebäude ebenfalls verlassen. Deinem Freund Gordon werden wir eine kleine Überraschung hinterlassen, wenn er gegen halb sechs hier eintrifft.«

Mein Herz machte einen plötzlichen Satz und ich schöpfte wieder Hoffnung. Yussef Ali hatte den abgesprochenen Zeitpunkt nicht richtig verstanden, und Kathulos wähnte sich in falscher Sicherheit, während Gordons Leute das Haus bereits lautlos umstellt hatten. Ein Blick über die Schulter zeigte mir, wie Zuleika von der Tür verschwand.

Ich musterte Kathulos, ohne recht zu hören, was er sagte. Es würde gleich fünf sein, wenn er noch ein wenig zögerte. Doch dann erstarrte ich, als der Ägypter ein Wort sagte und Li Kung, ein hagerer, leichenblasser Chinamann, aus dem stummen Halbkreis trat und einen langen, dünnen Dolch aus seinem Ärmel zog. Meine Augen suchten nach der Uhr, die immer noch auf dem Tisch stand, und mir wurde mulmig zumute. Bis fünf waren es noch zehn Minuten. Mein Tod hatte nicht viel zu bedeuten, weil er nur das Unvermeidbare beschleunigte, aber vor meinem inneren Auge konnte ich Kathulos und seine Mörder entkommen sehen, während die Polizei den Glockenschlag zur vollen Stunde erwartete.

Das Schädelgesicht hielt in seiner Tirade inne und stand lauschend da. Es kam mir so vor, als warnte sein unheimliches Gespür ihn vor einer drohenden Gefahr. Im Staccato erteilte er Li Kung seine Befehle und dieser sprang vor, den Dolch auf meine Brust gerichtet.

Plötzlich lag eine unheimliche Spannung in der Luft. Die scharfe Dolchspitze schwebte hoch über mir – laut und klar tönte das Schrillen einer Polizeipfeife und gleich danach war ein ungeheuer lautes Poltern aus dem vorderen Bereich des Lagerhauses zu vernehmen!

Kathulos sprang auf, wurde hektisch, zischte Befehle wie eine Katze! Mit einem mächtigen Satz sprang er auf die verborgene Tür zu, die anderen folgten ihm. Alles vollzog sich mit der Geschwindigkeit eines Albtraums. Li Kung war den anderen gefolgt, aber Kathulos rief ihnen über die Schulter einen Befehl zu. Der Chinese wandte sich um und stürzte mit hoch erhobenem Dolch auf den Altar zu, wo ich mit Verzweiflung im Blick lag.

Ein Schrei durchschnitt den Lärm, und als ich mich zur Seite drehte, um dem Dolch auszuweichen, fiel mein Blick auf Kathulos, der Zuleika wegzerrte. Dann stürzte ich mit einem verzweifelten Ruck vom Altar und Li Kungs Dolch bohrte sich, meine Brust um Millimeter verfehlend, zentimetertief in die dunkel gebeizte Tischplatte und blieb zuckend darin stecken.

Ich war auf den Boden gefallen und konnte nicht genau sehen, was in dem Raum passierte, aber ich hatte ein Gefühl, als spiele sich das alles in weiter Ferne ab. Ich konnte Männer schreien hören, widerwärtig, aber aus scheinbar endloser Distanz. Dann riss Li Kung sein Messer aus der Tischplatte und sprang mit einem Satz wie ein Tiger um den Altar herum. Gleichzeitig knallte an der Tür ein Revolver – der Chinese drehte sich um seine Achse, der Dolch entglitt seiner Hand und er sackte zu Boden.

Gordon, noch mit rauchendem Revolver in der Hand, stürzte durch die Tür, wo noch vor wenigen Augenblicken Zuleika gestanden hatte. Hinter ihm drängten drei hünenhafte Männer in Zivil in den Raum. Gordon durchschnitt meine Fesseln und zerrte mich in die Höhe.

»Schnell, wo sind sie hin?«

Im Raum war niemand außer mir, Gordon und seinen Leuten, sah man von den beiden Leichen auf dem Boden ab.

Ich fand die Geheimtür und entdeckte nach ein paar Sekunden den Hebel, mit der sie sich öffnen ließ. Mit gezogenen Waffen drängten sich die Männer um mich und spähten nervös in den dunklen Treppenschacht. Kein Laut drang aus der vollkommenen Finsternis.

»Das ist unheimlich!«, murmelte Gordon. »Ich vermute, der Meister und seine Gefolgsleute sind in diese Richtung gegangen, als sie das Gebäude verließen – denn hier sind sie ja ganz offensichtlich nicht! Leary und seine Männer hatten den Auftrag, sie entweder im Tunnel oder im Hinterzimmer von Yun Shatus Kneipe aufzuhalten. Jedenfalls hätten sie uns das inzwischen so oder so melden sollen.«

»Vorsicht, Sir!«, rief einer der Männer plötzlich. Gordon schlug unter lautem Seufzen mit dem Lauf seines Revolvers zu und zerschmetterte den Schädel einer Riesenschlange, die lautlos über die Stufen aus der Finsternis nach oben gekrochen war.

»Sehen wir, was hier los ist«, sagte er und richtete sich auf.

Aber ehe er die erste Treppenstufe betreten konnte, hielt ich ihn auf. Mir lief es eisig über den Rücken und ich begann allmählich zu begreifen, was hier geschehen war – die Stille in dem Tunnel, die Abwesenheit der Detektive, die Schreie vor ein paar Minuten, als ich auf dem Altar lag. Ich untersuchte den Mechanismus, der die Tür geöffnet hatte, und fand daneben einen anderen, kleineren Hebel – allmählich ahnte ich, was jene geheimnisvollen Truhen im Tunnel enthielten.

»Gordon.« Seine Stimme klang heiser. »Haben Sie eine elektrische Taschenlampe?«

Einer seiner Männer zog sie aus der Tasche.

»Leuchten Sie in den Tunnel. Aber wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, setzen Sie keinen Fuß auf die Stufen.«

Der Lichtstrahl schnitt durch die Schatten, leuchtete den Gang aus und zeichnete deutlich eine Szene nach, die mich für den Rest meines Lebens verfolgen wird. Auf dem Boden des Tunnels, zwischen den Truhen, die jetzt alle offen gähnten, lagen zwei Männer, die Londons bestem Geheimdienst angehörten. Mit verkrümmten Gliedern und schrecklich verzerrten Gesichtern lagen sie da und über ihnen wandten sich in langem, schuppigem Glanz Dutzende scheußliche Reptilien.

Die Uhr schlug fünf.

Kapitel 13: Der blinde Bettler im Auto

Ein Bettler, einem Schurken gleich,

giert er nach Brot und Bier.

G. K. Chesterton

Die kalte, graue Morgendämmerung stahl sich über den Fluss, während wir in der verlassenen Bar im Tempel der Träume standen. Gordon befragte die beiden Beamten, die vor dem Gebäude Wache gehalten hatten, während ihr bedauernswerter Kollege hineingegangen war, um den Tunnel zu erkunden.

»Sir, als wir den Pfiff hörten, stürmten Leary und Murken in die Bar und stießen die Tür zur Opiumkammer auf. Wir haben unterdessen wie befohlen am Eingang zur Bar gewartet. Gleich darauf kamen ein paar zerlumpte Kiffer herausgetaumelt und wir haben sie gepackt. Aber sonst hat niemand den Raum verlassen und wir haben nichts von Leary und Murken gehört, also haben wir einfach gewartet, bis dann Sie kamen, Sir.«

»Sie haben keinen hünenhaften Schwarzen oder den Chinesen Yun Shatu gesehen?«

»Nein, Sir. Nach einer Weile sind die Kollegen von der Streife gekommen und wir haben eine Blockade um das Haus gebildet, aber gesehen haben wir niemanden.«

Gordon zuckte die Achseln. Ein paar beiläufige Fragen hatten genügt, um ihn davon zu überzeugen, dass die Festgenommenen harmlose Süchtige waren, und er hatte sie freigelassen.

»Sind Sie sicher, dass sonst niemand herausgekommen ist?«

»Ja, Sir – nein, warten Sie. Ein jämmerlicher alter blinder Bettler hat das Gebäude verlassen, schmutzig, in Lumpen. Ein verwahrlostes Mädchen hat ihn geführt. Wir haben ihn angehalten, aber nicht festgenommen – eine so erbärmliche Gestalt konnte doch nicht gefährlich sein.«

»Nein?«, stieß Gordon hervor. »In welche Richtung ging er denn?«