7. Kapitel
Lillys Nomadin vertrug sich nicht mit dem Muttertier in ihr. Die beiden standen in einem ständigen Widerstreit, und wenn die eine gewann, war die andere unzufrieden.
Die Nomadin saß um halb fünf Uhr morgens an einem kalten Februartag im Taxi, jede einzelne Zelle in angenehmem Aufruhr: Endlich keine Alltagsverpflichtungen, endlich wieder von einer Sekunde zur anderen leben. Ein Flugticket nach Ägypten, ein Transport nach Dahab, das war alles. Mehr brauchte sie nicht, um glücklich zu sein. Keine Pläne, keine Buchungen, keine Termine. Es war genug Beschränkung, dass sie in vierzehn Tagen zwei Stunden vor Abflug wieder am Flughafen von Sharm el Sheikh sein musste. Die wilde Freude, die in ihr aufstieg, erinnerte Lilly an die Erzählungen von Lilith, der freien Frau, die sich nicht fügen wollte und die durch die Lüfte davongeflogen war, als Adam sie zähmen wollte.
Dieser Glücksmoment war zu Ende, als sie am Abfluggate eine Mutter mit ihren beiden Kindern beobachtete. Das ältere war ein Junge und schien noch nicht schulpflichtig zu sein. Für eine Weile war Lilly durch das Verhalten der Mutter von ihren eigenen Gefühlen abgelenkt. Der Junge saß mit angespannten Kiefermuskeln brav da und wippte nervös mit dem rechten Fuß, während das kleine Mädchen, das vielleicht drei Jahre jünger war als er, die ganze Aufmerksamkeit forderte. Es wurde geküsst, gekämmt, gestreichelt, beachtet, während er, vollständig ignoriert, stumm vor sich hin starrte. Lilly hätte die Mutter am liebsten geschüttelt, so zornig war sie über den Ausschluss des Sohnes, an den seine Erziehungsberechtigte – was für ein schrecklicher Name – während der Wartezeit nur einen einzigen Satz richtete: „Sei doch vernünftig“, sagte sie, als er seine jüngere Schwester, die ihn an den Haaren zog, wegstieß. Sie sah dem Jungen zu, der sich bemühte, seinen Schmerz nicht zu zeigen, und plötzlich war Niklas ganz nah. Sie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass er mit Oskar lebte. Das Muttertier sprang in die Lücke, die sich bot, und öffnete den großen Raum, in dem der Schmerz wohnte. Am liebsten wäre Lilly aufgestanden und wieder nach Hause gefahren. Sie würde zu Lea ins Kinderzimmer gehen, ohne ihre Mutter zu wecken, die aus dem Bregenzerwald angereist war, und bei ihrer schlafenden Tochter sitzen. Dann würden sie gemeinsam am Morgen zu Oskar und Niklas fahren. Sie fühlte sich plötzlich wie eine Verräterin, dass sie einfach abhaute.
Ralf war ganz anderer Meinung: „Es ist fünf vor zwölf. Wenn du für deine Familie sorgen willst, dann musst du deine leere Batterie aufladen. Und komm mir ja nicht wieder, bevor die vierzehn Tage um sind.“
Als Lilly endlich im Flugzeug saß, war sie so erschöpft von ihrer inneren und äußeren Anspannung, dass sie die Augen schloss. Die Stille tat ihr gut. Sie hatte sich aus ihrer Kindheit die Fähigkeit bewahrt, sich so abzukapseln, dass sie ihre Umgebung nicht wahrnahm, und nur ganz in der Ferne hörte, wie die Flugbegleiterin die Sicherheitsbestimmungen in zwei Sprachen herunterleierte.
Kurz nach dem Start, die „Fasten-seatbelt“-Zeichen waren gerade erst erloschen, war die Stille zu Ende: „Noch immer so attraktiv wie früher“, sagte eine männliche Stimme, die viel zu laut war. Sie öffnete die Augen und brauchte einen Augenblick, um das stark gealterte Gesicht, das sich über sie beugte, einem Geschäftspartner von Paolo zuzuordnen. Paul hatte damals gerade eine viel jüngere Frau geheiratet und war, wie er ihr jetzt ungefragt berichtete, „gezeichnet von seiner gescheiterten Ehe“. Lilly sagte in einer Mischung aus echtem Mitgefühl und leichter Schadenfreude: „Ja, Generationssprünge sind meistens nicht so einfach.“ Er sah sie verblüfft an: „Ja, hätte ich vielleicht eine Gleichaltrige nehmen sollen?“ Er sagte das Wort „gleichaltrig“, als ob es einen schlechten Geruch hätte, der ihm nicht zuzumuten wäre. Lilly wunderte sich nicht. An den Preis für diese „Mischehen“ dachten die Beteiligten meist erst, wenn es zu spät war. Am Anfang schoben die alten Väter noch begeistert Kinderwagen durch die Gegend, in denen Babys lagen, die ihre Enkel sein könnten. Doch später, wenn der Lack der jungen Liebe abgeblättert war, wurde das Leben meistens mühsam. Sie hatte schon einige Männer erlebt, die mit siebzig von ihren fünfzigjährigen Frauen verlassen worden waren, weil die Lebensentwürfe nicht mehr zusammenpassten. Als Paul wieder zu seinem Sitzplatz zurückging, nachdem er sein Unglück bei Lilly abgeladen hatte, blieb Paolo vor ihrem inneren Auge zurück.
Ihr Schicksal hatte in einem Flugzeug mit einem Ring, den er ihr an den Finger gesteckt hatte, begonnen. Und jetzt war sie, zehn Jahre später, in einem Leben gelandet, das sie zu einer anderen Frau gemacht hatte. Eine weitschichtige Verwandte im Bregenzerwald fiel ihr ein, die an Weihnachten bissig zu ihr gesagt hatte: „Gib zu, dass du die Publicity genießt, dein Gesicht ständig in der Zeitung zu sehen.“ Ella, die Lillys Betroffenheit bemerkt hatte, biss zurück: „Manche Menschen sind so dumm, dass man ihnen das Maul verbieten sollte …“ Lilly dachte an ein Foto der letzten Woche, dessen Bildtext ihr unter die Haut gegangen war: „Baldinis Frau Komplizin der Verbrecher? Wo hält sie die beiden Männer versteckt?“ Ralf wollte sie trösten: „Ich kenne den Journalisten, er hat ein Gehirn, das nicht größer ist als eine Briefmarke, lass dich von so jemandem nicht verletzen.“
Dahab empfing Lilly mit bedecktem Himmel bei mehr als zwanzig Grad und einem Kulturschock. Sie wollte diesmal in Assalah, einem weniger touristischen Teil, wohnen und fühlte sich vom Bauschutt an den Straßenrändern, den halb fertigen Häusern und dem Müll, der sorglos herumlag, abgeschreckt. Sie besichtigte drei Appartements, die trotz der vernachlässigten Umgebung alle gut ausgestattet und sauber waren, und jedes Mal sprang ihr die Einsamkeit entgegen. Sie sah sich allein mit ihrem Beduinentee in den geschützten Innenhöfen sitzen und sehnte sich nach der Weite des Meeres und den Menschen, die am Ufer spazieren gingen. Sie zog ihren Rollkoffer über staubige Wege auf der Suche nach einem passenden Quartier und verfluchte ihre Spontaneität. Sie dachte an die Zwischenlandung in Marsa Alam, einem Touristenzentrum, und beneidete für einen Augenblick die Menschen, die braun gebrannt nach ihrem All-inclusive-Urlaub an Bord gegangen waren, um zurück nach Wien zu fliegen. Die meisten trugen noch ihre Plastikbänder am Handgelenk, die sie als Zugehörige der gut versorgten Urlauberherde in einem Club kennzeichneten.
Lilly hatte sich längst verlaufen und wusste nicht mehr, in welcher Richtung das Meer lag. In diesem Augenblick kam eine Frau, ganz offensichtlich Europäerin, aus einem gepflegten Haus mit einem säulengeschmückten Eingang, und wollte in einen weißen Jeep steigen. Sie zögerte, als sie die ratlose Fremde mit ihrem Koffer sah, und sagte mit einer tiefen, angenehmen Stimme: „Can I help you?“ Sie trug kurzes, gelocktes, silbergraues Haar, um das sie lässig ein Tuch geschlungen hatte. In ihren warmen grauen Augen blitzte der Schalk. Tjalle, die Dänin war und seit vielen Jahren acht Monate lang in Dahab lebte, weil ihre Tochter einen Stadtbeduinen geheiratet hatte, machte Lillys Odyssee ein Ende. Sie brachte sie zu einem nahen Hotel am Strand, das mit seinem großen Beduinenzelt am Meer und den bequemen Sofas mit bunten Kissen genau den Wünschen der Nomadin entsprach. Sie dachte an Ralf und freute sich jetzt schon auf sein Gesicht, wenn sie an ihre Erzählungen nach ihrer Rückkehr dachte. Er war immer wieder neu fasziniert von ihrer Begabung, an jedem Ort der Welt sofort neuen Herzensmenschen zu begegnen: „Dich könnte man in der Wüste aussetzen und du würdest mit einem ganzen Beduinenstamm nach Hause kommen.“
Als Tjalle sich nach einem Drink in den weichen Kissen des Beduinenzelts verabschiedete, hatten sie einander die Eckdaten ihrer Leben abwechselnd auf Deutsch, Englisch und Französisch erzählt. Es war Lilly, die immer wieder den Sprachkanal wechselte, nachdem ihre neue Bekanntschaft erzählt hatte, dass sie sich bei Tisch manchmal fünfsprachig unterhielten, wenn ihr Schwiegersohn und Gäste aus Europa da waren.
Lilly stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie Ella und ihr Bregenzerwälderisch hierher mitbrachte. Es fühlte sich passend an. Beim Abschied sagte Tjalle: „Morgen fahre ich zu einer Freundin, die dir gefallen wird. Wenn du magst, kannst du mitkommen, sie ist hellsichtig.“ Lilly überhörte das Wort „hellsichtig“ und nickte dankbar. Es war gut, dass sie nicht gleich allein sein musste. Sie hatte sich nach Erholung und Stille gesehnt und nun merkte sie, dass sie Angst davor hatte. Was würde passieren, wenn die Alltagsprobleme ihren Kopf nicht mehr bis zum Bersten füllten? Welche Untiefen würden sie erwarten, wenn sie nur noch an sich selber denken musste?
Ägypten, 7. Februar 1989
Ich liebe das Meer. Es wird mich in den Schlaf singen, wenn ich die Türen zu meinem Balkon offen lasse. Es ist mein Freund und tröstet mich mit seinem Gesang. Ich liege auf meinem Doppelbett, das für mich alleine zu breit ist, und vermisse sie alle. Oskar, Lea, Niklas, Ralf, Johanna, Ella … Dahab ist ein magischer Platz. Die roten Berge des Sinai schützen im Hintergrund diesen gesegneten Streifen Land, der sich zur unendlichen Weite des Wassers öffnet. Ich mag diese Mischung aus Tourismus und Beduinenkultur. Gleichzeitig habe ich Angst vor der Zeit hier. Ich bin ohne Ziel. Keine Reportage, keine Manager, die ich beobachten und beschreiben kann und die mich in der Einsamkeit der Wüste in ihre geheimsten Gedanken einweihen, solange sie nicht in meiner Geschichte vorkommen. Niemand, der mich von mir selber ablenkt.
Wer bin ich? Ich weiß, wer ich war. Das ist einfach. Eine begabte, etwas oberflächliche, hübsche Journalistin, die sich eine glückliche Kindheit zurechtgeträumt hat. Natürlich nicht bewusst. Ich kannte nichts anderes, als zwischen meinen Eltern, die so sehr mit sich selbst beschäftigt waren, einsam zu sein.
Wer bin ich jetzt? Ich stehe auf und gehe nackt in mein grün-weiß gefliestes Badezimmer. Ich bewundere die schmale Fliesenbordüre aus kleinen Rosenknospen und grünen Blättern auf weißem Hintergrund. Sie verbindet auf halber Raumhöhe die weißen mit den grünen Fliesen und ist mir bis jetzt nicht aufgefallen. Ein charmanter Stilbruch in dem orientalischen Ambiente, als ob hier kurzfristig eine Französin mit Geschmack ihren Charme ausgelebt hätte und dann wieder abgereist wäre. Als ich meine Hände am kleinen Waschbecken wasche, entdecke ich, dass der Wasserhahn die Form eines Delfins hat. Seine grünen Augen passen zur Farbe der Rosenblätter. Dieses Bad kann nur eine Frau ausgestattet haben. Ich fühle mich wohl, obwohl das Hotel schon bessere Zeiten gesehen hat.
Mein Spiegelbild überrascht mich. Es ist lange her, dass ich mir selber aufmerksam ins Gesicht geschaut habe. Der Druck und der Stress der letzten Jahre scheinen fast spurlos an mir vorübergegangen zu sein. Meine Augen haben etwas von ihrem Strahlen verloren, doch meine Haut und meine Haare sind die einer jungen, glücklichen Frau. Als ob mein erschöpfter Körper sich bemühte, um jeden Preis den Schein zu wahren. Ich bin zu dünn, aber das ist gerade modern und spricht eher für mich, auch wenn ich nichts dafür tue. Außen bin ich offensichtlich fast dieselbe geblieben.
Im Inneren habe ich mit der Lilly, die in Paris-Orly in den Abendflug nach Wien gestiegen ist, nur noch wenig zu tun. Ich spüre eine Tiefe, von der ich noch nicht weiß, ob ich sie mag. Es hat mich viel gekostet, die zu sein, die ich jetzt bin. Ich putze mir die Zähne und lege mich ins Bett, obwohl es nach mitteleuropäischer Zeit erst acht Uhr abends ist. Als die Erschöpfung kommt, lasse ich das Meeresrauschen darüberrollen. Aufgeben, abgeben, einfach wieder einmal schlafen …
Ich erwache, weil der Sturm an meiner Balkontür rüttelt, kuschle mich in meine Decken und genieße das Tosen der Wellen. Wenn das Meer zu mir spricht, fühle ich mich nicht einsam, auch wenn ich meine Familie vermisse. Seit meiner Zeit an dem See, an dem Oskar sich versteckt, hat Wasser eine neue Bedeutung für mich. Es ist, als ob es mich an meine Essenz erinnert, an den Ort in mir, an dem ich wirklich zu Hause bin. Ich greife nach meiner Uhr. Es ist erst sieben. Bis um zehn gibt es Frühstück. Ich sinke erleichtert in meine Kissen zurück. Es ist lange her, dass ich meinen Körper gespürt habe. Er liegt zwischen den weißen Laken und ist mir unendlich dankbar, dass ich nicht sofort aus dem Bett springe.
Das Meer ist immer noch stürmisch, der Wind treibt den Sand über die Uferpromenade, und der Himmel ist bedeckt. Es stört mich nicht. Von meiner Mutter und meiner Großmutter habe ich einen starken Impuls „ussë, d’Sunnô schinnt“12 geerbt und bin froh, dass meine Auszeit so langsam beginnt.
Tjalle bittet mich in ihr Haus, als ich pünktlich um elf Uhr bei ihr ankomme. Ihre beiden Enkeltöchter, die mit ihren Eltern in Sharm el Sheikh leben, sind da, weil sie Ferien haben, und sprechen mit ihrer Großmutter eine Mischung aus Dänisch und Arabisch. Es klingt ganz natürlich und ich wünschte, dass die allgemeine Völkerverständigung auch so einfach wäre.
Es gibt manchmal Plätze, in die ich sofort,
ohne etwas zu ändern, einziehen könnte. Das hier ist einer. Die
Mischung aus Orient und Europa ist umwerfend. Die bequemen
Beduinensofas gehen eine mühelose Allianz mit den eleganten weißen
Möbeln ein. Alles ist einfach und edel. Tjalle, die in Däne-mark,
der Schweiz und Frankreich gelebt hat, serviert Tee,
und ich frage mich, wie alt sie ist. Ihre Bewegungen und ihre Mimik
sind jung, gleichzeitig tragen ihr Gesicht und ihr Körper Spuren
von Leben, das schon einige Jahrzehnte dauern muss. Sie spürt meine
Frage und sagt: „Ich bin fünfundsiebzig Jahre alt und lebe seit
fünfzehn Jahren in Dahab.“ Als ich sie mit offenem Mund anstarre,
weil ich mich um mehr als ein Jahrzehnt verschätzt habe, lacht sie:
„Hier wird man als Europäerin vorzeitig alt oder man bleibt sehr
jung. Ganz, wie man will.“
Der weiße Jeep ist sehr gepflegt, aber der Sitzgurt klemmt, und ich kann mich nicht anschnallen. Tjalle lacht: „Er ist auch schon alt, aber wir nehmen es hier nicht so genau, ich fahre sowieso langsam, weil die Straßen schlecht sind.“
Die roten Berge des Sinai, die mich gestern bei meiner Ankunft mit ihrer kargen Nacktheit deprimiert haben, leuchten heute wieder genauso magisch wie damals, als ich noch eine andere war. Es erleichtert mich.
Das Haus, das Rita mit ihrem Mann Ibrahim, einem Beduinen, erbaut hat, steht ein paar Hundert Meter vom Beduinencamp entfernt, trägt zwei kleine und eine große Kuppel und fügt sich harmonisch in die Landschaft ein. Rita empfängt uns mit einer Herzlichkeit, die kaum einen Unterschied macht zwischen ihrer Freundin und mir. Sie schaut mir in die Augen, so als ob sie nach Erkennungszeichen sucht, dann umarmt sie auch mich innig und bittet uns herein.
Unter der ersten kleinen Kuppel gibt es eine einfache Küche, in der sie uns Kaffee kocht, zu dem sie Datteln serviert, die Ibrahim in Honig getränkt und mit Mandeln gefüllt hat. Gleich daneben findet sich unter der zweiten Kuppel ein modernes, praktisches Badezimmer. Rita sagt fast verlegen: „Ich brauche diesen Luxus, und warum sollten wir nicht einige Errungenschaften der modernen Zivilisation nützen?“ Der Raum unter der großen Kuppel ist traditionell mit bunten Teppichen und Beduinenkissen ausgestattet. Wir ziehen unsere Schuhe aus und setzen uns rund um ein Kohlebecken, das uns an diesem kühlen Tag wärmt.
„Dieser Platz soll ein Entwicklungszentrum sein und wächst langsam und damit organisch“, sagt Rita, und ich sehe in ein junges, fast faltenfreies Gesicht mit bernsteinfarbenen Augen. Sie trägt ihre grauen, gelockten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der bis zu ihren Schultern reicht. Ihr langes Beduinenkleid, unter dem sie gegen die Kälte einige Schichten trägt, hat die Farbe von verblichenem Lachsrosa. „Manchmal macht mich dieses langsame Wachstum des Zentrums ungeduldig, aber nur für einen Moment. Ich weiß, dass jeder, der hierherkommt, gerufen wird und etwas lernen will, was immer es ist. Es ist kein Touristenort und wird es auch nie werden.“ Unter dem forschenden Blick fühle ich mich plötzlich als jemand, der hierhergekommen ist, um etwas zu lernen.
Unser Besuch dauert nicht lange, Tjalle muss zu ihren Enkelkindern zurück und Rita sagt: „Wenn du willst, kannst du jederzeit wiederkommen. Hier ist ein guter Platz für Menschen, die sich selber finden wollen.“ Woher weiß sie, dass ich mich selber finden will?
Der Sturm und der bedeckte Himmel blieben den ganzen Tag zu Gast. Lilly spazierte von ihrem Ortsteil in den anderen und registrierte, wo die Grenze lag. Niemand musste ihr sagen, wo die Touristenmeile begann. Sie ergab sich durch eine plötzliche Verdichtung der Restaurants, vor denen die Besitzer ihre Sonderangebote anpriesen, und durch eine Reizüberflutung von aneinandergereihten Geschäften, in denen es vom Beduinenteppich bis zur Taucherbrille alles gab. Sie kaufte sich Tee und Badeschuhe, weil das Riff, das den Strand begrenzte, für nackte Füße gefährlich war, und ließ sich durch den Tag treiben. Es war windig und zu kalt zum Schwimmen, und so saß sie am Nachmittag in einem der vielen Coffeeshops auf Beduinenkissen und schmökerte in den Büchern, die Ralf ihr mitgegeben hatte. Sie sah ihn vor sich, wie er ihr am Vortag vor der Abreise die Bücher wie zufällig über den Tisch geschoben hatte: „Falls du im Urlaub etwas für deine Seele und dein Selbstmanagement tun willst …“
Lilly lächelte. Er hatte recht. Es war höchste Zeit, dass
sie
ihre Managerinnenqualitäten ihrem eigenen Selbst widmete. Sie
schlug das erste Buch auf, weil es das Porträt eines jungen,
buddhistischen Mönches trug, der ihr gefiel. Sie glaubte daran,
dass die ersten Sätze als Richtungsweiser für die gesamte Zeit
galten. Das Kapitel hieß „Die Tugend des Loslassens“.
„Schauen wir uns Hoffnung und Furcht genauer an, so finden wir unterhalb von allem das Anhaften. Wir wollen die Dinge auf eine gewisse Weise haben und drängen in diese Richtung. Der Buddha sagt: ‚Die Welt ist fließend, nicht fest. Dich auf das zu fixieren, was du haben willst, das ist es, was wehtut. Hör also auf, zu sehr an den Dingen festzuhalten.‘“
Sie klappte das Buch zu und las, dass der Mann auf dem Titelbild Sakyong Mipham hieß. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie ihre Ängste und Erwartungen aufgeben könnte. Es fühlte sich gut an, so als ob eine riesige Last von ihren Schultern fiel. Vielleicht konnte es ihr hier, in Dahab, gelingen, diese Haltung zu üben. Es war alles so fremd hier, dass ihre Sorgen kurzfristig in einem angenehmen Nebel verschwanden.
Es war seltsam, so zu leben. Sie hatte Zeit, sich zu überlegen, was sie im Augenblick wollte, und konnte sich nicht daran erinnern, dass das jemals über einen längeren Zeitraum so gewesen war. Als Kind hatte sie sich bemüht, ihren Eltern gerecht zu werden, dann war die Schule als schwierige Herausforderung in ihr Linkshänderleben gekommen, und nach dem Studium hatte sie schon bald mit Ralf Psychologie Morgen gegründet. In ihrer Freizeit war sie meistens mit Männern zusammen gewesen, deren Wohlbefinden ihr wichtiger war als das eigene. Sie dachte an den Film, dessen Namen sie vergessen hatte, in dem eine Frau nicht wusste, wie sie die Eier zum Frühstück mochte, weil sie sich ihr Leben lang der Vorliebe ihrer Partner angepasst hatte. Das war ihr schon damals vertraut vorgekommen. Sie war Mountainbike im steilen Gelände gefahren, obwohl sie sich davor fürchtete, hatte regelmäßig Opern besucht, obwohl sie sich langweilte, und war mit einem Anthropologen zu staubigen Ausgrabungsfeldern gereist, obwohl die alten Knochen sie nicht interessiert hatten.
Jetzt konnte sie einfach nach ihrem Kaffeehausbesuch ungestört im Bett liegen, dem Meer zuhören und in die Luft schauen. Wenn Lilly Hunger hatte, fragte sie niemand anderen, was er essen wollte, um sich danach zu richten. Sie spazierte einfach den Strand entlang, in entgegengesetzter Richtung zur Touristenmeile, und fand nach kurzer Zeit ein kleines Lokal, das ihr gefiel. Im Beduinenzelt am Strand war es zu windig, aber im Restaurant, von dem sie in die offene Küche sehen konnte, gab es eine geschützte Ecke mit Blick aufs Meer. Als Lilly es sich auf den Beduinenkissen, in ihren Mantel eingehüllt, bequem gemacht hatte, bemerkte sie, dass das Lokal in der Mitte offen war. Mitten in diesem Karree stand eine große Palme und wuchs ungestört in den Sternenhimmel. Es fühlte sich alles so richtig an. Es war, als ob die Wesen aus dem Bregenzerwald mitgekommen wären, um sie zu führen. Sie spürte, was „All eins sein“ bedeutet, und das Meer hörte ihr zu, als sie es laut aussprach.
Lilly wachte am nächsten Morgen gerädert und unausgeschlafen auf. Sie hatte Angst um Oskar, Angst um ihre Kinder und Angst um ihre eigene Zukunft. Lilly wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte. In den vielen schlaflosen Stunden waren die lauten Wellen quälend durch ihr Hirn gerollt und hatten, gemeinsam mit dem Wind, der an Fenster und Türen rüttelte, ihren Schlaf gestohlen. Der Tag gestern, den sie so genossen hatte, erschien ihr heute wie ein frivoler Ausflug mitten im Krieg, der ihr nicht zugestanden war. Sie stand auf und zog die Vorhänge zurück. Draußen war der Himmel noch immer grau und der Wind jagte die Wellen vor sich her, die sich tosend am Riff brachen.
Lilly zog sich an, ohne sich zu duschen, und ging an die Rezeption. „Ich muss dringend telefonieren“, sagte sie zu Ahmet, der sie besorgt ansah. Sie wusste, dass sie heute wie eine andere Frau aussah, und bemühte sich, ihn anzulächeln. Er konnte nichts dafür, dass sie im falschen Land erwacht war.
Ralf hob sofort den Hörer ab: „Du musst mir helfen, ich will wieder nach Hause. Bitte organisiere mir so rasch wie möglich einen Flug.“ Er hatte, wie in fast allen Bereichen, auch bei einigen Fluglinien Freunde, die der homosexuellen Gemeinde angehörten. Das Schweigen am anderen Ende der Leitung dauerte etwas zu lange, und sie wusste, was es bedeutete. „Guten Morgen!“, erwiderte er, und Lilly erinnerte sich beschämt daran, dass sie wieder einmal mit der Tür ins Haus gefallen war. Sie kannte diese Schwäche von ihr. Seit es in der Redaktion Computer gab, schrieb sie einfach drauflos und fügte am Ende die Einleitung hinzu. Früher musste sie diese Textstücke mühsam oben dazukleben.
„Ich werde dir nicht helfen“, sagte ihr bester Freund mit sanfter Stimme, „weil du die ersten Tage durchstehen musst, weil es normal ist, dass du Anpassungsschwierigkeiten hast nach dem Wahnsinn der letzten Monate. Erinnere dich daran, dass der dritte Tag, wenn du Ski läufst, auch immer der härteste ist.“ Jetzt musste Lilly lächeln. Dass Ralf, der Sport hasste, für sie dieses Bild herholte, war die höchste Kunst von Anpassung an sein Gegenüber. „Ich verspreche dir, dass ich alle meine Verbindungen einsetzen werde, wenn es dir in drei Tagen noch nicht besser geht.“
Lilly kannte diesen Ton. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit ihm zu diskutieren. Drei Tage konnte sie überleben. Sie brauchte nicht einmal ihre Finger dazu, um sie abzuzählen. Sie war froh, Ralfs vertraute Stimme zu hören, und ließ sich alle noch so kleinen Neuigkeiten erzählen, auch wenn sie die Redaktion schon lange nicht mehr wirklich interessierte. Am Abend würde sie mit ihrer Mutter und mit Lea telefonieren, sie hatten ausgemacht, dass sie nur jeden dritten Tag anrufen würde, damit das Kind in einen Alltag mit seiner Großmutter finden konnte.
Der Tag ging schlecht weiter, alles lief schief. Das Wasser in der Dusche schwankte zwischen kalt und heiß, sie sah die gesprungenen Fliesen am Fußboden und die schmutzigen Fugen hinter dem Waschbecken. Sie spürte, als sie nackt aus dem Bad kam, den Luftzug, der von der undichten Balkontür ungehindert ihr Zimmer betrat und sich durch die Eingangstür wieder verabschiedete. Beim Frühstück schmeckten die braunen Bohnen, auf die sie sich gefreut hatte, zu sauer, und die Spiegeleier waren nicht genug durchgebraten. Der Toast war pappig, der Fruchtsalat schon leicht braun gefärbt und der Kaffee schmeckte, wie eben Nescafé schmeckt, wenn er nicht durch gute Laune verklärt wird. Lilly musste zugeben, dass das alles, bis auf die Bohnen, die sie erst heute gekostet hatte, schon gestern so gewesen war. Aber gestern hatte es sie nicht gestört. Sie wusste im Kopf, dass das Leben, das sie sich erschuf, hauptsächlich eine Konstruktion ihrer Sichtweise war und dass sie jederzeit die Möglichkeit hatte, es zu verändern. Aber im Augenblick nützte ihr das nichts.
Sie bestellte sich einen starken Beduinenkaffee und überlegte gerade, wie sie dem Tag noch etwas abgewinnen könnte, als Ahmet von der Rezeption in den Frühstücksraum kam. „Telefon für Sie!“ Er hatte sich ein paar Brocken Deutsch gemerkt, strahlte sie an und bekam das erwartete Lob dafür. Es war Rita, die sie für den nächsten Tag einlud, in ihr Camp zu kommen. Lilly hätte sich nie selber gemeldet. Eine ihrer wenig nützlichen Angewohnheiten war es, sich zu verkriechen, wenn es ihr schlecht ging. Sie wollte sich in ihrer Verfassung niemandem zumuten und bat kaum jemals um Hilfe. Wer ihre Not erkennen wollte, musste ihr Gesicht und ihre Körpersprache gut lesen können, so wie Ralf, Ella und Johanna. In ihrer Kindheit war das manchmal ihre Bregenzerwälder Oma gewesen. Aber sie hatte alle Hände voll mit der Landwirtschaft zu tun und wenig Kapazität frei, um ihre Enkelin genauer zu beobachten. Und so war Lilly im Leben der Erwachsenen, die sie großzogen, meistens nur mitgelaufen und hatte sich bemüht, sich in alle Richtungen möglichst pflegeleicht zu zeigen. Irgendwann war ihr dieses Verhalten so vertraut, dass sie es nicht mehr hinterfragte.
Lilly beschloss, ihren Grübeleien ein Ende zu machen, und zog sich winddicht für einen langen Strandspaziergang an. Sie wanderte wieder in die entgegengesetzte Richtung zur Touristenmeile, vorbei an dem charmanten Restaurant von gestern, und gelangte wieder an eine Grenze. Die asphaltierte Uferpromenade hörte abrupt auf, der Strand wurde immer schmutziger, überall lagen Plastikflaschen, Autoreifen und vieles andere, was Menschen achtlos weggeworfen hatten. Die Häuser am Ufer befanden sich in unterschiedlichsten Zuständen. Manche zerfielen schon, andere waren nicht fertig gebaut worden, weil offenbar das Geld ausgegangen war, und ragten als graue Ruinen in den Himmel. Einige trotzten dem deprimierenden Zustand und sahen aus wie reiche Verwandte, die sich in ein Armenviertel verirrt hatten. Kinder spielten mitten im Müll auf leeren Grundstücken, die wie Zahnlücken dazwischen aussahen. Ein kleiner Junge, der kaum älter als drei Jahre war, spazierte mit Plastiksandalen allein ganz nahe am Wasser entlang. Er ging an einer Touristin vorbei, die hingebungsvoll ihren surfenden Freund auf dem Meer filmte und wohl kaum bemerkt hätte, wenn der Junge ertrunken wäre. Lilly setzte sich entmutigt auf einen alten, löchrigen Bootsrumpf und beschloss, sich wenigstens als Babysitter nützlich zu machen, auch wenn sie weit und breit keine Eltern sehen konnte, die sie darum bitten könnten. Sie dachte an Lea und Niklas und fühlte sich so elend wie schon lange nicht. Es war gar nicht so einfach, sich ein gutes Leben zu erschaffen. Sollte sie vierzehn Tage über Müllhalden spazieren? Sie tat dem Tourismus Abbitte. Er war oft nicht angemessen und zerstörte ganze Landstriche, aber zumindest hatte er den Effekt, dass es saubere Häuser und Straßen gab. Der kleine Junge hatte sich inzwischen zu ihr gesetzt und sie spielte mit ihm mit Kieselsteinen. Nach einer Ewigkeit kam ein junger blonder Mann mit einem verschlossenen Gesicht aus einem der zerfallenen Häuser und rief nach dem Kind. Noch ehe der kleine Junge loslief, war der Mann schon wieder verschwunden. Er trug einen Surfanzug und schien sich nicht besonders für den Jungen zu interessieren.
Lilly spazierte weiter am vermüllten Strand entlang und bemerkte, wie sie insgeheim Noten verteilte: „Was für ein Land, was für ein Dreck …“ In diesem Augenblick sah sie die Muscheln. Sie waren riesengroß, ausgefallen geformt und lagen einfach vor ihr. Als ob das Meer ihr ein Geschenk machen und sie daran erinnern wollte, dass seine überwältigende Schönheit allen galt, auch jenen, die bisher noch keine Chance gehabt hatten, ihr Bewusstsein dem Umweltschutz zu öffnen. Sie schämte sich, hob die Muscheln auf und beschloss, sie Oskar und den Kindern mitzubringen. Niemals hätte sie an einem Touristenstrand so seltene Kleinode gefunden.
Als Lilly später auf der Touristenmeile einen sehr guten Salat aß, spielte der ägyptische Kellner, der ganz wenig Englisch sprach, „Silent night, holy night“, und Lilly sang automatisch mit: „alles schläft, einsam wacht“. Als sie den Reflex bemerkte, lachte sie laut. Nein, in dieser Nacht wollte sie nicht wachen und sagte dem jungen Mann, dass er sich mit seinem Lied in der Jahreszeit geirrt hatte.
Lea klang am Abend gut am Telefon. Sie war mit ihrer Oma im Zirkus gewesen und hatte so lange gebettelt, bis sie auf einem Kamel reiten durfte. „So wie du, Mama. Du reitest doch auf Kamelen durch die Wüste, das hat mir Ralf erzählt. Und morgen gehen wir mit Johanna, John und Nelly ins Hallenbad. Dort kann man ins Freie schwimmen und im warmen Wasser den kalten Atem sehen.“ Es war schön zu wissen, dass Lea bei ihrer Großfamilie gut aufgehoben war. Oskar konnte sie nicht erreichen. Er war mit Niklas nach Kiel gefahren und sie musste darauf vertrauen, dass es ihnen dort gut ging. Der Anwalt, für den er sich nach seiner langen Odyssee entschieden hatte, klang sehr zuversichtlich: „Wir werden es schaffen, dass die Kieler Staatsanwaltschaft Sie anhört“, hatte er zu seinem Mandanten gesagt.
Das Meer war in dieser dritten Nacht gütig zu Lilly gewesen. Es hatte sie in den Schlaf gewiegt, und auch der Wind blies so sanft, dass sich nur die Vorhänge leise bewegten und die Tür, durch die er wehte, stumm blieb.
Als sie am Morgen unter der Dusche stand, ging das Licht im Bad aus, und das Wasser rann nur noch in einem dünnen, letzten Strahl über ihr Haar, das sie gewaschen hatte. Lilly bedankte sich, dass sie gerade fertig geduscht hatte, und fand das Frühstück wunderbar. Vor allem, weil zum ersten Mal, seit sie in Dahab angekommen war, die Sonne schien.
Rita empfing sie mit der kleinen Ziege, die nur drei Beine hatte. Sie lag in ihrem Arm und trank Milch aus einer Babyflasche. Sie hatte sie ihr schon beim letzten Mal vorgestellt, da war sie am Morgen zur Welt gekommen, und Rita sagte: „Ich muss mich um sie kümmern, sie ist mit ihren drei Beinchen nicht schnell genug, um bei ihrer Mutter zu trinken. Die anderen Babys stoßen sie weg. Ich war mit ihr beim Tierarzt, er sagt, er kann das vierte Bein, das am Rumpf angewachsen ist, nicht lösen.“ Besorgt fragte Lilly, die das kleine Tier sofort ins Herz geschlossen hatte: „Und, wird sie überleben?“ – „So etwas frage ich nicht“, meinte Rita. „Es gibt einen Plan, dem wird sie folgen. Jetzt lebt sie und ich unterstütze sie dabei. Sie ist sehr stark. Heute Nacht sind in dieser – für den Sinai ungewöhnlichen Kälte – zwei der kleinen Ziegen erfroren. Sie war nicht dabei. Ich werde sie von nun an immer wieder mit ins Haus nehmen, sie braucht mehr Zuwendung als die anderen.“ Sie stellte die kleine Ziege auf die Füße und umarmte Lilly. Dann sagte sie: „Schau ihr zu, sie hat einen Weg gefunden, auf ihren drei Beinen zu gehen. Sie hüpft so lange in Spiralen im Kreis, bis sie dort ist, wo sie hin will. Wer will behaupten, dass ein Leben in Spiralen nicht gut sein soll?“ Sie lachte unbeschwert: „Es ist etwas Seltsames passiert. Der Tierarzt hat mich gefragt, ob sie einen Namen hat. Ich wollte eigentlich verneinen, aber dann sagte ich zu meiner Überraschung: ‚Sie heißt Lilly.‘ In dem Moment war mir nicht klar, dass es dein Name ist. Aber er passt zu dir und zu ihr. Ihr seid beide wie die wilden Lilien. Stark und zart zugleich.“
Lilly war überrascht. Sie hatte ihren Namen nie mit der Blume in Verbindung gebracht, aber die Idee gefiel ihr. Und dass eine dreibeinige Ziege im Sinai ihren Namen trug, passte auch. Sie lächelte Rita an und sprach nicht aus, was sie dachte: Ich stehe auch auf drei Beinen in der Welt. Auf der einen Seite muss ich für so viele Menschen sorgen, dass ich mehr als zwei Beine brauchen kann, auf der anderen Seite bin ich für die Gesellschaft nicht mehr vollständig, seit ich in ihren Augen die Frau eines gesuchten Kriminellen bin. Ich habe mein viertes Bein, das man „gesellschaftlichen Status“ nennt, verloren. Lilly beobachtete Rita, die die kleine Ziege, als sie zu jammern anfing, weil sie ihr Fläschchen vermisste, wieder auf den Arm nahm und weiter fütterte. Es gab so viele Menschen, die sie unterstützten, seit sie eine „Ausgeschlossene“ war, und sie spürte, dass diese Frau, die so selbstverständlich das kleine Tier versorgte, dazugehörte.
Ibrahim, ihr Mann, kam und brachte eine bunte Beduinendecke, Tee und drei Gläser. Sie setzten sich direkt neben den Ziegenstall, der in der Mitte zwischen dem Beduinencamp und dem Zentrum lag. Hier war alles so einfach. Man trug keine Möbel hin und her, man ließ sich einfach nieder, wo man gerade sein wollte.
„Lass uns ins Wadi gehen, es ist ein Platz, der mir und vielen anderen Menschen auf ihrer Reise zu sich selbst geholfen hat.“
Die kleine Schlucht begann direkt hinter dem Zentrum, als ob Rita und Ibrahim hier als Wächter wohnten. Die beiden Frauen wanderten schweigend den bequemen Pfad entlang und Lilly wunderte sich, dass eine der roten, kargen Steinformationen, auf die sie zugingen, aussah wie eine Miniatur der Mittagsspitze im Bregenzerwald. Sie wurde plötzlich ganz ruhig. Es gab eine Verbindung zwischen den Wesen dort und hier.
Rita blieb stehen, als sie bei der Quelle angelangt waren. „Wasser ist hier unendlich kostbar. Es fließt nicht, es sickert aus der Erde, und wir haben es in diesem Brunnen gefasst. Später werden wir es vielleicht reinigen und trinken können, jetzt überleben unsere Pflanzen damit. Wir experimentieren im Augenblick mit unterschiedlichen Gemüsesorten und Grünfutter für die Ziegen und hoffen, dass das unser Budget verbessert.“
Ein Stück oberhalb der Quelle lag eine blaue Wolldecke. „Lass uns einen Augenblick hier sitzen“, sagte Rita und zeigte neben sich.
Ägypten, 10. Februar 1989
Ich spüre, dass der Platz mir guttut. Es ist so still. Rita sitzt neben mir und schweigt. Nach einer langen Zeit, die niemand gemessen hat, sehe ich einen durchsichtigen, weißen Plastiksack, der wie ein Vogel zwischen den roten Felsen durch den blauen Himmel schwebt: „So frei können auch wir Menschen sein“, sagt Rita, und ich höre kein Urteil, dass in diesem Land der Müll sogar durch die Luft fliegt und auf Plätzen landet, die liebevoll gepflegt werden.
Als sie weiterspricht, kann ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. „Ich spüre einen großen Schmerz rund um dich. Er kommt aus deinem Inneren, und du bist hierhergekommen, um zu verstehen, dass er dein Lehrmeister ist. Wir Menschen glauben immer, dass wir uns entwickeln können, ohne durch diesen Schmerz zu gehen. Das ist ein Irrtum. Alles, was wir tun müssen, ist, ihn willkommen zu heißen. Wenn wir uns dagegen wehren, wird unser Leben hart und bitter, aber wenn wir ihn als etwas sehen, was zu unserer Geschichte gehört, weil wir auf einer anderen Ebene Ja dazu gesagt haben, dann bekommt er seinen Sinn. Dann wissen wir, dass er unserer Entwicklung dient, dass jeder Augenblick, in dem wir leben, perfekt ist, so wie er ist.“
Ein Windstoß kommt und weht mir meine langen Haare ins Gesicht, als ob sie meine Tränen trocknen sollten. Ich bin noch nicht bereit dafür, aber es ist gut, dass sie mein Gesicht verbergen. Lea und Niklas sind jetzt ganz nah. Ich sehe ihre kleinen, unschuldigen Gesichter und merke, dass ein Teil meiner Tränen ihnen gilt: „Und was ist mit meinen Kindern? Das Schicksal ihres Vaters hat ihnen ihre Kindheit gestohlen. Was ist mit ihrem Leid?“ Rita lächelt mich an und ich habe plötzlich keine Angst mehr vor ihrer Hellsichtigkeit. „Mach dir keine Sorgen um sie. Auch sie haben auf anderen Ebenen Ja gesagt zu ihrer eigenen Geschichte. Es wird sie mitfühlend, weise und stark machen. Ich spüre, dass sie ganz besondere, alte Seelen sind. Und es gibt noch einen Trost: Die Generationen nach uns leiden nicht mehr so stark wie wir. Sie können vieles einfach durchziehen lassen, was uns noch an unsere Grenzen bringt. Es kommt ein Zeitalter auf uns zu, in dem Transformation leichter und schneller geht. Ich werde in diesem Jahr fünfzig und bin viele Jahre umhergeirrt, bis ich hier meinen Platz gefunden habe. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass es immer nur um das Jetzt, um die Akzeptanz des Augenblicks geht. Leben ist eigentlich sehr einfach. Wir haben nur unsere Spur verloren. Ich füttere und melke jeden Morgen meine Ziegen und am Nachmittag kommen Menschen zu mir, die meine Hilfe brauchen. Und alles ist gleichwertig.“ Rita steht auf: „Ich gehe jetzt und lasse dich allein. Ein Zyklus deines Lebens endet hier und ein neuer beginnt. Was du daraus machst, bestimmst du selbst. Fühl dich frei, du kannst bis zum Ende des Wadis gehen. Es ist nicht gefährlich.“
Dahab ist weit weg. Es gehört zu einer anderen Welt, obwohl es nur zwanzig Minuten weit entfernt liegt. Die roten Berge umschließen diesen Platz, der wie eine Perle im sicheren Bauch von Mutter Erde geborgen liegt. Für einen kurzen Augenblick schickt mir die Zivilisation noch einmal einen kleinen Gruß, als ein schwarzer Müllsack wie ein Vogel durch die Luft fliegt. Dann bin ich allein in dieser unglaublichen Stille, die nur die Wüste kennt. Der Pfad lenkt mich in Mäandern durch die kleine Schlucht, und als ich fast am Ende angelangt bin, stehe ich vor einer Vagina. Es berührt mich tief, dass hier mein Ebenbild von der Natur in Stein geformt wurde. Doch der Weg geht noch ein Stück weiter. Ich lande bei einem glatten Felsen, der aussieht wie der Kopf eines Kamels. An der Seite lehnt eine wackelige Leiter, die auf ein Plateau führt. Ich steige nicht hinauf. Ich trage eines meiner langen weißen Leinenkleider und weiß, dass ich ein anderes Mal wiederkommen muss. Ist das der männliche Platz?
Die Felsenvagina hat einen Vorplatz aus feinem Sand, sie lädt mich ein, mich hinzulegen. Ich habe die blaue Decke mitgebracht und es erscheint mir ganz natürlich, dass ich mich ausziehe. Ich weiß, dass ich hier in einer Kultur lebe, in der Frauen ihre Haut und ihr Haar bedeckt halten. Aber niemand kann mich sehen. Und Gott hat diese Regeln nicht geschaffen. Er hat nicht verlangt, dass wir unseren Körper verbergen. Die Sonne streichelt mich. Nackt, wie die Göttin mich erschaffen hat, liege ich eine kleine Ewigkeit einfach nur da und spüre, dass mein Hunger nach Licht und Wärme gestillt wird.
Wie spät ist es? Ich muss es nicht wissen. Rita hat mir gesagt: „Fühl dich frei, hier gibt es keine Zeit. Du kannst im Wadi bleiben, so lange du willst. Niemand wird kommen und dich stören.“
Das Wort Urlaub taucht vor mir auf. Es war mein ganzes Leben lang ein Begriff, der mit Stress verbunden war. Es bedeutete Planung, Anpassung und Erwartungen und in den letzten Monaten zusätzlich eine aufwendige Logistik und die Verpflichtung, in dieser kostbaren Zeit auch noch glücklich zu sein.
In dieser Schlucht in der Wüste bekommt das Wort einen neuen Sinn: Ich bin in meinem Ur-Zustand und erlaube mir, ganz ich zu sein.
Mein Körper, der nie ganz weiß wird, auch nicht im Winter, saugt die erste Sonne in diesem Jahr dankbar ein. Ich muss nicht denken, nicht handeln und nichts verstehen. Die Fliegen sind meine einzigen Beobachter. Sie setzen sich auf meine Lippen und ich lächle ihnen zu: „Ihr habt recht, es ist absurd, in der Wüste mit einem Lippenstift zu erscheinen. Wenn er euch schmeckt, könnt ihr ihn gerne haben.“ Als sich eine vorwitzige Fliege auf meinen Oberschenkel ganz nahe zu meiner Vagina setzt, verjage ich sie nicht. Es ist, als ob sie mich daran erinnert, wie lange ich mich selber nicht mehr berührt habe, dort, wo ich ursprünglich bin.
Ich denke für einen Augenblick an Oskar. Wir schlafen miteinander, aber unsere Begegnungen haben nichts mit meiner Urkraft zu tun. Es ist, als ob zwei Ertrinkende sich an einem Strohhalm festhalten, weil es keinen sicheren Balken gibt. Wir trösten einander, wir wärmen einander, wie Tiere, die sich vor der Kälte schützen.
Hinter mir steht schützend die Vagina aus Stein, als ich ganz sanft meinen Körper erforsche, der mir in den letzten Monaten fremd geworden ist. Ich möchte für immer hierbleiben. Ich bin ein Teil der Wüste. Leer und frei. Bis mir kalt wird.
Rita steht am Herd in ihrer Küche unter der
Kuppel, als ich aus dem Wadi zurückkomme. Sie rührt hingebungsvoll
in einem Topf, aus dem es nach orientalischen Gewürzen duftet: „Ich
bin Griechin aus Zypern, ich liebe es, köstliche Speisen
zuzubereiten.“ Ich bin überrascht: „Ich dachte, du bist
Engländerin?“ Sie spuckt den nächsten Satz aus wie eine verdorbene
Speise, die sie irrtümlich gekostet hat: „Ich hasse England. I hate
England.“ Sie sagt es mit einem Akzent, der sie als echte Britin
ausweist, auch wenn sie es nicht sein will. „Meine Eltern sind aus
Zypern ausgewandert, deshalb wurde ich in England geboren. Als ich
ein Jahr alt war, haben sie mich zu meinen Großeltern in ein
kleines Dorf zwischen zwei Wasserfällen geschickt. Dort bin ich
geblieben, bis ich sechs war, sie haben mich nie besucht. Ich lebte
als Griechin unter Griechen, und eines Tages kamen sie vorbei und
haben mich einfach wieder mitgenommen. Ich wusste nicht, wer diese
Fremden waren, die mich in ein kaltes Land verschleppten, dessen
Sprache ich nicht verstand. Es war wie ein Weltuntergang und es
fiel mir schwer, zu glauben, dass ich in dieser Familie willkommen
bin. Ich war so anders als meine beiden älteren Geschwister, die
sie bei sich behalten haben. Ich konnte mich an
die englische Kultur nie gewöhnen und wurde eine unglückliche
junge Frau. Vielleicht bin ich deswegen hier so glücklich.“
Rita stellt das fertige Essen zur Seite: „Lass uns nach Lilly sehen, sie braucht ihre Milch.“
In der Wüste wird es schnell kalt und dunkel. Als wir zurückkommen, hat Ibrahim das Kohlenfeuer im Haus angezündet und Rita wärmt das Essen auf. Der Augenblick, den wir bei den Ziegen verbringen wollten, hat mehr als eine Stunde gedauert. Niemand schaut auf die Uhr, wann Essenszeit ist. Ich denke an den Haushalt meines Vaters und daran, dass das Mittagessen um Punkt zwölf, wenn er aus dem Geschäft kam, fertig sein musste. Im Bregenzerwald war es leichter. Da richtete sich das Leben nach dem Vieh. Ich merke, dass ich es gewöhnt bin, zwischen zwei Welten hin- und herzuwandern und fühle mich bei den Beduinen ganz zu Hause.
Als mein Taxifahrer, den ich am Vormittag gebeten habe, mich am Abend wieder abzuholen, vor der Tür steht, bringt er die andere Welt mit, in die ich ungern zurückkehre. Rita und Ibrahim haben kein Auto. Sie reiten auf dem Kamel in den Ort. „Du sollst morgen wiederkommen“, sagt Ibrahim. Rita nickt. Sie weiß, dass meine Zeit im Camp noch nicht zu Ende ist, und ich weiß es auch.
Im Hotel lächelt Ahmet mich freundlich an und sagt: „Heute Abend ist Beduinendinner, Sie müssen unbedingt kommen, dann lernen Sie die Kultur der Wüstenstämme kennen.“
Ich kenne die Beduinenabende in Hotels. Die Manager, mit denen ich damals gereist bin, waren begeistert davon. Die Hotelangestellten ziehen sich ihre traditionellen Beduinenkleider an und die Köche bringen aus der Hotelküche das Beduinendinner.
Lilly schlief unruhig. Diesmal nicht, weil die Sorgen sie besuchten. Diesmal kam die Wüste in ihre Träume und eine Ahnung, dass sich vieles in ihr änderte, ohne dass sie genau wusste, was. Sie lag, als die Sonne durch einen Spalt ihrer dicken Vorhänge schien, im Bett, hörte den Wellen zu und dachte an Oskar. Er würde nicht verstehen, dass sie sich in einem primitiven Wüstencamp wohlgefühlt hatte, bei einer verrückten Europäerin, die dieses Leben liebte und einer Vision gefolgt war. Er würde sich Sorgen machen, wenn er wüsste, dass sie wieder hinfahren wollte. Sie wünschte, Ralf wäre jetzt hier, er würde sie verstehen. Oskar würde sich nie auf so etwas einlassen. Er könnte sich auch nie in einem Beduinencamp einen ganzen Tag lang auf den Boden „in den Dreck setzen“ und zog, wenn sie reisten, feine Hotels der Berührung mit dem „Lokalkolorit“ vor. Doch das spielte jetzt alles keine Rolle. Oskar war weit weg, und Lilly spürte, dass sie gerade dabei war, sich selber neu zu entdecken. Die Frau, die sich ihr Leben lang nach anderen gerichtet hatte, begann ihren Abschied zu nehmen.
Sie saß beim Frühstück und wusste nicht so recht, wie die neue Lilly den Tag verbringen wollte. Also startete sie mit etwas Vertrautem, was sich immer schon bewährt hatte, sie bewegte sich in der Natur. Sie wanderte wieder den Strand entlang und wunderte sich, dass er heute deutlich sauberer war. Jemand hatte begonnen, ihn aufzuräumen. Der Müll war zwar noch da, aber er lag in großen Haufen am Ufer und wartete darauf, weggebracht zu werden. Die Hauptsaison begann in vierzehn Tagen, vielleicht hatte sie vorgestern nur die Vortourismusvariante erlebt.
Ohne darüber nachzudenken, sammelte sie Muscheln ein, die am Weg lagen, und beschloss, sie Rita mitzubringen. Sie liebte das Meer und würde der Wüste einen Gruß überbringen. Irgendwann waren es so viele, dass sie sie mit beiden Händen nicht mehr tragen konnte. Sie zog einen Plastiksack aus dem Wasser, füllte ihre Muscheln hinein und merkte, dass ihre Sammelleidenschaft inzwischen zur Sucht geworden war. Lilly hatte aus einem kleinen Spiel eine neue Aufgabe, eine Pflicht gemacht, der sie nun nachkommen musste. Als sie nach einer Stunde zu einer kleinen Hotelanlage kam, trank sie einen frisch gepressten Zitronensaft und ließ sich von einem Ehepaar, das am Strand lag, ihr Zimmer zeigen. Man konnte nie wissen, vielleicht wollte sie nächstes Jahr hierherkommen. Als sie mit ihrem schweren Sack den Rückweg antrat, sagte der Mann: „Sind Sie sicher, dass Sie das alles schleppen wollen?“ Und Lilly antwortete: „Ich bin eine gute Lastenträgerin, es macht mir nichts aus.“ Der Satz kam ihr absurd vor, als sie erschöpft auf einem großen Stein am Ufer Rast machte. Sie lief getrieben durch die Gegend, besichtigte Hotelzimmer, obwohl sie keines brauchte, und schleppte Lasten. Sie sah unschlüssig auf den Sack voller Muscheln. Sollte sie ihn einfach zurücklassen? Die Arbeit von fast zwei Stunden wäre umsonst gewesen. Das Muschelbild, das sie vor der Steinvagina in der Schlucht schon vor sich sah, würde keine Realität werden. Lilly wusste, dass sie keine Wahl hatte. Noch nicht. Sie hatte ihr ganzes Leben lang trainiert, gut zu funktionieren, und dazu gehörte, dass man Dinge, die man anfing, auch beendete. Sie nahm ihren schweren Sack wieder auf und ging weiter. Es kam ihr vor wie eine Metapher für ihr Leben zu Hause.
Erschöpft, mit schmerzenden schweren Armen, kam sie im Hotel an und dachte an Kaiserin Elisabeth. Sie war immer schon fasziniert gewesen von dieser neurotischen Frau, die sich durch exzessive Bewegung von ihrem Innersten fernhielt. Hatte sie heute versucht, sich selber zu entkommen? Lilly war verwirrt. Die alte Lilly wollte sie nicht mehr sein und eine neue gab es noch nicht.
13. Februar 1989
Heute ist Sonntag. Ruhetag. Es ist absurd, dass es für mich auch im Urlaub einen Unterschied macht. In meiner Kindheit war es der einzige Tag in der Woche, an dem es keine Pflichten gab. Ich muss kein schlechtes Gewissen haben, wenn ich einfach nur am Strand liege, ausgestattet mit einem Buch und meiner Sonnencreme. Einer der drei Ahmets, die es im Hotel gibt, wird mir einen frisch gepressten Saft bringen. Seit ich im Wüstencamp die Langsamkeit entdeckt habe, merke ich, dass ich ein Mensch bin, der immer etwas tun muss. Ich kenne das Gefühl nicht, einfach nur so zu sein. Außer am Sonntag. Da darf es zumindest in Erwägung gezogen werden, auch wenn in meiner Kindheit dieser Tag den Ausflügen gewidmet war. Wann bin ich jemals ein paar Stunden still gesessen oder gelegen? Nur, wenn ich krank war. Ich mochte es als Kind, krank zu sein. Aber es geschah sehr selten. Dann durfte ich den ganzen Tag im Bett liegen, und Mama brachte mir eine Wurstsemmel mit Essiggurken. Das war sonst streng verpönt.
Welche Vorbilder gab es in meinem Leben für dieses pure Sein? Meine Mutter ist und war immer ständig beschäftigt. Sie setzt sich nur zum Essen und am Abend hin. Und mein Vater lebte nach dem Leitspruch: „Wer rastet, der rostet.“ Seine Rast fing erst an, als er tot umgefallen war. Und wenn ich als Kind auch nur ansatzweise den Eindruck erweckte, als wollte ich gerade faulenzen, erinnerte er mich an vernachlässigte Pflichten mit dem Satz: „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.“ Ich habe bisher das Stillsein nicht vermisst. Es war in meiner Natur nicht angelegt. Oder ist es in jedem Menschen zu Hause und wird einfach nur durch unsere Erziehung vertrieben?
Ritas Leben ist eine Anhäufung von purem Sein. Sie strahlt es aus, und jede einzelne ihrer Bewegungen ist davon durchdrungen. Sie war, ohne ihre Zeit zu messen, mit mir stundenlang in der Wüste gesessen und hatte sich keine Gedanken gemacht, ob sie etwas versäumte. Als sie die kleine Lilly-Ziege fütterte, war sie genauso im Sein, obwohl das Abendessen wartete.
Ich möchte auch sein. Doch während ich es sage, fällt mir mein kompliziertes Leben ein, und mein Wunsch kommt mir absurd vor. Wo soll diese Qualität ihren Platz haben? Meine Sehnsucht wirft mehr Fragen auf, als sie mir Antworten gibt.
Ich rufe Rita an: „Ich möchte wiederkommen.“ Sie lacht am Telefon dieses erfrischende Lachen, das mich an ihre Antwort erinnert, als ich sie gestern bewunderte, weil sie so jung aussieht.
„Das Alter ist nicht wichtig. Wir legen viel zu viel Wert darauf, uns an diesen Zahlen zu orientieren. Sie halten uns in einer Realität fest, die ohne Bedeutung ist. Wichtig ist, dass du deinen Geist lebendig hältst. Dann wird dein Körper ihm folgen. Und selbst wenn er es nicht tut, sind wir immer beweglich. Die Menschen wissen nicht, was sie sich für Beschränkungen auferlegen, wenn sie ständig über das Alter jammern.“
Das Meer ist heute zum ersten Mal ruhig. Die Luft ist warm, wie bei uns im Hochsommer. Ich denke zu viel. Ich sollte es wie die Katzen und Hunde machen, die sich immer wieder auf den Liegebetten am Strand niederlassen und sich nicht davon abschrecken lassen, dass sie vom Personal wieder verjagt werden. Sie kennen diese Ansprüche nicht, die wir Menschen an uns selber und an andere haben. Von ihnen kann ich lernen, was Sein bedeutet.
Ich döse vor mich hin, und wenn unter der Entspannung die Sehnsucht nach Oskar und den Kindern auftaucht, dann nehme ich schnell meinen Kriminalroman und scheuche sie weg. Ich habe genug von meinen eigenen Problemen. Ich kann sie nicht mehr hören und will sie schon gar nicht mehr fühlen.
Ich bin inzwischen einverstanden, hier zu sein, und habe mich an mich gewöhnt. An das Mit-mir-Sein, mit allen seinen Auf und Abs. Es glückt mir noch nicht, mich selber ganz in Ruhe zu lassen. Aber ich bin auf dem besten Weg dazu. Und einer davon ist, meine Grübeleien einzustellen.
Es ist Abend geworden, ein Sonntagabend, der mir nach meinem Tag am Strand plötzlich sinnlos vorkommt. Was tue ich hier, in diesem Land, nachdem mein Inneres schon begonnen hat, neue Spuren zu legen? Meine Erschöpfung hat mit dem Widerstand gegen die Umstände meines Lebens zu tun. Ich leiste keinen Widerstand mehr. Der Fluss fließt in die richtige Richtung. Ich trete auf meinen Balkon, das Meer liegt wie eine Postkartenlandschaft vor mir. Ich nehme sie mit meinen Augen auf, und gleichzeitig sagt mir mein Herz, dass es Zeit wird, diese Postkartenlandschaft zu verlassen. Ich spüre, dass ich nach Hause fahren werde. Meine Zeit ist um, auch wenn mein Flugticket etwas anderes sagt. „So ein Blödsinn!“ Ich sage es laut und ziehe mich für den Abend um.
Dahab im Februar bedeutet kühle Nächte. Eine warme Hose und besser auch noch ein Mantel. Ich schließe die Tür und verlasse mein Zimmer, dessen Eingang auf der Rückseite des Hotels liegt. Es befindet sich im ersten Stock und ist, wie bei vielen Häusern hier, über eine Außentreppe erreichbar. Vor mir liegen still die roten Berge des Sinai, magische Zeugen einer Natur, die uns mit ihrem schützenden Mantel umhüllt. Unter mir die staubige Straße, in der Tjalle wohnt. Heute hat die Tochter ihre Enkel abgeholt, wir sind um sechs Uhr abends verabredet. Ich registriere am Rand meines Gesichtsfeldes, dass kleine Haufen von Bauschutt am Straßenrand liegen, aufgereiht wie Perlen an einem Hals, der sich nicht so viele Gedanken darüber macht, ob er sauber ist. Macht Tjalle sich Gedanken?
Sie ist in einem Land aufgewachsen, in dem selbst die Kühe immer frisch geschrubbt aussehen. Ich verlasse mein Hotel, gehe den Weg entlang, es gibt keine Hausnummern, aber ihr weißer Jeep steht vor der Tür und ich erkenne die Säulen wieder. Sie öffnet mir auf mein Klopfen und ich betrete wieder die Räume, die ihre Handschrift tragen. Wir trinken Wein, und ich sehe Details, die mir das letzte Mal nicht aufgefallen sind. Ja, es gibt niedrige Beduinensofas, aber sie sind mit Seide überzogen und in Farben gehalten, die es hier in der Natur gibt. Warme Wüstentöne, von creme- bis sandfarben. Die weißen, schmalen Bücherschränke haben Türen, die den Sandstaub abhalten, und sind auf einer Seite des Raums raffiniert verspiegelt. Sie werden von einer dunklen Balkendecke kontrastiert, deren Holz sich in den schmalen Torbögen wiederholt, die von einem Raum zum anderen führen. „Was ist das für ein Einrichtungsstil?“, frage ich sie. Sie sieht mich überrascht an: „Es ist Tjalles Stil, obwohl ich hier nicht ganz zu Hause bin. Ich bin nirgends mehr zu Hause. Auch in Dänemark nicht.“ Sie lacht, als sie mein bestürztes Gesicht sieht: „Das ist nur dann schwierig, wenn wir erwarten, dass unser Glück von außen kommt. Wenn du mit deinem inneren Reichtum lebst, wenn du in deinem Inneren ein Zuhause hast, dann kannst du überall glücklich sein. Ich habe eines gelernt: Wir müssen uns nicht umdrehen, in die Vergangenheit schauen und Dinge hinterfragen, die längst geschehen sind. Viele Menschen glauben, sie müssen tief graben und alles verstehen. Es ist genauso gut, wenn du zu einem Baum gehst, ihn um Erlaubnis fragst und ihm alles übergibst. Bäume sind wunderbare Heiler! Doch eines ist noch wichtig: Sprich nie mehr davon. Never!“ Sie sagt es laut und begleitet das Wort, das auf Englisch für mich viel entschlossener klingt, mit einer abschließenden Geste. „Je öfter du deine Opfergeschichte erzählst, desto länger bleibt sie in dir. Ich habe meinen Mann, mit dem ich sehr glücklich und sehr unglücklich war, erst verlassen, als ich ihn wirklich ohne Bedingung lieben konnte. Ohne etwas zu fordern. Und wenn ich jetzt an ihn denke, geht mir das Herz auf. Dann fließt diese freigesetzte Liebe überall hin.“
Ich denke an die Zeit, als meine Liebe zu Oskar voller Groll und Forderungen an ihn war, und frage mich, wie viele Jahre der Weisheit notwendig sind, um dahin zu gelangen, wo diese weise Frau jetzt steht. Tjalle schenkt Wein nach, holt Brot, Käse und Nüsse. Ohne Worte ist klar, dass das Restaurant am Meer, in dem es gute Shrimps gibt und das sie mir zeigen wollte, zu der Welt, die wir gerade betreten, nicht passt. Sie zündet sich eine neue Zigarette an und entschuldigt sich dafür: „Es gibt Abende, da will ich reden, rauchen und trinken. Und wenn die Gesellschaft passt, ist das wunderbar. Ich bin schon lange nicht mehr an Small Talk interessiert und ich bin gern mit mir allein. Doch manchmal“, sie öffnet beide Hände nach oben, „gibt es Verbindungen mit Menschen, die gefügt werden. Ich rede nicht mit jeder verirrten Touristin, die hier herumläuft. Es sind so viele …“ Tjalle schweigt eine Weile und fragt mich dann: „Und was ist deine Geschichte?“
„Ich mag sie jetzt nicht erzählen“, sage ich. „Ich möchte, dass du weiter erzählst.“ Sie schaut mich sehr direkt an, mit Augen, die vieles sehen, was nicht gesagt werden muss. „Weißt du, wir haben immer eine Wahl. Wir können täglich neu beginnen. Ich habe einmal bei einem alten Schamanen in Spanien gelernt. Er arbeitete mit einem Mann, der zerstört zu ihm kam, weil seine Frau ihn verlassen hatte. Er sagte zu ihm: ‚Zieh deine Kleider aus.‘ Und als er nackt vor ihm stand: ‚Du bist nicht der, der du glaubst zu sein. Das ist nicht deine Wahrheit. Du bist nicht diese arme, getretene Kreatur. Du bist ein starker Eroberer, der sich aufmacht, fremde Länder zu erforschen. Erfinde deine Geschichte neu und bleib nicht an der alten hängen. Zieh neue Kleider an und gehe hinaus in die Welt.‘“
„Was bist du von Beruf, Tjalle?“, frage ich sie. „Ich war Therapeutin. Aber ich mag diesen Begriff nicht mehr. Er trägt eine starke Hierarchie in sich. Ich würde heute sagen, wenn ich etwas bin, dann so etwas wie ‚Facilitator‘.“ Sie lacht und spricht auf Deutsch weiter: „Ermöglicherin, weil jeder Mensch genau weiß, was er wirklich braucht. Und das tue ich mit Rebirthing und Reinkarnationssitzungen.“
Hier ist es wieder, dieses Reizwort, mit dem Ralf mich seit Jahren beschäftigt.
„Ich möchte gerne eine Sitzung“, sage ich. „Ich möchte wissen, warum ich mich schon mein ganzes Leben lang nicht vollständig fühle.“ Mein Wunsch überrascht mich und gleichzeitig spüre ich eine innere Zustimmung zu diesem Satz. Tjalle lächelt mich an und nickt: „Ja, das ist deine Frage.“
Am nächsten Morgen steht Tjalle schon in der offenen Tür ihres Hauses, als ich ankomme. Rund um sich ein Rudel schmutziger, kleiner Kinder, die um die Bonbons kämpfen, die sie ihnen aus einem Korb anbietet. Wir gehen ins Haus, und bevor wir starten, sagt sie: „Es ist mir wichtig, dass du diese Sitzung bezahlst, damit unsere Freundschaft davon nicht berührt wird.“ Es erleichtert mich.
Mein Bewusstsein erweitert sich. Es geschieht durch gezieltes Atmen und durch ihre Stimme, die mich in einen anderen Zustand begleitet. Ich spüre, dass sich die Zeitstränge vermischen, als ob Gegenwart und Vergangenheit gleichzeitig da wären. Tjalles Stimme leitet mich von Bild zu Bild. Sie stellt mir Fragen und ich sehe Bilder, die ich beschreiben kann.
Ich liege in einem großen Raum aufgebahrt. Es ist still und ich bin allein. Eine alte Frau, sehr alt und sehr würdig. Ich spüre, dass die Kleider auf meinem Körper kostbar sind. Ich nehme es ganz in der Ferne wahr, ich bin eigentlich schon tot. Aber ein Teil von mir will nicht gehen. Ich will jemanden umarmen, aber meine Arme sind mit Bandagen am Körper festgebunden. Ich weiß, dass das Teil der Kultur ist, in der ich lebe. So werden Tote bestattet. Ein kleiner Funke von mir ist noch da und wartet. Ich sehne mich nach jemandem, aber niemand kommt. Die Türen zur Halle, in der ich aufgebahrt bin, bleiben geschlossen. Ich ergebe mich meinem Schicksal.
Ich höre in der Ferne Tjalles Stimme: „Schau zurück, was vor deinem Tod geschah.“
Ich bin ein junges Mädchen und trage ein weißes, langes Kleid. Neben mir, an meiner rechten Seite, sitzt meine Zwillingsschwester. Auch sie trägt ein weißes Kleid. Wir sind eins. Vollständig.
Dann kommt der Mann. Er trägt einen schwarzen Umhang und reißt mich von ihr weg. Ich schreie, aber niemand hilft mir. Er bringt mich in eine Lehmhütte. Von nun an trage ich schwarze Kleider und rühre in einem Topf, der auf dem Feuer steht. Dann werde ich eines Tages befreit. Ich bekomme ein neues Leben. Jemand hat mich als Tochter adoptiert. Meine Zieheltern sind mächtig und angesehen. Aber das Leben ist falsch. Ich gehöre irgendwohin, wo meine Schwester auf mich wartet. Mein letzter Gedanke ist: „Im nächsten Leben werde ich sie finden.“
Ich fliege durch Welten und Zeiten und weiß, dass ich auf der Suche nach dem richtigen Leben bin, wo ich ihr wieder begegne. Tjalle leitet mich weiter: „Und jetzt, in diesem Leben, was spürst du hier? Wie ist es im Bauch deiner Mutter?“
Es ist warm und gut. Neben mir liegt meine Schwester in einem eigenen, kleinen Beutel. Ich kann sie spüren. Nur sie. Meine Mutter ist weit weg, sie scheint mit anderen Dingen beschäftigt zu sein. Es spielt keine Rolle. Amata ist da. Ich erinnere mich, dass das Mädchen im weißen Kleid so hieß. Wir haben uns wiedergefunden.
Mein Glück dauert nur kurz. Dann wird mir plötzlich kalt. Ich will mich an Amata wärmen, aber sie ist nicht mehr da. Der kleine Beutel, in dem sie gewohnt hat, ist leer. Sie hat ihn aufgemacht wie den Reißverschluss zu einem Kleid, das sie doch nicht tragen will. Meine Zwillingsschwester ist gegangen. Ich weine bitterlich und höre Tjalles Stimme: „Schau dich um, vielleicht ist sie auf andere Weise bei dir geblieben?“
Ich spüre, dass ich ganz leicht werde und in Dimensionen reise, in denen es keinen Körper gibt. Amata ist da und sagt: „Ich war immer da und ich bleibe. Ich bin ein Teil von dir.“
Lilly wollte nach Hause. Das Gefühl, dass sie hier alles gefunden hatte, was zu finden war, blieb und hatte sich verstärkt. Sie rief die Agentur an, bei der sie ihren Flug gebucht hatte. „Nein, nach Wien können Sie nicht fliegen, da haben wir kein Kontingent mehr. Aber wenn Sie wollen, können wir versuchen, Sie nach München mitzunehmen.“
Lillys Herz machte einen Riesensprung. Oskar! Sie könnte ihn und Niklas am See treffen, falls sie schon von Kiel zurück waren. Letizia war sofort am Apparat, als sie sie vom Hotel aus anrief. Oskar ist noch nicht zurück. Aber er wird am Mittwochvormittag kommen.
„Wenn wir uns verabschieden, wissen wir nicht, ob wir uns jemals wiedersehen werden“, dachte Lilly, als sie die Nummer von Rita wählte. Morgen war Dienstag und sie war mit ihrer neuen Freundin verabredet gewesen. Sie dachte einen Augenblick an Lilly, die dreibeinige Ziege. Sie hatte Rita Geld für einen großen Sack Futter zurückgelassen, als ob ein Teil von ihr schon gewusst hätte, dass sie nicht mehr zurückkommen würde. Sie packte den Tee, den sie gekauft hatte, und die Muscheln, die sie für den Platz der Vagina gesammelt hatte, in einen Sack. Sie würde Tjalle bitten, ihn bei ihrem nächsten Besuch im Wüstencamp mitzunehmen.
14. Februar 1989
In der Nacht kommen die Zweifel. Sie rollen mit den Wellen des Meeres durch meinen Körper und verursachen mir Übelkeit. Es könnte natürlich auch der Fisch gewesen sein, den ich zum Abschied gegessen habe.
Ich werde, nachdem ich einen einzigen Tag in einem Liegestuhl am Meer verbracht habe, in die klirrende Kälte von Bayern fliegen und hoffen, dass Oskar rechtzeitig aus Kiel zurück ist.
Der Zweifel ist ein hässliches schwarzes Tier mit scharfen Zähnen und nagt an allem, was bis gestern noch schön und kostbar war. Die magischen Stunden mit Tjalle und Rita verwandeln sich zu etwas Fragwürdigem, was kluge Menschen, wenn sie wieder vernünftig werden, als irrationale Handlung verbuchen.
Früher, als ich noch einen unbeschwerten Alltag hatte, in dem hauptsächlich gute Freunde, guter Sex und eine gute Reportage zählten, habe ich wenig von meinen Zweifeln gewusst. Aber sie müssen schon irgendwo in mir gewohnt haben. Wahrscheinlich haben sie sich in dem Raum versteckt, in dem auch die vielen Tränen wohnen.
Ich gehe wieder auf meinem Schwebebalken hin und her. Manchmal wundert es mich, dass genau dieses Bild vor mir auftaucht. Ich habe in der Schule den Schwebebalken immer gehasst. Dieses schmale Stück Holz, auf dem ich balancieren musste. Und weil ich einen Kopf größer als andere Kinder war, erschien mir der Abstand zum Boden bedrohlich. Aber er ist wieder da und ich nehme die Herausforderung an: Auf der einen Seite des Schwebebalkens ist die Welt zu Hause, die ich gut kenne. Es ist die Welt, in der mein Vater wohnte, als er noch lebte. Realistisch, sachlich, berechenbar. Auf der anderen Seite gibt es die Heilerinnen, die aus der Tradition meiner weiblichen Linie kommen, und die unsichtbaren Wesen, die manchmal auch durch Menschen zu mir sprechen. Zum Beispiel durch Tjalle und Rita.
Das Meer hat sich beruhigt, es rollt jetzt mit seinen sanften Wellen durch meinen Körper und nimmt die Übelkeit mit. Ein vertrauter Satz taucht auf: „Und wo immer du hingehst, gibt es Schwarz und Weiß. Und welche Seite du wählst, bestimmst du selbst. Und wenn du die weiße Seite wählst, dann werden dich die Schatten verfolgen. Aber nur ein wenig.“
Es ist ein strahlender Morgen in Dahab. Ich packe meinen Koffer und schlage, bevor ich das Buch verstaue, noch einmal „Die vier buddhistischen Königswege“ mit dem Titel „Den Alltag erleuchten“ auf. Sakyong Mipham soll mir seine Weisheit mit auf die Reise geben: „Der Pfad des Tigers hat uns gezeigt, dass Unterscheidungsvermögen und Einsatzfreude Frieden hervorbringen. Durch unsere Disziplin brauchen wir die niedrigen Bereiche der Negativität nicht mehr zu betreten. Wir sind hochherzig und fröhlich in allem, was wir tun, und unsere Handlungen sind hervorragend ausgeführt.“
Es trifft mich wie ein elektrischer Schlag. Ich
habe eine Handlung nicht hervorragend ausgeführt! Ich werfe meine
Unterwäsche und mein Waschzeug in den Koffer und stürze zur
Rezeption hinunter. „Bitte, rufen Sie Aid an, ich brauche sofort
ein Taxi.“ Aid kommt nach ein paar Minuten. Er ist der junge
Beduine, den Rita mir bei meinem zweiten Besuch geschickt
hat.
Auf dem Weg ins Wüstencamp sagt eine innere Stimme zu mir: „Du musst deine Schuhe hierlassen, damit ich sicher sein kann, dass wir wiederkommen.“ Ich sehe auf meine geflochtenen, leichten Treter hinunter. Ich liebe sie und sie waren sehr teuer. Ich gebe keinen Kommentar ab.
Rita erwartet mich mit Lilly im Arm: „Heute Morgen bin ich erwacht und wusste, dass du wiederkommen wirst.“ Sie legt mir die kleine Ziege in den Arm, sie ist noch nicht größer als eine Katze. Ich streichle Lilly, ihr Fell ist weich und schwarz-weiß gefleckt. Ich weiß, dass ich ihre Patin bin. Wir müssen nicht darüber reden. Sie sieht mich aus ihren sanften Augen vertrauensvoll an. Auch ihretwegen musste ich zurückkommen. Ich kann nicht ohne Abschied gehen.
Eine kostbare Stunde kann ich mit Rita im Wadi verbringen. „Ich habe dir Muscheln mitgebracht, ich möchte das Meer mit der Wüste verbinden.“ Sie nickt und antwortet: „Wir beten täglich um Wasser, es ist in der Wüste heilig.“
Ich bin zurück an meinem Vaginaplatz. Rita setzt sich auf einen Stein, raucht eine selbst gedrehte Zigarette und beobachtet mich. Ich lege die Muscheln in den Sand und versuche das Bild zu finden, das in meinem Inneren schon existiert. Es fehlt etwas. Rita lächelt mich wissend an, und ich frage sie: „Kannst du das Bild mit mir gemeinsam legen?“ Sie setzt sich zu mir in den Sand, schaut auf die Muscheln und stellt plötzlich die größte Muschel aufrecht in den Sand: „Es ist eine Lilie, kannst du das sehen?“ Das Meer hat mir eine Blume geschenkt und ich habe sie im wahrsten Sinn des Wortes liegen gelassen, obwohl sie stehen kann. Mit ihren kleinen zarten Händen ändert sie die Anordnung meines Muschelkreises und spricht wie zu sich selber: „Außen sollen neun Muscheln liegen. Neun ist die Zahl der Vollendung. Ein Zyklus wird jetzt abgeschlossen und etwas Neues beginnt. Dann kommen sechs Muscheln, das ist die Zahl der Herzensenergie. Und im innersten Kreis sind es fünf. Es bedeutet, dass der Wille der Seele geschieht.“ Sie zählt die Muscheln und sagt zufrieden: „Einundzwanzig, und damit sind es wieder drei. Die heilige Zahl der Dreieinigkeit. Und in der Mitte steht die Lilie. Kannst du spüren, wie stark sie pulsiert? Alle Frauen sind Lilien. Wir sind zart und stark zugleich. Es ist ein Missbrauch unserer Urkraft, wenn wir uns als das ‚schwache Geschlecht‘ bezeichnen lassen. In uns wächst Leben. Wir sind durch unsere Weiblichkeit direkt mit unseren tiefsten Wurzeln mit Mutter Erde verbunden.
Und wenn du wieder in Europa bist, kannst du
dich immer
mit diesem Platz verbinden. Dein Energiefeld kennt die
Frequenz.“
Aid wartet schon im Taxi, als wir aus dem Wadi kommen. Ich ziehe meine geflochtenen Schuhe aus, in München soll es schneien. Als ich sie in meinen Koffer packen will, sagt die Stimme wieder, dass ich sie hierlassen soll, damit ich wiederkomme. Rita lacht schallend, als ich ihr mein Anliegen unterbreite: „Du bist wie ich, ich lasse an Plätzen, an die ich unbedingt zurückkehren möchte, immer ein Paar Schuhe.“
Es war schon dunkel. Draußen vor den Glasscheiben der Ankunftshalle schneite es in großen Flocken. „Mehr als sechzig Flüge konnten heute in München nicht landen“, sagte ein Mann zu seiner Frau und hob zufrieden einen Riesenkoffer vom Band. „Unser Flug war nicht dabei“, dachte Lilly erleichtert. Wieso nicht? Gehörte das zu den Wundern? Als einige Fluggäste auf die Uhr schauten und dann begannen zu rennen, lief sie einfach mit. So musste es sein, wenn Lemminge in den Untergang gingen. Einer fing an damit und alle anderen folgten ihm. Sie schaffte es gerade noch, in die S-Bahn Richtung Innenstadt zu kommen, bevor sich die Türen schlossen. Am Hauptbahnhof stieg sie um und saß endlich in dem Regionalzug, der Richtung See fuhr. Doch schon tauchte das nächste Problem auf. Sie wusste nicht, ob Oskar den Schlüssel unter den Stein hinter dem Haus gelegt hatte. Es gab nur einen Schlüssel. Das Haus würde eisig sein, er war vor mehr als einer Woche nach Kiel gefahren. Sie dachte an das wunderschöne Hotel am See, das sie auf ihren Kajakfahrten vom Wasser aus immer bewundert hatte. Es lag mit seinen alten Holzbalkonen geschützt in einer kleinen Bucht. An den Holzstegen vor dem großen Gastgarten waren im Sommer die Segelboote vertäut, deren Besitzer zu einer Kaffeepause oder zum Abendessen anlegten. Von der Landseite aus kannte sie es nicht, obwohl es von der kleinen Hütte nur zwanzig Minuten entfernt lag. Lilly stand wieder auf ihrem Schwebebalken und ging hin und her. Ihre Vaterseite zögerte keinen Augenblick. Sie war müde, sie kam aus dem warmen Ägypten und war in Schneechaos und Kälte gelandet. Sie würde in das Hotel fahren und am nächsten Tag ihren Koffer dort lassen und zu Fuß zum Haus spazieren. Die andere Seite in ihr, die vom Bregenzerwald geprägt war, in dem die Eltern ihre Kinder zur Fron ins Allgäu schicken mussten, damit sie nicht verhungerten, fand das eine frevelhafte Verschwendung. Sie konnte einheizen, einen heißen Tee kochen und sich unter vielen Decken vor der Kälte verkriechen.
Der Zug fuhr in den Ort ein, von dem sie weiterfahren musste. Sie stieg in das einzige Taxi, und als die Fahrerin sie nach ihren Wünschen fragte, wusste Lilly noch immer nicht, wer von ihren beiden Teilen gewinnen sollte: „Fahren Sie bitte am See entlang, ich lotse sie dann.“ Die Frau sorgte für Unterhaltung. Im Hintergrund lief eine CD mit einem Roman und im Vordergrund erfuhr Lilly, dass sie heute der letzte Gast war und dass die Taxifahrerin sich schon auf das Kaminfeuer freute, das ihr Mann, der auf sie wartete, angezündet hatte. Das war die Entscheidung.
Das Hotel empfing sie mit seiner behaglichen, bayerischen Gemütlichkeit. Die Suppe, die Beerengrütze und das Glas Wein, das sie dazu trank, kosteten doppelt so viel wie das Gemüse mit Shrimps im Ofen gebacken und der Beduinentee in ihrem Lieblingslokal in Dahab. Es spielte keine Rolle. Lilly war einfach nur erleichtert, dass sie in einem warmen gemütlichen Restaurant an einem weiß gedeckten Tisch saß, und dankte innerlich ihrem Vater für die Möglichkeit, diesen Luxus zu genießen.
Am Morgen erwachte sie nach einem traumlosen Schlaf in einer Welt, die unterschiedlicher nicht hätte sein können. Sie zog die Vorhänge auf, statt Palmen kahle Bäume, anstelle des blauen Meeres lag der stille graue See vor ihr, auf dem kleine Eisschollen trieben. Dann fiel ihr auf, dass sie in Zimmer 21 wohnte. Das Mandala in der Wüste bestand aus 21 Muscheln. Die Welten waren verbunden.
Das Frühstück wurde auf feinem Porzellan serviert, es gab Stoffservietten und Kaffee, der nach guten Bohnen schmeckte. Sie sah einer Frau und einem Mann zu, die schweigend aßen und dabei Zeitung lasen. Sie trugen beide Businesskleidung und hatten ernste Gesichter. Dann kam kurz der Bregenzerwald zu Besuch. Sie wartete, bis ihr niemand zusah, und packte verstohlen ein mit Wurst und Käse dick belegtes Brot in eine Serviette und steckte es ein. Man konnte nie wissen, wann es das nächste Mal etwas zu essen gab …
Lilly stapfte durch den Schnee. Das Brot beulte beruhigend ihre Manteltasche aus. Sie trug dünne, weiße Müllsäcke über ihren feinen Lederstiefeletten. Für Ägypten hatte ihr Outfit gepasst, jetzt war sie froh darüber, dass zu ihren Talenten Improvisation gehörte. Das Hotel hatte ihr einen Schirm geliehen, mit dem sie versuchte, sich gegen den Wind zu schützen, der mit Schneeflocken vermischt vom See herwehte. Sie wandte sich nach links und überquerte die „Bannmeile“, wie Oskar es nannte. Im Sommer, wenn der Biergarten mit seinen weißen Sonnenschirmen Sonnenhungrige aus München anlockte, war die Gefahr besonders groß, dass jemand sie erkannte. Jetzt war sie allein. Ein paar Hundebesitzer hatten sich schon früher am Tag zu einer Morgenrunde aufgerafft und hinterließen für Lilly Spuren, in denen sie besser gehen konnte. Als sie nach zwanzig Minuten den Uferstreifen erreichte, der ganz nah bei Oskars Versteck lag, läuteten die Kirchenglocken im Ort. Sie nahm es als gutes Zeichen. Ich bin erwünscht, ich werde hier erwartet. Ihr Mann und ihr Sohn hatten den Nachtzug ab Hamburg genommen und würden schon da sein. Das wusste sie von Letizia. Sie hatte ihr nicht gesagt, dass sie kommen würde, weil sie beim Abflug auf der Warteliste stand. Außerdem liebte sie Überraschungen. Sie freute sich auf den Jubel, die leuchtenden Augen und auf Niklas, der an ihr hinaufspringen würde wie ein übermütiger, junger Hund.
Das kleine Holzhaus lag so versteckt hinter Bäumen, dass es auch für Lillys Augen erst im letzten Moment sichtbar wurde. Ihr Herz schlug schneller und sie spürte, wie die freudige Erwartung warm durch ihren Körper pulsierte. Nur noch eine Minute, dann würde sie um die Ecke biegen und bei ihrer Familie sein.
Der Schnee vor der Tür war unberührt. Kein Zeichen von Leben, kein Licht, kein Rauch aus dem Kamin. Vor dem Iglu, das die beiden gebaut hatten, sah sie Spuren. Sie stammten von einem größeren Vogel, wahrscheinlich von einer Krähe. Oskar und Niklas waren nicht da. Sie fühlte nichts, als sie es registrierte. Sie wusste, dass es nur ein Irrtum sein konnte, der sich aufklären würde, und stapfte über die Wiese zu Letizia. Ihr alter Range Rover stand vor der Tür und trug eine dicke Schneehaube. Sie war heute noch nicht in den Ort gefahren, „Alhamdulillah!“ Lilly lächelte, als sie es laut sagte, und dachte an Tjalle, die ihr das Gott sei Dank auf Arabisch beigebracht hatte.
Sie läutete an der Tür. Nichts rührte sich. Sie ging links am Haus entlang, sah Licht im Badezimmer hinter der Milchglasscheibe und wartete eine Weile in der Kälte. Dann läutete sie wieder. Stille. Sie umrundete das alte Holzhaus und schaute durch die kleinen Fenster ins Wohnzimmer mit dem gemütlichen, blassgrünen Kachelofen. Quer über den Raum waren Schnüre gespannt, an denen getrocknete Kräuterbündel hingen. Von Letizia keine Spur. Sie richtete ihr Leben nach den Jahreszeiten aus und so wie ihre Pflanzen eine Ruhezeit einlegten, saß sie in der stillen Jahreszeit häufig in ihrem alten, bequemen Lehnsessel und las. Lilly klopfte überall, sie rief, sie schrie laut. Stille. Vielleicht war Letizia in den Wald gegangen und sammelte Holz, weil der Winter in diesem Jahr besonders kalt war. Sie wartete noch eine Weile und sah das alte Haus zum ersten Mal mit Augen, die nichts anderes zu tun hatten. Die grünen Fensterläden waren frisch gestrichen, Oskar hatte seiner Vermieterin aus Dankbarkeit im Herbst dabei geholfen, und der Schutzanstrich für die alten, braunen Balken war auch erneuert worden. Sie lebten längst wie eine Familie und Letizia war die Sippenälteste, die verehrt, geliebt und geachtet wurde.
Lilly ließ das Anwesen, das eine ganz besondere Energie ausstrahlte, hinter sich und ging zu Oskars Hütte, dem ehemaligen Gästehaus, zurück. Es war, als ob dieser Ort, der für sie Sicherheit und Schutz bedeutete, sich zum ersten Mal als eigenes Wesen präsentierte. Bisher gab es immer Oskar und dann Niklas, die dort warteten. Sie standen im Vordergrund des Bildes und die Kulisse spielte keine Rolle mehr. Jetzt war plötzlich das kleine Häuschen das einzig Vertraute. Ihre Verbindung zu ihrer Familie, ihr Lichtblick, ihre Hoffnung. Sie sah mit neuer Zärtlichkeit Details, die ihr bisher nicht aufgefallen waren. Wie harmonisch die Querbalken aus ganzen Holzstämmen aufeinandergesetzt waren und sich mit denen der Schmalseite trafen. Es sah so aus, als hätte der Zimmermann keinen einzigen Nagel gebraucht. Der Dachgiebel war ein Kunstwerk. Auch hier waren die Balken schräg aneinandergefügt und millimetergenau zugeschnitten worden. Das große Fenster an der Südseite, unter dem die Hausbank stand, war durch feine Holzsprossen unterteilt. Ein kleiner Schlitten stand vor der Tür, den Niklas vergessen hatte zu verräumen. Lillys Kräuterbeet, für dessen Einfassung Oskar ihr einen Baumstamm in gleichmäßige Stücke zersägt hatte, schlief unter dem dicken Schneebett.
Sie fand den Schlüssel unter dem Stein und betrat das Haus. Es sah so klein aus, ohne die Menschen, die es bewohnten, obwohl sie wusste, dass das eigentlich absurd war. Aber wahrscheinlich war sie so sehr auf ihre Familie fixiert, dass ihr die räumliche Enge bisher noch nicht aufgefallen war. Oskar hatte im Sommer die braunen Holzwände weiß gestrichen und den Überzug auf dem Sofa mit einem hellen Leinenstoff erneuert, der früher dunkel war. Das machte den Raum ein bisschen größer. Im ersten Augenblick war es warm und fast gemütlich, als sie aus der Kälte kam. Aber nur für einen Augenblick. Sie musste sich bewegen, bis Oskar und Niklas kamen, legte ein paar Holzscheite in den Ofen, sperrte die Türe wieder zu und ging zum See.
Auf dem Weg dorthin traf sie zwei Landschaftsgärtner mit orangefarbenen Schutzwesten. Sie standen vor einem Gerüst auf Rädern und fachsimpelten über eine Birke, die offenbar geschnitten werden musste, weil sie bei Sturm eine Gefahr darstellte. Lilly fühlte sich einsam und fragte die beiden nach dem Namen der anderen Bäume, die hier im Landschaftsschutzgebiet wuchsen. Die beiden schienen sich über ihr Interesse zu freuen und zählten abwechselnd die ganze Vielfalt auf: Eichen, Erlen, Pappeln, Schwarzkiefern, Eschen, Ahorn, Kastanien, Linden und Wildkirschen. Lilly schaute mit ihnen gemeinsam in den Himmel auf die Zweige, die bei den meisten Bäumen kahl waren, und hatte keine Ahnung, welcher nun welcher war. Sie nahm sich vor, im Frühling, wenn sie wieder Blätter trugen, das Pflanzenbestimmungsbuch, das ihr Ella zu Weihnachten geschenkt hatte, mitzubringen.
Der kleine Strand, an dem sie schon so viele Stunden verbracht hatte, strahlte eine Ruhe aus, die Lillys Einsamkeit von ihr nahm wie eine Krankheit. Sie sah auf die vertrauten, vielfarbigen Kieselsteine und folgte mit den Augen ihren Bewegungen, wenn das Wasser mit ihnen spielte. Alles war gut. Sie hatte ihren Schirm beim Haus gelassen und ließ zu, dass der Schnee ihr eine Kappe auf den Kopf setzte, die schmolz und in winzigen Rinnsalen von ihrer Kopfhaut über ihr Gesicht rann.
Lange stand sie da und merkte nicht, dass inzwischen auch ihr Mantel, der für Ägypten zu warm gewesen und für hier zu kalt war, sich mit Wasser vollsaugte. Lilly hatte Angst, zurückzugehen. Was, wenn die beiden Häuser sie immer noch aus schwarzen Fensterhöhlen anstarrten?
Die Kirchenglocken läuteten wieder. Es war eine Stunde vergangen. Sie gab sich einen Ruck und verließ den magischen Platz. Plötzlich verstand sie, warum Menschen einfach irgendwo erfroren. Es war so schön, in der Natur zu sein und alles hinter sich zurückzulassen. Niemand war da. Weder Oskar noch Niklas. Auch Letizia nicht.
15. Februar 1989
Ich kann nicht in unserem kleinen Haus bleiben. Ich lasse für Oskar eine Botschaft auf dem Küchentisch und gehe den Weg zum Hotel zurück. Die weißen Müllsäcke sind längst zerfetzt und hängen an meinen durchweichten Schuhen. Ich müsste den Gummi lösen, der sie an meinen Knöcheln hält, aber ich habe nicht die Kraft dazu. Ich friere. Die Kälte ist in meinem Inneren. Wenn ich weinen könnte, wäre mir vielleicht wärmer. Meine dünnen Lederschuhe sind vollständig nass und ich weiß, dass ich unbedingt warme Füße brauche und einen heißen Tee. In mir weint es. Mama, Mama, Mama. Aber meine Mutter ist vor langer Zeit weggegangen, lange ehe ich geboren war.
Als das Haus des Fischers an meinem Weg auftaucht, erinnere ich mich daran, dass ich erwachsen bin und für mich selber sorgen muss. Der Fischer öffnet mir sofort die Tür, als ich klopfe. Ich bin nicht sicher, ob er mich als die fröhliche, braun gebrannte Frau wiedererkennt, die im Sommer bei ihm manchmal geräucherte Forellen gekauft hat. Seine Haare sind grau, seine Hände haben Schwielen. Ich habe keine Angst, dass er mich aus der Zeitung erkennt und uns verrät. Er gibt mir neue Plastiksäcke und findet die Idee originell. Als ich wieder ins Schneetreiben hinaustrete, diesmal mit gelben Plastiksäcken an den Füßen, bin ich wieder stark.
Ich bin Lilly, die eine kleine Ziege in Ägypten kennt, die ihren Namen trägt. Ich bin Lilly, die sich mit einem Muschelmandala in der Wüste verbindet, und ich bin Lilly, die ihre Zwillingsseele gefunden hat.
Ich leiste keinen Widerstand mehr gegen mein Schicksal. Ich nehme es an und merke, dass es gut ist, dass ich allein geblieben bin, dass ich gezwungen werde, Zeit für mich zu haben. Ich spaziere am See entlang und bitte die Wesen, mir zu helfen, meine neue Identität zu begrüßen.
Der Platz neben mir füllt sich. Ich spüre, dass das große Loch, das ich versucht habe, mit der Zuneigung anderer Menschen zu stopfen, langsam heilt. Oskar ist plötzlich kein Teil mehr von mir. Ich sehe ihn als einen Mann, der vielleicht seinen Zug verpasst hat, oder den sein Anwalt gebeten hat, zu bleiben. Unser Kind ist bei ihm gut aufgehoben und ich bin bei mir.
Ich sitze alleine in der Gaststube des Hotels, meine Schuhe trocknen neben der Heizung. Ich trinke Tee, esse eine Suppe und schaue auf den See. Es ist friedlich in mir.
Vollständig. Das Wort bedeutet, dass ich
ständig voll bin. Gefüllt von mir selber und getragen von der
großen Mutter, der
wir den Namen Erde gegeben haben. Ich denke mit tiefer Dankbarkeit
an Tjalle und Rita und verbeuge mich vor dem Land,
das mir diese Begegnungen ermöglicht hat.
Die zurückgestutzten Weiden vor dem Fenster sehen jetzt aus wie alte, weise Frauen, und die Stühle, die ihre Lehnen als Schutz gegen den Schnee zu den Biergartentischen neigen, scheinen miteinander zu tuscheln: „Das hat sie gut gemacht!“
Ein Zyklus endet. Ich sehe den Stein mit dem weißen Kreis vor mir, den mir Rita geschenkt hat, gehe an die Rezeption und rufe Letizia an, die mir erzählt, dass sie eine ganze Hucke voll Holz gesammelt hat. Sie sagt mir, dass Oskar in Kiel geblieben ist, weil sein Anwalt neues Material aus Wien bekommen hat. Ich lege auf und sage zu der jungen Frau, der ich Zimmer 21 verdanke: „Bitte suchen Sie mir eine Zugverbindung nach Wien heraus, ich will nach Hause.“
12 Hinaus, die Sonne scheint.