Das Tal der Verlorenen
So wie ein Wolf nach seinen Jägern Ausschau hält, so beobachtete John Reynolds seine Verfolger. Er lag in einem Dickicht am Hang, und in seinem Herzen kochte ein flammendes Inferno des Hasses. Es war ein harter Ritt gewesen, den Abhang hinauf, auf dem sich hinter ihm der kaum wahrnehmbare Pfad aus dem Lost Valley nach oben schlängelte. Sein schielender Mustang stand mit gesenktem Kopf und zitternd von dem langen Lauf hinter ihm. Unter ihm, keine hundert Meter entfernt, standen seine Feinde, die gerade seine Verwandten hingeschlachtet hatten.
Auf der Lichtung vor der Ghost Cave waren sie aus dem Sattel gestiegen und diskutierten jetzt miteinander. John Reynolds kannte sie alle, empfand für sie tiefen, bitteren Hass. Die schwarzen Schatten alter Feindschaft lagen zwischen ihnen.
Chronisten der Fehden in den Bergen von Kentucky haben jene in den Anfangszeiten von Texas vernachlässigt, doch die Männer, die als Erste den Südwesten besiedelten, waren vom selben Schlag wie diese Bergbewohner. Doch eines war anders: Im Bergland schleppten sich Fehden über Generationen hin, an der Grenze in Texas waren sie kurz, wild und entsetzlich blutig.
Für eine Texas-Fehde war die zwischen den Reynolds und den McCrills recht lang – fünfzehn Jahre waren verstrichen, seit der alte Esau Reynolds in einem Streit über Weiderechte in dem Saloon von Antelope Wells den jungen Braxton McCrill mit seinem Bowiemesser erstochen hatte. Fünfzehn Jahre lang hatten die Reynolds und ihre Sippe, die Brills, die Allisons und die Donnellys, mit den McCrills und deren Sippe, den Killihers, den Fletchers und den Ords, Krieg geführt. Es hatte Überfälle im Hügelland gegeben, Morde auf offener Weide und Revolverkämpfe auf den Straßen der kleinen Rinderstädte. Beide Clans hatten das Vieh der Gegenseite gestohlen, in großen Mengen sogar. Von beiden Seiten angeheuerte Revolverhelden und Banditen hatten ein Regime des Schreckens und der Gesetzlosigkeit im Land verbreitet. Siedler machten einen weiten Bogen um das vom Krieg zerrissene Weideland. Die Fehde hatte sich zu einer blutigen Hürde entwickelt, die dem Fortschritt und der weiteren Entwicklung im Wege stand – ein schlimmer Rückfall in vergangene Zeiten, der die ganze Gegend demoralisierte.
Dem kleinen John Reynolds war das wichtig. Er war inmitten dieser Feindseligkeit aufgewachsen, sie hatte für ihn zwanghafte Dimensionen angenommen. Der Krieg hatte beiden Clans einen schrecklichen Blutzoll abverlangt, aber die Reynolds hatten am meisten gelitten. John war der letzte der kämpfenden Reynolds, denn der alte Esau, der grimmige alte Patriarch, der über den Clan herrschte, würde nie wieder im Sattel sitzen oder auch nur einen Schritt gehen, denn die Kugeln der McCrills hatten seine Beine gelähmt. John hatte mit eigenen Augen gesehen, wie seine Brüder aus dem Hinterhalt niedergeschossen oder in heftigen Kämpfen getötet worden waren.
Jetzt hatte der letzte Schlag den im Schwinden begriffenen Clan so gut wie ausgelöscht. Bei dem Gedanken an die Falle, in die er in dem Saloon in Antelope Wells getappt war, stieß John Reynolds eine stumme Verwünschung aus. Ihre Feinde hatten dort aus dem Versteck und ohne Warnung ihr mörderisches Feuer eröffnet. Sein Vetter Bill Donnelly, der Sohn seiner Schwester, der junge Jonathon Brill, sein Schwager, Job Allison, und Steve Kerney, ein bezahlter Revolvermann, waren dort gefallen. John Reynolds wusste selbst nicht, wie er es geschafft hatte, sich den Weg freizuschießen und, ohne vom Kugelhagel erwischt zu werden, aus dem Saloon nach draußen zu kommen, wo sein Pferd angebunden war. Aber sie waren so dicht hinter ihm gewesen, dass er keine Zeit gehabt hatte, seinen langgliedrigen Braunen zu besteigen, vielmehr hatte er sich gezwungen gesehen, das erste Pferd zu nehmen, das er erreichte – den schielenden, schnellen, aber kurzatmigen Mustang des toten Jonathon Brill.
Eine Weile hatte er seine Verfolger auf Abstand halten können – er hatte es bis in die unbewohnten Hügel geschafft und dort einen Bogen in das geheimnisvolle Lost Valley geschlagen, jenes Tal mit seinem stummen Dickicht und den zerbrochenen Steinsäulen. Von dort aus wollte er versuchen, über die Berge zurück ins Gebiet der Reynolds zu reiten. Aber der Mustang hatte es nicht geschafft. Er hatte ihn ein Stück hügelaufwärts angebunden, wo man ihn von der Talsohle aus nicht sehen konnte, und war dann wieder weiter nach unten gekrochen, um zu beobachten, wie seine Feinde ins Tal ritten. Fünf waren es – der alte Jonas McCrill, dessen Wolfslippen immer so aussahen, als würde er knurren; Saul Fletcher mit dem schwarzen Bart, der immer das linke Bein nachzog, was einem Sturz von einem wilden Mustang in seiner Jugend zu verdanken war, Bill und Peter Ord, die Brüder, und der Bandit Jack Solomon.
Jonas McCrills Stimme hallte zu dem stummen Beobachter herauf: »Und ich sag’s euch, der versteckt sich irgendwo hier im Tal. Er hat diesen Mustang geritten, und mit dem war nie viel los. Ich wette, der ist höchstens bis hierher gekommen.«
»Nun« – das war die verhasste Stimme von Saul Fletcher –, »was stehen wir dann rum und palavern? Warum suchen wir ihn nicht?«
»Nicht so schnell«, knurrte der alte Jonas. »Vergesst nicht, dass das John Reynolds ist, auf den wir Jagd machen. Wir haben genug Zeit …«
John Reynolds’ Finger krampften sich um den Knauf seines Colts. In der Trommel steckten noch zwei Patronen. Er schob den Lauf durch das Dickicht vor ihm, und sein Daumen zog den gekrümmten Hammer zurück. Seine grauen Augen wurden schmal und undurchsichtig wie Eis, als er über den langen blauen Lauf zielte. Einen Augenblick lang wartete er ab, welche Wahl sein Hass treffen würde, und entschied sich dann für Saul Fletcher. Für einen kurzen Moment konzentrierte sich der ganze Hass in seiner Seele auf das brutale, schwarzbärtige Gesicht und den hinkenden Gang, den er in jener Nacht gehört hatte, als er verwundet, die von Kugeln durchsiebte Leiche seines Bruders neben sich, in einem belagerten Corral gelegen und gegen Saul und seine Brüder gekämpft hatte.
Sein Finger krümmte sich, und der Knall des Schusses hallte von den schlafenden Hügeln wider. Saul Fletcher schwankte nach hinten, sein schwarzer Bart zuckte wie trunken nach oben, dann krachte er mit dem Gesicht nach unten zu Boden. Die anderen ließen sich mit der Schnelligkeit von Männern, die die Kämpfe an der Grenze gewöhnt sind, hinter Felsbrocken fallen, und ihre Schüsse beharkten blindlings den Abhang. Die Kugeln fetzten durch die Büsche und pfiffen über den Kopf des ihnen unsichtbaren Schützen hinweg. Hoch oben auf dem Hang, für die Männer im Tal nicht sichtbar, wieherte schrill, vom Lärm verängstigt, der Mustang, bäumte sich auf, zerriss die Zügel, mit denen er angebunden war, und floh den Hügelpfad hinauf. Das Trommeln seiner Hufe auf den Steinen verhallte in der Ferne.
Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann war Jonas McCrills zornerfüllte Stimme zu hören: »Ich hab’s euch gesagt, dass der sich hier versteckt! Kommt raus – er ist uns entkommen.«
Die drahtige Gestalt des alten Kämpfers erhob sich hinter dem Felsbrocken, wo er Zuflucht genommen hatte. Reynolds zielte bedächtig mit einem wilden Grinsen, aber dann ließ ihn der Selbsterhaltungstrieb innehalten. Die anderen kamen aus ihren Verstecken hervor.
»Auf was warten wir?«, brüllte der junge Bill Ord mit Tränen der Wut in den Augen. »Da hat dieser Kojote Saul abgeknallt und reitet jetzt mit Karacho weg, und wir stehen rum und quatschen. Ich werde …« Er machte einen Schritt auf sein Pferd zu.
»Ihr werdet mir zuhören!«, brüllte der alte Jonas. »Ich habe euch alle gewarnt, habe euch gesagt, ihr sollt euch Zeit lassen – aber ihr seid ja losgerast wie ein Schwarm blinder Bussarde, und jetzt liegt Saul hier tot auf dem Boden. Wenn wir nicht aufpassen, erledigt der Kerl uns alle. Habe ich euch nicht gesagt, dass der hier ist? Wahrscheinlich hat er angehalten, um sein Pferd rasten zu lassen. Er kommt nicht weit. Dies hier ist eine lange Jagd, das habe ich euch gleich gesagt. Lasst ihm doch einen ordentlichen Vorsprung. Solange er vor uns ist, müssen wir aufpassen, ob er uns irgendwo einen Hinterhalt legt. Er wird versuchen, auf Reynolds-Land zurückzukehren. Na schön, wir reiten hübsch langsam hinter ihm her und halten ihn die ganze Zeit unter Druck. Wir reiten auf der Innenseite eines Halbkreises, und er kann nicht an uns vorbei – nicht auf diesem kurzatmigen Mustang. Wir folgen ihm einfach und schnappen ihn uns, wenn sein Pferd erledigt ist. Und ich kann mir recht gut vorstellen, wo wir ihn stellen werden – im Blind Horse Canyon.«
»Dann werden wir ihn aushungern müssen«, knurrte Jack Solomon.
»Nein, das werden wir nicht«, grinste der alte Jonas. »Bill, du reitest jetzt schleunigst zurück nach Antelope und besorgst fünf oder sechs Stangen Dynamit. Dann nimmst du dir ein frisches Pferd und folgst unserer Spur. Wenn wir ihn schnappen, ehe er zu dem Canyon kommt, schön. Wenn er vor uns dort ist und sich dort versteckt, warten wir auf dich und sprengen ihn raus.«
»Und was ist mit Saul?«, knurrte Peter Ord.
»Der ist tot«, brummte Jonas. »Für den können wir jetzt nichts tun. Keine Zeit, ihn mitzunehmen.« Er blickte nach oben, wo vor dem Blau des Himmels bereits ein paar schwarze Punkte kreisten. Dann wanderte sein Blick zur Mündung der Höhle in der steilen Klippe, die im rechten Winkel zu dem Abhang aufstieg, an dem sich der Pfad nach oben schlängelte.
»Wir bringen ihn in diese Höhle«, entschied er. »Dann türmen wir wieder Felsbrocken auf, dann können die Wölfe und die Bussarde nicht an ihn heran. Kann ein paar Tage dauern, bis wir zurückkommen.«
»Die Höhle ist verflucht«, murmelte Bill Ord beklommen. »Die Indianer haben immer gesagt, wenn man da einen Toten reinlegt, kommt er um Mitternacht wieder herausgelaufen.«
»Halt’s Maul und hilf mit, den armen Saul raufzutragen«, herrschte Jonas ihn an. »Da liegt jetzt dein eigener Vetter tot da, und der Kerl, der ihn ermordet hat, reitet mit jeder Sekunde weiter weg, und du laberst hier von wegen verflucht.«
Als sie die Leiche anhoben, zog Jonas seinen langläufigen Six-Shooter aus dem Holster und schob sich die Waffe in den Hüftbund.
»Der arme Saul«, knurrte er. »Jetzt ist er tot. Mitten durchs Herz geschossen. Tot, bevor er noch auf dem Boden lag, schätze ich. Dafür werden diese verdammten Reynolds teuer bezahlen.«
Sie schleppten den Toten zur Höhle, legten ihn auf den Boden und machten sich über die Felsbrocken her, die den Eingang versperrten. Der war bald frei, und Reynolds sah zu, wie die Männer die Leiche ins Innere der Höhle trugen. Gleich darauf kamen sie ohne ihre Last wieder heraus und stiegen auf ihre Pferde. Der junge Bill Ord ritt ins Tal und verschwand bald zwischen den Bäumen, die anderen galoppierten den gewundenen Pfad hinauf, der in die Berge führte. Sie ritten keine dreißig Meter von seinem Versteck entfernt vorbei, und John Reynolds presste sich auf den Boden, besorgt, sie könnten ihn entdecken. Aber sie blickten nicht in seine Richtung. Er hörte, wie ihre Hufschläge auf dem felsigen Pfad allmählich verhallten, dann legte sich wieder Schweigen über das alte Tal.
John Reynolds richtete sich vorsichtig auf und sah um sich, so wie ein gejagter Wolf um sich blickt, und eilte dann den Abhang hinunter. Er hatte ein ganz bestimmtes Ziel. Seine ganze Munition bestand aus einer einzigen Patrone, die noch in der Trommel steckte, aber die Leiche von Saul Fletcher trug noch einen Patronengurt, voll mit 45er-Patronen.
Während er die vor der Höhle aufgetürmten Felsbrocken in Angriff nahm, gingen ihm düstere Gedanken durch den Kopf, die die Höhle und das ganze Tal immer in ihm auslösten. Weshalb hatten die Indianer dieses Tal »Tal der Verlorenen« getauft, woraus die weißen Männer Lost Valley gemacht hatten? Warum hatten die Rothäute immer einen weiten Bogen um das Tal geschlagen? In der Erinnerung der weißen Männer hatte eine Schar Kiowas auf der Flucht vor der Rache von Bigfoot Wallace und seinen Rangers dort oben Zuflucht gesucht und Schlimmes erlebt. Die Überlebenden des Stammes waren geflohen und hatten wilde Geschichten erzählt, in denen Mord, Brudermord, Wahnsinn, Vampirismus, Massaker und Kannibalismus eine düstere Rolle gespielt hatten. Dann hatten sich sechs weiße Männer, die Brüder Stark, im Lost Valley angesiedelt. Sie hatten die Höhle wieder geöffnet, die die Kiowas mit Felsen versperrt hatten. Schreckliches war über sie gekommen, und in einer Nacht waren fünf von ihnen beim Kampf gegeneinander gestorben. Der Überlebende hatte die Höhlenmündung wieder mit Steinen verschlossen und das Tal verlassen, niemand wusste, wohin. Aber in den Siedlungen ging die Rede von einem Mann namens Stark, der sich unter die Überlebenden jener Kiowas gemischt hatte, die einmal im Lost Valley gelebt hatten, und der sich, nachdem er lange mit ihnen geredet hatte, mit seinem Bowiemesser selbst die Kehle durchschnitten haben sollte.
Was war das Geheimnis von Lost Valley, wenn nicht ein Geflecht aus Lügen und Legenden? Was bedeuteten jene zerbröselnden Steine, die über das ganze Tal verstreut, halb versteckt vom Gebüsch, eine seltsame Symmetrie aufwiesen, besonders im Mondlicht, sodass manche Leute es glaubten, wenn die Indianer heilige Eide schworen, es handle sich um die halb zerstörten Säulen einer prähistorischen Stadt, die einstmals im Lost Valley gestanden hatte? Reynolds selbst hatte am Sockel einer Klippe einen Schädel gesehen, den ein wandernder Prospektor ausgegraben hatte, ehe er zu einem Häufchen grauen Staubs zerfallen war, einen Schädel, der weder von einem weißen Mann noch einem Indianer zu stammen schien – einen seltsam spitz zulaufenden Schädel, der, abgesehen von der Ausbildung der Kieferknochen, auch von einem unbekannten vorsintflutlichen Tier hätte stammen können.
Solche Gedanken huschten kurz durch John Reynolds Bewusstsein, als er die Steine forttrug, die die McCrills nur locker aufgetürmt hatten, aber dicht genug, um einen Wolf oder Bussard daran zu hindern, sich durchzuzwängen. Hauptsächlich galten seine Gedanken freilich den Patronen im Gürtel des toten Saul Fletcher. Eine Chance zum Überleben! Er würde sich den Weg aus den Bergen freikämpfen – würde die Reste seines Clans sammeln und zurückschlagen. Er würde weitere Revolvermänner und Halsabschneider zur Verstärkung der eigenen Reihen ins Land holen. Mit Blut würde er das Weideland überfluten und die ganze Gegend vernichten, wenn er sich nur so rächen konnte. Über Jahre war er der entscheidende Faktor in der Fehde gewesen. Als selbst der alte Esau schwach geworden war und sich den Frieden gewünscht hatte, hatte John Reynolds die Flamme des Hasses am Lodern gehalten. Diese Feindschaft war das bestimmende Motiv seines Handelns gewesen – das Einzige, was ihn im Leben interessierte, die Grundlage seiner Existenz. Die letzten Steinbrocken polterten zur Seite.
John Reynolds trat in das Halbdunkel der Kaverne. Sie war nicht groß, aber die Schatten drängten sich dort zu fast greifbarer Substanz zusammen. Langsam passten seine Augen sich an; dann entrang sich unwillkürlich ein Aufschrei seinen Lippen – die Höhle war leer; er stieß verwirrt einen Fluch aus. Er hatte gesehen, wie die Männer Saul Fletchers Leiche in die Höhle getragen hatten und mit leeren Händen wieder herausgekommen waren. Und doch lag da auf dem staubigen Höhlenboden keine Leiche. Er ging an den hinteren Rand der Höhle, musterte die gerade, gleichmäßige Wand, bückte sich, suchte den glatten Felsboden ab. Sein scharfer Blick machte trotz des Halbdunkels einen stumpfen Blutschmierer auf dem Steinboden aus. Er endete abrupt an der hinteren Wand, und die Wand selbst wies keine Flecken auf.
Reynolds beugte sich näher heran, stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. Und plötzlich und verblüffend verschwand das Gefühl von Solidität und Festigkeit. Die Wand gab unter seiner ihn stützenden Hand nach, ein Teil davon schwang nach innen, ließ ihn kopfüber in eine schwarz-gähnende Öffnung taumeln. Seine katzenartige Behändigkeit konnte ihn nicht retten. Es war, als griffen aus den gähnenden Schatten unsichtbare Hände nach ihm und rissen ihn kopfüber in die Dunkelheit.
Er fiel nicht weit. Seine ausgestreckten Hände trafen auf etwas, was sich wie in den Stein gehauene Stufen anfühlte und auf denen er zum Liegen kam. Dann richtete er sich auf und wandte sich rückwärts der Öffnung zu, durch die er gefallen war. Die Geheimtür hatte sich wieder geschlossen, seine tastenden Finger fanden nur eine glatte Steinwand. Er kämpfte die in ihm aufsteigende Panik nieder. Wie die McCrills von dieser geheimen Kammer erfahren hatten, war ihm ein Rätsel, aber offenbar hatten sie Saul Fletchers Leiche hineingelegt. Und dort würden sie, wenn sie zurückkehrten, John Reynolds finden, gefangen wie eine Ratte. Dann kräuselte ein grimmiges Lächeln in der Finsternis Reynolds’ schmale Lippen. Wenn sie die Geheimtür öffneten, würde ihn die Dunkelheit verbergen, während sie sich klar und deutlich vor dem schwachen Licht der äußeren Höhle abzeichneten. Gab es einen vollkommeneren Hinterhalt? Aber zuerst musste er die Leiche finden und die Patronen an sich bringen.
Er drehte sich um, um sich die Stufen hinunter zu tasten, und sein erster Schritt brachte ihn auf ebenen Boden. Das musste ein schmaler Tunnel sein, entschied er, denn obwohl er die Decke nicht berühren konnte, brauchte er bloß einen Schritt nach links oder rechts zu tun und seine ausgestreckte Hand traf auf eine Wand – zu glatt und zu symmetrisch, um natürlichen Ursprungs zu sein. Er ging langsam weiter, tastete sich durch die Dunkelheit an den Wänden entlang und rechnete damit, jeden Augenblick über Saul Fletchers Leiche zu stolpern. Als das nicht geschah, wuchs in seiner Seele unbestimmtes Entsetzen. Die McCrills waren nicht lang genug in der Kaverne gewesen, um die Leiche so weit in die Dunkelheit hineinzutragen. John Reynolds kam der Gedanke, dass die McCrills den Tunnel gar nicht betreten hatten – dass sie gar nicht um seine Existenz wussten. Aber wo, im Namen der Vernunft, war dann Saul Fletchers Leiche?
Er blieb stehen, riss seinen Six-Shooter heraus. Etwas kam durch den dunklen Tunnel – etwas, das mit schweren Schritten aufrecht ging.
John Reynolds wusste, dass es ein Mann war, der Reitstiefel mit hohen Absätzen trug; kein anderes Schuhwerk erzeugt beim Gehen ein so eigenartiges Geräusch. Auch das Klirren der Sporen hörte er. Und als John die zögernden Schritte näher kommen hörte, ging eine Welle namenlosen Entsetzens durch sein Bewusstsein, und er musste an die Nacht denken, als er in dem alten Corral gelegen hatte und sein jüngerer Bruder neben ihm gestorben war, und er gehört hatte, wie endlos zögernde, hinkende Schritte um sein Versteck kreisten, draußen in der Nacht, wo Saul Fletcher seine Wölfe geführt hatte und seinen Tod suchte.
War der Mann nur verwundet worden? Die Schritte klangen steif und unsicher, so wie vielleicht ein verwundeter Mann gehen würde. Nein – John Reynolds hatte zu viele Männer sterben sehen; er wusste, dass seine Kugel geradewegs durch Saul Fletchers Herz gegangen war – ihm möglicherweise das Herz herausgerissen, ihn aber jedenfalls mit Sicherheit sofort getötet hatte. Außerdem hatte er gehört, wie der alte Jonas McCrill erklärt hatte, der Mann sei mausetot. Nein – Saul Fletcher lag leblos irgendwo in dieser schwarzen Höhle. Was da durch den Tunnel heraufkam, war ein anderer lahmender Mann.
Jetzt verstummten die Schritte. Der Mann stand ihm gegenüber, nur durch einen Meter völliger Schwärze von ihm getrennt. Was hatte diese Situation an sich, dass sie den eisernen Puls von John Reynolds schneller gehen ließ, einem Mann, der unzählige Male unerschrocken dem Tod ins Auge gesehen hatte? Was war es, das ihm Schauder über den Rücken jagte, seine Zunge an seinem Gaumen festfrieren ließ? Etwas, das schlafende Instinkte der Angst weckte, so wie ein Mann die Anwesenheit einer unsichtbaren Schlange spürt und dabei das Gefühl hat, dass sie sich auch seiner Anwesenheit bewusst ist, mit Augen, die die Dunkelheit durchdringen?
In der Stille hörte John Reynolds den Stakkatoschlag seines eigenen Herzens. Und dann sprang ihn der Mann erschreckend plötzlich an. Reynolds angespanntes Gehör erfasste die erste Bewegung jenes Sprungs, und er schoss aus nächster Nähe. Und er schrie – ein schrecklicher Schrei wie von einem Tier. Mächtige Arme umfassten ihn, unsichtbare Zähne bohrten sich in sein Fleisch, aber im brodelnden Taumel seiner Angst waren seine eigenen Kräfte übermenschlich. Im kurzen Aufblitzen seines Schusses hatte er ein bärtiges Gesicht mit schlaff herunterhängendem Mund und starren, toten Augen gesehen. Saul Fletcher! Der Tote, aus der Hölle zurückgekehrt!
Wie in einem Albtraum kämpfte Reynolds jenen teuflischen Kampf in der Finsternis, wo die Toten die Lebenden in ihren Bann ziehen wollen. Er spürte, wie er im Griff klammernder Hände hin und her geschleudert wurde. Er wurde mit einer Gewalt, die seine Knochen zu sprengen drohte, gegen die Steinwand geschmettert, zu Boden gerissen, und dann hockte das lautlose Monster auf entsetzliche Weise auf ihm, und seine scheußlichen Finger krampften sich um seine Kehle.
In diesem Albtraum hatte John Reynolds keine Zeit, an seinem Verstand zu zweifeln. Er wusste, dass er mit einem toten Mann kämpfte. Das Fleisch seines Widersachers war kalt und klamm wie aus dem Leichenhaus. Unter dem zerfetzten Hemd hatte er das runde, mit geronnenem Blut verkrustete Einschussloch gespürt. Von den schlaffen Lippen kam kein einziger Laut.
Würgend und keuchend riss John Reynolds die Hände weg, die seinen Hals umklammerten, und stieß das Ding taumelnd von sich. Einen Augenblick lang trennte die Dunkelheit sie; dann griff ihn das Scheusal erneut an. Während das Monstrum sich auf ihn stürzte, packte Reynolds blind zu und schaffte den Ringergriff, den er geplant hatte, legte seine ganze Kraft in seinen Angriff, drückte das Ding von sich weg und ließ sich mit seinem ganzen Gewicht darauf fallen. Saul Fletchers Rückgrat zerbrach wie ein morscher Ast, seine Hände wurden schlaff, die angespannten Glieder lockerten sich. Irgendetwas floss aus dem laschen Körper und wisperte durch die Dunkelheit davon, wie ein gespenstischer Wind, und John Reynolds wusste instinktiv, dass Saul Fletcher endlich wirklich tot war.
Keuchend und zitternd richtete er sich auf. Der Tunnel verharrte in völliger Finsternis. Aber ganz unten in der Richtung, aus der die wandelnde Leiche gekommen war, war flüsterleise ein schwaches Pochen zu vernehmen, kaum ein Laut, und doch klang eine düstere, unheimliche Musik aus dem Pulsieren. Reynolds schauderte, und der Schweiß gefror ihm auf dem Körper. Der tote Mann lag zu seinen Füßen, in dichter Dunkelheit, und an Reynolds Ohren drang schwach ein unerträglich süßes, unerträglich böses Echo, so als würden in den düsteren Höhlen der Hölle, weit weg, ganz schwach, Teufelstrommeln geschlagen.
Die Vernunft drängte ihn umzukehren – den Kampf mit jener blinden Tür aufzunehmen, bis es ihm gelang, den Stein zum Bersten zu bringen, falls menschliche Kraft dazu imstande war. Aber er erkannte, dass Vernunft und Verstand hinter ihm zurückgeblieben waren. Ein einziger Schritt hatte ihn aus einer normalen Welt materieller Realität in ein Reich des Albtraums und des Wahnsinns gestürzt. Er entschied, dass er entweder verrückt war oder tot und in der Hölle. Jene schwachen Trommelschläge zogen ihn an – zerrten auf gespenstische Weise an seinem Herzen. Gleichzeitig stießen sie ihn ab, füllten seine Seele mit schattenhaften, monströsen Vermutungen, doch ihr Ruf war unwiderstehlich. Er kämpfte gegen den irren Drang an, einen wilden Schrei auszustoßen, die Arme zum Himmel zu werfen und in den schwarzen Tunnel hinabzurennen, so wie ein Hase in den Bau des Präriehundes und dort in die Fänge der wartenden Klapperschlange läuft.
In der Dunkelheit herumtastend fand er seinen Revolver und lud ihn, immer noch tastend, mit den Patronen aus Saul Fletchers Patronengurt. Den Körper zu berühren, erzeugte in ihm nicht mehr Abscheu als er dabei empfunden hätte, irgendwelches totes Fleisch zu berühren. Welche unheiligen Kräfte auch immer die Leiche mit Leben erfüllt hatten, hatten sie verlassen, als der Bruch der Wirbelsäule die Nervenzentren zerfetzt und die Wurzeln des Muskelsystems zerrissen hatte.
Den Revolver in der Hand, ging John Reynolds den Tunnel hinunter, angelockt von einer Macht, die er nicht ergründen konnte, einem Schicksal entgegen, das er nicht ahnen konnte.
Das Pochen der Tom-Toms wurde kaum lauter, als er weiterging. Er hatte keine Ahnung, wie weit unter den Hügeln er sich bereits befand, aber der Tunnel senkte sich immer noch tiefer und dabei war er schon eine weite Strecke gegangen. Oft hatte seine tastende Hand Türöffnungen gespürt – Korridore, die vom Haupttunnel abzweigten, wie er annahm. Schließlich wurde ihm bewusst, dass er den Tunnel hinter sich gelassen hatte und in einen riesigen, offenen Raum getreten war. Er konnte nichts sehen, spürte aber irgendwie, dass es sich um einen großen Raum handeln musste. Und jetzt erschien in der Dunkelheit ein schwaches Licht. Es pulsierte im Rhythmus der Trommeln, wurde heller und wieder dunkler, wuchs aber dabei und verbreitete ein unheimliches Leuchten, vorwiegend grün und doch anders als jede Farbe dieser Erde, die Reynolds je gesehen hatte.
Reynolds ging auf das Licht zu. Es breitete sich aus, warf seinen schimmernden Schein auf den glatten Steinboden, beleuchtete fantastische Mosaiken. Sein Lichtkegel reichte weit in die schwebenden Schatten hinein, aber Reynolds konnte keine Decke ausmachen. Jetzt stand er, vom gespenstischen Glimmen dieses Lichts eingehüllt, da, und sein Fleisch wirkte wie das eines Toten. Endlich sah er die Decke, hoch und gewölbt, über ihm brütend wie ein dunstiger Mitternachtshimmel, sah hochragende Wände, schimmernd und dunkel, die in gewaltige Höhen aufstiegen und deren Sockel von kompakten Schatten gesäumt waren, aus denen klein und flimmernd andere Lichter glitzerten.
Er sah die Quelle des Lichts – ein seltsamer behauener Steinaltar, auf dem etwas wie ein riesiges Juwel von unirdischer Färbung brannte, so wie das Leuchten, das von ihm ausging. Grünliche Flammen zuckten aus dem Edelstein; er brannte, wie vielleicht ein Stück Kohle brennen würde, wurde aber dabei nicht verzehrt. Und dahinter bäumte sich eine gefiederte Schlange, ein Fantasiegebilde aus klarer kristalliner Substanz, deren Farbtöne in dem unheimlichen Licht ständig wechselten, nie dieselben blieben, aber im Rhythmus der Trommeln schimmerten und sich veränderten – ein Trommeln und Pulsieren, das ihn jetzt von allen Seiten umgab.
Plötzlich bewegte sich etwas Lebendiges neben dem Altar, und John Reynolds fuhr zurück, obwohl er mit allem gerechnet hatte. Zuerst hielt er es für ein riesiges Reptil, das auf dem Altar umherglitt, doch dann sah er, dass es aufrecht stand wie ein Mensch. Als er das drohende Glitzern seiner Augen sah, schoss er und das Ding ging mit zerschmettertem Schädel zu Boden wie ein geschlachteter Ochse. Reynolds fuhr herum, als ein unheimliches Rascheln an seine Ohren drang – wenigstens konnte man diese Geschöpfe töten. Dann sah er entlang des Laufs seiner Waffe nach oben. Die Trommeln hatten keinen Augenblick lang aufgehört. Die Schatten hatten sich aus der Dunkelheit am Sockel der Wände gelöst und bildeten jetzt einen weiten Ring um ihn. Und obwohl die Schatten auf den ersten Blick Menschen ähnelten, wusste er, dass sie nicht menschlich waren.
Das unheimliche Licht flackerte und tanzte über ihnen, und dahinter, in der tieferen Finsternis, flüsterten die leisen bösen Trommeln ständig ihren Rhythmus. John Reynolds stand benommen da und starrte verblüfft auf das Bild, das sich seinen Augen bot.
Nicht ihre zwergenhaften Gestalten ließen ihn schaudern, nicht einmal ihre unnatürlich geformten Hände und Füße – ihre Köpfe waren es. Jetzt wusste er, welcher Rasse der Schädel angehörte, den der Prospektor gefunden hatte. So wie jener waren die Köpfe spitz und verformt und an den Seiten seltsam abgeflacht. Da waren keine Anzeichen von Ohren zu erkennen, gerade als lägen ihre Hörorgane wie die einer Schlange unter der Haut. Die Nasen sahen aus wie die Schnauze eines Pythons, die Münder und Kiefer noch weniger menschenähnlich als er nach seiner Erinnerung an den Schädel vermutet hätte. Die Augen waren klein und glitzerten wie die eines Reptils. Die geschuppten Lippen zuckten zurück und zeigten spitze Fänge, und John Reynolds spürte, dass ihr Biss so tödlich wie der einer Klapperschlange sein würde. Sie trugen weder Kleidung noch Waffen.
Er spannte seine Muskeln für den Todeskampf, aber es kam kein Angriff. Die Schlangenleute saßen mit überkreuzten Beinen in einem großen Kreis um ihn, und hinter dem Kreis sah er sie in dicht gedrängten Massen. Und jetzt verspürte er eine Regung in seinem Bewusstsein, spürte, wie fremder Wille beinahe zum Greifen auf seine Sinne einwirkte. Wie aus weiter Ferne nahm er wahr, wie sich etwas konzentriert in die innersten Bereiche seiner Seele drängte, und erkannte, dass diese fantastischen Geschöpfe ihm über das Medium des Gedankens ihre Befehle oder Wünsche vermitteln wollten. Auf welcher gemeinsamen Ebene konnte er diesen unmenschlichen Kreaturen begegnen? Und doch machten sie ihm auf undeutliche, seltsam telepathische Weise Teile ihrer Absichten deutlich, und er erkannte schreckerfüllt, dass diese Geschöpfe, was auch immer sie jetzt sein mochten, einstmals wenigstens teilweise menschlich gewesen waren, sonst wäre es ihnen nie gelungen, den Abgrund zwischen dem völlig Menschlichen und völlig Tierischen zu überbrücken.
Er begriff, dass er der erste lebende Mensch war, der in ihr innerstes Reich vorgedrungen war, der Erste, der die leuchtende Schlange zu sehen bekam, jenes schreckliche Namenlose, das älter als die Welt war – dass er, ehe er starb, alles erfahren sollte, was den Söhnen der Menschen über jenes geheimnisvolle Tal bislang zu wissen verwehrt gewesen war, dass er dieses Wissen mit sich in die Ewigkeit tragen und diese Dinge dort mit jenen besprechen konnte, die ihm dorthin vorausgegangen waren.
Die Trommeln schlugen, das fremdartige Licht tanzte und schimmerte, und vor den Altar trat einer, der Autorität zu besitzen schien – eine uralte Monstrosität, deren Haut wie das weißliche Schuppenkleid einer alten Schlange war und der auf seinem spitzen Schädel einen goldenen, mit seltsamen Steinen besetzten Reif trug. Er verbeugte sich ehrerbietig vor der gefiederten Schlange. Dann zeichnete er mit einem scharfen Gegenstand, der eine phosphoreszierende Spur hinterließ, ein rätselhaftes, dreieckiges Gebilde auf den Boden vor dem Altar und streute eine Art schimmernden Staub darüber. Jetzt erhob sich aus dem Gebilde eine dünne Spirale, die zu einer riesigen schattenhaften Schlange anwuchs, gefiedert und erschreckend anzusehen, die bald wieder verblasste und zu einer Wolke aus grünlichem Rauch wurde. Dieser Rauch wallte jetzt vor John Reynolds Augen auf und verbarg den Ring mit den Schlangenaugen, den Altar und die Kaverne selbst. Das ganze Universum löste sich in dem grünen Rauch auf, aus dem jetzt titanische Szenen und fremde Landschaften aufstiegen, wogten und verblassten und schwerfällig sich bewegenden, monströsen Gebilden mit lüsternen Blicken Platz machten.
Dann – abrupt – kristallisierte sich das Chaos. Reynolds blickte jetzt in ein Tal, das er nicht erkannte, von dem ihm aber eine innere Stimme sagte, dass es das Lost Valley war, nur dass in dem Tal eine gewaltige Stadt aus stumpf leuchtenden, steinernen Bauten aufragte. John Reynolds war ein Mann der Outlands und der Wüsten. Die großen Städte der Welt hatte er nie gesehen, aber er wusste, dass sich in der heutigen Welt nirgendwo eine derartige Stadt so in den Himmel türmte.
Ihre Türme und Mauern gehörten einem fremden Zeitalter an. Ihre Umrisse verblüfften seinen Blick, so unnatürlich waren sie. Mit ihren Andeutungen fremder Dimensionen und abnormer Prinzipien der Architektur war sie für das menschliche Auge eine Stadt des Wahnsinns. Seltsame Gestalten bewegten sich in ihr, Menschen, doch einer Menschheit angehörend, die völlig anders als die seine war. Sie waren in Roben gekleidet, ihre Hände und Füße waren weniger ungewöhnlich und ihre Augen und Münder waren wie die normaler Menschen, und doch bestand da zweifelsfrei eine Verwandtschaft zwischen ihnen und den Ungeheuern der Höhle. Das zeigte sich an den seltsam spitzen Schädeln, obwohl die bei den Leuten der Stadt weniger ausgeprägt und unmenschlich wirkten.
Er sah sie in den gewundenen Straßen und ihren Kolossalbauten, und ihn schauderte bei der Unmenschlichkeit ihres Lebens. Vieles, was sie taten, lag jenseits seiner Begriffswelt; er konnte ihr Verhalten und das, was sie bewegte, ebenso wenig verstehen wie ein wilder Zulu das Geschehen im modernen London verstanden hätte. Aber er begriff, dass diese Leute sehr alt und sehr böse waren. Er sah, wie sie Rituale vollführten, die sein Blut vor Schrecken erstarren ließen, Obszönitäten und Frevel, die jenseits seines Vorstellungsvermögens lagen. Das Gefühl, von ihnen beschmutzt und angesteckt zu werden, machte ihn krank. Irgendwie wusste er, dass diese Stadt der Überrest eines erschlafften Zeitalters war, dass diese Leute die Überlebenden einer verlorenen und vergessenen Epoche darstellten.
Dann betrat ein neues Volk den Schauplatz des Geschehens. Über die Berge kamen wilde Menschen, bekleidet mit Tierfellen und Federn, bewaffnet mit Bogen und Pfeilen mit Feuersteinspitzen. Reynolds wusste, dass es Indianer waren, und doch nicht die Indianer, wie er sie kannte. Sie hatten Schlitzaugen, ihre Haut war gelb und nicht kupferfarben. Irgendetwas sagte ihm, dass dies die nomadischen Vorfahren der Tolteken waren, wandernd und erobernd auf ihrem langen Marsch, ehe sie sich weit im Süden in Hochtälern niederließen und dort ihre eigene, ganz spezielle Zivilisation entwickelten. Sie standen ihren mongolischen Vorfahren noch sehr nahe, und Reynolds staunte über die gigantischen Zeiträume, die diese Erkenntnis in ihm wachrief.
Er sah, wie die Krieger wie eine riesige Welle auf die hoch- ragenden Mauern zustürmten. Er sah, wie die Verteidiger die Türme besetzten und die Eindringlinge auf seltsame und grausame Weise töteten. Wieder und wieder sah er die Angreifer zurücktaumeln und aufs Neue mit der blinden Wildheit der Primitiven vorpreschen. Diese seltsame böse Stadt, mit ihren so ganz anderen geheimnisvollen Menschen, stand ihnen im Wege, und sie konnten nicht an ihr vorbei, solange sie sie nicht ausgelöscht hatten.
Reynolds staunte über die Wut der Invasoren, die ihr Leben wie Wasser vergeudeten und der grausamen, schrecklichen Wissenschaft einer unbekannten Zivilisation schieren Mut und die Macht der Überzahl entgegensetzten. Ihre Leichen bedeckten die Ebene, doch nicht einmal alle Mächte der Hölle konnten sie zurückhalten. Wie eine Welle wälzten sie sich an den Fuß der Türme. Im Pfeilhagel der Verteidiger, stets den Tod vor Augen, erkletterten sie die Wände, erreichten die Brüstungen und traten dem Feind im Nahkampf Mann gegen Mann entgegen. Knüppel und Äxte schlugen die Speere, die sich ihnen entgegenreckten, und die Schwerter nieder, die auf sie einhackten. Die hochgewachsenen Gestalten der Barbaren überragten die kleineren Körper der Verteidiger.
Rote Hölle wütete in der Stadt. Die Belagerung wurde zum Straßenkampf, der Kampf zum Gemetzel, das Gemetzel zum Schlachten. Rauch stieg auf und hing in Wolken über der todgeweihten Stadt.
Die Szene änderte sich. Reynolds blickte jetzt auf von den Flammen geschwärzte, zerborstene Mauern, aus denen noch der Rauch aufstieg. Die Eroberer waren weitergezogen, die Überlebenden sammelten sich in dem von Blut rot gefärbten Tempel vor ihrem seltsamen Gott – einer aus Kristall geschnitzten Schlange auf einem fantastischen steinernen Altar. Ihr Zeitalter war zu Ende gegangen, ihre Welt plötzlich in Stücke gebrochen. Sie waren die Letzten einer sonst schon verloschenen Rasse. Sie konnten ihre wunderbare Stadt nicht wieder aufbauen und hatten Angst davor, in ihren zerbrochenen Wänden zu bleiben, wo sie jedem vorüberziehenden Stamm zur Beute werden mussten. Reynolds sah, wie sie ihren Altar und dessen Gott aufhoben und einem uralten Mann in einem Mantel aus Federn folgten, der einen mit Juwelen besetzten Reif aus Gold auf dem Kopf trug. Er führte sie quer durch das Tal zu einer versteckten Höhle. Sie betraten die Höhle, zwängten sich durch einen schmalen Spalt in ihrer hinteren Wand, traten in ein weit verzweigtes Netz aus Höhlen und Kavernen, die die Hügel wie Waben durchzogen. Reynolds sah, wie sie sich abmühten, jenes Labyrinth zu erforschen, neue Höhlen zu graben, vorhandene auszuweiten, die Wände und Böden glatt zu hauen und den Spalt auszubauen, der in die äußere Kaverne führte, und dort eine geschickt konstruierte Tür anzubringen, die so wirkte, als sei sie Teil der massiven Felswand.
Dann folgte ein sich ständig änderndes Panorama, das das Verstreichen vieler Jahrhunderte anzeigte. Das Volk lebte in den Kavernen und passte sich im Laufe der Zeit seiner Umgebung mehr und mehr an, und mit jeder Generation gingen sie seltener ins Licht der Sonne hinaus. Sie lernten auf widerwärtige Art, das aus der Erde zu gewinnen, was sie zur Ernährung brauchten. Ihre Ohren wurden kleiner, ihre Körper zwergenhafter, ihr Augen katzenähnlich. John Reynolds stand verblüfft da und sah zu, wie sich die Rasse über die Jahrhunderte veränderte.
Draußen im Tal verrottete die verlassene Stadt, und ihre Ruinen fielen dem Moos, dem Unkraut und den Bäumen zum Opfer. Menschen kamen und meditierten kurze Zeit zwischen diesen Ruinen – hochgewachsene mongolische Krieger und dunkelhäutige, undurchsichtige kleine Leute, die die Menschen die Hügelbauer nennen. Und während die Jahrhunderte verstrichen, wurden die Besucher dem Typus Indianer immer ähnlicher, den Reynolds kannte, bis zuletzt nur noch rote Männer in Kriegsbemalung und mit Federn in den Skalplocken kamen. Doch keiner von ihnen verweilte lang an jenem verwunschenen Ort mit seinen rätselhaften Ruinen.
Unterdessen wohnte das Alte Volk in den Kavernen und wurde seltsam und schrecklich. Tiefer und tiefer sanken sie auf der Skala der Menschlichkeit, vergaßen zuerst ihre Schrift und später auch ihre menschliche Sprache. Aber in anderer Hinsicht weiteten sie die Grenzen des Lebens aus. In ihrem Königreich der Nacht entdeckten sie andere, ältere Kavernen, die sie bis tief hinein in die Eingeweide der Erde führten. Sie lernten lang verlorene Geheimnisse, lang vergessen oder dem Menschen nie bekannt, die in der Schwärze weit unter den Hügeln schlummerten. Die Dunkelheit ist dem Schweigen förderlich, also verloren sie allmählich ihre Sprache, und eine Art Telepathie trat an ihre Stelle. Und mit jedem grausigen Gewinn verloren sie mehr ihrer menschlichen Attribute. Ihre Ohren verschwanden; ihre Nasen wurden zu Schnauzen, ihre Augen konnten das Licht der Sonne, ja nicht einmal das der Sterne, mehr ertragen. Die Verwendung des Feuers hatten sie schon lange aufgegeben, und das einzige Licht, das sie nutzten, war das gespenstische Leuchten ihres gigantischen Juwels auf dem Altar, und selbst das brauchten sie nicht. Auch in anderer Weise veränderten sie sich. John Reynolds spürte beim Zusehen, wie ihm am ganzen Körper der kalte Schweiß ausbrach. Es war schrecklich, die langsame Verwandlung des alten Volkes zu betrachten. Die Erscheinungen, die sich zwischen ihnen bewegten, ehe ihr endgültiges Wesen und ihre endgültige Gestalt Form angenommen hatten, waren zahlreich und scheußlich.
Doch sie erinnerten sich der Zauberkunst ihrer Vorfahren und fügten ihr ihre eigene schwarze Magie hinzu, die sie weit unter den Hügeln entwickelt hatten. Und zuletzt erreichten sie den Gipfel jener Nekromantie. In Fragmenten hatte John Reynolds schreckliche Andeutungen aus jener alten Zeit wahrgenommen, als die Zauberer des alten Volkes ihre Geister aus ihren schlafenden Körpern ausgeschickt hatten, um Böses in die Ohren ihrer Feinde zu flüstern.
Ein Stamm hochgewachsener Krieger in Kriegsbemalung kam ins Tal und trug die Leiche eines großen Häuptlings, der bei einem Stammeskrieg erschlagen worden war.
Viele Äonen waren verstrichen. Von der alten Stadt standen nur noch zwischen den Bäumen verstreut ein paar Säulen. Ein Erdrutsch hatte den Zugang zur äußeren Kaverne freigelegt. Diese Öffnung fanden die Indianer und legten dort den Leichnam ihres Häuptlings und daneben seine zerbrochenen Waffen zur ewigen Ruhe. Dann türmten sie am Höhleneingang Felsbrocken auf, um ihn zu verschließen, und zogen weiter, aber die Nacht erfasste sie im Tal.
In all den Jahrhunderten hatte das Alte Volk keinen anderen Zugang oder Ausgang aus ihrer Höhlenwelt gefunden, nur die kleine äußere Grotte. Sie war das einzige Tor zwischen ihrem düsteren Reich und der Welt, die sie vor so langer Zeit aufgegeben hatten. Jetzt kamen sie durch die geheime Tür in die äußere Kaverne, deren schwaches Licht sie ertragen konnten. John Reynolds sträubten sich die Haare bei dem Anblick, der sich ihm jetzt bot. Sie nahmen nämlich die Leiche und legten sie vor den Altar der gefiederten Schlange, und ein alter Zauberer legte sich darauf, presste den Mund gegen den Mund des Toten. Über ihm dröhnten die Tom-Toms, geheimnisvolle Feuer flackerten, und die stummen Jünger riefen mit tonlosen Gesängen Götter an, die die Welt schon vor der Geburt Ägyptens vergessen hatte, bis dann in der Dunkelheit draußen unmenschliche Stimmen brüllten und der Schlag monströser Schwingen die Schatten erfüllte. Und das Leben entwich langsam aus dem Zauberer und regte die Glieder des toten Häuptlings. Der Körper des Magiers rollte schlaff zur Seite, und die Leiche des Häuptlings richtete sich steif auf und schritt mit marionettenartigen Schritten und mit glasig starrenden Augen den dunklen Tunnel hinauf und trat durch die geheime Tür in die äußere Höhle. Die toten Hände rissen die Steine weg, dann trat das Grauen hinaus ins Licht der Sterne.
Reynolds sah, wie der Untote mit steifen Schritten unter den schaudernden Bäumen dahinschritt, während die Geschöpfe der Nacht lärmend flohen. Er sah die Gestalt ins Lager der Krieger treten. Der Rest war Wahnsinn und Entsetzen, als das tote Ding seine vormaligen Gefährten verfolgte und in Stücke riss. Chaos erfüllte das Tal, bis einer der Krieger seinen Schrecken überwand, sich gegen seinen Verfolger wandte und mit einer Steinaxt dessen Wirbelsäule durchschlug.
Und während die jetzt zum zweiten Mal erschlagene Leiche zusammensackte, sah Reynolds, wie sich die Gestalt des Zauberers auf dem Boden der Kaverne, vor dem Schlangenidol, reanimierte, als sein Geist aus der Leiche zurückkehrte, dessen Belebung er veranlasst hatte.
Das tonlose Entzücken leibhaftiger Dämonen ließ die kriechende Schwärze der Höhlen erzittern, und Reynolds zuckte vor den widerwärtigen Unholden zurück, die über ihre neu errungene Macht triumphierten, die es ihnen möglich machte, über die Söhne der Menschen, ihre uralten Feinde, Tod und Grauen zu bringen.
Aber die Nachricht verbreitete sich von Clan zu Clan, und es kamen keine Menschen mehr in das Tal der Verlorenen. Viele Jahrhunderte lag es träumend und verlassen unter dem Himmel. Dann kamen berittene Krieger im Federschmuck, bemalt mit den Farben der Kiowas, der Krieger aus dem Norden. Sie wussten nichts von dem geheimnisvollen Tal und schlugen ihre Zelte im Schatten jener düsteren Monolithe auf, die jetzt bloß noch formlose Steingebilde waren.
Sie legten ihre Toten in die Kaverne. Reynolds sah das schreckliche Geschehen, wenn die Toten des Nachts herauskamen und unter den Lebenden wüteten, sie erschlugen und verschlangen – und ihre schreienden Opfer in die finsteren Kavernen in das dämonische Verderben zerrten, das sie dort erwartete. Die Legionen der Hölle wurden im Tal der Verlorenen losgelassen, wo das Chaos regierte und Albtraum und Wahnsinn einhergingen. Die am Leben blieben und ihren Verstand behielten, verschlossen die Kaverne mit Steinen und flohen aus den Hügeln, wie Menschen, die der Hölle entkommen waren.
Wieder lag das Verlorene Tal öde und nackt unter den Sternen. Dann zerriss erneut das Kommen von Menschen die urtümliche Einsamkeit, und Rauch stieg zwischen den Bäumen auf. John Reynolds stockte entsetzt der Atem, als er sah, dass dies weiße Männer waren, in Hirschleder gekleidet wie in früheren Jahren – sechs waren es, einander so ähnlich, dass er wusste, dass es Brüder waren.
Er sah sie Bäume fällen und auf der Lichtung ein Blockhaus errichten. Er sah sie in den Bergen Wild jagen und ein Feld roden, um dort Mais zu pflanzen. Und die ganze Zeit sah er, wie die Unholde der Berge mit gespenstischer Lust in der Finsternis lauerten. Sie konnten mit ihren Nachtaugen nicht aus ihren Kavernen sehen, aber ihr gottloser Zauber ermöglichte es ihnen, alles wahrzunehmen, was im Tal geschah. Mit ihren eigenen Körpern konnten sie nicht ins Licht hinaustreten, aber sie warteten mit der Geduld der Nacht und der Stille.
Reynolds sah, wie einer der Brüder die Kaverne fand und sie öffnete. Er trat ein, und die geheime Tür hing offen vor ihm da. Der Mann trat in den Tunnel. In der Dunkelheit konnte er die Schreckensgestalten nicht sehen, die geifernd um ihn herumstanden, aber er hob in plötzlicher Panik seinen Vorderlader und feuerte blindlings in die Nacht, schrie auf, als ihm der Blitz des Mündungsfeuers die höllischen Gestalten zeigte, die ihn umringten. In der totalen Schwärze, die auf den vergeblich abgegebenen Schuss folgte, stürzten sie sich auf ihn, überwältigten ihn mit der ganzen Kraft ihrer Überzahl, schlugen ihre Schlangenfänge in sein Fleisch. Noch im Sterben erstach er ein halbes Dutzend von ihnen mit seinem Bowiemesser, aber das Gift tat schnell sein Werk.
Reynolds sah, wie sie die Leiche vor den Altar zerrten, sah aufs Neue die schreckenerregende Verwandlung des Toten, der sich mit einem leeren Grinsen erhob und sich staksend in Bewegung setzte. Die Sonne war in einer Flut von stumpfem Karmin untergegangen, Nacht hatte sich über das Land gesenkt und der Tote stapfte zu der Hütte, wo seine Brüder in ihre Decken eingehüllt schliefen. Lautlos schwangen tastende Hände die Tür auf. Das Monstrum kauerte im Halbdunkel, seine freigelegten Zähne glänzten, seine toten Augen leuchteten glasig im Sternenlicht. Einer der Brüder regte sich und murmelte etwas, setzte sich dann auf und starrte die reglose Gestalt im Eingang an. Er rief den Namen des Toten – dann entfuhr ihm ein entsetzlicher Schrei – das Monstrum sprang …
Aus John Reynolds’ Kehle drang ein Schrei unsäglichen Entsetzens. Abrupt verschwanden die Bilder und mit ihnen der Rauch. Er stand im gespenstischen Schein vor dem Altar, die Tom-Toms dröhnten weich und böse, die Gesichter der Unholde umringten ihn. Und jetzt kroch der mit dem juwelenbesetzten Goldreif zwischen ihnen auf dem Bauch, wie die Schlange, die er ja war, und von seinen Fängen tropfte das Gift. Mit widerwärtigen Bewegungen glitt er auf John Reynolds zu, der dagegen ankämpfte, auf das ekelerregende Ding zu springen und seinem Leben stampfend ein Ende zu machen. Es gab kein Entkommen, er konnte seine Kugeln in den Schwarm der Unholde jagen und sie alle niedermähen, aber bei den Hunderten, die sich um ihn drängten, würden die wenigen, die er traf, wie nichts sein. Er würde dort im verblassenden Licht sterben, und sie würden seine wankende Leiche hinausschicken, erfüllt von einem Zerrbild des Lebens, erfüllt vom Geist des Zauberers, so wie sie Saul Fletcher ausgesandt hatten. John Reynolds’ Muskeln spannten sich wie Stahl, und sein wolfsgleicher Lebensinstinkt wuchs über das Flechtwerk des Schreckens hinaus, in das er gestürzt war.
Und plötzlich erhob sich sein menschlicher Geist über das Gewürm, das ihn bedrohte, und ein schneller Gedanke, gleichsam eine Eingebung, elektrisierte ihn. Mit einem wilden, unartikulierten Triumphschrei sprang er in dem Augenblick zur Seite, als die herankriechende Monstrosität zustieß. Sie verfehlte ihn, klatschte der Länge nach auf den Boden, und Reynolds schnappte sich den Schlangengötzen vom Altar, hielt ihn hoch und drückte den Lauf seiner entsicherten Pistole dagegen. Er brauchte nichts zu sagen. Im sterbenden Licht flammten seine Augen wie die eines Irren. Das Alte Volk wich schwankend zurück. Vor ihnen lag der, dessen spitzen Schädel Reynolds’ Schuss zerschmettert hatte. Sie wussten, dass er bloß den Finger zu krümmen brauchte, um ihren fantastischen Gott in schimmernde Scherben zu zersprengen.
Einen spannungsgeladenen Augenblick lang hielt das Tableau. Dann spürte Reynolds ihre stumme Kapitulation. Freiheit im Tausch für ihren Gott. Wieder ging ihm durch den Sinn, dass diese Geschöpfe nicht wahrhaft bestialisch waren, schließlich kennen wahre Tiere keine Götter. Und dieses Wissen war umso schrecklicher, bedeutete es doch, dass sich diese Kreaturen zu etwas entwickelt hatten, was weder Tier noch Mensch war, etwas, das außerhalb der Gesetze der Natur und der Vernunft existierte.
Die schlangenartigen Gestalten wichen zu beiden Seiten zurück, und wieder flammte das verblassende Licht auf. Als er den Tunnel hinaufging, waren sie dicht hinter ihm, und in dem flackernden, unsicheren Lichtschein konnte er nicht sicher sein, ob sie gingen, wie ein Mensch geht, oder krochen, wie eine Schlange kriecht. Ein vages Gefühl sagte ihm, dass sich ihre Bewegung aus beidem zusammensetzte. Er wich zur Seite aus, um nicht auf den ausgestreckten Rumpf dessen zu treten, der einmal Saul Fletcher gewesen war, und so kam er, den Lauf seiner Pistole gegen das zerbrechliche Bild in seiner Linken gedrückt, zu der kurzen Treppe, die nach oben zur geheimen Tür führte. Dort kamen sie zum Stillstand. Er drehte sich um, blickte auf sie. Sie umringten ihn im Halbkreis, und er begriff, dass sie Angst hatten, die geheime Tür zu öffnen, Angst, er könne mit ihrer Götzenfigur durch die Geheimtür und durch die Kaverne ins Freie rennen, ins Licht der Sonne hinaus, wohin sie ihm nicht folgen konnten. Und er würde den Gott so lange nicht ablegen, bis die Tür nicht geöffnet war.
Endlich zogen sie sich ein paar Meter zurück, und er stellte die Figur vorsichtig zu seinen Füßen so auf den Boden, dass er sie sofort wieder an sich reißen konnte. Wie sie es anstellten, die Tür zu öffnen, konnte er nicht erkennen, aber sie schwang auf, und er ging vorsichtig rückwärts die Stufen hinauf, die Waffe auf den glitzernden Gott gerichtet. Er hatte beinahe die Tür erreicht – seine nach hinten gedrehte Hand erfasste ihren Rand – als das Licht plötzlich ausging und der Ansturm einsetzte. Eine vulkanische Explosion der Anstrengung jagte ihn rückwärts durch die Tür, die sich bereits wieder eilig schloss. Im Sprung schoss er das Magazin seiner Waffe in die teuflischen Fratzen, die plötzlich die dunkle Öffnung füllten. Sie lösten sich in rotem Chaos auf, und als er in wilder Flucht aus der äußeren Kaverne rannte, hörte er, wie sich die geheime Tür weich schloss und das Reich des Schreckens von der menschlichen Welt abtrennte.
Im Schein der im Westen versinkenden Sonne taumelte John Reynolds wie ein Betrunkener, klammerte sich an Steinbrocken und Bäumen fest, so wie sich ein Wahnsinniger an der Realität festklammert. Die Anspannung, die ihm Kraft verliehen hatte, als er um sein Leben kämpfte, fiel von ihm ab und hinterließ eine zitternde Schale halb zerrissener Nerven. Ein Kichern, wie von einem Wahnsinnigen, geiferte unwillkürlich über seine Lippen, und er schwankte unkontrolliert und wie ein Irrer lachend hin und her.
Dann trieb ihn das Klappern von Hufen auf Steinen mit einem Satz hinter einen Haufen Felsbrocken. Ein verborgener Instinkt trieb ihn an, Zuflucht zu suchen. Sein Bewusstsein war zu benommen und chaotisch, um klar denken oder handeln zu können.
Jonas McCrill und seine Gefolgsleute ritten auf die Lichtung, und aus Reynolds’ Kehle drang ein Schluchzen. Zuerst erkannte er sie nicht – realisierte nicht, dass er sie schon früher gesehen hatte. Die Fehde und all die anderen normalen Dinge, die seinen Verstand beschäftigten, lagen verloren und vergessen weit hinter ihm in einer düsteren Landschaft jenseits der schwarzen Tunnel des Wahnsinns.
Zwei Gestalten kamen von der anderen Seite der Lichtung geritten – Bill Ord und einer der Banditen, die zu den Gefolgsleuten der McCrills gehörten. An Ords Sattel waren mehrere Stangen Dynamit in einem kompakten Bündel festgeschnallt.
»Na, wer sagt’s denn«, rief der junge Ord, »hab nicht damit gerechnet, euch alle hier zu treffen. Habt ihr ihn erwischt?«
»Nee«, knurrte der alte Jonas, »er hat uns wieder hereingelegt. Sein Pferd haben wir eingefangen, aber er saß nicht darauf. Die Zügel waren zerrissen, scheint, dass er es angebunden hatte und es sich losgerissen hat. Keine Ahnung, wo er ist, aber den kriegen wir schon. Ich werde nach Antelope reiten und noch ein paar von den Boys holen. Holt ihr Sauls Leiche aus der Höhle und folgt mir dann so schnell ihr könnt.«
Er gab seinem Pferd die Sporen und verschwand zwischen den Bäumen, und Reynolds beobachtete entsetzt, wie die anderen vier sich der Kaverne näherten.
»Also, bei Gott!«, rief Jack Solomon wild. »Da ist jemand hier gewesen! Seht her! Da hat jemand die Felsen weggeschafft.«
John Reynolds sah wie gelähmt zu. Wenn er aufsprang und sie anrief, würden sie ihn niederschießen, ehe er seine Warnung herausschreien konnte. Aber nicht das war es, was ihn festhielt, als wäre es ein Schraubstock, es war das schiere Entsetzen, das ihn am Denken und Handeln hinderte und ihm die Zunge im Mund erstarren ließ. Seine Lippen öffneten sich, aber kein Ton kam heraus. Wie in einem Albtraum sah er seine Feinde in der Höhle verschwinden. Ihre Stimmen drangen gedämpft zu ihm.
»Himmel, Saul ist weg!«
»Da, schaut her, Boys, da ist eine Tür in der Wand hinten!«
»Verdammt, die ist offen!«
»Sehen wir nach!«
Plötzlich hallte eine schnelle Folge von Schüssen aus den Tiefen der Hügel – dann entsetzliche Schreie. Und gleich darauf legte sich Stille wie ein klammer Nebel über das Tal der Verlorenen.
Endlich hatte John Reynolds wieder Gewalt über seine Stimme, und er schrie, schrie wie ein verwundetes Tier schreit, schlug sich mit den geballten Fäusten gegen die Schläfen, reckte die Arme zum Himmel und brüllte wortlose Lästerungen hinaus.
Dann lief er mit stolpernden Schritten zu Bill Ords Pferd, das ruhig mit den anderen unter den Bäumen graste. Mit klammen Händen riss er das Bündel Dynamit vom Sattel und stieß, ohne die einzelnen Stangen voneinander zu trennen, mit einem Zweig ein Loch in das Ende der Stange in der Mitte. Dann schnitt er ein kurzes – sehr kurzes – Stück Zündschnur ab und drückte eine Kappe über ein Ende, das er in das Loch im Dynamit schob. In einer Tasche des zusammengerollten, hinter dem Sattel festgebundenen Regenmantels fand er ein Streichholz, zündete die Zündschnur an und schleuderte das Bündel Dynamitstangen in die Höhle. Kaum hatte es die hintere Wand getroffen, als es mit einem Dröhnen wie von einem Erdbeben explodierte.
Die Erschütterung hätte ihn beinahe umgeworfen. Der ganze Berg bebte, und die Decke der Höhle stürzte mit donnerndem Krachen ein, Tonnen über Tonnen von zerschmetterndem Felsgestein krachten herunter und tilgten jede Spur der Geisterhöhle und verschlossen für alle Zeit ihren Eingang.
John Reynolds ging langsam weg, und plötzlich erfasste ihn das ganze Entsetzen, und die Erde unter seinen Füßen kam ihm auf scheußliche Weise lebendig vor, die Sonne über seinem Kopf verunreinigt und lästerlich. Ihr Licht wirkte krank, gelb und böse, und alle Dinge waren von dem unheiligen Wissen beschmutzt, das in seinem Schädel festsaß wie verborgene Trommeln, die unaufhörlich in der Schwärze unter den Hügeln dröhnten.
Er hatte für alle Zeit eine Tür geschlossen, aber welche anderen Albträume mochten an versteckten Orten und in den dunklen Abgründen der Erde lauern und hämisch über die Seelen der Menschen lachen? Sein Wissen war eine stinkende Blasphemie und würde ihn nie ruhen lassen, denn in seiner Seele flüsterten auf ewig die Trommeln, die in jenen dunklen Höhlen grummelten, wo Dämonen auf der Lauer lagen, die einstmals Menschen gewesen waren. Er hatte das ultimative Grauen gesehen, und sein Wissen war ein Makel, der nicht zuließ, dass er jemals wieder rein und sauber vor Menschen trat oder ohne zu schaudern das Fleisch eines lebenden Wesens berührte. Wenn der von Gott geformte Mensch in solche Obszönität versinken konnte, wer konnte dann unerschüttert seine endgültige Bestimmung betrachten? Und wenn Geschöpfe wie das Alte Volk existierten, wie viele andere Scheußlichkeiten mochten dann unter der sichtbaren Oberfläche des Universums hausen? Plötzlich war ihm bewusst, dass er einen Blick auf den grinsenden Schädel unter der Maske des Lebens geworfen hatte und dass jener Blick das Leben unerträglich gemacht hatte. Alle Sicherheit und Stabilität war weggewischt worden und hinterließ in ihm eine wahnsinnige Flut des Irrsinns, des Albtraums und des Grauens, das ihn verfolgte.
John Reynolds zog seinen Revolver, sein schwieliger Daumen zog den schweren Hammer zurück. Er hielt sich den Lauf gegen die Schläfe und drückte ab. Der Schuss hallte krachend über die Hügel, und der letzte der kämpfenden Reynolds kippte vornüber.
Der alte Jonas McCrill war zurückgaloppiert, als er den Schuss hörte, und fand Reynolds dort, wo der seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. Er staunte darüber, in das tote Gesicht eines alten, alten Mannes zu blicken, dessen Haare so weiß waren wie der Raureif.