8. Kapitel

Ralf war entsetzt, als Lilly eine Woche früher als geplant in der Redaktion auftauchte. Er hielt ihr einen Vortrag, dass das Leben als verrücktes Huhn gefährlich sei und sie solle sich einmal auf dem Land ansehen, wie viele im wahrsten Sinn des Wortes unter die Räder kämen. Er sagte ihr, dass sie völlig erschöpft aussähe, und brüllte sie an, sie solle endlich Verantwortung für sich selbst übernehmen: „Du kümmerst dich um Gott und die Welt, aber wann wirst du dich um dich selbst kümmern?“ Er war richtig zornig auf sie und Lilly war nach ihrem ersten Widerstand gerührt, dass Ralf sich solche Sorgen um sie machte. Auch wenn sie unbegründet waren.

Sie fühlte sich gestärkt und wohl und hatte das Gefühl, als seien ihr Flügel gewachsen. Ralf gab auch dazu einen Kommentar ab: „Du verwechselst spirituelles Wachstum mit körperlicher Erholung und weißt nicht, was Selbstfürsorge ist“, sagte er und war erst etwas versöhnlicher gestimmt, als sie ihm von ihrem fehlenden Teil erzählte, den sie wiedergefunden hatte: „Ich hoffe, dass du dann langsam vernünftiger wirst.“

Lilly dachte an die Schuhe, die sie in Dahab zurückgelassen hatte, und bezweifelte, dass sie vernünftiger geworden war. Sie war dankbar für die Rückführung, gleichzeitig spürte sie, dass ihr der Blick in frühere Leben unheimlich war. Außerdem hatte sie genug in ihrer Gegenwart zu tun.

Das Thema war aber ohnehin bald wieder vom Tisch, weil Lilly sofort mit Elan in eine neue Geschichte einsteigen wollte. Es war ihr schon immer ein Dorn im Auge gewesen, dass Randgruppen, wenn sie nicht ins Bild der sogenannten „gesunden“ Gesellschaft passten, abgesondert wurden. Wieso mussten Alte, Blinde, Behinderte und psychisch Kranke in speziellen Einrichtungen aufbewahrt werden? Warum konnten sie nicht besser in die Gesellschaft integriert werden? Sie dachte an die alte Frau, die in der Servitengasse im Nachthemd herumgeirrt war. Sie lebte jetzt in einem Pflegeheim und siechte vor sich hin. Man hatte ihr jeden sinnvollen Inhalt genommen.

„Ich möchte“, sagte sie zu Ralf, nachdem er sich beruhigt hatte, „eine Serie mit dem Titel ‚Die Ausgeschlossenen‘ machen und mit den Blinden anfangen.“ Eine Studie aus Lappland, in der psychisch Kranke, von einem Interventionsteam begleitet, zu Hause versorgt wurden, verschob sie auf später, weil sie sich erst das Material beschaffen musste. Ihre Kontakte zu einer Betreuerin in einem Blindenheim konnte sie sofort nützen.

Es war Montag. Der Himmel war grau und es nieselte. In Ägypten schien die Sonne und es hatte fünfundzwanzig Grad. Lilly saß in der Redaktion. Sie hatte ihr Wochenende mit Lea verbracht. Reden, spielen, mit dem Schlitten von der Sofienalpe zum Schwarzenbergpark fahren … Sie war müde.

Als sie sich an den Computer setzte und das Interview mit Hedi, der Betreuerin im Blindenheim, schreiben wollte, das sie am Freitag geführt hatte, merkte sie, dass ihre Hände zitterten und ihr Kopf eine Spange aus Eisen trug, die sie drückte. „Verdammte Scheiße, was ist mit mir los“, sagte sie laut und ungeduldig. Lilly sprach mit sich selber selten liebevoll, das war nicht ihr Stil. Sie hatte von ihrem Vater den Spruch „Was mich nicht umbringt, macht mich härter“ geerbt und sparte ihre sensible Seite für andere auf. Doch es half nichts. Die Vibration in ihrem Körper wollte nicht aufhören und sie dachte daran, dass sie heute Morgen verwundert war über ihren schleppenden Gang, als sie zu Fuß am Donaukanal entlang in die Redaktion spaziert war. Oskar nannte sie manchmal „meine Gazelle“, weil sie mit weit ausholenden, federnden, leichten Schritten ging. Heute Morgen hatte sie ihre Beine hinter sich hergezogen, als ob sie gegen einen Sumpf ankämpfen musste, in denen sie steckten. Sie hatte es als normale Reisemüdigkeit abgetan und sich nicht weiter darum gekümmert. Das war meistens so. Wenn Lilly etwas fehlte, nahm sie es erst ernst, wenn ihr Körper vollkommen streikte. Bis dahin scheuchte sie Beschwerden zur Seite wie lästige Fliegen und ging davon aus, dass sie von selber wieder verschwanden. Meistens war das auch so. Gleichzeitig spürte sie, dass es heute anders war. Ihre Hand verkrampfte sich, als sie sich zum Schreiben zwingen wollte, und ihre Augen begannen zu brennen. Sie hörte Ritas erstaunte Stimme am Telefon, als sie ihr gesagt hatte, dass sie abreisen wollte: „Das wundert mich, ich dachte, dass du für ein paar Tage in die Stille der Wüste kommen wirst, um dich zu erholen.“ Und Ibrahim, der mit stillen, tiefen Beduinenaugen mehr beobachtete als sprach, hatte ihr den ­Hörer aus der Hand genommen: „Du solltest für eine Weile hierbleiben. Hier findest du deine Kraft und deine Kreativität wieder.“

17. Februar 1989

Es ist zu spät, ich habe es schon getan. Ich bin mir gefolgt. Der alten Lilly in mir, die sich, getrieben von der Gewohnheit, gut zu funktionieren, durch die intensiven Erfahrungen in Ägypten gejagt hat. Ein Tag am Strand war mir schon zu viel und weiter geht’s. Wohin? Bis zum Herzinfarkt?

Ich bin erschöpft, mein Körper fühlt sich an wie eine leere Hülle. Ich habe Erkenntnis mit Erholung verwechselt. Ralf hatte recht mit seinem Zorn auf mich. Ich muss endlich Verantwortung für mich selber übernehmen.

Ich sitze in meinem Büro und sollte stattdessen in Dahab am Strand liegen oder bei Rita in der Wüste auf einem Stein sitzen und einfach nur in die Luft schauen. Meine Rückkehr hatte nichts mit der Seins-Qualität zu tun, nach der ich mich so sehne und die ich bei Tjalle und Rita gespürt habe.

Lilly hörte Ralf, der von einer Pressekonferenz zurückkam. Er öffnete vorsichtig ihre Bürotür und setzte sich mit einem schuldbewussten Gesicht auf ihre Schreibtischkante: „Du weißt, dass es nicht meine Art ist, zu brüllen. Und dafür entschuldige ich mich. Aber ich mache mir ernsthafte Sorgen um dich …“ Lilly war froh, dass sein Ärger verflogen war: „Ralf, du hast in allen Punkten recht. Ich möchte mir für ein paar Wochen eine Auszeit nehmen. Ich kann mich nicht mehr gleichzeitig um Oskar, die Kinder und die Arbeit kümmern. Das letzte Jahr hat mich alle meine Reserven gekostet.“

Ralf war erleichtert. Für Psychologie Morgen war es ein Verlust, wenn Lilly eine Zeit lang nicht mehr schrieb. Ihr eigenwilliger Stil war unersetzlich und sie hatte eine große Fangemeinde. Aber was bedeutete schon der Erfolg einer Zeitschrift, wenn es um die Gesundheit seiner besten Freundin ging?

Lilly versorgte Lea und spielte mit ihr, telefonierte manchmal von einem Hotelanschluss mit Oskar und Niklas und lag stundenlang auf ihrem weißen Sofa und dachte ausführlich über das Wort „Selbstfürsorge“ nach. Ralf hatte ihr letzte Woche im Büro in seinem Zorn an den Kopf geworfen, dass sie keine Ahnung hätte, was das ist.

21. Februar 1989

Es stimmt. Ich weiß nicht, was es bedeutet. Ich kenne das Wort „Selbstversorgung“. Es ist mir vertraut. Es klingt nach Selbstversorgerhütte und nach Überleben. Das kann ich gut. Aber Selbstfürsorge? War ich jemals fürsorglich zu mir selber? Sicher nicht. Ich kritisiere mich scharf, ich beute mich aus, ich stelle das Wohlbefinden von allen anderen vor meines. Das hat meine Mutter ihr Leben lang gemacht. Kann man es lernen, gut zu sich selber zu sein? Ralf hat es gelernt. Nicht ganz freiwillig. Nach seiner Krebsdiagnose vor mehr als zehn Jahren hat er sein ganzes Leben umgekrempelt. Macht täglich Yoga, meditiert, reinigt seinen Körper und seinen Geist immer wieder und sorgt dafür, dass seine Beziehung zu Chris in Balance ist.

Aber wie soll ich zu mir selber fürsorglich sein, wenn Oskar und die Kinder mich brauchen? Ich nehme das Wort „Selbstfürsorge“, packe es in eine schöne Schachtel und lege es ganz hinten in meinem Gedächtnis ab. Eines Tages, verspreche ich mir, werde ich mich darum kümmern. Eines Tages, wenn unser Leben wieder normal ist.

In dieser Nacht träume ich. Ich sehe ein kleines Mädchen. Es hat ein schmales, ernstes Gesicht und läuft über eine Wiese. Es ist vielleicht fünf Jahre alt und trägt ein hübsches, weißes Kleid mit Blumenmuster. Es fällt hin und ich beobachte, dass es mit schmerzverzerrtem Gesicht liegen bleibt. Ich kenne es nicht und ich habe keine Zeit, es aufzuheben. Ich stehe noch immer am Rand der Wiese und warte, dass seine Eltern kommen. Sein Kleidchen ist aus teurem Stoff, es kann nicht verwahrlost sein. Es sieht mich aus flehenden Augen an. Niemand kommt. Ich gehe hin, hebe es auf und setze es auf meinen Schoß. Und plötzlich spüre ich, dass es mir gehört. Es hat auf mich gewartet.

Ich hole die Schachtel mit dem Wort „Selbstfürsorge“ wieder aus der hintersten Ecke hervor. Ich kann nicht warten, bis Oskars Probleme gelöst sind. Ich muss mich um das kleine Mädchen in mir kümmern. Aber wie?

Lilly hielt es nicht lange auf dem weißen Sofa aus. Ostern nahte und damit die Planung für ein Wiedersehen mit Oskar und Niklas. Sie war mit dem Wort „tun“ und nicht mit dem Wort „sein“ aufgewachsen und war froh, dass sich wieder eine Möglichkeit bot, aktiv zu werden.

Lech am Arlberg ist eines der schneesichersten Skigebiete Österreichs. Sie wusste, dass sie hier im März gut Skilaufen konnten. Lilly hatte sich zu Weihnachten, als sie mit Lea im Wäschereiwagen über die Grenze gefahren war, geschworen, keine gefährlichen Aktionen mehr zu unternehmen. Aber das war lange her, und ihre Reise in die Wüste hatte sie sicher gemacht, dass nichts passieren würde, was nicht dem Gesamten diente. Rudi, der inzwischen ein vollwertiges Mitglied des „Unterstützungskomitees“ war, warnte sie: „Sie erwarten, dass du an Ostern versuchen wirst, Oskar zu besuchen, und wissen natürlich auch, dass du kurz vorher Geburtstag hast. Zwei Daten, an denen du dich im letzten Jahr abgesetzt hast, und so listig sind sie, dass sie sich ihre Niederlagen ein Jahr lang merken können.“

Lilly fand das Wort „abgesetzt“ interessant. Sie stellte sich vor, wie sie ohne Erlaubnis ihrer Bewacher aufstand und sich einfach woanders wieder niedersetzte. Nach ihren eigenen Wünschen und ihrem eigenen Willen. Es fühlte sich gut an. Sie erinnerte sich an die Qualen der Volksschule, wo die schlimmen Schüler, damit sie besser unter Beobachtung waren, ganz vorne in der „Eselsbank“ sitzen mussten. Sie war gemeinsam mit Emil, der Tintenfässer austrank, die Einzige gewesen, die fast ständig dorthin ­zitiert wurde. Ihre „böse Hand“ wollte nicht mitmachen bei der Umschulung, die sie heute als Vergewaltigung sah.

Johanna und Rudi hatten darauf bestanden, nach Lech mitzukommen: „Du brauchst Hilfe“, hatten sie in ihrer üblichen Übereinstimmung verfügt, wobei meistens sie sprach und er dazu auf seine bedächtige, ruhige Art mit dem Kopf nickte: „Du bist ­immer noch erschöpft und kannst nicht die ganze Last der Vorbereitung und dann der Beobachtung vor Ort tragen.“ Lilly war erleichtert und nahm an einer Planungssitzung teil, die sie in ­einer Sauna abhielten, in der man stundenweise Kabinen mieten konnte. Rudi war, wie immer, der Pragmatiker und hatte schon im Vorfeld der „Operation Ostern“ seine Fähigkeiten als Tüftler eingesetzt. Er hatte Landkarten und Prospekte mit allen Skiliften und Abfahrten aus der Gegend besorgt und einen Masterplan entwickelt, bei dem nichts schiefgehen konnte.

Der Arlberg empfing sie in strahlendem Sonnenschein. Das Hotel lag direkt an der Piste in Oberlech. Ella hatte es ausgesucht, sie kannte sich in der Gegend aus: „Am Abend fahren die Tagestouristen ins Tal, dann bleiben nur die Hotelgäste auf der Anhöhe, das hilft euch, die Lage leichter zu überblicken.“ Sie lebten sich rasch ein und fuhren nach dem Frühstück, so wie die meisten Gäste, im gleißenden Schnee über weite Hänge, die von den Pistenraupen in der Nacht wieder präpariert wurden. Wenn der Schnee zu matschig wurde, saßen sie in Liegestühlen auf der Terrasse und lasen oder spielten mit Lea Karten. Ihre Großmutter hatte ihr die Vorarlberger Spezialität „Jassen“ beigebracht und sie war stolz darauf, dass sie die Erwachsenen schlagen konnte. Das Kind wusste nicht, dass es hinter dieser erholsamen Idylle ein anderes Ziel gab.

Lilly konnte es nicht mehr ertragen, sie zu belasten, und bemühte sich, so normal wie möglich zu sein und wirklich auszuspannen. Sie mochte dieses Wort. Sie stellte sich vor, wie sie die Pferde ausspannte und ihren Wagen zur Erholung auf einer Skiwiese abstellte. Es war auch leicht. Rudi hatte die Observierung übernommen, das beruhigte sie. Er beobachtete die anderen Gäste, nahm jeden Skiläufer aufs Korn, der eine Pause machte und sich in ihre Nähe setzte, und bat regelmäßig zu einer Lagebesprechung auf der Piste, wenn niemand in der Nähe war und Lea mit einem anderen Kind, das ebenfalls im Hotel wohnte, spielte. Er stellte immer wieder Vermutungen an, wer von den anderen Gästen „die Laus“ sein konnte. Das war sein Codewort für den Beamten, der zur Tarnung durchaus auch mit Frau angereist sein könnte. Aber Beweise gab es keine. Es sprach immer etwas für oder gegen seine jeweilige Theorie. Er hatte in einer versteckten Tasche seines Skianzugs eine kleine Liste, die er regelmäßig mit einem winzigen Bleistift, der in seinen große Händen wie ein Spielzeug aussah, ergänzte. Wenn jemand abreiste, radierte er die Zeile wieder aus. Johanna, deren Kinder vorgezogene Osterferien in den USA bei ihrem Vater verbrachten, genoss das Detektivspiel und ihr ungestörtes Liebesleben mit Rudi: „Ich bin in meinem ganzen Leben noch nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten und werde bei jeder Lüge sofort rot. Ich bin fassungslos, was ich für kriminelle Energien an mir entdecke.“ Nebenbei lernte sie mit Tourenski zu gehen und die anderen drei, die längst fit darin waren, schlossen sich an, wenn sie mit ihrem Skilehrer übte.

Nach einigen Tagen sagte Rudi, der „die Laus“ noch im-
mer nicht identifiziert hatte: „Wir müssen überprüfen, ob der Bursche überhaupt Ski läuft.“ Und Johanna fragte skeptisch: „Wer sagt, dass es ein Mann ist, der uns beobachtet?“ Rudis Antwort kam postwendend: „Weil es gar keine weiblichen Staatspolizistinnen gibt. Frauen wird so ein Job gar nicht erst zugetraut.“

Es war kurz vor vier Uhr, als Lilly und Rudi die letzte Auffahrt zum Madloch nahmen. Das Madloch eignete sich am besten für eine Observierung, weil es eine der längsten Abfahrten war, die in Zug, einem kleinen Ort in der Nähe von Lech, endete. Sie blieben oben an der Bergstation eine Weile stehen und schauten ins Tal. Es war schon kühl, und sie wussten, dass schwierige Bedingungen auf sie warteten. Die meisten Skiläufer hatten heute schon zu Mittag aufgehört, weil sie Angst vor dem schweren Schnee hatten. Die beiden waren exzellente Skifahrer. Rudi hatte seinen Militärdienst bei den Gebirgsjägern absolviert und Lilly im Bregenzerwald Skilaufen gelernt, noch ehe sie lesen konnte. Johanna, die sich vom anstrengenden Tourengehen erholen wollte, war bei Lea geblieben.

Sie fuhren konzentriert durch tiefe „Badewannen“ mit harten Rändern, schwangen über steile Hänge, die von Skikanten so abgeschabt worden waren, dass das Gras hervorschaute, nahmen Abkürzungen durch harschigen Schnee und blieben immer wieder stehen. Sie waren die Einzigen auf der Piste. Niemand war hinter ihnen vom Lift gestiegen, niemand war ihnen gefolgt. Lilly fühlte sich sicher, die Berge waren ihre Welt. Als sie verschwitzt und mit geröteten Gesichtern im Tal ihre Ski abschnallten, sagte Rudi zufrieden: „Sie unterschätzen dich, sie trauen dir nicht zu, dass du auf Skiern abhaust. Viel Aufregung um nichts. Kein Polizist weit und breit.“ Johanna und Lea warteten schon im Gasthaus Rote Wand auf sie. Es gab die berühmten Kässpätzle und die Gewissheit, dass ihr Plan durchführbar war.

Nichts wies darauf hin, dass es ein ungewöhnlicher Tag werden sollte. Lilly stand inmitten der kleinen Gruppe, die sie ihre Großfamilie nannte. Es war neun Uhr und alle hatten ihre Tourenski dabei. Sonst nichts. Selbst der Rucksack mit Broten, der sonst zu Johannas Grundausstattung gehörte, „weil man nie wissen kann, was passiert“, war heute im Hotel geblieben. „Wir dürfen unserem Polizisten, der wahrscheinlich ein Dauerabo auf einem der Liegestühle vor unserem Hotel hat, keinen Grund zum Nachdenken geben“, hatte Rudi bestimmt. Er war der Kommandant der Operation und kannte die Strecke wie seine Westentasche. Er hatte sie schon zu Hause auf seinen Karten markiert und war sie in den letzten Tagen gefahren. Sein fotografisches Gedächtnis hatte jede Abzweigung gespeichert.

Ihr Ziel war das Hotel am Körbersee im Hochtannberggebiet, das zum Bregenzerwald gehörte. Sie fuhren den Weibermahd-Lift hinauf und über die Auenfelder, an der Mohnenfluh und der Juppenspitze vorbei durch atemberaubende Landschaften, die Lilly von Wanderungen mit ihrer Mutter und Ella gut kannte. Die weißen Gipfel schauten wie Wächter auf sie herunter, und gleichzeitig fühlte sie sich so klein. Ein Staubkorn im Universum dieser mächtigen Berge. Johanna kämpfte sich wacker und am Ende schon mit zittrigen Knien durch das Abenteuer. Lea fuhr Tourenski wie ein Nachwuchstalent. Sie tauchte durch die tiefsten Schneemulden, und wenn sie stürzte, stand sie in der nächsten Sekunde wieder auf. Die letzte Etappe ging bergauf bis zu dem Hotel, das einzigartig an einem kleinen See lag, der jetzt zugefroren war. Für Johanna war dieser letzte Teil eine schwere Prüfung und sie verfluchte Rudi, der ihr feixend zusah, wie sie keuchte: „Wenigstens etwas, das ich besser kann als du. Und außerdem brauchen wir die Sicherheit, dass uns niemand folgt.“

Als Lilly ihre Tourenski abschnallte, spürte sie, dass ihre Knie zum ersten Mal an diesem Tag weich wurden und die Angst ihren Magen wie mit einer Faust zudrückte. Hoffentlich war Ella da. Sie musste vom Parkplatz am Hochtannberg vierzig Minuten zu Fuß gehen, weil das Hotel mitten im Naturschutzgebiet lag. In der Gaststube empfingen sie Stimmengewirr und der Geruch von nahrhaftem Essen. Sie erfasste mit einem einzigen Blick, dass ihre Befürchtung stimmte. Was jetzt? Wen sollte sie fragen, wo ihre Freundin geblieben war? Ihr Plan hatte eine schwerwiegende Kommunikationslücke. Sie hatten Leander und ihre Mutter nicht eingeweiht, weil die beiden schon seit Langem dagegen waren, dass Lilly unter so großen Gefahren Oskar besuchte und Ella sich mitschuldig machte. Die wiederum hatte ihnen erzählt, dass sie eine Heilerinnenkonferenz in München besuchte, und konnte sogar einen Prospekt und eine Eintrittskarte vorweisen.

Im Gasthaus gab es eine dicke Erbsensuppe und zum Nachtisch einen flaumigen Kaiserschmarren. Niemand konnte sich darüber freuen. Auch Lea nicht. Sie spürte, dass etwas nicht stimmte, und kuschelte sich schweigend in die Arme ihrer Mutter. „Wir werden zum Papa fahren“, flüsterte ihr Lilly ins Ohr. „Ella wird gleich da sein und uns nach München bringen.“ Sie beobachtete misstrauisch die anderen Gäste, aber niemand nahm von der kleinen, bedrückten Gruppe Notiz. Es wurde gescherzt, hausgemachte Germ- und Speckknödel gegessen und so mancher Obstler getrunken.

Sie waren schon eine Stunde hier, als Ella atemlos und mit schmutzigen Händen auftauchte: „Ich hatte eine Reifenpanne, ich muss auf der Baustelle neben unserem Haus auf einen Nagel gefahren sein, und als ich schon fast auf dem Pass war, ging mir buchstäblich die Luft aus. Mitten im Niemandsland und weit und breit keine Telefonzelle.“ Sie war eine gute Mechanikerin und hatte mit einem ihrer Brüder als Jugendliche einen Wettstreit gewonnen, wer schneller Reifen wechseln konnte.

Es war ein inniger Abschied auf dem Parkplatz des Hochtannbergpasses. Rudi und Johanna nahmen die drei Reisenden noch einmal in die Arme. Lilly etwas länger, weil sie noch immer ganz blass war. Rudi, der fand, dass man Rituale aus anderen Berufsgruppen, wenn sie einem gut gefielen, adoptieren sollte, spuckte ihnen dreimal über die Schulter. „Toi, toi, toi“, sagte er und ­Johanna verzog das Gesicht, weil er vor ihr mit einer Schau­spielerin liiert gewesen war, die ihn mit einem Kollegen betrogen hatte. Rudi hatte trotzdem gute Erinnerungen an die Exgeliebte, denn immerhin verdankte er diesem Umstand, dass er Johanna gefunden hatte. Die beiden wollten heiraten, sobald die Scheidung von Kevin rechtskräftig war.

Rudi schnallte Lillys und Leas Tourenski auf Ellas Dach­ständer: „Kein Zöllner kontrolliert ein Auto, das nach einem Skiurlaub aus Österreich über die deutsche Grenze fährt.“ Die Koffer, die Ella mitgebracht hatte, waren neu. Sie hatte sie beim Lederwaren Hofmann in der Bregenzer Kaiserstraße gekauft, dort war sie nicht bekannt und niemand hatte sie gefragt, wohin sie verreisen wollte. Den Inhalt hatte Lilly wie immer in kleinen Raten in den Bregenzerwald gebracht oder jemandem aus der großen Vorarlberggemeinde in Wien, als Geschenk getarnt, mitgegeben. Vieles gab es inzwischen ohnehin doppelt, weil es zu mühsam war, alles hin und her zu schleppen. Sie hatte sich an die erstaunten Gesichter der Verkäuferinnen gewöhnt, wenn sie zwei Paar gleicher Schuhe kaufte.

15. März 1989

München Hauptbahnhof. Wir warten auf den Nachtzug nach Hamburg. Nicht am Bahnhof, dort gibt es zu viel Polizei. Wir sitzen bei einem guten Italiener in einer der Seitenstraßen, den Chris uns empfohlen hat, und ich genieße, dass Ella noch da ist. Wir haben vom Restauranttelefon Rudi und Johanna im Hotel in Lech angerufen. Niemand hat sie belästigt: „Das ist auch nicht üblich. Wieso sollten sie eine Operation, die schiefgegangen ist, auch noch auffällig kommentieren. Eines ist klar, von nun an sind Johanna und ich auch offiziell verdächtig. Aber das waren wir vorher wahrscheinlich auch schon.“ Rudi klingt ganz vergnügt. Er hat richtig Spaß an seiner subversiven Tätigkeit: „Das ist mein Wiedergutmachungsprogramm, dafür, dass ich so viele Jahre zum Teil unschuldige Bürger abhören musste, die den Mut zum zivilen Ungehorsam hatten.“ Heute demonstriert Rudi mit. Er würde sich von niemandem mehr seinen „aufrechten Gang“ verbieten lassen.

Als Chris kommt und uns empfiehlt, unbedingt schwarze Spaghetti, die mit Tintenfisch gemacht werden, zu bestellen, sitze ich still da und genieße, dass Ella und Chris sich angeregt unter­halten. Ich bin müde von diesem aufregenden Tag und bade in der leichten Konversation der beiden, die in meinem Leben so selten geworden ist. Chris schenkt mir noch ein Glas Soave ein, obwohl ich protestiere. „Damit du im Zug besser schlafen kannst.“ Er hasst Züge und findet sie so schmuddelig, dass er einen Ausschlag davon bekommt. Das ist auch der Grund, warum Ralf den VW-Bus gekauft hat. Chris wird unsere Tourenski mitnehmen, damit Ella nicht in Verdacht gerät, falls jemand auf die Idee kommt, sie zu kontrollieren. Er lehnt mit gespielter Entrüstung die Karte zum Heilerinnenkongress ab, die sie ihm schenken will: „Ich leide schon genug darunter, dass Ralf mir ständig von unserer karmischen Verbindung erzählt und mich zum Buddhismus bekehren möchte.“

Oskar und Niklas sind in Kiel. Noch eine Nacht, dann sind wir wieder zusammen. Wir werden in der Stadt am Meer Ostern feiern. Sein Anwalt hat ihm dringend empfohlen, in den nächsten Wochen dort zu leben: „Wir können es uns nicht leisten, dass Sie in letzter Sekunde in Bayern geschnappt werden. Wenn es in Kiel passiert, kann ich wenigstens argumentieren, dass Sie kurz davor waren, sich zu stellen.“ Kein Gericht in Deutschland war bisher bereit, die „heiße Kiste“ anzunehmen, wie er es nennt. „So wie es aussieht, werden wir sie zwingen müssen, indem wir uns stellen.“ Ich weiß nicht, ob das Wir, von dem er spricht, mich beruhigen oder irritieren soll. Wenn es darum geht, wer ins Gefängnis muss, wenn der Plan schiefgeht, gibt es kein Wir mehr.

Ich bin überdreht nach diesem langen Tag und dem Abschied von unseren Freunden und liege noch lange wach. Ich mag Nachtzüge nicht. Sie haben alle den gleichen Geruch. Eine Mischung aus Metall und Toiletten, die von zu vielen Menschen benützt werden. Lea ist zu mir ins Bett gekrabbelt und tritt mich im Schlaf. Ich bringe es nicht übers Herz, sie in ihr eigenes Bett zu tragen, sie braucht meine Wärme. Ich kann es kaum glauben, dass es das letzte Mal sein soll, dass wir uns verstecken müssen. Spätestens im Mai, sagt der Anwalt, der auch schon bekannte Politiker verteidigt hat, werden wir ein Gericht haben, das Oskar anhört. Ich spüre meine grundsätzliche Müdigkeit wieder. Es wird Zeit, dass mein anstrengendes Leben leichter wird.

Am Morgen spritze ich mir im Waschraum viel kaltes Wasser ins Gesicht. Oskar soll nicht sofort sehen, wie erschöpft ich bin. Ich habe ihm nichts von meinem Zusammenbruch erzählt.

Endlich in Kiel. Mein schöner Mann mit grauer Stoppelglatze kommt auf uns zu. Die Fotos auf den Fahndungsbildern zeigen ihn mit seinem gelockten längeren Haar, das damals noch braun war. Er könnte wahrscheinlich unerkannt durch die Wiener Innenstadt spazieren. Lea jubelt, reißt sich von meiner Hand los und rennt auf ihn zu. Endlich wieder der Papa. Niklas stürmt in meine Arme, ich halte ihn so lange fest, dass er sich ungeduldig aus meinen Armen windet, um seine Schwester zu begrüßen.

Kiel im Sonntagskleid. Die Sonne glitzert auf dem Wasser, es ist kalt, aber die Luft riecht gut. Das Taxi fährt an der Förde entlang und ich versuche, so viel wie möglich aufzunehmen. Hier ist Oskars neuer Zufluchtsort. Der Platz, an dem er viel Zeit verbringen wird, bis sein Fall geklärt ist.

Die Anwältin, die den berühmten Verteidiger unterstützen wird, hat uns im Olympiadorf ein Quartier besorgt: „Dort sind sie am besten geschützt, es gibt keine Nachbarn, die Sie beobachten werden, hier kommen nur Touristen auf Urlaub her.“ Das künstliche Dorf ist eine dieser typischen Scheußlichkeiten, wie sie Olympische Spiele hinterlassen. Beton, so weit das Auge reicht. Trotzdem hat es seinen Reiz. Vor der Tür Boote, Strand, Menschen in Freizeitkleidung. Unser neues Heim sieht aus wie alle Ferienappartements. Terrasse, Bad, praktische Teppichböden, die den Schmutz gezielt in gedeckten Tönen verbergen, banale Möbel aus billigem Holz, eine praktische Kochnische.

Ich bleibe lange auf der kleinen Terrasse stehen. Ich liebe das Meer, den Geruch von Salz und Fischen, die Schiffe, die durch die Förde aufs offene Wasser fahren, den Sand, den Wind …

Wie glückliche junge Hunde laufen unsere Kinder am Strand entlang. Ihr Vater hat ihnen Drachen gekauft, die eigentlich der Osterhase hätte bringen sollen. Wir sehen ihnen zu, Oskar hat den Arm um mich gelegt. Ich spüre ihn fast ein bisschen zu schwer auf meinen Schultern. Ich wäre gerne einmal ganz ohne Last. Dieses Gefühl habe ich mir bisher nie erlaubt. Aber ich sage nichts, ich bin froh, dass er da ist. Ich entdecke „mein“ Stück Strand. Hier wird mein Gebetsplatz sein. In dieser geschützten Bucht, die gerade weit genug weg ist vom Olympiadorf, dass es kaum noch Spuren im Sand gibt. Den meisten Urlaubern ist das zu weit entfernt von den Restaurants.

Am Nachmittag liege ich in der Sauna, die zur Anlage gehört. Mein Bild war nie in den Zeitungen, der Fall ist hier uninteressant. Noch. Die drei Männer und Frauen, mit denen ich schwitze, weisen sich durch ihre Sprache als Touristen aus. Die Kieler sprechen anders. Ich höre ihnen zu, wie sie über „die blöden Neger in Kapstadt“ schimpfen, und dass man Angst haben muss, dass sie dieses schöne Land zerstören. Abschließende Worte der ausführlichen Diskussion: „Da mach dir mal keine Sorgen, die Nigger bringen sich gegenseitig um, da müssen wir Weiße gar nichts unternehmen.“ Ich beiße mir auf die Fingerknöchel. Ich darf nichts sagen, ich will nichts sagen, wir müssen uns bedeckt halten, wie Oskar es immer nennt. Mit einer Decke über dem Kopf leben und den Mund halten. Ich entdecke einen neuen Aspekt des Versteckspiels: Ich muss schweigen, obwohl ich mich einmischen möchte. Ich muss meine menschliche und politische Haltung verleugnen.

17. März 1989

Ich bin vierzig Jahre alt. Im letzten Jahr bin ich an meinem Geburtstag in einem Hotel auf der Reeperbahn in Hamburg erwacht und habe zum Frühstück den Haftbefehl serviert bekommen.

Oskar geht weg, die Kinder flüstern etwas von einer Über­raschung, von der sie mir nichts erzählen sollen, und betteln so lange, bis er sie mitnimmt. Ich schlendere alleine am Meer entlang. Endlich. Ich liebe meine Familie. Aber manchmal komme ich mir vor wie eine Zirkusdompteurin, die ständig alle im Auge haben muss. Ich setze mich für eine Weile auf einen Stein und spüre die Anstrengung in meinem Körper.

Als ich vom Strand zurückkomme, ist Oskar mit einer großen Torte zurück, und Lea überreicht mir ein selbst gemachtes Bild. Es ist eine Collage, auf der neben Einzelporträts von uns allen das Foto, das uns gemeinsam in Venedig auf dem Markusplatz zeigt, klebt. Sie hat es mir in Wien vor unserer Abreise abgebettelt. Darunter steht in ihrer bemühten schönen Kinderschrift: „Liebe Mama, wir sind so froh, dass du für uns alle da bist und wir ­immer auf dich fallen können.“ Ich bin gerührt, und Oskar sagt später, als wir allein sind: „Was für ein kluges Mädchen. Sie hat verstanden, dass wir uns alle auf dich stützen. Lass uns hoffen, dass dieses Versteckspiel bald zu Ende ist.“ Niklas schenkt mir das Micky-Maus-Oster-Sonderheft von seinem Taschengeld, und ich bewundere Lupo mit einem großen Eierkorb auf dem Rücken. Später werden wir es gemeinsam lesen.

25. März 1989

Es ist Karsamstag. Ich sitze im berühmten Café Fidler in Kiel, eine normale Touristin auf Sightseeingtour. Der Cappuccino ist gut. Die Stadt ist arm an Sehenswürdigkeiten, weil der Krieg fast alles zerstört hat. Aber ich mag sie. Sie ist so beruhigend unspektakulär. Ein nachlässiger Routineblick durch das gut besuchte Kaffeehaus. Niemand kommt mir bekannt vor, niemand sieht „österreichisch“ aus. Rund um mich nur norddeutsche Klänge. Ich bade in dieser Sprache, die mir die Sicherheit von beruhigender Fremdheit gibt, und weiß, dass ich Zeit brauchen werde, um sie zu lernen. Oskar sagt schon gekonnt „dafür nicht“, eine Übersetzung für „keine Ursache“, wenn man sich bei jemandem ­bedankt. Wir bemühen uns, so gut wir können, unsere österreichische Färbung zu verstecken – die Kinder tun ohnehin nur das, was sie immer tun: Sie fangen an, wie ihre Spielgefährten aus der Gegend zu plappern.

Jetzt laufen sie in der Fußgängerzone herum, ich sehe sie von meinem Fensterplatz im ersten Stock, Oskar macht die letzten Einkäufe für unseren traditionellen Ostersonntagsbrunch. „Ohne Beinschinken geht das gar nicht“, hat er gesagt, als ob es darauf ankäme. Ich wäre auch mit trockenem Brot zufrieden, solange wir zusammen sind. Am Nachmittag bemalen wir in unserem Appartement Ostereier. Draußen pfeift der Wind – wie immer. Gibt es hier auch Tage ohne Wind?

Es ist acht Uhr abends. Der Schock kommt und rennt offene Türen ein, die nicht verschlossen sind, weil wir uns so sicher und entspannt fühlen. Oskar hat in Wien angerufen und kommt blass vom Telefon zurück: „Es gibt eine Riesengeschichte über mich in einer Zeitung, in der steht, dass ich in Kiel wohne.“ Ich versuche Details zu erfahren, rufe alle Freunde an, niemand hebt ab. Ralf ist bei Chris und die beiden ziehen meistens den Stecker aus dem Telefon, wenn sie sich länger nicht gesehen haben. Schließlich fällt mir Annemarie in Bregenz ein. Sie muss im Hotel sein, es ist Hochsaison, und Zeitungen gibt es dort auch. Wir warten nervös, bis sie uns zurückruft. Die Kinder sind außer Rand und Band, wie immer, wenn sie unsere Spannungen ertragen müssen. Ich bitte sie gereizt, ihre Schlafanzüge anzuziehen, was zur Folge hat, dass sie zwar meinen Auftrag erfüllen, aber dafür eine lautstarke Kissenschlacht beginnen.

Die Nachricht stimmt. Oskar Baldini liefert die Schlagzeilen des Tages: „Paolo Vicentes Mitarbeiter kündigt der Justiz an, er werde sich nach Ostern den deutschen Behörden stellen.“ Und weiter: „Baldini lebt nach eigenen Angaben in der Hafenstadt Kiel.“

Unser Osterbummel heute Vormittag in der Kieler Innenstadt, der Besuch im bekanntesten Café weit und breit bekommt plötzlich einen Schuss Wahnsinn. Sind wir verrückt, uns so normal zu bewegen? Sollten wir nicht immer mit solchen Überraschungen rechnen?

Wir müssen umziehen! Das Olympiadorf ist gefährlich geworden. Wenn die deutschen Medien die Meldung übernehmen, dann werden der Wohnungsvermieter und unsere netten Nachbarn aus dem Ruhrpott, mit deren Kindern Lea und Niklas seit Tagen spielen, Oskars Gesicht in der Zeitung erkennen.

Lilly glaubte an Fügungen. Schon lange. Ohne diese kleinen Lücken, die das Schicksal frei ließ, damit sich Wunder ereignen durften, hätten sie bisher nicht überlebt.

Die Frau hatte ein herbes, interessantes Gesicht, mit einer Adlernase, die zu ihrem kühnen Blick aus dunkelbraunen Augen passte. Sie öffnete erstaunt die Tür, als Oskar und Lilly am Ostersonntag um zehn Uhr am Vormittag an ihr Haus in einem kleinen Vorort von Kiel, direkt am Meer, klopften. Es gab keine Klingel. Ein zarter Junge, der in Niklas’ Alter sein musste, kam aus dem Wohnzimmer und versteckte sich, als er die Fremden sah, scheu hinter seiner Mutter. Sie hatte Mehl an den Händen und duftete nach Gewürzen, die nicht zur norddeutschen Küche gehörten.

Erstaunt schaute sie in die Gesichter der beiden, die die Spuren einer schlaflosen Nacht trugen, und sagte einfach nur: „Kommt doch herein.“ Der Satz war wie ein warmer Wind und Lilly spürte, wie er ihr die Tränen in die Augen trieb.

Oskar hatte Anke auf einem seiner langen Spaziergänge kennengelernt. Sie nahm jeden Tag denselben Weg am Strand mit Frisou, ihrem zottigen weißen Hund, der wie ein Schaf aussah, und sie jetzt schwanzwedelnd begrüßte. Von Oskar wusste Lilly, dass sie mit Lars, ihrem Sohn, und ihrem zweiten Mann lebte.

Das Haus war groß genug für zwei Familien und Anke fragte nicht nach, was sie bewogen hatte, um Unterkunft zu bitten. „Ich bin vor zwei Jahren einer Frau begegnet, die mich gelehrt hat, ohne Urteil zu lieben. Sie reist durch die Welt, umarmt Menschen, ohne zu fragen, ob sie gut oder schlecht sind, und hilft den Armen. Nicht nur durch Spenden, sondern auch durch einen sinnvollen Aufbau von Infrastruktur, damit sie sich selber helfen können. Ich war in ihrem Ashram in Indien. Ich weiß, dass es meine Aufgabe ist, dieser Liebe zu folgen, so gut ich kann. Das ist mein Beitrag.“ Die Bilder der Inderin mit den warmen Augen, die sie Amma nannte, hingen überall. In der Küche, im Wohnzimmer, und als sie durch die offene Tür ins Schlafzimmer sah, lächelte sie ihr in einem großen Rahmen auf einem Hausaltar mit Kerzen entgegen. Anke folgte Lillys Blick: „Ich mag die tägliche Erinnerung an sie. Die Bilder sind von Amma gesegnet und tragen ihre Energie.“

Das wenige Gepäck war schnell geholt. Und kurze Zeit später liefen die drei Kinder durch den Garten und suchten Osternester, die von den Erwachsenen für sie versteckt worden waren. Zwei Familien, die bis vor ein paar Stunden ihre eigenen Handlungsstränge verfolgt hatten, wurden durch Ereignisse, die ganz woanders, in einer österreichischen Zeitungsredaktion, stattgefunden hatten, an einen gemeinsamen Tisch geführt. Sie hatten in der Küche alle ihre Vorräte für das Osterfest auf Platten dekoriert und staunten über die neue Fülle. Sie aßen von buntem Geschirr aus selbst getöpfertem Ton inmitten des verwilderten Gartens und hörten die Ostsee rauschen. Anke hatte den Sitzplatz mit einem dichten Bretterzaun vor fremden Blicken geschützt, hier würde Oskar sicher sein. Lilly beobachtete die Frau mit dem freien Blick und den natürlichen Bewegungen und spürte für einen Augenblick ihr altes Misstrauen. War er an ihr als Frau interessiert? Sie packte den hässlichen Gedanken sofort wieder ein und schämte sich dafür. Seine Engel auf Erden waren eben überwiegend weiblich.

Niklas fühlte sich sofort wohl in diesem Haus, in dem es ein riesengroßes Kinderzimmer gab und einen Garten, in dem er auf Bäume klettern konnte. Es war klar, dass er bis zum Herbst bei seinem Vater bleiben durfte. Dann würde auch er in Wien zur Schule gehen müssen. Das war jedenfalls Lillys Wunsch, doch sie wusste nicht, ob Oskar und ihr Sohn ihn teilten. Sie hatten bisher vermieden, darüber zu sprechen, weil es ein wunder Punkt in ihrer Beziehung war. Lilly wollte das Kind zurück, und Oskar konnte sich nicht mehr vorstellen, ohne Niklas zu leben. Ihr Sohn nahm die Dinge so, wie sie waren. Er lebte im Augenblick und freute sich auf seinen Spielgefährten, der einen Montessori-Kindergarten besuchte. „Kann ich mitgehen?“, fragte er neugierig. Er hatte längst vergessen, dass auch er sich verstecken musste. „Noch nicht“, sagte sein Vater, „aber bald.“ Niemand wusste genau, wann bald war.

Der Anwalt hatte bei der Kieler Staatsanwaltschaft angekündigt, dass sich sein Mandant stellen werde, und jetzt wurden im Hintergrund politische Fäden gezogen, auf die Oskar keinen Einfluss hatte. Die deutschen Behörden überlegten, wie sie den Fall abwehren konnten, und waren in Kontakt mit der österreichischen Justiz.

Es war ein Abschied, der Lilly wieder an den Schwebebalken erinnerte, auf dem sie balancierte. Auf der einen Seite hatte sie Angst, dass die Kieler Behörden Oskar sofort in U-Haft nehmen könnten, auf der anderen Seite vertraute sie. In wenigen Wochen würde ein neues, gutes Leben beginnen. Ein Leben, in dem das Versteckspiel zu Ende war. Oskar würde wieder ein ehrenwerter Mann sein, für den die Unschuldsvermutung gilt.

Ralf, mit dem Lilly ihren ersten Abend in Wien in der Servitengasse verbrachte, war weniger optimistisch: „Du bist eine Träumerin, Lilly. Sein Ruf ist ruiniert, und das wird sich nicht ändern, solange er nicht freigesprochen wird.“ Er sagte nicht dazu, dass er an einen Freispruch nicht mehr glaubte. Es gab viele Indizien, dass das Schiff tatsächlich gesprengt worden war, und jemand musste dafür den Kopf hinhalten, auch wenn es vielleicht der falsche war.

Der Frühling kam am Semmering immer etwas später als in Wien. Die Schneeglöckchen hatten noch kurze Hälse und drückten ihre Köpfe mühsam durch den Rest des nicht mehr ganz weißen Schneeteppichs, der noch immer in Katharinas Garten lag. Lilly saß in eine Decke gehüllt mit ihr in der Sonne und genoss das Zwitschern der Vögel. Die beiden Frauen sprachen nicht und ließen zu, dass die Dankbarkeit den Raum zwischen ihnen ausfüllte.

Lilly war überglücklich, weil ein einziger kleiner Satz ihr ­Leben verändert hatte: „Der Bundesgerichtshof legt per ­Beschluss die Zuständigkeit des Landesgerichts Kiel fest.“ Oskar hatte sie heute angerufen. Einfach so zu Hause in Wien, ohne Versteckspiel. Er war kein „herrenloser Hund“ mehr, „der durch Deutschland auf der Suche nach einer Hunde­hütte streunt“, wie eine der Zeitungen sehr bildlich berichtet hatte.

„Ich bin auf freiem Fuß“, hatte er gesagt. Lilly war zutiefst erleichtert. Doch es stimmte nicht, sein Fuß war nicht wirklich frei. Der Staatsanwalt hatte ihm Fesseln angelegt und konnte ihm die geliehene Freiheit jederzeit wieder entziehen. Er hatte die Auflage, das Land nicht zu verlassen, und musste jede Woche seinen Aufenthaltsort bekannt geben. Aber alles war besser als das unwürdige Versteckspiel. Seit heute lebte sie wieder in einer Welt, in der sie sichtbar sein durfte.

Katharina war ebenfalls dankbar. Oskar war nicht verhaftet worden. Das machte ihr Hoffnung für Paolo. Vielleicht konnte auch er zurückkommen?

Nicht sofort. Österreich war nicht Deutschland. Hier gab es viel zu viele Begehrlichkeiten der Politik. Ob eine Suppe zu dünn oder dick genug war, bestimmte nicht nur der Staatsanwalt. Aber zumindest konnte Oskar in Deutschland ein faires Verfahren erwarten, von dem Paolo profitieren würde. Als zwei Steinadler über den Bergen kreisten, sagte Lilly, die an Symbole glaubte: „Sie werden beide frei sein.“ Katharina legte ihre Hand auf die Hand der jüngeren Frau und sagte: „Gut, dass du so optimistisch bist, das kann ich von dir lernen.“

„Und ich lerne von dir, wie man in jeder Lebenslage Hal-­tung bewahrt“, antwortete Lilly und hatte plötzlich wieder ein schlechtes Gewissen, weil sie mit Paolo über Monate geschlafen hatte. Sie zögerte einen Augenblick und entschied sich dann für die Wahrheit: „Ich schäme mich heute, dass ich keine Sekunde daran gedacht habe, wie es dir geht, wenn ich mit deinem Mann eine Affäre habe. Ich war so gedankenlos, so egoistisch …“ Katharina lächelte: „Wenn nicht du, dann wäre es eine andere gewesen. Ich mache mir darüber keine Illusion. Und wo immer Paolo jetzt ist, eines weiß ich mit Sicherheit: Er hat dort längst eine andere Frau. Vorübergehend.“

„Und woher weißt du, dass er zu dir zurückkommt?“

„Weil es immer so war. Weil er ein kleiner Junge ist, der sich im Dunkeln fürchtet. Du kennst den starken Mann, der alle Fäden zieht. Bei mir darf er verletzlich und weich sein und seinen Kopf in meinen Schoß legen.“

Als Lilly spät am Abend vom Semmering zurück nach Wien fuhr, lag eine neue Zeit vor ihr und sie sagte fast trotzig: „Alles wird gut. Ich weiß es.“ Als sie in der Servitengasse ankam, schickte sie Tilde nach Hause und saß noch lange am Bett ihrer Tochter.

7. Mai 1989

Ich werde endlich wieder ein normales Leben führen. Oskar kann nicht mit uns in Österreich leben, aber wir mit ihm in Deutschland. Jedenfalls manchmal. Lea muss zur Schule und ich kann Ralf mit der Zeitschrift nicht länger im Stich lassen. Aber es gibt viele Wochenenden und eine tolerante Direktorin an der Schule.

Ich bitte sie zu einem Abendessen zu uns. Wir werden reden, wenn Lea im Bett ist. Eigentlich darf sie das nicht. Sie soll keine Handlungen setzen, die Eltern von Kindern bevorzugen. Aber es spielt keine Rolle mehr, sie hat uns sowieso schon viel mehr geholfen als jedem anderen an dieser Schule.

Ich bemerke, dass sie älter geworden ist. Ihre Haare sind grau und sie hinkt ein bisschen, weil ihr bei Wetterumschwüngen die Hüften wehtun. Aber ihre Augen sind jung und le­bendig: „Ich habe immer alles gewusst und ich bewundere Sie dafür, wie Sie Ihre Kinder durch diese Zeit begleitet haben.“ Sie kannte auch Niklas, mit dem sie nach der Kindergruppe häufig Lea abgeholt hatte. „Wissen Sie, das ist nicht selbstverständlich. Ich habe in meinem Leben schon so oft gesehen, dass sich Mütter wegen viel kleineren Anschuldigungen von ihren Männern abwenden und ihnen die Kinder entziehen. Lea und Niklas sind stark geworden durch diese Zeit, sie wurden nicht gebrochen.“ Mir kommen die Tränen und die Direktorin nimmt mich in den Arm: „Ich könnte Ihre Mutter sein, weinen Sie ruhig, das wird Ihnen guttun.“

Ich habe ihr so viele gefälschte Krankmeldungen von Lea gebracht, die letzte vor Ostern, dass ich jetzt auch noch aus Dankbarkeit weiter weine. Die Direktorin weiß, dass Lea bei ihrem Vater war, wenn sie nicht in der Schule erschienen ist. Wir haben uns darüber nur mit Blickkontakt ausgetauscht. „Ich wollte Sie nicht zur offiziellen Mitwisserin machen“, murmle ich jetzt in ihre raue Tweedjacke hinein und höre, wie sie ganz nah an meinem Ohr sanft flüstert: „Ich weiß, und ich bin Ihnen dankbar dafür, dass Sie es mir so einfach gemacht haben, verschwiegen zu sein.“

„Morgen nehme ich sie wieder aus der Schule“, sage ich laut. „Wir feiern unser neues Leben, ich will zu meinem Mann.“

Es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass ich mich nicht mehr beobachtet fühle, als wir auf die Straße treten und zu meinem Auto gehen. Die Beamten bewachen jetzt jemand anderen. Wir sind frei. Frei, unsere Wege zu gehen, frei, ganz offiziell mit unserem Gepäck zu verreisen.

Wir singen im Auto. Ausgelassen und laut, und Lea besteht darauf, dass sie die Pässe herzeigen möchte, als wir nach drei Stunden an die Grenze kommen. Sie macht das Fenster im Fond auf und strahlt den Beamten an: „Ich habe einen deutschen Pass, wollen Sie ihn sehen?“

Unser Haus am See in Oberbayern. Es ist winzig, und gleichzeitig sind wir jetzt offiziell hier zu Hause. Es ist wie ein Rausch von Freiheit. Einkaufen zu gehen ohne Angst vor Entdeckung. Bei unseren Radtouren einkehren, wo es uns gefällt, mit unserem eigenen Namen geräucherte Forellen bestellen und abholen. Im Kopierladen steht auf dem Abholschein der Name Baldini. Wir nehmen ein Vollbad im „Normalsein“. Hier im Dorf scheint uns niemand zu erkennen.

Im Hintergrund arbeitet die Kieler Staatsanwaltschaft an der Anklageschrift. Aber ich ziehe einen Vorhang aus Glück vor diese Tatsache und achte darauf, dass kein Spalt offen bleibt.

Und es gibt noch etwas, was mich froh macht: Niklas kommt mit uns nach Hause. Die Anwälte haben Oskar dringend empfohlen, „einer geregelten Tätigkeit“ nachzugehen. Er wird nächste Woche in einer Gärtnerei anfangen. Nicht, weil er etwas davon versteht, sondern weil Chris den Besitzer kennt, der ihn einschulen wird.

Wenn das Leben eine Fieberkurve mit Zacken ist, dann gab es von nun an die meiste Zeit Normaltemperatur. Ein Alltag in Wien, zu dem gehörte, dass Niklas noch eine Weile in die Kindergruppe und dann im Herbst zur Schule ging. Er fügte sich ohne große Anpassungsschwierigkeiten wieder ein, als ob er nie weg gewesen wäre. Das Einzige, worüber sich die Betreuerinnen in der Kindergruppe beschwerten, war die Tatsache, dass er kaum mit den anderen Kindern spielte, sondern die meiste Zeit auf Bäumen saß, wenn sie in den Türkenschanzpark fuhren. Er war es nicht mehr gewöhnt, in größeren Gruppen zu leben. Lea hatte ihre Leidenschaft für die Pfadfinder entdeckt und wollte ihre Mutter, die das ablehnte, dazu überreden, mit den anderen Eltern bei einem Ausflug ein Matratzenlager zu teilen.

Lilly war wieder mehr für Psychologie Morgen da und setzte ihre Serie über „Die Ausgeschlossenen“ fort.

Als Ralf sie vor ein paar Jahren dazu gezwungen hatte, in der Redaktion einer Umstellung auf Computer zuzustimmen, war sie wochenlang auf ihn sauer gewesen. Sie hatte getrotzt, ihn täglich mehrmals geholt, weil sie nicht verstand, warum ein Text plötzlich wieder verschwunden war. Sie wollte dieses neumodische Zeug nicht und war vor allem davon genervt, dass diese Dinger so „laut schnauften“. Er hatte einiges mit ihr durch­gemacht, aber heute war sie ihm dankbar.

Sie würde mit dem Computer am See arbeiten können und fertige Texte mitbringen, die dann nur noch gedruckt werden mussten. Die Arbeit des Setzers war überflüssig geworden und sparte Zeit. Wenn es Entwürfe gab, würden sie mit Fax übermittelt werden können. Auch dagegen war sie zunächst gewesen, wie gegen alles, was ihr „umgeschultes Linkshändergehirn“ als Gegner empfand.

Die Fahrten zu Oskar wurden zur angenehmen Routine. Nicht jedes Wochenende, denn er fuhr neben seiner Arbeit in der Baumschule, die ihm Spaß machte, immer wieder nach Kiel, wo seine Verteidiger ihm tausend Fragen stellten. Wenn er von der Ostsee zurückkam, war er meistens schweigsam. Er wollte Lilly keine Details erzählen, und sie wollte es auch nicht wissen. Manchmal wunderte sie sich über sich selbst. Eine Journalistin, die keine Fragen stellte … Sie hörte ihm lieber zu, wenn er von den Gärten seiner Kunden erzählte, in denen er Bäume pflanzte und Beete anlegte. Es war so schön, dass es wieder normalen Gesprächsstoff gab.

Manchmal machte die Fieberkurve eine große Zacke nach oben, zum Beispiel an Weihnachten. Aber das ist in anderen Familien auch so.

22. Dezember 1989

Das kleine Blockhaus am bayerischen See ist wieder weihnachtlich beleuchtet. Lea, Niklas und ich sind ganz leise, wir wollen Oskar überraschen. Durch die Scheiben sehen wir ihn am Tisch sitzen. Er hat einen großen Batzen Teig vor sich, den er zu dünnen Würsten ausrollt, die er zu Vanillekipferln biegt und auf ein gefettetes Blech legt. In einer Ecke steht schon der geschmückte Baum. Ich möchte am liebsten noch eine Weile zusehen, einfach nur glücklich sein, dass er so entspannt wirkt. Niklas zupft mich am Ärmel. Er wird ungeduldig. Ich nicke und nehme unsere Reisetasche wieder in die Hand. Doch als wir um die Hausecke biegen und auf die Eingangstür zugehen, höre ich plötzlich ihre Stimme. Sie ist schwerhörig und schreit, ohne es zu merken: „Wann kommt nun endlich deine Frau, ich möchte schlafen gehen!“ Ich sehe sie durchs Fenster. Clarissa kommt aus dem Badezimmer und hat bereits ihren Pyjama an. Sie ist fünfundachtzig Jahre alt und sieht mit ihrem weißen, kurz geschnittenen Haar, obwohl sie klein und zart ist, selbst im Schlafanzug beeindruckend aus.

Meine Freude ist mit einem Schlag weg. Warum hat Oskar mir nicht gesagt, dass seine Mutter schon heute kommt? Ich wollte wenigstens noch einen Tag mit ihm und den Kindern alleine sein. Clarissa mag mich noch immer nicht. Es ist nichts Persönliches. Das weiß ich inzwischen. Sie hat alle Frauen in Oskars Leben gehasst, solange sie mit ihm zusammen waren, und sieht mich als Konkurrentin um seine kostbare Zeit.

Die Nacht mit Oskar gehört mir. Nicht ganz, denn im unteren Stockbett schlafen die Kinder. Clarissa besetzt unser kleines Schlafzimmer, man kann ihr nicht zumuten, in Gesellschaft zu ruhen, sie ist zu empfindlich.

Der Morgen ist klar und schön, Oskar und ich machen alleine einen großen Spaziergang, Clarissa spielt mit den Kindern. Sie liebt ihre Enkel und wird selber wieder zum Kind, wenn sie im Skianzug mit ihnen im Iglu sitzt, das Lea und Niklas bei ihrem letzten Besuch am See gebaut haben. Ich mag ihr weiches, zärtliches Gesicht, wenn sie vergisst, dass sie um ihren Sohn kämpfen muss.

Am Abend sitzen wir am Tisch, Oskar hat für uns gekocht, und Clarissa hat ihre Zählmaschine eingeschaltet. Sie scheint eine innere Buchhaltung zu haben und weiß genau, wie viele Wörter ihr Sohn mit ihr gewechselt hat und wie viel mit mir: „Oskar, du sprichst ständig nur mit deiner Frau“, rügt sie ihn, und er lächelt gequält. Es entspricht nicht seinem Charakter, klare Standpunkte zu beziehen.

Die Stimmung ist angespannt. Alle bemühen sich redlich, aber ich grolle Oskar, dass er seiner Mutter erlaubt hat, schon vor dem Fest anzureisen. Sie grollt mir, dass es mich überhaupt gibt, und Oskar bemüht sich, den „Spagat zwischen seinen beiden Frauen“ möglichst elegant zu machen. Ich mag sein Bild nicht. Clarissa ist nicht seine Frau. Sie ist seine Mutter, auch wenn sie sich nicht so benimmt. Die Kinder gehen mit den Spannungen auf ihre eigene Weise um. Lea wirft das Weinglas ihrer Großmutter um, die das mit einem bissigen „typisch Moosbrugger“ quittiert, und Niklas steht sofort nach dem Essen vom Tisch auf und spielt Betthüpfen. Sie sieht mich an und runzelt unwillig die Stirn. Alles, was ihr nicht gefällt an ihren Enkeln, wird mir zugeordnet.

Am nächsten Tag erinnert sich Clarissa offenbar daran, dass es „Heiliger Abend“ heißt. Sie macht die besten Forellen der Welt und ist als Herrscherin über das traditionelle Weihnachtsmenü zunächst etwas umgänglicher. Ich schäle Kartoffeln, lächle Oskar zu, der neben mir Vorspeisen auf einem Teller anrichtet, und unsere Augen sagen alles, was wir uns nicht sagen können, weil seine Mutter jedes unserer Worte eifersüchtig auf die Goldwaage legt.

Dann ziehen wir uns um, Clarissa läutet ein silbernes Glöckchen, das sie jedes Jahr mitbringt, und wir singen. Ich habe die Gewohnheit, vor dem Baum zu singen, aus meinem Elternhaus mitgebracht, und Oskar, mit seiner wunderschönen Stimme, ist mir, wie bei vielen Ritualen, gerne gefolgt. Clarissa singt nicht mit. Mir ist es recht. Ihre harte Stimme tut mir weh. Beim anschließenden Abendessen sagt sie bissig: „Hat dir eigentlich schon einmal jemand gesagt, dass du mit dem ganzen Kopf zitterst, wenn du singst?“ Sie findet immer wieder neue Wege, um mich zu kritisieren. Als Lea als Frühchen geboren wurde und die Krankenschwestern mir kleine Handschuhe aus Baumwolle geschenkt haben, damit sie sich nicht kratzen kann, hat sie mich beschuldigt, ich hätte die Fäustlinge im Krankenhaus gestohlen. Oskar tut so, als ob er ihre Bemerkung nicht gehört hätte, steht auf und holt eine neue Flasche Wein. Er geht an mir vorbei und berührt mich nicht. Ich spüre seinen Loyalitätskonflikt und fühle mich allein gelassen.

Der unausgesprochene Groll von vielen Jahren, die Enge in dem kleinen Blockhaus und meine Entschlossenheit, mir von meiner Schwiegermutter nichts mehr gefallen zu lassen, werden plötzlich übermächtig. Ich spüre, wie rote Wagenräder vor meinen Augen kreisen, und ein unbändiger Hass in mir hochsteigt. Ich möchte sie am liebsten schlagen. Ich schaffe es gerade noch, meine Hand unterm Tisch festzuhalten und die Zähne zusammenzubeißen. Ich kann es kaum erwarten, bis die Kinder im Bett sind, und sie auch endlich schlafen geht. Sie tut mir den Gefallen nicht, und als ich demonstrativ ins Badezimmer gehe, bleibt sie mit ihrem Sohn sitzen.

Als er endlich, vom Wein fröhlich gestimmt, zu mir ins Bett kriecht, bin ich nur noch wütend: „Oskar, du musst dich entscheiden. Ich werde morgen abreisen oder deine Mutter reist ab.“ Ich merke plötzlich, dass er mich all die Jahre nie vor ihr geschützt hat, und mein Zorn richtet sich gegen beide. Er schüttelt unwillig den Kopf: „Können wir das bitte morgen besprechen, es ist schon spät.“ Ich stehe auf und lege mich zu den Kindern ins untere Stockbett. Sie rutschen bereitwillig zur Seite und schlafen weiter. Ich höre ihren Atem und werde ganz ruhig. Ich bin Mutter, das genügt für diese Tage. Die Frau wird sich ihren Platz wieder nehmen, aber nicht jetzt. Ich werde ihre Großmutter nicht aus dem Haus jagen und auch nicht mit ihnen abreisen. Wir hatten es lange genug schwer. Das Glück soll bleiben.

Am nächsten Tag ist an der Oberfläche wieder alles wunderbar. Wir machen einen langen Spaziergang und enden in einem der urigen Wirtshäuser am See. Clarissa, die spürt, dass sie den Bogen überspannt hat, packt ihre süße Seite aus, die ich sonst nur kenne, wenn Gäste da sind. Sie lädt uns alle zu einem frühen Abendessen ein und ich genieße es, dass es mir egal sein kann, wer am Nebentisch sitzt.

Ich kehre wieder in Oskars Bett zurück. Und dennoch: Mein Glück mit ihm hat durch die Rivalität mit seiner Mutter einen Riss bekommen, aus dem in der Nacht alte Geschichten als ungebetene Gäste quellen: Ein Lokal in Salzburg. Wir sind bei Clarissa zu Besuch und ich möchte mich an einem anonymen Ort mit Oskar von ihr erholen. Leise Barmusik, fröhliche Menschen, Schwarzbrot mit köstlichen Aufstrichen, im Ofen überbacken, und volle Bierkrüge werden durch den Schankraum getragen. Der Ehering an meinem Finger ist noch ganz neu und ich lege meine Hand auf den Tisch, damit ich ihn bewundern kann. Eine Frau betritt das Lokal und setzt sich ungefragt zu uns. Oskar macht eine abwehrende Geste und lässt dann resigniert seine Hand sinken: „Lilly, das ist Natalie, sie lebt in der Schweiz und ist geschäftlich hier. Ihr habt euch noch nicht kennengelernt.“ Ich werde rot. Ich habe diese Frau verdrängt, seit die nächtlichen Anrufe aufgehört haben. Sie gehört nicht mehr zu Oskars Leben, man darf eine Verlobung auch lösen, wenn die Liebe zu Ende ist. Ich registriere, dass ihr blondes, dichtes Haar glatt auf ihre Schultern fällt und ihre blauen Augen sich im Zorn verengen: „Wie geht’s der jungen Ehefrau? Ist er nicht ein wunderbarer Liebhaber?“ Oskar sagt hilflos: „Bitte, Natalie!“ Er sagt es mit einer Stimme, in der ich Stärke und Konsequenz vermisse. Sie ignoriert ihn und zischt den nächsten Satz so wütend heraus, dass ihre Spucke wie ein Sprühregen kurz vor meinem Gesicht endet und auf den blank gescheuerten Wirtshaustisch fällt: „Stört es dich eigentlich nicht, dass er bis zu eurer Hochzeit noch immer mit mir gevögelt hat und kurz danach mit mir nach San Francisco geflogen ist?“ Meine Antwort macht mich selbst sprachlos. Es ist, als ob eine Fremde in mir, der ich bisher noch nicht begegnet bin, antwortet und zurückzischt: „Solange er häufig genug mit mir vögelt und mit mir reist, ist mir eine Schlampe wie du egal.“ Ich bin so über mich selbst schockiert, dass ich in Panik aus dem Lokal wegrenne. Oskar holt mich ein, als ich mich am Giselakai auf eine Bank setze und verzweifelt in die Salzach starre. „Bitte,
Lilly, es ist alles anders, als du denkst.“ Meine Stimme ist aus Stahl, als ich ihn frage: „Warst du mit ihr in San Francisco nach unserer Hochzeit?“ – „Ja, sie hat es sich zum Abschied gewünscht.“ Er bestreitet, dass er mit ihr geschlafen hat, und ich will es glauben, weil ich ihn liebe. Oskar lächelt. Er hat das ­hinreißendste Lächeln der Welt. Ich lächle nicht zurück: „Und warum hast du mir dann die Story vom Meeting mit den ame­rikanischen Geschäftspartnern von Paolo erzählt?“ Oskar ist ­zerknirscht und stottert Entschuldigungen. Ich höre einzelne Wortfetzen durch meinen Nebel im Kopf und will vertrauen, dass Natalie ihm leidgetan hat, dass es nie mehr vorkommen wird, dass ich die einzige Frau in seinem Leben bin und immer bleiben werde.

Doch eine Frage bleibt offen: Warum ist Oskar eine Woche nach unserer Hochzeit mit einer anderen weggefahren? Als Antwort sagt eine böse kleine Stimme in mir: „Du hättest damals gehen können, stattdessen hast du mit ihm eine Familie mit zwei Kindern gegründet.“ Ich denke an Lea und Niklas, die unter uns in ihrem Stockbett schlafen. Es gab nie und wird nie eine Sekunde geben, in der ich bedauern werde, dass es sie gibt.

Ich atme tief durch. Oskar ist heute ein anderer. Ich muss die Vergangenheit endlich ruhen lassen. Ich bin nicht das Opfer, und Oskar ist nicht der Täter. In der Choreografie unseres Liebes­lebens tauchen plötzlich Bilder auf, die ich bisher gut unter Verschluss gehalten habe:

Oskar und ich bei einem Meeting mit Geschäftspartnern von Paolo. Es geht um viel Geld und Oskar hat mich gebeten, mir ein neues Kleid zu kaufen. Er sagt nicht dazu, dass ich erotisch aussehen soll, aber ich weiß es. Das Kleid ist rot und hauteng
mit einem Seitenschlitz. Seine Gesprächspartner ziehen mich
mit Blicken aus, und ich genieße es. Ich habe ein Faible für Italiener, und als der Wichtigste unter ihnen mir die Hand küsst und Oskar fragt, ob er mich kurz an die Bar entführen darf, nickt Oskar, und ich merke, dass ich zwischen den Beinen feucht werde.

Der Fremde und ich brauchen nicht viele Worte. Wir wissen beide, dass nur die gesellschaftlichen Regeln und die Angst vor den Folgen uns davon abhalten, übereinander herzufallen. Er sagt mir, dass er sehr bedauert, dass er mir nicht schon früher begegnet ist, und steckt mir unauffällig seine Visitenkarte zu: „Denken Sie an mich, falls Sie jemals frei sein sollten.“ Ich sitze mit dem Rücken zu meinem Mann und verrate ihn. Mit meinen Blicken, mit meinen Gefühlen, mit der Hitze, die dieser Fremde in mir auslöst. Es ist lange her, dass ich dieses köstliche Gefühl von Geilheit, das meinen Unterleib zum Pulsieren bringt, mit Oskar gespürt habe.

Für das nächste Bild habe ich mindestens die kleine Entschuldigung, dass ich schon wusste, dass Oskar mich mit Rosi betrogen hatte. Und dennoch, es war nicht Rache, die mich in die Arme von Malcolm getrieben hat. Es war ein tiefes Gefühl, als Frau wieder angekommen zu sein.

Flughafen Wien. Ich stehe mitten unter den Taxifahrern, die Schilder mit Namen vor der Brust tragen, und warte auf ­einen der Verfechter der Sanften Geburt. Morgen wird er in Wien auf einem Kongress sprechen, heute ist der Arzt mein Interview­partner. Inzwischen kommen nur noch ein paar Nachzügler durch die automatischen Türen des Flughafens. Ich gehe auf ­jeden Mann mit Anzug und Krawatte zu, aber keiner reagiert. Als alle gegangen sind, bleibt nur ein großer schlaksiger Mann mit grünen Augen, wilden grauen Locken und einem Seesack über der Schulter übrig, der seltsam deplatziert auf den polierten Marmorfliesen der Ankunftshalle steht. Wir starren einander an, und ich sage ungläubig: „Malcolm?“ Und er antwortet nicht ­weniger überrascht: „Lilly?“ Ich hatte mir den Chef einer der größten Geburtshilfekliniken Amerikas anders vorgestellt.

Das Interview findet in einem kleinen Konferenzraum seines Hotels statt. Während ich mein Tonband aktiviere, sieht Malcolm mir auf eine Weise zu, die alle meine Hirnfunktionen durcheinander bringt. Ich weiß nicht einmal mehr, wo die Starttaste ist, und hoffe, dass er nicht bemerkt, dass meine feuchten Hände verräterische Spuren auf der glatten Oberfläche des Geräts hinterlassen. Er hält ein Plädoyer dafür, dass die Frauen mehr Macht über ihr Geburtserlebnis haben sollten, dass der weibliche Körper in seiner Weisheit den Geburtsprozess unterstützt, wenn er dabei nicht gestört wird. Nach zwei Stunden ist alles gesagt. Es gibt einen offiziellen Text und einen inoffiziellen Text zwischen uns. Ich packe mein Tonbandgerät ein. Der Reißverschluss meiner Aktentasche macht ein endgültiges Geräusch und ich spüre, dass der Schutz, Journalistin interviewt berühmten Geburtshelfer, in dieser Sekunde endet.

Malcolm sieht mich an, ohne mich zu berühren: „Shall we make love?“ Und als ich nicke, sperrt er die Tür zum Konferenzraum ab und wir reißen einander die Kleider vom Leib.

Ich schließe meine Erinnerungskiste. Ich möchte Oskar wecken und mit ihm meine Lust ausleben. Gleichzeitig habe ich ein schlechtes Gewissen, dass das Prickeln in meinem Körper aus der Erinnerung an Malcolm entstanden ist.

Ich lasse ihn schlafen, und als am Morgen die Kinder er­wachen, sind wir wieder eine heile Familie während der Weihnachtsfeiertage. Selbst Clarissa fügt sich ins Bild und schenkt mir einen Ring, den sie schon von ihrer Mutter bekommen hat. Das geliehene Glück, von dem niemand weiß, wie lange es noch ­dauert, ist wieder zurück und muss wie eine zerbrechliche Porzellanfigur zart behandelt werden.