9. Kapitel

Lilly spürte das Moos unter ihrem Körper. Der Wald roch nach Harz und frischem Grün und saugte die Wärme auf, die der ungewöhnlich warme März als frühes Geschenk mitgebracht hatte. Über ihr, in dem Ausschnitt, den die hohen Tannen auf der kleinen Lichtung freigaben, hatte der Himmel die Farbe, die sie von heißen Sommertagen in ihrer Kindheit auf dem Vorsäß kannte. Ein helles Blau, wie die Möbel in ihrer Puppenstube. Sie rekelte sich auf dem weichen Waldboden und schloss die Augen wieder. Sie liebte diese besonderen Frühlingstage, wenn die Sonne Versprechungen machte, die sie dann im April nicht halten konnte. Neben sich spürte sie Ella. Sie hatte so wie sie die nackten Arme und Beine weit ausgebreitet und die beiden Frauen genossen die wortlose Verbundenheit. Mit der Natur und miteinander. Lilly mochte das Wort Glück nicht. Es war zerredet, erschöpft und vergiftet von den vielen Forderungen, die an ihm klebten. Gleichzeitig hatte sie noch kein anderes Wort für den Zustand gefunden, der in solchen Momenten jede einzelne ihrer Zellen belebte und sie mit ihrem tiefsten Wesen verband.

Morgen würde sie zu Oskar nach Kiel fahren. Allein und als Frau. Das hatte sie sich gewünscht, bevor sie die Osterfeiertage mit der ganzen Familie – Clarissa eingeschlossen – im kleinen Haus am See feiern würden. Lea und Niklas waren bei ihrer Großmutter im Bregenzerwald gut aufgehoben. Sie würde mit ihnen den Stoff dieser Woche lernen, den die beiden Klassen­lehrerinnen den Kindern mitgegeben hatten. Ihre Mutter liebte die beiden Enkel mit einer Innigkeit und Hingabe, die Lilly rührte. Es schien, als versuchte sie an ihnen wiedergutzumachen, was sie bei ihrer Tochter unbewusst versäumt hatte.

Ella und Lilly waren heute auf den Spuren der Waldfrauen oder Beginen unterwegs. Sie hatten sich im 15. Jahrhundert auf dem Hirschberg bei Bregenz angesiedelt und wurden während der Inquisition gezwungen, ihren freien Glauben aufzugeben und in den Klöstern der Umgebung zu leben. Ihre Behausungen waren vom Blitz längst zerstört worden und die kleine, katholische Kapelle unter dem Gipfelkreuz erinnerte nicht an die Frauen, die sich unfreiwillig unter den Schutz der katholischen Kirche begeben hatten.

Einer der schönsten Wege auf den Hirschberg führt über den Kamm des Pfänders mit seiner Postkartenaussicht auf den Bodensee. Von dort tauchten sie in die Tannenwälder ein, die den Grashügel wie einen schützenden Kranz umgaben. Die beiden Frauen mieden den bequemen Pfad, der für die Touristen im Wanderführer bezeichnet war. Sie folgten schmalen, unmarkierten Wegen, streiften durchs Gehölz und fanden immer wieder „Feenplätze“, wie Ella es nannte.

Lilly seufzte, als sie spürte, wie die Feuchtigkeit langsam in ihre Kleider kroch. Vor einer Woche war hier noch Schnee gelegen und der Waldboden hatte sich nur oberflächlich erwärmt. Sie stand auf und holte Ella aus ihrer tiefen Versunkenheit.

„Wir waren Waldfrauen damals“, sagte ihre Freundin mit ­diesem Blick, den Lilly kannte, wenn sie in anderen Welten wanderte. Sie mochte den Gedanken, dass ihre Freundschaft zu Ella vielleicht schon Jahrhunderte alt war.

Auf dem Gipfel war es windig. In der Ferne standen als verlässliche Größen die vertrauten Gipfel des Bregenzerwaldes, allen voran die Kanisfluh, diese mächtige Wächterin über Mellau. Die beiden Frauen blieben nicht lange. Sie aßen ihre Brote, tranken Tee aus der Thermosflasche und folgten dann wieder den geheimen Wegen der Waldwesen, die sie ins Tal führten.

Am Abend gab es glückliche Kinder, die mit ihrer Großmutter die ersten Schneeglöckchen gepflückt hatten, und eine Überraschung für Lilly.

„Ich habe ein Geburtstagsgeschenk für dich, das ich dir jetzt schon geben möchte“, sagte ihre Mutter geheimnisvoll, und Lea und Niklas sprangen sofort vom Tisch auf und rannten voraus zur Scheune, die Lilly seit Jahren nicht mehr betreten hatte.

Früher hatte sie hier mit Ella gespielt, wenn ihre „Waldwohnung“ im Regen zu ungemütlich war. Die beiden Kinder standen vor dem geschlossenen Scheunentor und schienen auf ein Kommando ihrer Großmutter zu warten.

„Ich wollte es dir schon lange schenken und jetzt, wo du öfter nach Kiel fährst, ist es höchste Zeit dafür.“

Ella, die neben den Kindern stand und ebenfalls eingeweiht schien, half ihnen, die schweren Tore zu öffnen, und da stand es. Das weiße Cabrio mit den roten Ledersitzen. Frisch geputzt und wie neu. Ihre Mutter hatte es ein paar Monate nach dem Tod ihres Vaters gekauft. Es war eine Protestaktion, ein Befreiungsschlag, ein Versuch, ihre eigenen Werte zu finden, auch wenn es nur ein Schritt gegen seine Werte gewesen war. Aber das wurde ihr erst später bewusst. Sein Satz „Nur Angeber fahren teure Autos“ hatte dazu geführt, dass er zwar maßgeschneiderte Anzüge und handgemachte Schuhe trug, aber darauf bestanden hatte, ein „bürgerliches“ Auto zu fahren.

Lilly war sprachlos. Sie hatte das Symbol der Freiheit ihrer Mutter immer geliebt, aber sie hätte nie gewagt, darum zu bitten. Es gehörte laut Ella zu den „sakralen Gegenständen“, und sie machte sich manchmal darüber lustig, dass eine „Bergfrau“ in ihrer Scheune ein „Stadtauto“ aufbewahrte. Tatsächlich war ihre Mutter genau eine Woche lang mit dem Cabrio gefahren. Und zwar in die Toskana. Nach dieser Landschaft hatte sie sich immer gesehnt und sich mit ihrer Reise einen alten Traum erfüllt. Als sie zurück war, hatte sie das Auto abgestellt und nur einen einzigen Satz dazu gesagt: „Das ist nichts für mich, ich will keinen Stofffetzen über meinem Kopf, und der Wind macht mich nervös, wenn ich offen fahre.“

Der nächste Morgen war wieder wolkenlos. Die Kanisfluh lag im Schatten, als Lilly am frühen Morgen Mellau verließ und noch tiefer in den Bregenzerwald hineinfuhr. Es war ein unsinniger Umweg und gleichzeitig von einer tiefen inneren Stimmigkeit. Der direkte Weg nach Kiel führte über Bregenz nach Memmingen auf die A7, die Deutschland von Süden nach Norden verband. Das war immer die Wahl ihres Vaters gewesen. Er mochte keine Umwege und Lilly erinnerte sich daran, dass er, wenn Mutter über den Hochtannberg durchs Lechtal nach Wien fahren wollte, kein Verständnis für diesen Firlefanz hatte: „Wir fahren direkt von A nach B, das ist sicherer und schneller.“

Lilly liebte die schmalen Straßen des Hinteren Bregenzerwaldes. Rechts und links stürzten von den Felsen schon die Schmelzwasserbäche ins Tal und vor ihr standen die weißen Bergriesen wie eine Erinnerung an ihre Vergänglichkeit und an ihr kleines Menschsein. Der Schnee trotzte der Sonne noch meterhoch am Straßenrand, und als sie durch Warth kam, standen auf den Terrassen der Hotels schon die Liegestühle bereit, auf denen die Skifahrer am Nachmittag kurzärmelig ihre ersten Drinks bestellen würden. Am Hochtannbergpass dachte sie kurz an ihre letzte Flucht zum Körbersee und seufzte erleichtert. Nie mehr verstecken, nie mehr flüchten. Diese Zeit war endgültig vorbei.

An das, was vielleicht noch vor ihr lag, dachte Lilly nicht. Sie war eine Meisterin der Verdrängung oder vielleicht, wenn man es positiv sehen wollte, hatte sie gelernt, im Augenblick zu leben und jede Minute, in der das Leben unkompliziert war, zu genießen. Die Fakten waren alles andere als rosig. Paolo, der sich ­einige Jahre im Ausland versteckt hatte, war verhaftet worden. Niemand wusste, was ihn dazu bewogen hatte, wieder nach Österreich zurückzukehren. Seither saß er in U-Haft, und der Prozess gegen ihn lief. Das Urteil wurde demnächst erwartet.

Lilly fühlte sich unbeschwert wie ein Kind, das in die Sommerfrische fuhr. Das Cabriolet war ihr neues Spielzeug und die Dörfer am Lech entlang, deren Namen sie schon als kleines Mädchen fasziniert hatten, weckten alte Erinnerungen. Wenn sie mit ihrer Mutter allein nach Wien unterwegs gewesen war, hatten sie immer den Umweg genommen. Sie lächelte, als sie das Ortsschild von Hinterellenbogen las. Sie hatte sich damals gewundert, wie ein ganzes Dorf auf einem Ellenbogen Platz haben sollte und wollte in jedem einzelnen der vielen Straßenorte stehen bleiben und die geschnitzten Figuren vor den Häusern bewundern. In Elbigenalp gab es eine berühmte Holzschnitzereischule. Sie blieb an einer Stelle stehen, wo der Lech nahe an der Straße fließt, setzte sich für einen Augenblick ans Ufer und zog sich die Schuhe aus. Sie hatte keinen Plan. Oskar erwartete sie erst morgen. Sie war nur ein einziges Mal die mehr als tausend Kilometer nach Kiel an einem Tag gefahren, und als sie spät am Abend angekommen war, hatte sie am ganzen Körper vor Anstrengung gezittert und den ganzen nächsten Tag gebraucht, um ihre „Seele nachzuholen“, wie Ella es nannte.

In Reutte in Tirol fuhr Lilly Richtung Füssen und überlegte, ob sie nicht noch bei den Königsschlössern Halt machen sollte. Aber als sie die Autobahnauffahrt sah, kam plötzlich ihre andere Seite durch. Sie fuhr kurz an den Straßenrand, schlang ein Tuch um ihre Haare, und dann hörte sie ihren Vater. Er hatte diese grauen, effizienten Bänder aus Beton geliebt: „Sie verbinden uns so schnell mit der Welt“, hatte er immer gesagt. Seiner Welt. Mutters Wünsche nach Verbindung waren anderer Natur. Sie tankte, trank Kaffee, aß ein Brötchen im Stehen, ging auf die Toilette und fuhr und fuhr. Schnell und wie besessen.

Jetzt ging es ums Ankommen und nicht mehr ums Verweilen. Bis sie nach fast fünf Stunden das Schild „Kassel“ sah. Sie erinnerte sich an die unangenehme Steigung, auf der die Lastwagen im Schneckentempo fuhren, blieb bei der nächsten Raststätte stehen und kaufte sich eine Deutschlandkarte. Die Nomadin, die die Natur liebte, hatte plötzlich genug von grauen Bändern, die Lebensqualität fraßen und dafür Zeit ausspuckten. Sie sah auf der Straßenkarte ein dünnes, blaues Band, das sich in Mäandern weit genug weg von der Autobahn durchs Land bis hinauf nach Bremen schlängelte. Die Weser. Lilly wusste nichts von diesem Fluss, falls er wichtig war, hatte sie es im Erdkundeunterricht verpasst. Es genügte ihr, dass die Straßen schmal und die Orte an seinem Ufer klein aussahen. Hier würde sie irgendwo übernachten. In einem Dorf, das ihr zuwinken würde, so wie das immer war, wenn die Nomadin endlich wieder Raum hatte. Sie dachte weder an Oskar noch an die Kinder, sie war eins mit sich und ihrem weißen Auto mit den roten Ledersitzen. Irgendwann sah sie am Ufer der Weser ein Schild: „Höxter Erholungsgelände“, und beobachtete ein Wohnmobil, das an dieser Stelle abbog. Sie folgte ihm neugierig. Menschen, die ihr Bett mit sich herum­fuhren, parkten meistens an idyllischen Plätzen.

Der kleine See, der eingerahmt von Wiesen und Baumgruppen in der Abendsonne lag, war ein unerwartetes Geschenk. Lilly stellte sich auf einen der markierten Parkplätze, zog sich un­geniert bis auf die Unterhose aus und sprang ins Wasser. Es hatte nicht mehr als zwölf Grad, aber das störte sie nicht. Sie war die eisige Bregenzer Ache gewohnt und liebte das Prickeln auf ihrer Haut, die sich von der Kälte rötete.

Plötzlich waren Lea und Niklas wieder präsent. Hier würde sie von nun an mit ihnen Rast machen, wenn sie ihren Vater im Sommer in Kiel besuchten. Sie sah den beiden grauhaarigen Wohnmobilisten zu, wie sie einen Campingtisch am Seeufer aufstellten und ihn mit Plastiktellern und Gläsern deckten, die von der Weite wie Porzellan aussahen. Sie winkten ihr zu und luden sie zu einem Glas Wein ein. Als sie weiterfuhr, las sie auf der Rückseite des Autos das Schild: „Zum Arbeiten zu alt, zum Sterben zu jung, fürs Reisen topfit.“

Es war nicht zu übersehen, dass das weitläufige Anwesen am Flussufer, in dem Lilly wenig später ein großes Zimmer mit Blick auf die Weser bezog, ein Geheimtipp für Motorradfahrer war. Ein alter Wehrturm, ein Kuh- und ein Pferdestall waren liebevoll zu einem kleinen Hotel mit Restaurant umgebaut worden. Im großen Hof saß eine Gruppe junger Leute in schwarzen Lederhosen in der Abendsonne und trank Bier. Der Besitzer, selber ein passionierter Biker, hatte dieses Paradies geschaffen. Auf der Toilette traf sie eine Frau aus der Gruppe in ihrem Alter, die die insektenverklebte Scheibe ihres Helms wusch.

„Sie können sich gern zu uns setzen, wir essen gleich gemeinsam.“

Es wurde ein feuchtfröhlicher Abend im ehemaligen ­Kuhstall, in dem das Restaurant untergebracht war. Sie trank italienischen Wein, flirtete mit einem der Biker, der gebürtiger Franzose war, und fühlte sich in ihrem neuen, hautengen, pink­-farbenen Kleid, das sie für ihr Treffen mit Oskar gekauft hatte, nach Langem wieder wie eine schöne, begehrenswerte Frau. Später, als sich der Wirt zu ihnen gesellte, erzählte er die Geschichte des ­Platzes.

„Den Wehrturm haben die Mönche des Klosters Corvey, das heute ein Schloss ist, gebaut.“ Er wandte sich seinem neuen Gast zu: „Und in Ihrem Appartement im Erdgeschoss wurden die Gefangenen verwahrt. Ihr Schlafzimmer war der größere und Ihr Bad der kleinere Kerker.“ Lilly wurde blass und sprang auf: „Ich muss sofort telefonieren.“

Das Hoteltelefon für Gäste stand hinter der Bar im Gastraum. Der Wirt schaltete den Zähler ein und Lilly rief in Kiel bei Frau Petersen an. Oskar hatte ihr gestern gesagt, dass er den Abend bei einem Meeting mit den Anwälten verbringen wird, aber er musste jetzt schon wieder zu Hause sein. Seine Zimmerwirtin meldete sich nach langem Läuten, sie hatte wohl schon geschlafen.

„Ihr Mann ist leider nicht da, am besten rufen Sie die Anwältin an.“ Ihre sonst sanfte, weiche Stimme klang brüchig. Die fröhliche Nomadin war mit einem Schlag verschwunden. Lillys Hand zitterte so stark, dass sie die Nummer kaum wählen konnte. „Sie hören den Anrufbeantworter …“, sagte die feste Stimme von Frau Hansen, und als Lilly auflegte, hatte die Panik schon ihr Hirn erreicht. Sie konnte sich kaum an Ralfs Nummer erinnern und betete, dass er zu Hause war. Er hob nach dem ersten Läuten ab. „Gott sei Dank, ich warte schon den ganzen Tag auf deinen Anruf! Oskar ist heute Vormittag verhaftet worden. Du kannst ihn morgen um vierzehn Uhr besuchen. Seine Anwältin lässt dir ausrichten, dass sie dich anschließend sprechen möchte. In ein paar Stunden wird es in allen Zeitungen stehen.“ – „Und die Kinder?“ Lilly taumelte und ließ sich auf einen der antiken Barhocker fallen. Ralfs Stimme klang ruhig, und gleichzeitig spürte Lilly, dass er nervös war. „Ich habe Ella schon verständigt. Sie sagt es deiner Mutter und bringt die Kinder mit ihr aufs Vorsäß, damit sie vor dem Gerede der Nachbarn geschützt sind. Und bitte Lilly, tu jetzt nichts Unüberlegtes! Es macht keinen Sinn, dass du mitten in der Nacht über die Autobahn rast, du kannst Oskar heute nicht mehr helfen.“

Ralfs Stimme hatte ruhig geklungen, weil er Oskars Ver­haftung längst erwartet hatte. Für ihn war es eher eine Über­raschung gewesen, dass die Kieler Behörden ihn nicht sofort, als Paolo Vicente verhaftet worden war, ebenfalls eingesperrt hatten. Er sah Lilly schon lange dabei zu, wie sie mit Scheuklappen durch die Gegend lief und wie eine Löwin ihre drei Jungen verteidigte. Dass eines davon erwachsen war und möglicherweise nicht ganz unschuldig, wollte sie nicht wissen.

Der Stapel mit der ausführlichen Berichterstattung zum „Fall Esmeralda“ wurde immer höher. Die Ordner mit Material, das Ralf gesammelt hatte, teilweise auf illegalen Wegen, füllten inzwischen schon ein ganzes Regal. Er kannte die Wahrheit auch nicht. Aber für ihn war klar: Die beiden Männer waren in dubiose Geschäfte verwickelt. Und eines ihrer Geschäfte war gründlich schiefgegangen. Aus Ralfs Sicht gab es „Oskar, das arme Opfer der Justiz“ so nicht. Aber wenn er versuchte, mit Lilly darüber zu reden, blockte sie ab. Sie sprach nicht darüber, doch ihr bester Freund wusste, was sie sagen würde: „Ich brauche die Sicherheit, dass er unschuldig ist. Alles andere könnte ich nicht ertragen.“

Lilly lag in ihrem Kerkerzimmer im Bett und wartete, bis es Morgen wurde. Der Wirt, der sich wunderte, warum sein fröhlicher Gast plötzlich so verstört war, hatte ihr einen altmodischen Wecker geliehen, den sie nicht brauchte. Es war mitten in der Nacht, als sie wieder aufstand und sich an den kleinen Schreibtisch setzte. Sie schob die Prospekte von Wander- und Kajaktouren zur Seite und schrieb.

12. März 1991

Etwas in mir hat es immer gewusst. Ich habe diese Stimme, die so leise war, dass ich sie im Getriebe meines lauten Lebens ignorieren konnte, gehasst. Sie hat mir Angst gemacht, weil das Wasser, in das ich sehe, wenn ich ihr zuhöre, tief und dunkel ist. Manchmal war die Stimme so stark, dass meine Haut reagiert hat und mich an meine eigenen Grenzen erinnern wollte. Ich habe sie längst verlassen. Ich spüre Oskars Haft, die ein Teil von mir schon lange erwartet hat, in jeder einzelnen meiner Zellen, so als ob ich mit ihm hinter Gittern säße. Während ich diesen Satz schreibe, merke ich, dass das Wort Zelle plötzlich eine doppelte Bedeutung für mich hat. Das Entsetzen lebt in mir und ernährt sich von meinen schrecklichen Gedanken. Ich werde alles für ihn tun, was ein Mensch für einen anderen tun kann. Aber was ist das schon? Ich kann mit den Anwälten reden, ich kann ihn besuchen und ihm seine Kinder ins Gefängnis bringen.

Meine Tränen verwischen die Tinte der Füllfeder, die mir mein Vater zum Schulabschluss geschenkt hat. Die Tinte ist dunkelrot. Ich liebe diese Farbe, aber jetzt, in diesem ehemaligen Kerker, sieht sie aus wie Blut. Lea und Niklas. Ich habe ihnen immer gesagt, dass ihr Vater unschuldig ist. Dieser Glaube ist wichtig für mich und ich bin nicht bereit, auf ihn zu verzichten. Ich kann mit dem Gedanken, dass ihr Vater ein Betrüger oder vielleicht sogar noch etwas Schlimmeres sein könnte, nicht leben.

Ich weiß, dass er nicht getan hat, was ihm vorgeworfen wird. Und dennoch ist das Ungeheuerliche geschehen: Paolo ist dafür verurteilt worden. Ich möchte dieses Urteil vernichten, in alle Stücke zerlegen und mit einem Heer von Anwälten beweisen, dass die Vorwürfe nicht stimmen. Ich kenne ihn, er ist ein Verrückter, aber er ist niemand, der sechs Menschen kaltblütig um die Ecke bringt. Und Oskar kann keiner Fliege etwas zuleide tun. Ich sehe ihn vor mir. So wie er damals war, in der Zeit unserer ersten Liebe. Mein Schenkel ganz nah an seinem, in diesem Restaurant, in dem er mir sagt: „Und glaube mir, es ist die größte Scheiße, dass dieses Schiff gesunken ist.“

Der Satz ist mein Stern, dem ich folge. Und wenn er nicht stimmt? Die Stimme gehört meinem Vater. Ich bin dankbar, dass er „diese Schande“, wie er es nennen würde, nicht mehr miter­leben muss. Er liebte die Gesetze und die Gerechtigkeit und glaubte daran. Ihn würde dieses Urteil darin bestärken, dass ich auf einen „Windhund“ hereingefallen bin, der zusätzlich auch noch ein Verbrecher ist. Ich bin froh, dass ihm das erspart bleibt, und gleichzeitig möchte ich nichts anderes, als dass er das kleine Mädchen, das ich einmal vor langer Zeit war, einfach in den Arm nimmt.

Ralf und vielleicht Rudi, auf seine eigene sperrige Art und Weise, werden von nun an die einzigen Männer sein, an deren Schulter ich mich anlehnen kann. Ich sehne mich nach Oskar. Und gleichzeitig kommt diese kleine, unangenehme Stimme wieder, die mir sagt: „Du konntest dich nie an ihn anlehnen, er hat dich nie getragen.“ Ich verjage die Stimme. Sie macht mich wütend. Ich kann keine Kritik an ihm brauchen. Ich bin seine Hoffnung, sein Schutz, seine Quelle der Kraft.

Ich spüre die Verantwortung und zwinge mich, ruhiger zu werden. Der Fluss ist dunkel und weiß viele Geheimnisse. Er kennt die Gedanken der Menschen, die hier in diesem Kerker, der jetzt mein Schlafzimmer ist, saßen. Schuldig oder unschuldig. Ich werde mich an sein Ufer setzen und warten, bis der Morgen kommt. Am Wasser finde ich die Wesen. Sie leben in der Natur und hüllen mich ein in meiner Verzweiflung.

Im Morgengrauen war Lilly nach einer Fahrt quer durchs Land wieder auf die A7 zurückgekehrt. Es war dasselbe graue Band, doch die Lilly von gestern gab es nicht mehr. Die Nomadin, die in jeder Zelle ihre Abenteuerlust spürte und in den Tag hineinlebte, hatte sich in die Frau des Häftlings verwandelt. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie am Abend mit dem Franzosen geflirtet hatte, während Oskar schon im Gefängnis saß, und trat das ­Gaspedal bis zum Anschlag durch. Das Auto hatte nur 90 PS, aber es reichte, um einige Geschwindigkeitsbegrenzungen zu übertreten.

Sie durfte erst um vierzehn Uhr zu Oskar, aber daran dachte sie nicht. Sie war eine Maschine, die automatisch, wie fern­gesteuert, funktionierte. Sie aß nicht, sie trank nicht, sie spürte nichts. Als sie aufschrak, weil das laute Pfeifgeräusch eines ­Lastwagens, dem sie zu nahe gekommen war, sie aus ihrem ­Sekundenschlaf gerissen hatte, erwachte sie aus ihrer Trance. Sie durfte nicht sterben, auch wenn das vielleicht eine Lösung gewesen wäre.

Lilly lenkte ihren weißen Sportwagen mit den roten Leder­sitzen, der so gar nicht mehr in ihr neues Leben passte, auf den nächsten Parkplatz und holte die geblümte Decke aus dem Kofferraum, die Ella ihr mitgegeben hatte. Sie hörte ihre Stimme: „Und vergiss nicht, dass du dich immer wieder auf eine Wiese legen sollst, das wird dir helfen.“ Sie hatte nicht verstanden, wobei das helfen sollte. Aber sie hatte nicht nachgefragt, und Ella hätte ihr wohl auch keine Antwort gegeben. Sie wusste, wann sie die Bilder, die sie sah, bei sich behalten musste.

Lilly ignorierte die interessierten Blicke der Lastwagenfahrer auf dem Parkplatz, legte sich auf ein winziges Stück Rasen unter den einzigen Baum und schlief sofort ein, den Autoschlüssel fest in der Hand. Als sie nach einer Stunde erwachte, fühlte sie sich erfrischt und fuhr weiter. Sie kaufte sich an der nächsten Tankstelle eine Flasche Wasser, trank einen Kaffee, aß ein Brötchen und tankte.

Ihr war klar, dass sie demnächst das Gefängnis finden musste und dass ihr ohnehin schlechter Orientierungssinn vollständig versagte, wenn sie nervös war. Als sie ihren Tank füllte, sah sie einen Mann, der gerade in sein Auto mit Kieler Kennzeichen stieg. Er nickte, als sie ihn nach der Faeschstraße fragte. „Das ist ganz einfach, fahren sie einfach hinter mir her. Ich muss zum Schützenwall, das ist gleich um die Ecke.“ Es beruhigte Lilly, dass der Fremde die Führung übernahm, doch als er an einer Stelle rechts blinkte, hupte und freundlich winkend weiterfuhr, fühlte sie sich plötzlich verlassen. So, als ob sie einen wichtigen Beschützer verloren hätte. Sie bog ab und fuhr nach ein paar Metern rechts in die Faeschstraße ein.

Plötzlich rumorte es in ihrem Bauch, Angst machte sich breit, und sie brauchte unbedingt eine Toilette. Auf der rechten Straßenseite sah sie die Justizanstalt aus rotem Backstein. Auf der linken Seite stand als hässliches Gegenstück ein großer Supermarkt mit einem halb leeren Parkplatz. Weit und breit kein Café. Bei dem Schild „Nur für Kunden“ parkte sie und rannte durch die gläserne, breite Eingangstür. Sie suchte verzweifelt nach einer Toilette. Vergeblich. Lilly spürte Panik in sich aufsteigen und bat eine Kassierin um Hilfe, die ihr ausnahmsweise mit ihrem Schlüssel die Personaltoilette öffnete.

Erleichtert kehrte sie in die Verkaufsräume zurück und irrte zwischen den Regalen umher. Sollte sie Oskar etwas mitbringen? Sie entschied sich für seine Lieblingsschokolade, Nuss mit Krokant, und stellte sich an der Kasse an. Jede Sekunde, die sie von dem ablenkte, was sie erwartete, war ihr recht. Es war ein Uhr mittags, sie hatte seit dem Brötchen auf der Autobahn nichts gegessen, aber ihr Magen revoltierte schon beim Gedanken an Nahrung.

Dann stand sie endlich unschlüssig vor dem großen Gebäude aus rotem Backstein. Es hatte Würde und Stil und hätte ebenso ein edles Regierungsgebäude sein können. Wenn nicht überall diese hässlichen Gitter wären. Sogar die ovalen Dachfenster ­waren weiß gestreift. Am Rand des Gehsteigs, gegenüber der Justizvollzugsanstalt, lagen zwei Holzpaletten aufeinander, die jemand hier liegen gelassen hatte. Lilly setzte sich und starrte wie betäubt das Gebäude an, in dem Oskar irgendwo in einer Zelle saß. Sie fühlte sich leer, gleichzeitig nahm sie jedes Detail ihrer neuen Umgebung in sich auf. Als müsste sie ihr Gehirn mit ­unwichtigen Informationen füttern, damit die bedrohlichen Gedanken keinen Platz hatten.

Sie registrierte den gemütlichen, halbrunden, turmartigen Vorbau mit dem Blechdach und dem Wappen in der Mitte des Hauses. Die weiße Möwe, die einsam über das Haus flog und nach einer Weile mit einer zweiten Möwe wiederkam. Lilly nahm es als Zeichen, dass Oskar und sie bald wieder vereint sein würden. Und je länger sie dasaß, umso sympathischer wurde ihr das rote Backsteingebäude: Du siehst aus wie eine gemütliche Großmutter mit einer Brosche, dachte Lilly und fragte sich, ob das ovale Wappen unterm Dachgiebel aus Stein gemeißelt war.

Sie stand auf und spürte, wie durch ihre gute Verbindung zu diesem ehrwürdigen Haus ein kleiner Funken Zuversicht in ihr wuchs. „Alles wird gut“, sagte sie laut zu sich selber und ging ein paar Schritte nach links. Und dann sah sie ihn. Den doppelten Stacheldraht, der auf den Mauern des großen Hofes saß. Von den Rollen standen spitze Metallstäbe weg. Es erinnerte sie an die Berliner Mauer, an der so viele Menschen für ihre Freiheit gestorben waren.

Hier würde niemand flüchten. Zwei Bewacher saßen in einem Glaskäfig, der an den alten Backsteinmauern in luftiger Höhe wie ein großes Vogelnest nachträglich festgemacht worden war, und verfolgten jede Bewegung im Hof.

Lilly sah auf ihre Uhr. 13.30. Sie konnte die Wartezeit kaum mehr ertragen. Noch eine halbe Stunde, bis sie Oskar sehen durfte. Sie sah an sich herunter. Was trug eine Frau, wenn sie ihren Mann im Gefängnis besuchte? Die schmale, dunkelblaue Röhrenjeans mit passender Jacke, ein rotes, enges Top, ziemlich tief ausgeschnitten, und die roten Ballerinas waren für Oskar, den Geliebten, gedacht. Aber das pinkfarbene Kleid wäre definitiv noch unpassender gewesen. Würde sie sich jetzt eine körperferne Garderobe zulegen, damit ihre Reize nicht so sichtbar wären? Ein paar unauffällige Klamotten besaß sie noch aus der Fluchtzeit.

Während sie überlegte, hypnotisierte sie gleichzeitig die graue Metalltür, an der „Besucher“ stand, als ob sie sich früher öffnen würde, wenn sie sich nur darauf konzentrierte. Als ihre Augen müde wurden, erweiterte sie ihr Bild, und sie sah zum ersten Mal den unteren Teil des Hauses, den sie bisher ausgeblendet hatte. Die zwei großen, abweisenden Stahltore waren wohl auch erst nachträglich eingebaut worden und wie auf Kommando öffnete sich eines davon und ein vergittertes Auto fuhr heraus. Sie sah durch die Glasscheibe in das graue Gesicht eines Gefangenen und spürte seine Angst. Oder war es ihre Angst?

Kurz danach verließ eine elegante Frau mit blondem, hoch­gestecktem Haar und einer schwarzen Aktentasche in der Hand die Justizvollzugsanstalt. Sie sah entspannt und souverän aus. Der Mann, der weggebracht wurde, konnte nicht mit ihr verwandt sein. Als sie an Lilly vorbeiging, warf sie ihr einen neugierigen, freundlichen Blick zu. Es waren ihre karamellfarbenen Augen, die den Satz möglich machten, der eigentlich gegenüber einer Fremden unpassend war: „Arbeiten Sie hier oder haben Sie jemanden besucht?“

Die Frau blieb überrascht stehen und erklärte sich: „Nein, ich bin Anwältin, der Mann, der wegfuhr, wird in seine Heimat überstellt. Und was machen Sie hier?“ Die Frage kam so direkt, dass Lilly die Fassung verlor und anfing zu weinen. Die Anwältin schien weinende Menschen gewöhnt zu sein. Sie legte ihr die Hand auf den Arm und sagte einfach nur: „Erzählen Sie!“

Es wurde ein Gespräch zwischen gleichaltrigen Frauen, von der jede ihr Schicksal zu bewältigen hatte. Nachdem Lilly ihre Geschichte beendet hatte, fing Saskia an zu erzählen. Von einem Mann, dem sie aus ihrer schwedischen Heimat nach Kiel gefolgt war und der sie nach ein paar Jahren für eine andere verlassen hatte.

Für einen Augenblick tauchte Sybille auf und Lilly versuchte sie gleich wieder wegzuschicken. Sie wollte nicht an diesen Verrat denken. Oskar war jetzt wieder ihr Mann. Die hässliche Stimme in ihrem Kopf meldete sich wieder: „Wenn du dich damals von ihm getrennt hättest, dann stünde jetzt Sybille hier und hätte diese Probleme.“ Lilly verjagte die Stimme und wandte sich wieder Saskia zu, die sie zum Abschied umarmte und ihr ein Bett für die Nacht anbot. „Meine Wohnung ist viel zu groß für mich, seit mein Mann weg ist. Wenn Sie mögen, kommen Sie vorbei.“

Ein Beamter öffnete die Tür, als Lilly um Punkt vierzehn Uhr läutete. Er erkannte sie sofort.

„Warten Sie einen Augenblick.“ Dann rief er in den Hintergrund: „Frau Baldini steht an der Pforte.“ Lilly wunderte sich nicht. Das berühmte Foto, das vor dem Gefängnis in Wien aufgenommen worden war, war auch in den Kieler Zeitungen aufgetaucht.

Den Rest des Rituals erlebte sie wie in Watte gepackt. Sie gab ihren Pass ab, wurde von einer Beamtin nach gefährlichen ­Gegenständen durchsucht und in einen Raum geführt, in dem schon andere Frauen warteten. Sie sperrte ihre Handtasche ­vorschriftsmäßig in eines der Schließfächer ein und behielt nur eine Packung Tempotaschentücher und die Tafel Schokolade bei sich.

Die Handschellen klickten, der Wachvollzugsbeamte führte Oskar aus dem Besprechungszimmer, in dem Lilly eine halbe Stunde zugebracht hatte. Sie folgte ihm auf den schmalen Gang und schaute ihm nach, bis er hinter einer weißen Gittertür verschwand. Bevor er um die Ecke bog, drehte er sich noch einmal um und winkte ihr zaghaft zu.

Lilly spürte, wie die Beine ihr versagten und ließ sich wieder auf den einfachen Holzstuhl fallen. Das mühsam aufrechterhaltene Lächeln, mit dem sie ihrem Mann Mut machen wollte, zerbrach wie eine Maske aus Ton, die unter zu viel Spannung litt.

Sie starrte stumm auf den Heizkörper, dessen Lack an einer Stelle abgeschlagen war, als hätte jemand verzweifelt dagegen getreten, und spürte die Starre, die verhinderte, dass sie ihre ­eigenen Gefühle wahrnehmen musste. Als sie den Blick hob, sah sie zum ersten Mal den grauen, kleinen Hof, den ein Gefangener gerade kehrte. In der Ecke standen die Mülltonnen und unter den vielen vergitterten Fenstern, die den Himmel in Streifen schnitten, standen auf der Mauer in weißer Farbe große Zahlen. Vielleicht die Nummern der Zellen.

Dann hörte sie die Stimme des Beamten im Gang, die einem Kollegen in norddeutschem Dialekt zurief: „Du kannst Frau Baldini wieder abholen.“

Lilly spürte die Blicke der Frauen auf sich, als sie im Warteraum ihre Tasche aus dem Schließfach holte. Es waren andere Frauen als vorher. Sie redeten nicht und starrten bedrückt vor sich hin. Als sie den beiden Kindern, die sich stumm an ihre Mutter ankuschelten, ihre Tafel Schokolade schenkte, die sie Oskar nicht hatte geben dürfen, spürte sie zum ersten Mal ihr Herz. Wund und erschüttert. Lea und Niklas. Bald würden sie hier mit ihr sitzen.

Bevor ihr die Tränen kamen, war der Beamte wieder da. Vorbei an der Pforte, wo zwei andere Beamte sie höflich grüßten und versuchten, ihre Neugierde zu verbergen. Da ging die Frau des Mannes, der angeblich den Tod von mehreren Seeleuten mitverursacht hatte. Groß und schlank, mit einem weißen, blanken Gesicht, in dem sie nichts lesen konnten. Sie war etwas Besonderes. Das spürte sie. In diesem Gefängnis wurden meistens Diebe und andere „Kleinverbrecher“ verwahrt. Angesehene Bürger der Oberschicht, die in einen spektakulären Fall verwickelt waren, sah man hier selten.

Vor dem Tor aus Eisen, das sich hinter ihr schloss, schien die Sonne, als ob im Himmel und auf der Erde alles in Ordnung wäre. Lilly stand wieder vor dem Haus aus rotem Backstein. Allein. Sie sah noch einmal auf die kleinen, vergitterten Fenster. Hinter einem dieser Gucklöcher lebte jetzt Oskar. Sie ging wie eine alte Frau, mit schleppenden Schritten, den Schützenwall entlang Richtung Sophienhöfe.

Frau Hansen, die Anwältin, war entsetzt, als sie Lilly sah. Ihr Gesicht war weiß wie eine Wand und sie sah völlig erschöpft aus. „Um Gottes willen, kommen Sie sofort mit, Sie müssen jetzt erst einmal was essen!“ Sie nahm ihren Mantel, packte die Frau ihres Mandanten am Arm und führte sie in ein Restaurant, in dem es einen Steaktoast auf Salat gab. Sie war eine empathische und gleichzeitig sehr energische Frau, nur ein paar Jahre älter als Lil­ly, und kam, nachdem sie ihr zugehört hatte, ohne Umschweife zur Sache.

„Die Optik ist furchtbar. Die österreichischen Gerichte haben im wahrsten Sinn des Wortes einen kurzen Prozess gemacht. Paolo Vicente ist verurteilt worden, kein Gericht der Welt wird sich jetzt trauen, Ihren Mann so einfach aus der U-Haft zu entlassen. Die deutschen Behörden haben von ihren Kollegen in Wien Tonnen von belastendem Material übernommen.“

Lilly hatte längst auf Durchzug geschaltet und ihre bewährte Schutzmauer hochgezogen. Sie kehrte erst zurück, als Frau Hansen mit Paolos und Oskars angeblichem Sündenregister fertig war, und sagte: „Wir werden alles tun, um ihm zu helfen. Aber wir brauchen Zeit. Sie müssen sich auf eine längere Haft einrichten.“ Lilly fragte nicht, was „länger“ bedeutete, bedankte sich bei der engagierten Anwältin und ging. Wie betäubt lief sie die Straßen entlang, die von nun an zu ihrem Alltag gehören würden, zu Fuß zurück zur Justizvollzugsanstalt. Dann saß sie eine Stunde lang einfach still in ihrem Auto und war dankbar für den Geruch der roten Ledersitze. Es war im Augenblick das einzig Vertraute in ihrem Leben. Auf der kurzen Strecke zum Kronshagener Weg, wo Frau Petersen, bei der Oskar ein Zimmer gemietet hatte, wohnte, verfuhr sie sich dreimal und läutete dann erschöpft an der Tür.

Wasserblaue, fast kindliche Augen, umrahmt von sorgfältig ­frisierten grauen Locken, sahen sie mitfühlend und gleichzeitig fragend an. Lilly spürte die Sorge der alten Dame, die auf die achtzig zugehen musste. Ihre Starre löste sich in einer Tränenflut auf und sie weinte in den Armen dieser Großmutter, die ihre ­eigene hätte sein können, und die ihr hilflos den Rücken tätschelte.

Heide Petersen war praktisch veranlagt. Sie kochte ihr einen starken Kaffee und zwang ihr ein Stück selbst gebackenen Streuselkuchen auf. Dann bot sie ihr das Du an und fragte mit leiser Stimme, wie es Oskar ging. „Beschissen“, hätte Lilly antworten müssen. Aber sie sah die Angst um ihn in den Augen der alten Frau und sagte: „Den Umständen entsprechend gut.“

Heide Petersen nickte erleichtert. Sie hatte ihren Untermieter, diesen Mann, der durch eine Zeitungsannonce in ihr Leben geschneit war, in ihrer eigenen Einsamkeit adoptiert. Jetzt adoptierte sie Lilly und bot ihr freizügig ihr Telefon an.

Ella hob sofort ab. Es tat gut, ihre vertraute Stimme zu hören, und als Lilly wieder auflegte, wusste sie, was sie zu tun hatte. Heide zeigte ihr das Zimmer und schloss diskret die Tür hinter sich. Es roch nach Oskar. Nach seinem Aftershave und so, wie er eben roch. Unverwechselbar. Seine Anzüge und eine braune Lederjacke hingen im Schrank und in den Regalen lagen fein säuberlich nach Farben sortiert seine Hemden und Pullover. Lilly nahm seinen Pyjama, der auf dem Bett lag, und verbarg für einen Augenblick ihr Gesicht darin. Dann ging sie entschlossen ins Wohnzimmer zurück.

„Ich kann hier heute nicht schlafen, ich muss in die Natur.“ Ella hatte recht. Wenn sie jetzt irgendwo gut aufgehoben war, dann am Meer. Eine Stunde später stand Lilly an der Steilküste der Kieler Außenförde. Es war immer noch überraschend warm für einen Tag im März. Sie hatte ihr Auto in Laboe, dem kleinen Ostseebad, vor einem unauffälligen Hotel am Ortsrand abgestellt, ein Zimmer genommen und, ohne ihr Gepäck auszuladen, nur den Zimmerschlüssel, ihre Handtasche und die geblümte Decke mitgenommen.

Sie sah den letzten schmalen Sonnenstreifen zwischen Schilksee und Strande auf der anderen Seite der Förde versinken und ging oben auf den Klippen den schmalen Pfad weiter nach Stein. Sie kannte die Gegend. Hier war sie mit Oskar und den Kindern manchmal mit dem Rad hergefahren. Damals hatten sie immer in den Sanddünen Rast gemacht.

Lilly fand die Stelle wieder und breitete ihre geblümte Decke aus. Sie legte sich mit einem tiefen Seufzer hin und spürte zum ersten Mal an diesem Tag ihren geschundenen Körper. Fünfhundert Kilometer Autobahn, emotionaler Super-GAU, wenig Essen. Sie streckte sich bewusst, dachte an das Moosbeet, in dem sie mit Ella auf dem Weg zum Hirschberg vorgestern noch so unbeschwert gewesen war, breitete ihre Arme und Beine aus und hörte den Wellen zu. Sie erzählten ihr, dass dieser Augenblick nur ein kleiner Tropfen im Ozean war. Vergänglich.

Es war schon dunkel, als sie wieder in Laboe ankam und sich in das einzige noch geöffnete Lokal in der Nähe des Hotels setzte. Sie bestellte ein Glas Wein, Tortellini mit Pilzfüllung und holte ihr Tagebuch heraus. Sie war der einzige Gast und der Kellner, der gerade ankam, um sie zu unterhalten, zog sich wieder hinter die Bar zurück.

Kiel, 12. März 1991

Ich werde morgen im Gefängnis nicht weinen. Ich erlaube, dass ein Panzer um mein Herz wächst, und ich bin dankbar dafür. Ich sehe das Bild des Roboters aus Metall vor mir, den Niklas von seiner Großmutter zu Weihnachten bekommen hat. Man kann ihn aufziehen und er läuft.

Ich spüre noch jetzt diesen Moment, als ich an der Pforte der Justizvollzugsanstalt läute. Die Welt, in der Kinder ihr erstes Eis essen, Paare auf Parkbänken in der Sonne sitzen, Hosenbeine beim Radfahren hochgekrempelt werden, Menschen mit Aktentaschen zum Mittagessen gehen oder vor dem Supermarkt parken, um ihre Einkäufe zu erledigen, endet hier.

Ich sperre meine Tasche in eines der Schließfächer und sitze mit der Schokolade für Oskar in der Hand einfach nur still da. Mein Kopf ist leer. Ich darf nicht daran denken, was es bedeutet, dass ich hier warte.

Ich versuche, zu beten. Ich brauche die Unterstützung der Wesen, wenn ich Oskar begegne. Aber es ist schwer. Mein Schutzpanzer schließt alles aus, auch die Hilfe von oben.

Dann kommt endlich der Beamte und holt mich ab. Er sieht die Tafel Schokolade in meiner Hand und sagt freundlich: „Die dürfen Sie leider nicht mitnehmen, das geht nur mit richterlicher Bewilligung.“ Er zeigt auf einen Automaten: „Hier können Sie sich aus einem der Fächer Süßigkeiten ziehen.“ Ich starre auf Schokoriegel und Nussschnitten und begreife kaum, dass von nun an neue Regeln gelten.

Oskar wartet schon in dem kleinen Raum. Ich sehe, dass sein Kiefer so angespannt ist, als hätte er eine Staumauer aus Beton errichtet, damit seine Mimik nicht entgleist. Auch er will nicht weinen. Nicht vor diesem Beamten, der jede Bewegung mit seinen wachsamen Augen aufzeichnet. Wir sitzen einander gegenüber. Der kleine Tisch aus Holz ist nicht die Barriere, die uns trennt. Es ist unsere Furcht, dass wir zerbrechen, wenn wir unsere Verzweiflung zulassen. Nach einer Weile hebe ich vorsichtig meine Hand und berühre Oskars Gesicht. Der macht eine kleine Bewegung nach hinten, entzieht sich mir und sagt leise: „Bitte nicht.“

Lilly erwachte aus einem tiefen Erschöpfungsschlaf und wusste im ersten Augenblick nicht, wo sie war. Erst als ihr Körper sie daran erinnerte, dass ein schwerer Druck auf ihr lastete, kamen mit einem Schlag alle Bilder zurück. Oskar im Gefängnis. Seine Verzweiflung und ihre Verzweiflung, die sich verbanden und als dunkle Schicht über ihrer Begegnung lagen. Kein Kontakt. Sie nahm das Wort in die Hand und zerlegte es – Kon-Takt, im Takt. Ihr Leben war völlig aus dem Takt geraten.

Als Lilly am Morgen das Hotel verließ, lag eine dichte Wolkendecke über der Kieler Förde. Das passte besser zu ihrer Stimmung als dieser blanke, blaue Himmel, der seit Tagen über ganz Europa gestrahlt hatte. Sie fuhr in ihrem Cabrio am Meer entlang und hatte doch keinen Blick für die weißen Ozeandampfer, die die Stadt wie Wahrzeichen schmückten, weil der Krieg wenig interessante Gebäude übrig gelassen hatte.

In wenigen Minuten würde sie vor der Justizvollzugsanstalt aussteigen müssen. Wie sollte sie Oskar gegenübertreten? Es war ein Privileg, dass ihr ein zweiter Besuch gewährt wurde, weil sie mehr als tausend Kilometer angereist war, aber es war gleich­zeitig auch eine Last. Sie sehnte sich nach Ella, Ralf und Johanna und spürte ihre Einsamkeit, die in dem Hohlraum in ihrem Magen saß.

Sie wollte mit aller Gewalt frühstücken, aber als sie vor dem kleinen Buffet stand, war der Brechreiz aus Nervosität stärker als ihre Disziplin. Wenn Lilly ganz verzweifelt war, sprach sie laut mit sich selber, als ob sie sich an ihrer eigenen Stimme festhalten könnte: „Ihr Wesen, bitte helft mir, ich brauche jemanden, der mich unterstützt, ich schaffe das hier nicht allein.“

Plötzlich sah sie Hilde Klar vor sich. Sie hatte sich ihren Nachnamen bei dem Traumaseminar in Frankreich sofort gemerkt, weil sie es witzig fand, dass eine Bewusstseinstrainerin die Klarheit in ihrem Namen trug. Hilde war die zweite Frau, mit der sie in Lyon die Adresse getauscht hatte. Aber das Leben war schnell und Kiel für ein Wiedersehen zu weit weg. Sie hatten noch ein- oder zweimal miteinander telefoniert und dann war der Kontakt eingeschlafen.

Lilly fuhr bei der nächsten Telefonzelle rechts heran und holte ihr kleines, ledernes Telefonbuch aus der Handtasche. Als sie die helle Stimme hörte, war jede höfliche Floskel überflüssig. „Ich bin Lilly aus Wien, und ich bin in Not, kann ich heute Nachmittag vorbeikommen?“

Oskar saß wieder in dem kleinen Raum mit den vergitterten Fenstern. Es war ein anderer Beamter da, der Lilly neugierig musterte und sich gleichzeitig bemühte, dezent wegzuschauen. Lilly fragte sich, ob sie sich je daran gewöhnen konnte, dass ­jemand sie beobachtete, während sie sich bemühte, ihr Herz zu öffnen. Konnte man es wirklich erreichen, dass die Augen der Bewacher hinter einer imaginären Wand verschwanden? Sie wünschte sich, sie hätte von Ella mehr über Magie gelernt. Sie spürte die Energie des Beamten, dem das Eindringen in ihre Intimität unangenehm war, und hielt sich an Oskars Gesicht fest, als ob es ihr helfen könnte, das zweite Gesicht im Raum auszublenden.

Jetzt erst bemerkte sie, dass die Furchen in seinem Gesicht noch tiefer als früher waren und seine Augen ihren Glanz ver­loren hatten. Seine Stimme klang gepresst, und wenn er schwieg, sah sie, wie sich sein Kiefer unter der Spannung bewegte. Sie durften einander umarmen, das war erlaubt. Aber auch heute spürte Lilly die gegenseitige Schutzmauer, die sie vor dem Zusammenbruch schützte. Sie rettete sich in praktische Details und sprach mit ihm über das Konto, das sie für ihn in der Zahlstelle eröffnen würde, damit er sich im Gefängnis Dinge des Alltags kaufen konnte. Als sie ging, war ihr Zettel voll mit Aufträgen, die Gott sei Dank einige Zeit in Anspruch nehmen würden: Joggingschuhe für den Hofgang, ein Wasserkocher, ein Pyjama, ein bestimmtes Rasierwasser, Kerzen, Kräutertee.

Eine Stunde später saß Lilly wieder in ihrem Auto und versuchte das Zittern ihrer Hände in den Griff zu bekommen. Dann holte sie den Stadtplan von Kiel, den sie im Hotel be­kommen hatte, aus dem Handschuhfach und suchte die Straße, in der Hilde Klar lebte. Es war eine Fügung, dass der Hasseldieksdammer Weg nur wenige Häuserblocks vom Gefängnis entfernt lag.

Als sie eingeparkt hatte und vor der Haustür stand, sah sie links einen Blumenladen. Sie stand vor den vielen Töpfen, in denen schon die ersten Tulpen, Narzissen und Himmelschlüssel auf hungrige Gärten warteten, und konnte sich nicht entscheiden. Sie dachte an Hilde. Sie hatte blonde, sorgfältig frisierte, fast kinnlange Haare und blaue Augen, die jeden, der ihr begegnete, freundlich, aber ungeniert musterten. Sie war so groß wie sie, was ungewöhnlich war, und kleidete sich in einer Mischung aus sportlich und elegant.

Plötzlich kamen ihr Zweifel. Sie sehnte sich nach Hilfe, und gleichzeitig war ihre Haut so dünn, dass sie Angst davor hatte. Lilly stellte den Topf mit den Schneeglöckchen wieder auf den Boden zu den anderen. Doch dann hörte sie plötzlich eine innere Stimme. Sie war sanft, aber bestimmt: „Du sollst ihr Blumen bringen.“ Lilly betrat den kleinen Blumenladen erneut und schaute sich um. Sie spürte, dass es ein ganz bestimmter Strauß sein musste, und versuchte sich ganz leer zu machen, damit ihre Hand der Fügung folgen konnte. Sie vertraute diesen Fugen inzwischen, die Raum schafften für eine höhere Ordnung. Es dauerte eine Weile, aber dann war es ganz klar. Sie griff nach gelben Tulpen. Das passte zu Hilde.

Sie öffnete die Wohnungstüre, und ihr Lachen perlte durchs Stiegenhaus, sodass jemand einen Stock tiefer neugierig die Tür öffnete.

„Wie unglaublich, dass du mir genau gelbe Tulpen bringst. Ich habe mir gerade überlegt, ob ich es noch schaffe, welche zu holen, bevor du kommst.“ Hilde winkte Lilly herein, führte sie in die Küche und öffnete die kleine Mülltonne unter dem Abwasch: „Ich habe die alten Blumen soeben entsorgt, und jetzt lass dich umarmen.“

Lillys Körper entspannte sich. „Richtig gelandet“, sagte die Stimme in ihr, und sie nickte dankbar. Hilde kam ohne Umschweife zur Sache und deutete auf ihr Sofa. „Jetzt trinken wir erst mal eine schöne Tasse Kaffee, und dann erzählst du mir, was dich nach Kiel geführt hat.“

Bis sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte, schaffte es Lilly noch, ihre Gefühle zu unterdrücken, und erzählte in knappen Worten ihr Schicksal. Doch je mitfühlender Hilde zuhörte, desto mehr bröckelte ihre Fassade, und irgendwann fing sie bitterlich an zu weinen. Da nahm sie Hilde in den Arm und Lilly wusste, dass sie eine mütterliche Freundin gewonnen hatte, auch wenn sie nur ein paar Jahre älter war als sie.

Später lag sie auf dem Sofa. Die Stimme, die zu ihr sprach, war fremd und gleichzeitig vertraut. Lilly kannte dieses Tor, das sich zu anderen Welten öffnete, von Ralfs spiritueller Lehrerin in Wien. Irgendwann hatte sie ihren Widerstand aufgegeben und war in den Außenbezirk gefahren, wo Irene lebte. Diese wunderbare Frau, die sie gestärkt und immer wieder getragen hatte, wenn die Bürde zu groß wurde. Sie verdankte ihr einen Großteil ihrer Stabilität. Und bevor sie die Augen schloss, schickte sie ihr einen innigen Gruß.

Es waren klare Worte, die Hilde mit veränderter Stimme sprach. Lilly hörte, dass sie auf einer anderen Ebene, noch ehe sie geboren war, zugestimmt hatte, ihr Schicksal auf diese Weise mit Oskar zu verknüpfen. „Es ist alles im Plan. Dein Mann hat die Chance, im Gefängnis seine Persönlichkeit zu transformieren, und du, die du ihn dabei begleitest, wirst stark und gleichzeitig frei werden. Noch bist du abhängig von ihm, fast wie ein Hund, der seinem Herrn gehorcht.“

Der Weg von Laboe zu dem kleinen Ort, der heute ihr Ziel war, führt immer am Wasser entlang. Lilly hatte sich am Nachmittag ein Rad gemietet und fuhr zu Anke. Sie hatte Oskar, Lilly und die Kinder vor zwei Jahren, ohne nach dem Grund zu fra­gen, aufgenommen. Das war damals, als sie an Ostern aus dem Appartement in Schilk­see flüchten mussten, weil die Medien erfahren hatten, dass er sich in Kiel versteckt hielt. Oskar und Niklas waren geblieben, und erst als die Termine mit den Anwälten immer dichter wurden und sein Sohn nach Wien zurückkehrte, hatte er in der Nähe der Innenstadt bei Frau Petersen ein Zimmer gemietet. Jetzt öffnete Anke die Türe und trug eines ihrer naturfarbenen Leinenkleider, unter denen sie je nach Jahreszeit nichts oder dünne Wollpullis trug. Im Wohnzimmer mit Blick in den verwilderten Garten fragte Lilly und nahm einen großen Schluck Tee aus der geblümten Tasse.

„Wie haben Oskar und Niklas hier gelebt?“ Anke sah sie mit einem prüfenden Blick aus ihren grauen Augen an, als ob sie sicher sein wollte, wie viel Wahrheit Lilly verkraften konnte. Dann antwortete sie. „Oskar war wie ein Mönch. Er trug meistens schwarze, einfache Hosen und T-Shirts aus Baumwolle. Sein Zimmer war karg eingerichtet und er kochte einfache, bescheidene Gerichte für sich und Niklas. Wenn er dann aus dem Haus ging, war er ein anderer. Als ob er dann seine zweite Persönlichkeit mit dem Anzug aus dem Schrank holte und sich in eine Scheinwelt begab, in der er seine Rolle spielte. Souverän, ein großer Mann von Welt.“

„Und wie war Niklas?“, fragte Lilly.

„Er war viel zu erwachsen für sein Alter. Er fühlte sich für seinen Vater zuständig, und ich hatte das Gefühl, dass hier die Rollen vertauscht waren, obwohl er in dem Jahr, als er hier lebte, erst sieben wurde. Sein Vater war oft weg und ließ ihn bei mir. Wenn er dann allein einschlafen musste, kaute er an seinem Kissenzipfel, bis er durchgebissen war.“

Lilly hörte zu und schämte sich nicht, dass ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Anke hielt inne. „Ich sollte dir das nicht erzählen, du bist ohnehin so belastet.“ – „Bitte, sprich weiter“, antwortete Lilly und spürte, dass es Zeit war, auch diese Illusion zu beenden. Nicht nur Lea war belastet. Es gab keine glücklichen Kinder in dieser Inszenierung, auch wenn es bei ihrem Sohn manchmal so aussah.

„Oskar spielte viel mit Niklas. Aber es war auch so eine Art Überlebenstraining. Er brachte ihm bei, ganz schnell auf Bäume zu klettern, und der Junge trug immer einen Zettel mit deiner und Ralfs Telefonnummer bei sich. Sein Vater hatte ihm eingeschärft, dass er sich sofort, falls die Polizei an der Tür läutete, verstecken und dann einen von euch anrufen sollte. Er liebte Bäume. Es machte ihm richtig Spaß, bis in die Kronen zu klettern. Er war wie ein kleiner Affe und ich hatte schon Angst beim Zusehen.“

Lilly verstand plötzlich vieles. Die Kindergärtnerinnen hatten sich nach Niklas’ Rückkehr darüber beschwert, dass er immer nur in den Bäumen saß und nicht herunterkommen wollte, um mit anderen Kindern zu spielen.

Lilly putzte sich die Nase und sagte leise: „Ich wusste das alles nicht.“ Anke sagte sanft: „Du wolltest es nicht wissen. Wir haben einmal miteinander telefoniert und ich habe dir gesagt, dass Niklas zu klein ist, um so ein Leben zu führen. Damals hast du mir geantwortet, dass Oskar seinen Sohn und sein Sohn ihn brauche.“ Lilly wusste, dass sie recht hatte, und nickte stumm.

Es war längst dunkel, als sie, viel zu dünn angezogen, auf ­ihrem Leihfahrrad zurück nach Laboe fuhr. Die Kälte und die Einsamkeit krochen in ihren Körper und ihr Herz und sie sehnte sich verzweifelt nach ihren Kindern. Das Meer schickte ihr den Klang der Wellen als Trost und trug ein paar beleuchtete Schiffe wie glitzernde Schmuckstücke. Aber Lilly hatte die Verbindung zu ihm verloren und fühlte sich auf ihrem dunklen Weg entlang des Ufers bedroht. Hatte sie ihre Kinder verraten, um Oskar das Leben leichter zu machen? Sie mitgeschleppt auf seinen Fluchtwegen, ihren Sohn bei ihm gelassen, damit die Einsamkeit ihn nicht auffraß? Die Wesen schwiegen.

Am nächsten Tag war alles getan, was sie tun konnte. Oskar hatte ein Konto im Gefängnis, die Dinge des Alltags waren vom Richter bewilligt worden und schon in seiner Zelle, die Anwälte hatten ihr die nächsten Schritte erklärt. Ihr Mann würde bis zum Prozess in U-Haft bleiben müssen und wie lange das dauerte, wagten sie nicht einmal zu schätzen. Lilly lag wach im Nachtzug nach Wien. Ihr Auto fuhr auf einem Güterwaggon mit ihr und morgen Abend würde sie ihre Kinder im Arm halten. Ihre Mutter hatte sich bereit erklärt, sie nach Wien zu bringen.

Das Rattern des Zuges mischte sich mit ihren Gedanken, die immer nur um eines kreisten: Oskar und die Kinder. Mitten in der Nacht setzte sie sich auf und holte ihr Tagebuch heraus.

14. März 1991

Die Ungewissheit ist das Schlimmste. Ich weiß nicht, ob er nur ein paar Monate in diesem roten Backsteinhaus in einer Zelle auf seine Freiheit warten wird oder ein paar Jahre. Wie viele Jahre? Ein ganzes Leben lang?

Heute haben wir uns das erste Mal umarmt. Wie Hänsel und Gretel im dunklen Wald. Ich bereue jede Minute, in der ich Oskar in diesen drei Tagen nicht berührt, nicht geküsst habe. So viel vergeudete Zeit. Als unser Panzer bricht, ist uns der Beamte plötzlich egal. Unsere Hände zittern, als wir einander streicheln und Worte stammeln, die wir schon lange nicht mehr ausgesprochen haben. Ist es normal, dass ich meine Liebe am meisten spüre, wenn sie wehtut?

Die Zeit zwischen den Besuchen nütze ich für Einkäufe. Hilde schleppt mich durch die Sophienhöfe wie ein kleines Kind, das man an der Hand nehmen muss. Wasserkocher grün oder weiß? Pyjama aus Baumwolle oder mit Kunstfaser gemischt? Joggingschuhe blau oder schwarz? Ich sage mit Watte im Kopf Ja und Nein und bin froh, dass alles, wozu ich keine sichere Meinung habe, von ihr entschieden wird. Ihr herzliches Lachen ist mein einziger Trost, und als sie sagt: „Ich muss wohl in einem früheren Leben deine Mutter gewesen sein“, und ihren Arm um meine Schultern legt, fühle ich mich nach langer Zeit wieder für einen Moment geborgen.

Dann kommt der Besuch beim Richter. Ich bereite mich vor und ziehe meinen Panzer und ein schwarzes, elegantes Kostüm an, das ich mit Hilde im Sophienhof gekauft habe. Es wird mich daran erinnern, dass wir geschäftlich reden. Sein Geschäft sind die Gefangenen in der Untersuchungshaft. Er kann ihnen das Leben leicht oder schwer machen, ganz wie er will, im Rahmen der Gesetze.

Am Anfang ist er streng. Er sagt mir, dass viele Gefangene ihre Familien öfter sehen wollen, dass zwei Stunden im Monat die Regel sind, dass Ausnahmen zur Unruhe im Gefängnisalltag führen. Seine Stimme klingt abwehrend unter seiner Sachlichkeit. Ich verstehe, dass er längst immun ist gegen das Leid der Angehörigen, sonst könnte er seine Arbeit nicht ertragen. Ich habe mir vorgenommen, nicht zu weinen und meine wohlgesetzten Worte mit Hilde trainiert. Aber dann sage ich die Namen meiner Kinder und ein Sturzbach rinnt aus meinen Augen: „Sie müssen Lea und Niklas öfter zu ihrem Vater lassen. Ich kann es nicht ertragen, dass ihre Seelen noch mehr Schaden nehmen, als sie ohnehin schon zu verkraften haben. Wissen Sie, was es bedeutet, wenn ich mit ihnen zwölfhundert Kilometer fahre, damit sie ihn sehen können?“ Ich fühle mich schwach und stark zugleich. Wie eine verwundete Löwin, die um das Leben ihrer Jungen kämpft. Meine Entschlossenheit ist so stark, ich würde sofort vor dem Gefängnis in Hungerstreik treten, damit er nachgibt.

Wir dürften Oskar in den Sommerferien jeden zweiten Tag besuchen, sagt der Richter plötzlich mit gütiger Stimme und ich muss mich zurückhalten, damit ich ihm nicht vor Erleichterung um den Hals falle, als er mich zur Tür begleitet.

Lea und Niklas. Ich sehne mich danach, sie im Arm zu halten, und gleichzeitig habe ich Angst davor. Sie waren glücklich auf dem Vorsäß mit ihrer Großmutter und Ella. Sie wissen nicht, dass ihr Vater verhaftet wurde. Heute Abend muss ich ihnen die Wahrheit sagen.

Der Zug mit den Kindern aus Bregenz hatte Verspätung. Lilly tigerte am Bahnsteig auf und ab wie ein gereiztes Tier im Käfig. Sie übte Sätze ein und verwarf sie wieder. Wie sagt man Kindern, dass ihr Vater im Gefängnis sitzt und niemand weiß, wann er wieder frei sein wird? Die Angst, dass die deutsche Gerichtsbarkeit sich der österreichischen anschließen könnte, lebte in ihr wie ein ungebetener Gast, der sich weigerte, das Haus wieder zu verlassen.

Sie holte sich eine Tasse Kaffee am Buffet, und dann sah sie den Galeriebesitzer, der so gern Gast bei Paolos Festen gewesen war. Er kam mit einem großen Koffer auf sie zu und Lilly war so froh, jemanden Vertrauten zu sehen, dass sie schon von Weitem winkte. Er runzelte die Stirn, änderte die Richtung und steckte sein Gesicht ganz tief in die Auslage des Zeitungskiosks. Für ­einen Augenblick erlaubte sie sich den Gedanken, dass er ihr nur zufällig ausgewichen war. In diesem Augenblick hob er seinen Kopf, ihre Augen trafen sich für eine Sekunde, und dann schaute er wieder weg.

Das war es also, was sie jetzt erwartete. Noch mehr als vorher. Paolos Stern war endgültig untergegangen – und mit ihm Oskars. Die Freunde von damals trafen eine neue Wahl: mit dem Strom der Verurteilung oder gegen den Strom. Bleiben Freunde nicht Freunde?

Als der Zug aus Bregenz einfuhr, steckte Lilly alle düsteren Gedanken weg und stand am Bahnsteig, die Arme weit ausgebreitet. Lea und Niklas liefen auf sie zu, die kleinen Rucksäcke wippten auf ihrem Rücken, in der Hand hielten sie ein buntes Windrad und riefen: „Mami, Mami, Mami!“

Im Hintergrund sah sie, als sie ihre Kinder umarmte, aus den Augenwinkeln ihre Mutter. Mit einem ernsten, sorgenvollen Gesicht. Sie hatte offensichtlich für einen Augenblick vergessen, dass sie sich verstellen wollte.

„Ich kann von ihr nichts erwarten“, murmelte Lilly. „Sie muss ich nun auch trösten.“

15. März 1991

Sie schlafen. Niklas mit dem Kissenzipfel im Mund, wie es Anke mir erzählt hat. Ich kenne ihn so nicht. Leas Gesicht ist selbst im Schlaf nicht entspannt. Sie hat, als ich mit ihnen auf dem weißen Sofa sitze und ihnen die Wahrheit sage, sofort nach der Hand ihres Bruders gegriffen, als ob sie es wäre, die ihn schützen muss. Sie haben beide nicht geweint. Sie wissen, dass es für mich schlimm ist, ihre Tränen zu sehen. Ich wünschte, sie könnten ihr Entsetzen zeigen, und gleichzeitig weiß ich, dass es mir das Herz brechen würde. Wir spielen einander alle etwas vor. Auch meine Mutter. Sie ist tapfer und verständnisvoll und versucht mich zu umarmen, als die Kinder im Bett sind. Ich empfinde ihre Berührung als Last, als etwas, was mich noch mehr Kraft kostet. Ich sehne mich nach meinen Freunden.

Es läutet an der Tür. Ralf ist da. Endlich. Ich lege mich in seinen Arm wie ein verlassenes Kind. Meine Mutter ist eifersüchtig: „Dann kann ich ja ins Bett gehen, wenn du mich nicht mehr brauchst.“ Ich weiß, dass es ungerecht ist, sie tut ihr Bestes. Aber ich bin froh, als sich die Tür hinter ihr schließt.

„Du hast es immer gewusst“, sage ich in seine weiche Brust hinein und weine sein Hemd nass. „Ja.“ Er sagt es so, dass das kleine Wort die ganze Geschichte der letzten Jahre erzählt. Ich frage ihn nicht, ob er Oskar für unschuldig hält. Ich will seine Wahrheit nicht wissen. Es genügt mir, dass er mich liebt und zu mir hält.

17. März 1991

Ich feiere meinen Geburtstag nicht. Es gibt nichts zu feiern. Am liebsten würde ich im Bett liegen bleiben und einfach nie mehr aufstehen. Ob man das Depression nennt? Ich tappe in meiner inneren Dunkelheit herum und finde den Ausgang nicht.

Dann geht plötzlich die Tür auf. Lea und Niklas, beide im Pyjama, tragen gemeinsam eine Geburtstagstorte herein, auf der ein buntes Haus aus Karton steht, dessen Grundmauern schon etwas fettig von der Schokoladenglasur sind. Vor dem Haus stehen in einer Blumenwiese aus grünem Marzipan vier Menschen aus Pappmaschee. Und damit kein Irrtum aufkommt, wer sie sind, hat Lea in ihrer schönen, akkuraten Schreibschrift kleine Zettelchen auf Zahnstochern aufgespießt, auf denen Mama, Papa, Lea und Niklas steht. Das Einzige, was nicht der Realität entspricht: Es gibt auch einen Hund. Er ist schwarz, mit einem weißen Fleck auf der Brust und heißt Bimba.

Während sie „Happy Birthday“ singen, stellen sie ihre Torte auf meinen Nachttisch und springen ins Bett. Als hinter ihnen meine Mutter ins Zimmer kommt und mit ihrer dunklen, schönen Stimme „Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen“ anstimmt, singen Lea und Niklas inbrünstig mit.

Das Licht ist wieder da. Ich werde alles dafür tun, damit diese Kinder ein gutes Leben haben.

29. März 1991

Karfreitag. Wer jemals die Frau eines Beschuldigten war, weiß, was das im Alltag bedeutet. Die anderen, die sich in ihrer Unschuld sonnen, können nicht mitreden. Sie wissen nicht, wie es ist, mitschuldig zu sein. Das Schiff lag schon auf dem Grund des Ozeans, als ich Oskar kennenlernte. Aber das spielt keine Rolle. Das Flüstern, die Diffamierungen, das Konto beim Lebensmittelhändler, das jetzt gesperrt ist, die Eltern der Kinder, die nicht mehr wollen, dass meine Kinder mit ihnen spielen, das Flüstern im Gläsernen Elefanten, wenn ich den Raum betrete. All das ist jetzt mein Alltag. Oskar darf schreiben. Der Richter liest seine Post, und wenn ich antworte, liest er meine. Ich schreibe trotzdem: „Ich liebe Dich und stehe zu Dir.“ Aber es kommt mir so vor, als ob es auf dem Postweg seine Kraft verliert, weil es durch zu viele Hände geht.

Heute ist Jesus am Kreuz gestorben vor Tausenden von Jahren. Bespuckt und diffamiert. Und obwohl er wieder auferstanden ist, hat die katholische Kirche das Symbol des Kreuzes als Markenzeichen für diesen Glauben gewählt. Wieso nicht die Auferstehung? Wieso nicht das göttliche Licht, das seinen Sarg ausgefüllt hat, als er sich unversehrt über das Leid erhob? Mein Glaube ist mir Trost und Hilfe. Aber es ist der Glaube an die Wesen, die es immer gab. An die vielen Schutzengel, die an unserer Seite stehen. Ich besuche jetzt einmal in der Woche Irene. Ich brauche diese Anbindung an mein göttliches Wesen. Nur so kann ich das Leben, das ich führe, ertragen. Mein gesellschaftliches Kleid gibt es nicht mehr. Vor Lilly Baldini, der angesehenen Journalistin, die kritische Reportagen schreibt, steht Lilly Baldini, die Frau des Häftlings, und deckt die andere zu. Vollständig. Ich kann kein Interview mehr führen, ohne dass die Frage auftaucht, wie es meinem Mann geht. Ich kann kein Glas Wein bei Oswald & Kalb trinken, ohne dass Kollegen mich fragen, ob ich ihnen ein Interview geben will und wie es der Frau des Angeklagten geht. Fernsehkameras und Fotografen streifen auf Pressekonferenzen wie zufällig mein Gesicht. Man kann nie wissen, wann man es für die Schlagzeile „Baldini in Kiel verurteilt“ braucht.

Ich fürchte mich vor den Osterfeiertagen. Alles, was mit Ritualen verbunden ist, weckt Erinnerungen in mir, die ich schlecht ertragen kann. Oskar sitzt immer bei uns am Tisch. Ich engagiere mich, so gut ich kann. Aber es gibt kein Lachen mehr, das bis in die tiefste Schicht echt ist. Über unserem Leben liegt das Entsetzen, dass wir nicht wissen, ob er jemals wiederkommt.

Die Redaktion ist mein Trost. Wenn ich arbeite, vergesse ich für einen Moment, wer ich in meinem Privatleben bin. Dann tauche ich ein in die Geschichten anderer. Ich interviewe Menschen, die in Gletscherspalten gefallen sind und überlebt haben, ich frage Extrembergsteiger, ob man sich Gott auf dem Gipfel näher fühlt, und warte auf Weltumsegler an ihrem Zielhafen. Fremde Emotionen sind mir lieber als meine eigenen.

Ralf beobachtete Lilly und machte sich Sorgen um sie. Sie hatte sich in die Serie „Extreme Gefühle“ so stark hineinfallen lassen, als ob es nichts Wichtigeres auf der Welt gäbe. Außer Oskar und die Kinder natürlich. Sie arbeitete an allen Fronten bis zur Erschöpfung, und wenn er sie darauf hinwies, sagte sie nur: „Ich muss mich ablenken. Ich ertrage dieses Leben sonst nicht.“

Einmal im Monat besuchte sie Oskar. Er begann, sich im Gefängnis einzuleben, und erzählte ihr von seinem neuen Freund, dem Philosophen, der im Supermarkt betrunken eine Flasche Gin gestohlen hatte. Der würde auch einige Zeit im Knast bleiben. Er hatte ein Taschenmesser bei sich gehabt und die Tat wurde daher als Raub gewertet, weil er bewaffnet war.

Wenn Oskar von seinem Alltag sprach, dem Sport im Hof, wo er seine Runden joggte, dem Feierabend um siebzehn Uhr, wo alle wieder in ihren Zellen saßen und mit ihren Gedanken alleine waren, dann klang es so, als ob er als Gast in einem Kurhotel den Ablauf beobachtete, dem er sich für eine Weile unterordnete. „Manche Menschen gehen in Klöster, um die Stille zu finden. Ich habe mir eben ein Gefängnis ausgesucht“, sagte er, und Lilly wollte es glauben.

Wenn sie das Gefängnis verließ, ging sie zu Hilde und fuhr anschließend an die Kieler Außenförde. Auch sie hatte ihren Alltag in Kiel gefunden und bereitete schon die Sommerferien mit den Kindern vor.