1. Kapitel

Lilly mochte den Mann nicht, der neben ihr saß. Sein Parfum war so stark, dass sie den penetranten Geruch als Übergriff empfand. Er war ihr schon im Warteraum in Orly unangenehm aufgefallen. Die meisten der Geschäftsleute, die auf den Lumpensammler, wie die letzte Abendmaschine nach Wien genannt wurde, warteten, schienen ihn zu kennen. Er bewegte sich in dieser nüchternen Umgebung mit raubtierhafter Geschmeidigkeit, so als ob er der Gastgeber einer Party wäre, die der Vernetzung dient. Er schüttelte Hände, führte Gespräche und stellte mit ausholenden Gesten die einen den anderen vor. Jedes Mal, wenn er von einer Gruppe zur nächsten ging, hob sie den Blick von ihrer Zeitung und folgte irritiert dem Klack-Klack seiner eisenbeschlagenen Schuhsohlen.

Das Flugzeug war eine alte Vickers Viscount. Es roch nach Putzmittel und Metall, und Lilly sah zu, wie die Propeller immer schneller rotierten und sich dem anstrengenden Akt unterwarfen, einige Tonnen Metall in die Luft zu bringen. Sie schloss die Augen und klappte zufrieden ihr Notizbuch zu. Morgen würde sie das Material, das sie aus Paris mitgebracht hatte, in der Redaktion sichten und eine gute Story daraus machen. „Die Kinder des Mai ‘68“. Sie war selbst eines dieser Kinder gewesen und konnte eigene Erfahrungen beisteuern, politische und erotische. Sie dachte an Michel. In den letzten Tagen in Paris war er plötzlich wieder ganz nah gewesen.

Damals war sie erst achtzehn und er einer der Revolutionäre auf den Barrikaden. Er war kein wirklich schöner Mann und mindestens zwanzig Jahre älter als sie. Lilly hatte in ihrer Chamb­re de Bonne, einer Dachkammer im letzten Stock eines Pariser Bürgerhauses, in dem sie als Au-pair-Mädchen arbeitete, jede Nacht auf ihn gewartet. Wenn er kam, waren seine Kleider oft zerfetzt und schmutzig, und sie hatte ständig Angst um ihn. Der erfahrene Franzose hatte sie, das kleine Mädchen aus der österreichischen Provinz, in die hohe Kunst der Liebe eingeführt. Sie wusste nichts von diesen Dingen, außer, das hatte ihr der Pfarrer schon im Religionsunterricht beigebracht, dass der Zungenkuss eine Todsünde war. Von Michel erfuhr sie zum ersten Mal, dass ihre Genitalien nichts Schmutziges waren, mit ihm verlernte sie die Scham, wenn seine Zunge ihren Körper zärtlich an Stellen liebkoste, die ihr selbst fremd waren. Sie war eine gelehrige Schülerin, und als Lillys Studienjahr der Romanistik an der Sorbonne zu Ende ging, sprach ihr Mund französisch in vielen Varianten.

Das Flugzeug hatte sich beruhigt. Es zitterte nur noch ganz leicht von seiner Anstrengung, sich über die Schwerkraft zu erheben, und hatte seine Reiseflughöhe schon fast erreicht. Lilly spürte seinen Blick auf ihrem Gesicht und öffnete die Augen. Er war klein, und auf seinem trainierten, gedrungenen Körper saß ein runder Kopf auf einem kurzen Hals. Seine Augen waren ­schmal und schiefergrau, die große Knollennase passte nicht zu seinem kleinen Mund. Seine kurzen, breiten Hände lagen entspannt auf seinen Oberschenkeln, und als er sie jetzt anlächelte, erinnerte er sie an Jack Nicholson in einer seiner Rollen als Insasse einer Irrenanstalt. Der Mantel, den er trug, obwohl es im Flugzeug warm war, war aus feinstem Tuch und hatte ausgebeulte Taschen.

Er taxierte sie ungeniert und Lilly senkte unter seinen kundigen Augen den Blick. Sie wusste, dass sie nicht schön, aber sehr apart war. Lilly war ein Meter achtzig groß, sehr schlank und konnte ihr Herausragen aus dem Durchschnitt inzwischen genießen. Als Jugendliche hatte sie ihre Locken gehasst und ausgeföhnt, jetzt trug sie ihr schulterlanges, dunkelbraunes Haar als wilde Mähne und betonte ihr schmales Gesicht mit den großen, grauen Augen, der schmalen, geraden Nase und dem etwas zu großen Mund nur mit einem roten Lippenstift.

Seine Augen glitten von ihrem Gesicht auf den Hintern der Flugbegleiterin. Sie schob einen Trolley mit Getränken an ihnen vorbei und zeigte mehr Bein, als ihrer Optik guttat. Sein Blick kehrte zurück, und als er nach seiner Zeitung griff, war klar, dass das Intermezzo noch nicht vorüber war. Sie hatte sich inzwischen an sein starkes, männliches Parfum gewöhnt und vertiefte sich wieder in ihre Notizen.

Während sie las, spürte sie seine Nähe so stark, dass sie schon eine Sekunde später ihren eigenen Text vergessen hatte. Sie fand diesen Mann abstoßend und anziehend zugleich und wusste, dass er sie ansprechen würde. Es war nur eine Frage der Zeit …

Nach einer Weile gab sie ihre Bemühungen, die Notizen zu sichten, mit einem Seufzer auf, schloss ihre Augen wieder und versuchte, die animalische Wärme ihres Nachbarn zu ignorieren.

Das Flugzeug setzte ächzend auf der Runway auf, und für ­einen Augenblick hatte Lilly das Gefühl, dass die alte Maschine auseinanderbrechen könnte. Das Spiel war zu Ende.

Zwei Tiere vom selben erotischen Stamm hatten in dieser unfreiwilligen Enge nonverbale Signale ausgetauscht. Kein Wort, kein Überreichen von Visitenkarten, keine Anbahnung. Sie hatten beide abgewinkt, als das Essen kam, und ihre Getränke schweigend entgegengenommen. Der Fremde hatte die Brücke zum Small Talk, die eine gemeinsam eingenommene Mahlzeit ermöglicht hätte, nicht beschritten, und Lilly war ihm gefolgt, weil ihr der Appetit vergangen war. Sie wusste nicht, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein sollte, und entschied sich für die vernünftigere Variante.

Sie kannte diese Art von Mann. Sie war dem naiven Mädchen aus der Provinz entwachsen und klebte ihm eine ihrer imaginären Etiketten auf die Stirn: „Finger weg, einsamer Wolf, beziehungsunfähig.“ Lilly war achtundzwanzig, im Augenblick Junggesellin und betrachtete die Sache damit als erledigt. Sie konnte die Anzahl ihrer Liebesbeziehungen gerade noch an beiden Händen abzählen. Das entsprach dem Zeitgeist, aber nicht ihrer ­katholisch geprägten Jugend im Bregenzerwald.

Die Flugbegleiterin bemühte sich, ihren Abschiedstext so zu sprechen, dass die Passagiere ihr glauben sollten, es sei ihr wirklich eine Freude gewesen, sie als Gäste an Bord zu verwöhnen. Es glückte ihr nur bedingt, und Lilly hörte den Unterton von Routine, Langeweile und Erschöpfung in ihrer Stimme. Doch plötzlich kam ihre echte Stimme durch: „Herr Vicente, kommen Sie bitte zum Ausgang, Sie werden abgeholt.“ Wie immer, wenn jemand aus der anonymen Masse hervorgehoben wird, beobachteten die meisten Passagiere neugierig, wer der VIP an Bord war, und machten sich unbewusst für eine Bewertung bereit.

Der Mann neben ihr stand auf. Er nahm mit einer langsamen Bewegung Lillys Fingerspitzen, und als er sich zu ihr hinunterbeugte und ohne Vorwarnung ihre Hand küsste, roch sie noch einmal sein starkes Parfum, das sie inzwischen erotisch fand. Sie sah auf ihn hinunter und registrierte automatisch, dass sich seine wenigen Haare wie ein Kranz rund um seinen Kopf verteilten. Er schenkte ihr ein letztes Raubtierlächeln und ließ ihre Hand dabei nicht los: „Ruf mich an, ich bin Paolo.“ Während er sprach, griff er mit der anderen Hand in seine Manteltasche. Sie sah nicht, was er herausholte, der Rest ging blitzschnell. Er streifte ihr einen Ring über den Finger, wandte sich abrupt ab und bahnte sich seinen Weg durch die anderen Flugpassagiere, die inzwischen ebenfalls aufgestanden waren.

Lilly merkte erst, dass sie mit ausgestreckter Hand und offenem Mund dastand, als die Flugbegleiterin auf sie zukam und sie fragte, ob sie noch etwas an Bord vergessen hatte. „Nein, aber kennen Sie den Mann, der vom VIP-Service abgeholt wurde?“ – „Ja, natürlich, das war Paolo Vicente, ein bekannter Anwalt und Geschäftsmann. Er fliegt ständig mit uns.“

Im Flughafenbus betrachtete sie verstohlen den Ring. Ein einzelner, glitzernder, weißer Stein, der wie ein Brillant aussah, wurde von roten Steinen, die wie Rubine glänzten, umrahmt. Die Fassung war einfach, aber edel und wahrscheinlich aus Weißgold.

„Ich werde ihm den Ring mit der Post eingeschrieben schicken. Ich werde ihn nicht wiedersehen. Sicher nicht“, murmelte sie vor sich hin. Sie hatte vor einigen Monaten eine komplizierte Beziehung beendet und war froh, dass sie ihr Junggesellinnen­leben wieder aufnehmen konnte. Sie wollte sich auf keinen neuen Mann einlassen, nicht einmal für eine kurze Affäre. Und schon gar nicht auf diesen Typen mit der animalischen Ausstrahlung.

In der Redaktion war am nächsten Tag wieder einmal die Hölle los. Eine Serie, die im nächsten Heft starten sollte, war geplatzt, und Lilly musste mit „Die Kinder des Mai ‘68“ einspringen.

Ralf saß gelassen mitten im Inferno und trank Tee. Sie liebte ihn wie einen Bruder. Er war homosexuell, ein genialer Zeitungsmacher und Journalist, ihr bester Freund und mit ihr gemeinsam Herausgeber des Monatsmagazins Psychologie Morgen. Seine Hemden waren immer perfekt gebügelt, er war mehr breit als hoch und seine großen, rehbraunen Augen wurden von seinen stark gekräuselten, semmelblonden Haaren noch betont. Sein voller, fast weiblicher Mund stand in starkem Kontrast zu einer kühnen Adlernase, und wenn er in seiner unnachahmlichen Art ein Bein über das andere schlug und seine rechte Hand aufs Knie legte, dann wusste die ganze Redaktion, dass Schweigen angesagt war, weil er etwas Wichtiges mitzuteilen hatte. Fast alles, was sie an intellektuellem Schliff und politischer Bildung besaß, verdankte sie ihm, auch, dass er sie ermutigt und gedrängt hatte, mit ihm gemeinsam ein Monatsmagazin zu gründen. Damals, als die Weltgesundheitsorganisation die europäische Geburtshilfe heftig kritisierte und Lilly als freie Journalistin keine Zeitung finden konnte, die ihre provokante Geschichte „Hebammen an die Macht“ drucken wollte, wurde die Idee geboren. „Lass uns einfach eine Zeitung machen, dann können wir schreiben, was wir wollen“, hatte Ralf gesagt und nächtelang Überzeugungsarbeit geleistet, bis sie ihren Teil des Startkapitals aus dem Erbe ihrer Großmutter väterlicherseits eingesetzt hatte. Von ihr hatte sie auch die große Altbauwohnung im dritten Stock eines Gründerzeithauses am Schwedenplatz geerbt, die jetzt als Redaktion diente.

Ralf und Lilly hatten sich in Innsbruck, an ihrem ersten Tag an der Uni, kennengelernt. Er saß neben ihr im Hörsaal, und während ihres Publizistikstudiums hatten sie gemeinsam eine WG in Hötting, einem der Vororte, gegründet.

Der Ring brannte an Lillys Finger und sie wusste, dass sie ihn noch heute zur Post bringen musste. Während sie schrieb, schaute sie immer wieder auf ihre rechte Hand und ärgerte sich über die kleinen pulsierenden Wellen, die ganz direkt, wie über eine elektrische Leitung, ihre Vagina erreichten. Sie mochte erotische Fantasien, aber bitte nicht während der Arbeit und im Zusammenhang mit diesem Mann! Ralf, dem sie fast alles anvertraute, konnte sie die absurde Geschichte nicht erzählen. Es klang wie aus einem schlechten Kitschroman. Sie liebte Ralfs Humor, gleichzeitig kannte sie seine spitze Zunge. Sie wusste, auch ohne seinen Kommentar, dass es absurd war, dass sie den Ring nicht einfach abnahm, in ein gepolstertes Kuvert verpackte und zur Post brachte.

Marion, die Redaktionsassistentin, steckte den Kopf zur Türe herein: „Brauchst du etwas von mir?“

Lilly hörte sich selber zu und wunderte sich, weil die Worte ohne ihr Zutun aus ihrem Mund kamen: „Ja, bitte such mir die Telefonnummer von einem Paolo Vicente heraus.“

Er war sofort am Telefon, als hätte er ihren Anruf schon erwartet. „Ich schicke Ihnen heute den Ring zurück und brauche Ihre Adresse …“

„Nein, ich will dich sehen, bring ihn mir. Jetzt. Ich werde auf dich warten.“ Seine Stimme klang heiser und gleichzeitig bestimmt. Er nannte eine Adresse und legte auf.

Lilly spürte, wie die Hitze aus ihrer pulsierenden Vagina sich über ihren ganzen Körper ausbreitete und sich ihre Beine unter dem Schreibtisch leicht spreizten.

Scheiße!

Sie verließ die Redaktion wortlos, ging auf den Schwedenplatz hinaus und merkte, als sie die Straße überquerte, dass ihre Knie zitterten. Die Adresse, die Paolo genannt hatte, gehörte zum angrenzenden zweiten Bezirk und war nur fünfzehn Minuten von der Redaktion entfernt. Sie passierte die Brücke über den Donaukanal, ohne ein einziges Mal aufs Wasser zu schauen, und rempelte auf der anderen Uferseite einen Mann an, der vor einem Geschäft mit Fahrrädern stand. Ihr Kopf war vollkommen leer.

Sie stand eine Weile unschlüssig vor dem Gebäude. Es war ein renoviertes Biedermeierhaus in der Nähe der Nepomuk-Kirche, mit einem großen, braunen Tor, in dem die unauffällige Eingangstüre fast verschwand. Sie zögerte einen Augenblick, dann machte sie kehrt, überquerte die Fahrbahn und ging zu Fuß die Praterstraße auf der anderen Seite wieder zurück. „Nein, sicher nicht, ich erlaube dir nicht, dass du dir das antust“, warnte sie sich selbst und war froh, dass sie gegen den Wind, der vom Donaukanal durch die Straße fegte, ankämpfen musste. Lilly war als Einzelkind aufgewachsen und sprach immer zu sich selbst. Als kleines Mädchen hatte sie damit die Stille ausgefüllt, wenn ihre Eltern wieder einmal so sehr mit sich selbst beschäftigt waren, dass sie ihre Tochter vergessen hatten.

Sie war erst einige Minuten unterwegs, als sie vor einem Schaufenster stehen blieb. Das Geschäft mit erotischer Unterwäsche war wie eine rote Ampel auf ihrem Weg zurück ins normale Leben. Ferngesteuert trat sie ein und wurde von der Chefin, die von ihrer Angestellten mit „Frau Anita“ angesprochen wurde, persönlich bedient. „Ich möchte gerne schöne Unterwäsche kaufen.“ – „Für einen bestimmten Anlass?“ Lilly wurde rot. Konnte ihr jeder ansehen, dass sie erregt war? Die Frau half ihr weiter: „Ich meine, zur Hochzeit oder so?“ – „Ja, genau“, sagte Lilly erleichtert und hoffte, dass der Text, den sie dachte, nicht in ­ihrem Gesicht zu lesen war: „Ich bin gerade zu einem wildfremden Mann unterwegs, der mir gestern im Flugzeug einen Ring angesteckt hat, und werde mit ihm schlafen.“

Das Haus, in dem Paolo Vicente sie erwartete, hatte keine Gegensprechanlage, und auf dem Türschild standen nur das Stockwerk und die Wohnungsnummer, die er ihr genannt hatte. Sie ging die alten, schmalen Steinstufen hinauf und hielt sich am Geländer fest.

Paolo trug einen schwarzen Bademantel aus Seide, unter dem sich sein Penis wölbte. Er war barfuß, und sie registrierte, dass er gepflegte Zehennägel hatte. Durch eine offene Tür im Hintergrund sah Lilly, dass die Marmorfliesen des Vorzimmers sich in einem Badezimmer fortsetzten, wo aus einer Wanne aus Marmor Dampf aufstieg. Es roch nach Badesalz und dem Parfum, das sie schon aus dem Flugzeug kannte.

In einem letzten Versuch, sich aus dieser Situation zu retten, nahm Lilly hastig den Ring vom Finger und streckte ihn Paolo entgegen. Er nahm ihn kommentarlos, legte ihn auf eine Glaskonsole im Vorzimmer und führte sie schweigend ins Bad. Er öffnete mit langsamen Bewegungen ihre cremefarbene Seidenbluse, und seine Augen weiteten sich, als er ihren roten Spitzenbüstenhalter sah. Mit einer schnellen Bewegung riss er den Reißverschluss ihres schmalen Rockes auf, und Lilly stieg, noch immer in ihren schwarzen Stöckelschuhen, aus dem Rock, während er zu Boden glitt. Sie dachte an die Pressekonferenz, die sie gerade verpasste und für die sie sich verkleidet hatte, denn ­eigentlich liebte sie flache Schuhe, in denen sie ungeniert große Schritte machen konnte. Der neue, ungewohnte Stringslip, der fast zwischen ihren Pobacken verschwand, stimulierte ihre Vagina und holte sie in den Augenblick zurück. Paolo setzte sich auf den Badewannenrand und sah sie eine Weile schweigend an. Dann deutete er mit einer Geste, ähnlich einem Zirkusdirektor, der sein Publikum in seine Show bittet, auf das dampfende Wasser: „Ich habe schon gebadet.“

Er stand auf, streifte ihr die Unterwäsche ab, berührte wie zufällig ihre Lustlippen und sah zu, wie sie in die Wanne stieg. Das Wasser hatte eine samtweiche Konsistenz, und sie merkte, wie die Anspannung in ihrem Körper langsam nachließ. Paolo hatte den Raum verlassen und kam nach einer Weile mit zwei gefüllten Champagnergläsern zurück. Sie trank und spürte, wie der Alkohol in ihr Gehirn eindrang und einen angenehmen Nebel erzeugte. Sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. So, als hätte Paolo ihre Gedanken gehört, stand er auf und kam mit einer Schüssel Kaviar und frischem, weißem Brot zurück. Er setzte sich wieder an den Badewannenrand und fütterte sie mit kleinen Häppchen, die er vorher mit Zitrone beträufelte. Dann beugte er sich über sie und saugte an ihren Brustwarzen. Lilly stöhnte und hob automatisch ihr Becken.

„Ich will dich rasieren“, sagte Paolo und nahm von einem Bord einen Wegwerfnassrasierer, wie ihn Lilly für ihre Beine verwendete. Er rasierte sie mit der einen Hand und öffnete ihre Lustlippen mit der anderen Hand. Seine Stimme war rau, als er sagte: „Komm in mein Bett, ich will dich lecken.“

Als Lilly Paolos Appartement, in dem er offensichtlich nicht wohnte und das nur aus einem Marmorbad, einem Schlafzimmer und einer Küche bestand, nach drei Stunden verließ, war sie beschwipst, glattrasiert und in einem angenehmen Zustand von Sattheit, den sie nicht mehr kennengelernt hatte, seit Michel sie in Paris in die Kunst der Liebe eingeführt hatte.

Ralf runzelte die Stirn, als Lilly am nächsten Tag in die Redaktion kam. „Wo warst du gestern, du bist einfach wortlos verschwunden, wir brauchen dringend deine letzte Fassung von ‚Die Kinder des Mai ‘68‘“.

Lilly sagte schuldbewusst: „Ich habe einen Retroausflug in die Gefühle des Mai ‘68 gemacht, der Text ist in einer Stunde fertig.“

Ralf kannte seine Elfe, wie er sie nannte, gut. Er wusste, wenn sie dieses spezielle Nussknackergesicht aufsetzte, dass sie nichts mehr sagen würde. Jedenfalls nicht jetzt.

Um siebzehn Uhr läutete das Telefon: „Komm zu mir. Ich erwarte dich.“

Lilly spürte, wie sie sofort feucht wurde, und stand rasch von ihrem Schreibtisch auf. Sie trug keinen Slip. Sie liebte es, sobald der Winter vorbei war, unter ihren Kleidern nackt zu sein, und wollte nicht, dass ein verräterischer Fleck ihre Erregung verriet.

Es war ein sonniger, warmer Spätfrühlingstag, und Lilly schlenderte mit pulsierendem Unterleib über den Schwedenplatz, kaufte sich ein Eis und spürte, dass sich seit gestern ihr Gang verändert hatte.

Sie ging wieder zu Fuß und genoss jede Sekunde. Auf der Schwedenbrücke blieb sie für einen Augenblick stehen und schaute auf die Kais des Donaukanals hinunter. Mensch und Tier waren aus ihren Winterhöhlen aufgetaucht und saugten die kostbaren Sonnenstrahlen auf.

Lilly wusste, dass ihre Obsession nichts mit Liebe zu tun hatte und dass es so etwas wie eine Beziehung mit Paolo nicht geben würde. Es war pure, leidenschaftliche Geilheit. Michel hatte sie wirklich geliebt, auch wenn die erotische Besessenheit ähnliche Züge hatte. Und bei allen anderen Männern in ihrem Leben hatte es wohldosierten Sex mit Bezug gegeben, es schwang immer ein „vielleicht wird das ein Partner, bei dem ich bleiben will“ mit.

Sie wusste noch immer nichts von Paolo. Weder ob er eine Frau hatte, die er mit ihr betrog, noch ob er zu den „Guten“ oder zu den „Bösen“ gehörte. Es war ihr egal.

Lilly lebte erst seit zwei Jahren wieder in Wien, wo sie ihre frühe Kindheit verbracht hatte. Nach dem Tod ihrer französischen Großmutter Mémé hatte sie deren Wohnung am Schwedenplatz, die jahrelang leer gestanden hatte, geerbt und damit war der Standort für Psychologie Morgen bestimmt. Das Magazin steckte noch in der Pionierphase und verlangte rund um die Uhr ihre Aufmerksamkeit. Sie hatte noch keine Zeit gehabt, sich um die Wiener Gesellschaft zu kümmern.

Paolo trug wieder einen schwarzen Bademantel aus Seide. Das Wasser war schon eingelassen, und nach dem Baderitual und den Kaviarhäppchen führte er sie wieder in sein Schlafzimmer. Das Bett hatte ein Kopf- und ein Fußende aus Metallstäben. „Ich werde dich fesseln“, sagte er und holte vier Seidentücher aus ­einer Schublade neben dem Bett. „Leg dich auf den Rücken.“ Er spreizte ihre Beine, band die seidenen Fesseln um ihre Fußknöchel und verknotete die doppelten Enden gekonnt an den Eisenstäben. Er arbeitete ruhig und konzentriert, und seine Mimik verriet nicht, was er sich dachte oder was er fühlte. Lilly schloss die Augen. Sie spürte, dass er jetzt über ihr kniete und hörte seinen raschen Atem, als er ihre Arme nach oben bog und rechts und links die Fesseln befestigte.

Seine Lippen und seine Hände waren überall, zuerst schmetterlingsgleich, dann immer fordernder, und als Lilly ihn anflehte, seinen Schwanz in sie hineinzustecken, verlängerte er ihre lustvolle Qual und verweigerte sich. Ihr Körper hatte sich längst selbstständig gemacht und wand sich im Rhythmus von Paolos Berührungen. Lilly zerrte an ihren Fesseln und versuchte sich loszureißen, um sich selbst befriedigen zu können. Sie war es gewohnt, nachzuhelfen und hatte noch nie, seit ihrer Begegnung mit Michel, einen Orgasmus ohne ihr eigenes Zutun gehabt. Dieser Rest von Kontrolle, dass es ihr nur dann kam, wenn ihre eigenen Finger sie berührten, war Teil ihrer sexuellen Biografie. Sein kehliges Lachen und seine breiten Hände, die ihre Arme niederdrückten, verstärkten die Wellen der Erregung, die sie überfluteten. Für eine Sekunde, bevor sie ihren Orgasmus herausschrie, dachte sie daran, wie gut es war, dass die Schlafzimmertür einen Schallschutz hatte.

Als Lilly ihre Kleider im Bad aufsammelte und sich anzog, lehnte Paolo an der Tür und sah ihr zu. „Das nächste Mal“, sagte er und zeigte ihr sein Raubtierlächeln, „machen wir, was du willst.“ Lilly zog den Reißverschluss ihres Kleides zu und überraschte sich selbst: „Ich brauche einen Videoplayer.“

Es war neunzehn Uhr. Lilly saß an ihrem Schreibtisch und wartete darauf, dass das Telefon doch noch läutete. Paolo hatte gestern nicht angerufen und heute auch nicht. Sie war vorbereitet. In der untersten Schublade lag, in einem neutralen Umschlag, das Video.

Ob er jetzt wohl mit seiner Frau – falls er eine hatte – zu Abend aß? Oder ob er mit einer anderen Frau das machte, was er mit ihr tat? Lilly spürte keine Eifersucht, aber ihr Körper war auf Entzug. Sie wollte diesen puren, unverpackten, unverschämten Sex mit ihm. Sprachlos, konventionslos, zwei wilde Tiere, die sich zur Paarung trafen. Es war ähnlich wie mit Michel und gleichzeitig völlig anders. Michel war ihre erste große Liebe gewesen, sie hatte bei ihm bleiben und seine kleine Frau sein wollen. Er hatte sie nach ihrem Sprachenjahr weggeschickt. „Petite Autrichienne“, hatte er gesagt, „viele Männer warten auf dich. Du bist zu jung, um bei mir zu bleiben, und ich bin zu alt und zu klug, um es zu wollen.“

Paolo dagegen war nicht liebenswert, er war einfach nur geil.

Um acht Uhr sperrte Lilly die Redaktionstür hinter sich zu und ging zu Fuß am Donaukanal entlang in den neunten Bezirk. Sie liebte das Servitenviertel, in dem sie wohnte, und mochte die Dorfatmosphäre, wo jeder jeden kannte. Gleichzeitig war sie, wenn sie nur ein paar Gassen weiterspazierte, eine von vielen anonymen Bürgerinnen dieser Weltstadt.

Jedes Mal, wenn sie ihre Wohnungstür aufsperrte und durch ihr helles Vorzimmer in den großen, fast fünfzig Quadratmeter großen Wohnraum mit den Bogenfenstern trat, spürte sie ihre Dankbarkeit für diese Oase mit Blick auf die Servitenkirche. Auf der Rückseite des Hauses hatte die gemütliche Wohnküche einen kleinen Balkon, von dem sie auf eine alte Linde im großen Innenhof sah. Dort saß sie an lauen Abenden, meistens mit Ralf, an ihrem runden, hellblau lackierten Tisch auf bunten Klappsesseln.

Sie zog sich im Schlafzimmer, das ebenfalls auf den Innenhof ging, ihren flauschigen Bademantel an. Dann nahm sie sich ein Glas Weißwein, setzte sich im Wohnzimmer auf ihr weißes Sofa, schaltete den Fernseher ein und versuchte der Irritation zu ­entkommen, die Paolos Schweigen in ihr auslöste. Nach einer Weile nahm sie eine Dusche, aber auch das half nichts. Die ­Entzugserscheinungen verstärkten sich nur durch das heiße Wasser. Sie wusste, dass sie es sich selber machen konnte. Aber bei dieser Vorstellung drängte sich ihr das Bild von der Tiefkühlpizza im Vergleich zu einem Gourmetmenü auf, und sie verlor die Lust.

Sie besichtigte den Inhalt ihres Kühlschranks und das deprimierte sie noch mehr. Keine Zutaten für ein befriedigendes Abendessen. Nur ein Glas Oliven, ein Glas Kapern und ein Liter Milch. Ihre Bregenzerwälder Oma hatte ihr immer Milch mit Honig ans Bett gebracht. Und plötzlich war das kleine Mädchen da, das Trost brauchte.

Lilly machte sich eine Wärmflasche, nahm den Becher mit der Honigmilch mit ins Bett und schlief ein.

Gott sei Dank war das neue Heft schon abgeschlossen. Lilly konnte sich nicht konzentrieren, und Ralf warf ihr auf der Redaktionskonferenz, die der Themenfestlegung für das nächste Heft diente, einen besorgten Blick zu. „Ich möchte eine Geschichte über Orgasmusschwierigkeiten machen“, hörte sie sich sagen, „unter Berücksichtigung von hilfreichem Sexspielzeug.“ Ihr Freund und Geschäftspartner warf ihr einen überraschten Blick zu. Bisher hatte sich Lilly in ihrer Themenwahl an einen klaren roten Faden gehalten. Das Thema Sex hatte nicht dazugehört.

Um siebzehn Uhr läutete das Telefon: „Ich warte auf dich, der Videoplayer steht schon im Schlafzimmer.“

Lilly spürte eine Welle der Erleichterung und Erregung zur gleichen Zeit. Das Vakuum, in das sie Paolos Schweigen gestürzt hatte, war ein unbequemer Platz gewesen. Keine Verabredungen, weil er anrufen könnte, keine Gespräche über ihn mit Ralf oder ihrer besten Freundin, weil ihr ihre eigene Geilheit peinlich war. Isolation pur.

Paolo trug diesmal einen roten Seidenbademantel. Das Stück, in dem sie beide spielten, hatte noch immer keinen Text. Es gab nur Regieanweisungen, und die waren bisher von ihm gekommen.

Heute war sie dran.

Sie führte ihn nach dem Badezimmerritual ins Schlafzimmer und sah, dass der Videoplayer an einen Fernseher mit großem Bildschirm angeschlossen war.

Sie nahm zwei Kissen, bereitete für sie beide eine Rückenlehne vor und zeigte auf seine Seite: „Setz dich, ich zeige dir einen Filmausschnitt.“

Lilly legte das Video ein. Sie hatte sich den Film vorgestern aus der Videothek geholt und ihn schon zu Hause bis zur passenden Stelle vorgespult. Man sah eine Frau, die auf einem Kamel ritt, das von einem Scheich geführt wurde. Sie war offensichtlich erschöpft und am Ende ihrer Kräfte. Sie hatte sich nach dem Tod ihres Mannes in der Wüste verirrt und wurde nun in sein Dorf gebracht. Lilly wartete auf ihre Szene und beobachtete aus den Augenwinkeln Paolo, der sein Pokerface für einen Augenblick verloren hatte. Er war auf einen Porno vorbereitet, und sie genoss seine Verwirrung. Die Frau stand mit gespreizten Beinen da und ihre Arme waren an der niedrigen Decke mit einem Seil zusammengebunden. Der Scheich kniete am Boden unter ihr und leckte sie.

Als die Szene zu Ende war, schaltete Lilly das Video aus. Sie wusste, wie Der Himmel über der Wüste ausging, sie hatte ihn vor einiger Zeit im Kino gesehen. Das Ende war tragisch und völlig unerotisch. Aber darum ging es jetzt nicht. Sie hatte immer wieder an diese Szene in der Lehmhütte des Scheichs gedacht und bisher nie gewagt, sie nachzuspielen.

Paolo stand auf und führte sie in die Küche. Sie war ziemlich groß und sah völlig unbenutzt aus. In ihrer Mitte stand ein großer Tisch, mindestens zwei Meter lang. An der hohen Decke über dem Tisch hingen an Haken dekorative alte Pfannen zwischen modernen, kleinen Hängeleuchten. Er packte sie und setzte sie auf den Tisch. Dann zog er sie ein Stück nach hinten und nahm sie an den Schultern. „Leg dich hin.“ Er stellte ihre Beine auf und setzte sich auf einem der rustikalen Küchenstühle vor sie hin. Lilly spürte seine Blicke in ihrer offenen Vagina und wartete darauf, dass er seine kurzen, dicken Finger in sie versenkte. Er ließ sie so lange warten, bis ihr Körper die Spannung nicht mehr ertrug und sich ohne sein Zutun einen Orgasmus erkämpfte. Als er endlich seinen Finger in sie hineinsteckte und ihre Lustlippen rieb, erschütterten Kaskaden von vielen kleinen Erregungswellen jede einzelne ihrer Zellen. „Steh auf und stell dich auf den Tisch.“ Das Kommando kam mit rauer Stimme, und als Lilly nackt auf dem Küchentisch stand, hob sie automatisch die Arme nach oben. Paolo holte eine kleine Leiter und zauberte aus seiner Bademanteltasche ein dünnes Seil. Er stieg auf die Leiter, nahm eine der Pfannen herunter, band Lillys Hände zusammen, fertigte eine kunstvolle Schlinge an und befestigte sie an dem freien Haken.

Paolo machte sich nicht die Mühe, seinen Bademantel auszuziehen, als er mit erigiertem Penis wieder auf dem rot gefliesten Küchenboden stand. Er beugte sich über den Tisch, und Lilly spreizte automatisch ihre Beine, als sie sein Gesicht, in dem sich seine Zunge schnell hin und her bewegte, auf ihren Unterleib zukommen sah.

Als Lilly an diesem Abend im Bett lag, war sie so erschöpft, dass sie sich fragte, wie sie ihre Arbeit neben diesem obsessiven Sexleben bewältigen konnte.

Das Leben rund um Lilly nahm in den nächsten Wochen seinen Lauf fast ohne sie. Sie funktionierte in ihrem Alltag, aber mehr nicht. Es war, als ob ein Ausschnitt, der bisher in ihrem Leben unauffällig und eher klein war, sich so ausgebreitet hatte, dass er alles andere verdrängte. Sie dachte den ganzen Tag an Sex, sie sehnte sich nach Sex und fieberte jedem neuen Treffen mit Paolo entgegen. Sie hatte sich inzwischen informiert und wusste, dass er mit der Kunsthändlerin Kristina Walf zusammenlebte. Sie besaß eine große Galerie, die sie gleichzeitig als literarischen und politischen Salon führte. Tout Vienne kam bei ihr zusammen.

Als die Einladung mit der Post kam, war Lilly in einer Phase ihrer noch immer nonverbalen Beziehung mit Paolo, in der sie sich fragte, wie das weitergehen sollte. Konnten ein Mann und eine Frau, ohne miteinander zu reden, über einen längeren Zeitraum einfach nur Sex haben?

Lilly wartete bis zum Abend, dann holte sie den cremefarbenen Umschlag aus der untersten Schreibtischlade, legte ihre Füße auf den Tisch und öffnete das Billett.

Dr. Paolo Vicente und Dr. Kristina Walf

bitten zu einem Wochenende mit Freunden.

Dresscode: bequem.

Der Text war handgeschrieben, die Adresse in einer zurückhaltenden Schrift gedruckt.

Lilly spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Sie stand auf und ging zu Ralf hinüber, der seine Füße vom Schreibtisch nahm und sie interessiert ansah: „Ich habe ein Problem, ich muss mit dir reden.“ Sie hatte Ralf bisher nichts von Paolo erzählt, aber jetzt war es Zeit für eine Beichte.

Sie verließen gemeinsam die Redaktion und spazierten zum Gläsernen Elefanten, ihrer Lieblingsbar an der Grenze zwischen erstem und neuntem Bezirk. Ralf war ein guter Zuhörer, und auch wenn Lilly nicht in die Details ihrer Obsession ging, seufzte er enttäuscht, dass die Erzählung nach einer halben Stunde zu Ende war. „Großartige Geschichte, fahr hin, das ist doch spannend, was soll dir passieren?“

Seine Reaktion überraschte sie nicht. Ralf hatte ein Faible für skurrile Geschichten, und seine eigene Liebesgeschichte entbehrte nicht der Pikanterie. Sein Lebensgefährte Chris war ein erfolgreicher Radiomoderator, der in München lebte. Dort hatte er in einer kurzen Phase der Orientierungslosigkeit mit einer bekannten Malerin eine Tochter gezeugt. Die vier verstanden sich so gut, dass sie traditionell Ostern und Weihnachten gemeinsam feierten und einmal im Jahr als Familie für zwei Wochen in den Urlaub fuhren. Dass Ralf und Chris eine Beziehung auf Distanz führten, empfanden beide als Segen. Der Beruf war ihre Leidenschaft und sollte nicht durch einen banalen Alltag gestört werden.

Am nächsten Tag versuchte Lilly, Paolo zu erreichen. Sie sprach mit seiner Sekretärin und glaubte ihr kein Wort, als sie sagte, er wäre den ganzen Tag außer Haus, weil er von einem Meeting ins nächste ging. Es war Freitag und das Wochenende am Semmering, einem alten Luftkurort eine Stunde von Wien entfernt, stand vor der Türe.

Lilly fuhr mit einem mulmigen Gefühl im Magen und völlig unkonzentriert durch die vielen Kurven. Sie trat ihren alten, hellblauen 2CV ungeduldig bis zum Anschlag durch, sobald sie in eine Gerade kam. Er hieß Godot und war ein Relikt aus ihrer Studentenzeit in Innsbruck. Sie hatte ihn dem Sohn des Leichenbestatters von Bregenz abgekauft, als sie in ihr neues Leben aufgebrochen war. Hinaus aus der Enge des Bregenzerwaldes. Innsbruck war auch eng, aber in der Landeshauptstadt von Tirol war sie wenigstens fremd und kannte niemanden. Hier wurden keine Vorhänge beiseitegeschoben, wenn sie vorüberging.

Das Haus lag am Ortsende und war über einen schmalen Schotterweg zu erreichen. Ein typisches Ferienhaus aus der Gegend, das sich nur durch besonders üppigen Blumenschmuck von den Nachbarhäusern unterschied.

Lilly war so erstaunt, dass sie irrtümlich auf die Bremse trat. Sie hatte Paolo ein extravagantes Domizil mit viel Glas zugeordnet. Sie fuhr wieder an und lenkte ihr Auto auf den kleinen Parkplatz neben der angrenzenden Scheune. Sie wunderte sich, dass es nur noch ein weiteres Auto gab, einen dunkelgrünen Jaguar mit cremefarbenen Ledersitzen, der wohl einem der beiden gehörte.

Die Frau, die ihr lächelnd aus der offenen Haustüre entgegenkam, erkannte sie von einem Foto aus dem Zeitungsarchiv, das sie sich inzwischen besorgt hatte, und war dennoch überrascht. Ihr weißblondes Haar war zu einem losen Knoten hochgesteckt, ihr feines, blasses, fast altersloses Gesicht mit den hellblauen Augen strahlte eine Güte aus, die Lilly die Schamröte ins Gesicht trieb. „Wie kann er diese Frau mit mir betrügen, unfassbar!“ Als hätte sie ihre Worte gehört und wollte sie beruhigen, breitete Kristina die Arme aus und sagte mit einer tiefen, warmen Stimme: „Willkommen, wie schön, Sie kennenzulernen. Paolo hat mir schon viel über Sie erzählt.“

Lilly war verwirrt. Wusste seine Frau nichts? Oder wusste sie alles? Gab es einen Deal zwischen den beiden, den sie nach dreißig Jahren Ehe geschlossen hatten, damit die Beziehung spannend blieb?

Kristina sah Lilly fast zärtlich an und sagte mit wissendem Blick: „Ich kenne meinen Mann, er mag kluge, junge Frauen.“ Die Betonung war auf klug. Nicht auf jung.

„Wir werden diesmal nur zu viert sein, der Freund, den wir noch eingeladen haben, ist noch nicht da. Er steckt im Stau.“ Ein Mann für mich oder für sie?

Paolo tauchte in der Haustüre auf und beobachtete mit regungslosem Gesicht die Szene. Er trug eine weiche, braune Wildlederjacke, Jeans und Mokassins und sah in dieser Umgebung völlig anders aus. Wie ein Baron auf seinem Landgut, der gleich zur Jagd aufbrechen würde. Es gab nichts mehr, nur neutrale Freundlichkeit in seinem Blick, den sie so gut zu kennen geglaubt hatte. Das geile Raubtier war verschwunden. Hier stand ein älterer, zufriedener, seiner selbst sicherer Mann, der seinen Besitz genoss.

Als er näher kam und dabei seiner Frau zärtlich über den Arm strich, hätte Lilly am liebsten auf dem Absatz umgedreht und wäre geflüchtet. Kristina nahm ihr die kleine Reisetasche ab und sagte: „Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.“ Lilly hatte gehofft, dass Paolo sie begleiten würde. Sie wollte ihn berühren, ihn wenigstens für eine Sekunde spüren und ihn fragen, was von ihr erwartet wurde.

Lilly zog sich nicht um. Sie war in einer Jeans und einem lockeren weißen Pulli angereist. Ihr ursprünglicher Plan, eine hautenge, cremefarbene Hose und einen tief ausgeschnittenen, roten Pulli anzuziehen, der ihre Brüste betonte, erschien ihr plötzlich peinlich und frivol. Sie wusch sich die Hände im kleinen Waschbecken in ihrem Zimmer und sagte zu ihrem Spiegelbild: „Mein Gott, was machst du hier!?“

Als sie nach unten kam, hatte sie sich noch immer nicht gefasst. Wo war dieser verdammte zweite Mann? Sie fühlte sich mit dem Paar, das sich in der Küche als eingespieltes Team bewegte, unwohl.

Paolo war der Koch. Er stand mit einer weißen Schürze am Herd und rührte hingebungsvoll in einem Topf, aus dem es köstlich nach Lammragout duftete. Seine Frau hackte Petersilie, und neben ihr lagen frisches Gemüse und Kartoffeln, die geschält werden mussten. Als Lilly ihre Hilfe anbot, lehnte Kristina lächelnd ab: „Wir machen das schon. Ich bin seine Hilfskraft, und er kocht.“

Lilly hatte sich nie gewünscht, dass Paolo und sie mehr mitein­ander teilen sollten als ihre gemeinsame Obsession. Aber jetzt, als sie die beiden miteinander sah, der Inbegriff des glücklichen Paares, spürte sie einen Stich im Herzen. Es war nicht Eifersucht, es war das schmerzhafte Gefühl, ausgeschlossen zu sein, nicht dazuzugehören. Lilly fühlte sich plötzlich in ihre Kindheit zurückversetzt. In Wien nicht zu Hause und im Bregenzerwald nicht zu Hause. Fremd. Überall fremd.

Sie spürte, dass ihr Selbstbewusstsein immer mehr bröckelte und die kleine, einsame Lilly gleich auftauchen und zu weinen beginnen würde. „Ich mache noch einen Spaziergang, wenn ich hier nicht gebraucht werde.“ Im Wald, der nur hundert Meter hinter dem Haus begann, ruinierte sich Lilly ihre feinen Ballerinas und heulte sich in den Armen einer großen Tanne so richtig aus. Die Natur war immer ihre Rettung gewesen. Das hatte sie von ihrer Mutter gelernt: „Wenn du traurig bist, leg dich auf eine Wiese oder umarme einen Baum. Die Naturwesen sind immer da, um dich zu trösten.“

Lillys Mutter hatte sich aus Liebe von einer Waldfee in eine Stadtfrau verwandelt und war daran fast zugrunde gegangen. Als sie mit ihrer kleinen Tochter aus Wien zurück nach Mellau geflüchtet war, hatte sie an so schweren Depressionen gelitten, dass ihr Arzt sie in eine Klinik einweisen wollte.

Sie saßen schon bei einem köstlichen, viergängigen Abend­essen, als der vierte Gast schließlich kam. Lilly atmete auf. Endlich Entlastung!

Er war jung und sehr attraktiv. Sekretär eines Ministers
und offenbar auch von geschäftlichem Interesse für Paolo, der sich als liebenswürdiger, gesprächiger Gastgeber entpuppte. Er schenkte Lilly und Walter immer wieder von einem schweren, alten Burgunder nach und langsam löste sich ihre Nervosität. Sie wusste noch immer nicht, was das Ziel dieser Einladung war und ob es heimliche Erwartungen an sie gab. Ein Vierer? Sie beobachtete Walter von der Seite. Ihr war klar, dass dieser Mann für sie auf keinen Fall infrage kam. Er hatte ein kantiges, hartes Gesicht, und sie sah, wie sich seine Kiefermuskeln in unterdrückter Spannung bewegten. Lilly hatte noch nie an Gruppensex teilgenommen, obwohl es gerade modern war. Sie sah keinen Bedarf, diesen Umstand genau mit diesem Typen zu ändern.

Kristina legte manchmal die Hand auf Paolos Arm. Es war keine besitzergreifende Geste, und dennoch, wenn er ihre Berührung mit einem zärtlichen Blick beantwortete, war der Text klar: „Wir sind das Paar.“

Lilly war froh, dass dieser Sekretär endlich da war, aber je länger der Abend dauerte, desto weniger mochte sie ihn. Sie fand ihn aalglatt, und er war etwas zu oft der gleichen Meinung wie Paolo. „Ja, da haben Sie ganz recht, so sehe ich das auch“, war einer seiner Lieblingssätze.

Sie stellte sich vor, wie er auf seiner inneren Rechenmaschine eine Kalkulation anstellte, ob sich dieser Abend für seine Kar­riere lohnen würde. Als der schwere Rotwein seine Zunge gelöst und sein Jasager endlich Pause hatte, kam ein aufrichtiger Macho zum Vorschein, der aus seiner Abneigung gegen emanzipierte Frauen kein Hehl machte. „Wer soll denn unsere Pensionen bezahlen, wenn die Weiber keine Kinder mehr bekommen wollen und stattdessen Karriere machen?“ Bevor Lilly ihrer Empörung Luft machen konnte, lächelte er sie charmant an und sagte: „Sorry, war nur ein Scherz. Natürlich ist die Frauenbewegung enorm wichtig für die Gesellschaft. Wir tun alles, damit sich noch mehr Frauen aktiv am Arbeitsmarkt engagieren.“

Kristina überhörte seine Bemerkung und schien über den Dingen zu stehen. Sie verteilte ihr Wohlwollen und ihre Wärme gleichmäßig am ganzen Tisch, und Lilly fragte sich, ob das vielleicht eines der Geschenke des Älterwerdens war. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie je bereit sein würde, einen Mann mit einer anderen Frau zu teilen, und schon gar nicht im Bett.

Oder war diese Einladung dazu gedacht, Kristinas Alleinanspruch zurückzugewinnen?

Lilly staunte über diesen Mann, mit dem sie in den letzten drei Monaten fast täglich geschlafen hatte. In immer wieder neuen Varianten. Michel hatte ihr, als sie achtzehn war, die wichtigsten Grundlagen beigebracht, Paolo, in seiner erotischen Rastlosigkeit, hatte sie fast ohne Worte von einem erotischen Leckerbissen zum nächsten, von einer Ekstase in die nächste getrieben. Und irgendwann, als Lilly alle Hemmungen abgelegt hatte, war sie in den Inszenierungen immer kühner, und von ihm ermutigt, meist federführend geworden.

Für einen Augenblick lächelte sie, als sie an ihre einzige Inszenierung dachte, die Paolo aus der Fassung gebracht hatte. Sie war, als er sie anrief, um sich mit ihr am Nachmittag in seinem Liebesnest in der Praterstraße zu treffen, auf die Höhenstraße im Wienerwald gefahren. An einem der Aussichtspunkte mit Parkmöglichkeit hatte sie ihr Auto stehen gelassen und war durch die Wälder gestreift, bis sie eine Lichtung gefunden hatte, die ihr geeignet schien. Den Picknickkorb mit Leckerbissen und eine weiche Decke hatte sie gleich dort gelassen.

Er wollte zuerst nicht. Doch diesmal war Lilly unerbittlich gewesen. Sie hatte ihm die Augen mit einem seiner Seidentücher verbunden und ihn zum Auto geführt. Auf seine Fragen hatte sie nicht geantwortet und war zügig zuerst durch die Stadt und dann die vielen Kurven bergauf gefahren. Wie einen Blinden hatte sie ihn durch den Wald geführt, seine Hände sinnlich Rinden, Blätter und Pilze berühren lassen und ihn dann zart an einen Baum gefesselt, nachdem sie ihm seine Hose ausgezogen hatte. Als sie zuerst mit den Fingern und dann mit ihren Lippen seinen Penis liebkost hatte, war sein Brüllen, als sein Orgasmus kam, wie das Brüllen der Hirsche im Bregenzerwald, wenn sie ihre Brunftzeit hatten.

Jetzt saß Paolo da, ein gesetzter Patriarch am Familientisch, ruhig, gelassen, freundlich, gesprächig, kunst- und politikbeflissen, klug und beständig.

Das Haus war still. Lilly lag in einem schmalen Bauernbett mit karierter Bettwäsche und dachte an die edlen, französischen Seidenarrangements in Paolos Bett in Wien. Zwei Welten, zwei Männer. Sie fühlte sich einsam und sehnte sich nach ihrem eigenen Bett und nach einem Absacker im Gläsernen Elefanten mit Ralf oder Sybille, ihrer besten Freundin in Wien.

Das Geräusch war am Anfang so leise, dass sie es im Rauschen der Bäume, das durch ihr offenes Fenster klang, fast nicht wahrgenommen hatte. Dann hörte sie Paolos kehliges Stöhnen und Katharinas leises, lustvolles Seufzen, das nach einer Weile in unterdrücktes Schreien überging. Und plötzlich fühlte sie sich missbraucht. Darum ging es also. Sie wollten ein Publikum, um es miteinander zu treiben. Oder war ein Vierer vorgesehen gewesen, der nicht geklappt hatte, weil Lilly und der Sekretär einander nicht mochten?

Lilly spürte, wie ihr Körper steif wurde und sie fast ganz aufhörte zu atmen. Sie kannte diesen Zustand „ich stelle mich tot“ und wusste nicht, wie lange sie so dagelegen hatte. Es war ein kurzes Liebesspiel gewesen, und dann kam diese Stille zurück, die es nur noch auf dem Land gibt. Nach einer Ewigkeit, als sie Paolos lautes Schnarchen hörte, löste sich die Starre auf. Sie konnte Schnarchen nicht ausstehen.

Sie zog sich leise an, packte ihre kleine Reisetasche, schlich die Holztreppen hinunter und hielt den Atem an, als eine der Stufen laut knarrte. Sie atmete erleichtert auf, dass der Haustürschlüssel steckte und war froh, dass Godot, ihr alter Freund, sofort ansprang. Als sie von der Schotterstraße in die Hauptstraße einbog, zitterte sie am ganzen Körper und hielt sich zur Beruhigung
am Lenkrad fest. Sie musste stehen bleiben und lenkte ihr Auto bei der nächsten Gelegenheit auf einen kleinen Feldweg, der zu ­einem Stadel führte.

Sie streifte ihre Ballerinas ab, stieg aus und spürte unter ihren Füßen erleichtert eine Mischung aus Gras und festgetretener Erde. Sie atmete tief durch, sog die klare Nachtluft ein und legte den Kopf in den Nacken. Sie spürte, wie sich ihr Körper langsam beruhigte. „Du bist ein Sternenkind“, hatte ihre Großmutter immer zu ihr gesagt und an der Kanisfluh vorbei, diesem Berg, den Lilly so liebte, auf den Sternenhimmel gezeigt. Lilly schaute in den Nachthimmel hinauf und spürte, wie die Sterne sie trösteten.

Und plötzlich war der Bregenzerwald da. Sie hatte bis jetzt nicht gewusst, dass sie ihn einfach rufen konnte, wenn sie ihn brauchte. Er hüllte sie ein, und Lilly spürte, dass alle Natur­wesen, die sie in ihrer Kindheit kennengelernt und fast schon vergessen hatte, bei ihr waren. Sie nahm ihre Schuhe in die Hand, ging den Weg entlang bis zu dem Stadel, der so gut nach Holz roch, und setzte sich auf einen Baumstamm, den jemand auf zwei Holzpflöcke gelegt hatte. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Bretterwand und war für einen Augenblick wieder das Kind von damals.

Sie war mit fünf Jahren in den „Wald“ gekommen. Mit Kleidchen, die in eine Großstadt passten, aber nicht in ein Dorf in den Bergen, mit ihrem schönen Hochdeutsch, das sie im Kinder­garten von den anderen getrennt hatte. Gleichzeitig verstand sie die Wälder überhaupt nicht mit ihrem Jau und Dau, was ja und da heißen sollte. Ihren Vater vermisste sie nur selten. Die Leitung seiner Schirmfabrik nahm ihn so in Anspruch, dass er nicht gemerkt hatte, dass „die Blume aus den Bergen“, wie er seine Frau nannte, neben ihm verdorrte, und dass er zu seiner einzigen Tochter eine Sonntagsbeziehung hatte.

Lilly vermisste vor allem ihre Großmutter. Sie sah sie von nun an nur noch, wenn Mutter bereit war, sie zu einem ihrer seltenen Ausflüge nach Wien mitzunehmen. Mémé wohnte in dem Gründerzeithaus am Schwedenplatz, in dem im Erdgeschoss ein kleines Einzelhandelsgeschäft und in den anderen Stockwerken ihre Wohnung und die Schirmproduktion untergebracht waren. Sie nahm ihre Enkelin mit, wenn sie durch die Räume ging, und legte ihre kleine Hand auf die unterschiedlichen Stoffqualitäten: „Wir sind in ganz Europa berühmt für unsere Qualität“, sagte sie dann stolz und sah den Frauen in der Näherei zu, wie sie im Akkordtempo die Bahnen für die Schirme zuschnitten und zusammennähten. Ihr besonderer Stolz waren jedoch die Stahlgestelle. Sie nahm einem der Handwerker ein Werkstück aus der Hand: „Wir verwenden nur feinste Uhrmacherdrähte, die sind leicht und halten lang.“

Ihre Mutter und ihr Vater hatten sich auf dem Vorsäß der Familie kennengelernt, einer Hütte, vor der die Kühe grasten. Katharina war eine braun gebrannte Nomadin, deren Leben sich nach den Bedürfnissen des Viehs richtete. Im Mai, sobald es genügend Gras gab, zogen sie aufs Vorsäß und im Juli, wenn die Wiesen dort kahl gefressen waren, ging’s auf die Alm. Lillys Vater, der damals vierzehn war und auf Sommerfrische, hatte sich in der ersten Sekunde in den kleinen Wildfang verliebt. Sie war so anders als die Mädchen in Wien, so hell, so klar, so natürlich, so unbeschwert. Von diesem Tag an hatten sie jedes Jahr aufeinander gewartet, auf diesen Moment, wenn endlich Ferienzeit war. Seine Eltern hatten für ein Butterbrot ein Vorsäß in der Nähe gekauft und aus Sicht der Einheimischen verschandelt. „Abgschleackt“ nannten sie die umfangreichen Renovierungen, die in der Anlage eines Alpingartens ihren Höhepunkt gefunden hatten.

Als die Kinderspiele mit der Zeit in Erwachsenenspiele übergingen, hatte Lillys Bregenzerwälder Großmutter ihre Tochter Katharina gewarnt: „Des isch koan üsriger, des tuat nit guat. Mir san Hungerlider und si san rich.“01

Katharina und Harald hatten sich längst anders entschieden und schworen sich an ihrem geheimen Platz im Wald ewige Treue.

Der Schwur überlebte den Krieg. Als Harald, der mit siebzehn eingezogen worden war, drei Jahre später in den Bregenzerwald kam, war er zum Skelett abgemagert. Er wurde von Lillys Familie zuerst einmal aufgepäppelt. Und anschließend gab es eine Hochzeit, die von „den Wienern“ ausgerichtet wurde, an die sich die Bergler noch lange erinnern sollten. Lauter feine Gäste aus ganz Europa waren gekommen, der ganze Ort wurde in eine einzige Fremdenpension verwandelt. Als die Wäldarschmelg02 mit ihrem Harald nach Wien zog, gab es viele im Tal, die sie um ihre gute Partie beneideten.

Aber weil Katharinas Mutter recht gehabt hatte, war ihre Tochter nach zehn Jahren Ehe wieder da. Sie liebte ihren Mann noch immer und er sie. Aber sie konnte die Großstadt nicht ertragen, und er war mit seiner Fabrik verheiratet. Das Tal seiner Kindheit, wie er den Bregenzerwald nannte, war ein schöner Ferienplatz, aber kein geeigneter Lebensmittelpunkt für einen Fabrikanten.

Es gab ein großes Fest für die verlorene Tochter, zu dem Lilly eine kleine weiße Tracht geschenkt bekam, die ihre Großmutter zu Entzückensschreien veranlasste: „Du beoscht a echte Wäldare, ma merkt’s Wianar Bluot nüd.“03 Der „Wasserkopf Wien“ war verschrien im Land hinter dem Arlberg, und es war für das „Völkle fromm und wacker, das in Tal und Bergen wohnt“, wie es in der Landeshymne heißt, ganz klar: „Was Gott getrennt hat, soll der Mensch nicht verbinden.“

Lilly, die das Nomadenblut ihrer Vorarlberger Vorfahren geerbt hatte, fühlte sich nach wenigen Tagen zu Hause in diesen Bergen, in denen die Luft klar und die Sicht weit war. Und gleichzeitig blieb sie auch fremd. Sie war eine Städterin. Da half es auch nichts, dass die schönen Kleidchen aus den edlen Stoffen in eine Kiste gepackt und nur zu den Besuchen beim Vater wieder herausgeholt wurden.

In Wien war Lilly auch nicht mehr zu Hause. Willi, ihr Freund aus Kindertagen, war der einzige, der sie dort verstand. Ihr Vater war stolz auf sie, aber seine Liebe wärmte sie nicht. Er kaufte ihr, als sie erst vier war, einen Tennisschläger und stellte sie stolz seinen Freunden vor, mit denen er jeden zweiten Morgen in der Porzellangasse auf einem Tennisplatz, den es schon zu Kaiser Franz Josephs Zeiten gab, spielte.

Ihre Eltern hatten sich nie scheiden lassen. Sie konnten nicht miteinander, aber auch nicht ohne einander leben. Als der Versuch, ihre Welten zu verbinden, gescheitert war, fanden sie ein Arrangement, das ihnen ein Minimum an Verbindung ermöglichte. Sie trafen sich jeden zweiten Monat in der Mitte des Landes, im Österreichischen Hof in Salzburg. Wenn ihnen die Zeit dazwischen zu lang wurde, fuhr der eine zum anderen. Lilly war immer dabei. Es war ein Familienleben im Postkartenformat, aber sie kannte nichts anderes.

Meistens war es Winter, wenn sie nach Wien fuhren, um den Vater zu besuchen. Lillys Mutter wollte, solange die Luft lind war und die Kräuter dufteten, nicht in die Großstadt fahren. Erst wenn die Tage kürzer wurden und mit dem Almabtrieb die sesshafte Zeit eingeläutet wurde, machte sich die Nomadin ihrer Tochter zuliebe auf die Reise in den Osten.

Sie hatte als Kind nicht verstanden, warum ihre Eltern nicht zusammen wohnten. Aber sie hatte unbewusst gespürt, dass die Last der Verbindung zwischen den beiden auf ihr lag.

Lilly seufzte und kehrte in die Gegenwart zurück. Sie spürte, dass die Feuchtigkeit der Nacht in ihre Kleider kroch, stand von ihrem Baumstamm auf und wusste plötzlich, warum sie nirgends ganz zu Hause war. Sie hätte sich für eine der beiden Welten entscheiden müssen, und das konnte und wollte sie nicht. Sie ging nachdenklich zum Auto zurück und war erleichtert, dass ihr Schmerz nicht Paolo galt.

Die Obsession war vorbei. Der Bann war gebrochen.

Sie würde nie mehr mit Paolo schlafen und das war gut so. Sie wollte einen Mann, den sie nicht teilen musste. Einen, der alles in ihr zum Klingen brachte, mit dem sie alles verbinden konnte. Die Liebe, den Alltag und die Sexualität.

Es war zwei Uhr morgens, als sie laut singend auf der kurvenreichen Straße des Semmerings Richtung Tal fuhr. Die Natur­wesen hatten ihr geholfen. Sie spürte ihre ruhige Präsenz in jeder einzelnen ihrer Zellen und wusste nach langen Wochen plötzlich wieder, wie es sich anfühlt, in ihrer Mitte zu sein.

Im neunten Bezirk gab es ausnahmsweise viele Parkplätze, und Lilly spürte eine Welle von Glück, als sie ihr Auto abschloss und durch die nächtlich stille Servitengasse ging. Sie blieb einen Augenblick vor der Servitenkirche stehen, obwohl sie nicht im klassischen Sinne gläubig war und auf Kriegsfuß mit der katholischen Kirche stand: „Danke ihr da oben. Ich bin wieder ich.“

Ralf war froh. Das Heft hatte seine Herausgeberin und seine beste Journalistin wieder zurück. Lilly war auch froh und stürzte sich in die Arbeit. Sie hatte die wilde, ungehemmte, erotische, dunkle Frau in sich kennengelernt und war Paolo dankbar. Sie war jetzt ein willkommener Teil – in einem großen Ganzen, das ihre Persönlichkeit ausmachte. „Wenn man etwas lange unterdrückt hat, muss es für eine Weile Vorrang bekommen“, grinste Ralf, der gerade von einer systemischen Fortbildung, über die er schreiben wollte, zurückgekommen war.

Lilly nickte und dachte an ihren Vater. Er war schon seit ein paar Jahren tot. Das Bild von damals tauchte wieder auf.

Lilly im dunklen Stiegenhaus in Vaters Haus in der Porzellangasse in Wien. Ihre kleine Handtasche lag am Boden, sie hatte sie fallen gelassen und ihre Hände zitternd vor Erregung um Willis Hintern gelegt. Er war genauso nervös und erregt wie sie und versuchte mit schweißnassen Händen ihre kleine Brust aus dem Büstenhalter zu holen. Seine ungeschickte Zunge war in ihrem Mund, und sie wussten beide nicht, was genau zu tun war, aber sie wussten, dass sie es wollten.

Lilly spürte, dass sie unten, dort wo das Unaussprechliche, Schmutzige war, das einmal im Monat auch noch blutete, ganz nass war. In diesem Augenblick ging das Licht an und ihr Vater kam die breite Treppe aus Marmor herunter. Sein Gesicht war wutverzerrt und seine große, schmale Hand schon zum Schlag erhoben, noch ehe er bei ihr war. Lilly stand da, eine Brust schon ausgepackt, das Haar zerwühlt, der Rock verrutscht.

Ihr Vater schlug ihr wortlos ins Gesicht, packte sie an ihren langen, mühsam ausgeföhnten Haaren und schleifte sie die Treppe hoch, zurück in die Wohnung, ins Schlafzimmer. Lillys Mutter saß mit angstgeweiteten Augen im Bett und hielt sich vor Entsetzen die Hand vor den Mund. „Schau sie dir an, diese Hure, deine Tochter!“

Lilly war fünfzehn und wollte nur noch sterben. Ihr Vater hatte sie noch nie geschlagen. Sie war sein Augenstern, und wenn sie ihn mit Mama in Wien besuchte, nannte er sie „meine kleine, verwöhnte Prinzessin“.

Ralf rüttelte sie an der Schulter: „Wo bist du denn? Komm zurück!“ Lilly nickte und sagte: „Bitte, kannst du mich einfach für einen Augenblick in den Arm nehmen, ich brauch’ das jetzt.“

Eines von Lillys Themen, auf das sie sich spezialisiert hatte und zu dem sie immer wieder schrieb, war Kindesmissbrauch. Sie wusste, dass auf eine spezielle Art und Weise auch sie zu diesen Kindern gehört hatte. Ihr Vater hatte ihr sicher nichts getan, nicht im körperlichen Sinn. Aber auf subtile Weise war sie seine „kleine Frau“ gewesen, nachdem Mutter sich in ihrem ­Unglück von ihm als Frau abgewandt hatte. Er hatte Lilly mit seiner ­Eifersucht verfolgt und bis zu seinem Tod kein gutes Haar an ihren Männern gelassen: „Er ist nicht gut genug für dich“, hatte er bei jedem, der ihm unter die Augen kam, gesagt.

Paolo hatte seit dem Wochenende am Semmering nicht mehr angerufen. Lilly spürte, dass sein Schweigen an ihr nagte. Nicht, weil sie wieder mit ihm schlafen wollte. Das war vorbei. Die wilde, erotische Frau in ihr war erweckt und hatte einen guten Platz. Irgendwann würde wieder ein Mann in ihrem Leben sein. Aber das hatte Zeit. Sie hatte Sex auf Vorrat getankt, es würde kein Notstand ausbrechen. Das war es nicht. Dieser Mann hatte eine intensive Zeit mit ihr geteilt, sie hatten nicht nur Körpersäfte ausgetauscht, sondern auch gemeinsam Grenzen überschritten und sich aufeinander eingelassen, wenn auch nur sexuell. Und jetzt verschwand er einfach so? Ohne ein Wort? Außerdem gab es noch viele Fragezeichen. Was sollte dieses Wochenende? War das Paolos Art, seine Affären zu beenden? Oder war dieses Treffen ein Wunsch seiner Frau gewesen? Eine Seite in ihrem Leben war aufgeschlagen worden und nun fehlte der Abschluss. Lilly sprach, dachte, sah und schrieb in Bildern. Sie war gewöhnt, dass Geschichten auch ein Ende hatten, dass sie irgendwo einen Punkt machen und sie dann ins Archiv legen konnte. Und ohne dass sie ihrem Alltagsbewusstsein erlaubte zu bemerken, dass sein sang- und klangloses Verschwinden schmerzhaft war, wartete sie auf ein Zeichen, eine Antwort von Paolo.

Nach einer Weile, als sie bereit war, mit Ralf darüber zu sprechen, sah sie die Wortkombination „sang- und klanglos“ bildlich vor sich und erzählte ihm, dass die Begegnung mit Paolo wie ein Lied war, das mitten in einer Strophe abgebrochen wurde.

Kurz bevor Wien seinen jährlichen Schichtwechsel vornahm, die Wiener aus der sommerlichen Stadt flüchteten und sie fast vollständig den Touristen aus aller Welt überließen, rief Paolo an.

„Ich muss dich sehen, bitte kannst du ins Demel kommen?“ Die alte Hofkonditorei Demel war einer der Orte in der Innenstadt, an denen „man“ sich traf. Es war kein Platz, an dem sie Gefahr laufen musste, die alte Obsession würde wieder auftauchen. Paolos Stimme hatte auch ganz anders geklungen. Hier sprach nicht der Sexmaniak, sondern ein Mann, der in Sorge war.

Lilly hatte ihn die meiste Zeit ihres Lebens nur nackt gesehen. Der Spruch „Kleider machen Leute“ traf auf Paolo zu. Er trug einen schwarzen, maßgeschneiderten Anzug und sah elegant und auf seine eigene Weise gut aus. Sie schwiegen, bis der Kaffee und die Mohnpotize, eine Spezialität des Hauses, kamen, und Lilly versuchte in seinem Gesicht zu lesen. Er hatte sein übliches Pokerface aufgesetzt, aber seine Augen waren traurig.

Für einen Augenblick tauchten aneinandergereiht wie auf ­einer Perlenkette die besten gemeinsamen Sexszenen vor ihr auf, aber sie schienen schon in weiter Ferne und ließen ihren Unterleib unberührt. Sie spürte nur Dankbarkeit. Noch waren Liebe und Sex nicht miteinander verbunden. Sie wusste, dass in ihrem Inneren das eine das andere fast ausschloss. Man liebte, oder man war geil. Ihre Beziehungen im Erwachsenenalter waren fast alle zahm und ziemlich vernünftig gewesen. Sie nahm Paolos Hand und sagte nur: „Danke für alles.“ Sie spürte Zärtlichkeit für den Menschen, nicht mehr für den Mann.

Paolo hatte plötzlich Tränen in den Augen. „Bitte hilf mir, die Tochter einer Frau, die mir seit vielen Jahren sehr nahesteht, ist magersüchtig.“ Lillys Augen weiteten sich vor Überraschung. Sie hatte nicht gewusst, dass es neben Kristina noch eine andere Frau gab, die ihm auch wichtig war.

„Es ist nicht so, wie du denkst“, beantwortete Paolo ihre nicht laut gestellte Frage. „In einer Zeit, als es mir schlecht ging, weil Kristina mich für ein ganzes, langes Jahr verlassen hatte, war Ria einfach für mich da. Sie hat mich im Arm gehalten, wenn ich geweint habe, sie hat mir eine Hühnersuppe gekocht, wenn ich besoffen war, damit ich meinen Schmerz nicht spüren musste, und als ich immer extremer und destruktiver wurde, ging sie zu Kristina und hat ihr von mir erzählt. Und jetzt hat sie mich zum ersten Mal um etwas gebeten. Larissa, die ich seit ihrer Kindheit kenne, ist achtzehn, und ich mache mir große Sorgen um sie.“

Lilly war selber mit fünfzehn magersüchtig gewesen. Sie konnte es auf den Fotos sehen. Damals gab es im Bregenzerwald diesen Namen nicht. Aber die Gefühle, die dazugehörten, waren ihr vertraut. Mager- und Esssucht war eines der Themen, mit denen sie sich journalistisch immer wieder beschäftigte.

Als Paolo mit der Telefonnummer einer der besten Spezialistinnen des Landes wieder ging, wusste Lilly, dass eine Freundschaft begonnen hatte.

Ihre Zeitschrift Psychologie Morgen war noch lange nicht in der Gewinnzone. Aber die Leserzahlen stiegen ständig und die Anzeigenkunden, die sich zunächst abwartend gezeigt hatten, gaben langsam ihre Vorbehalte auf. Nachdem Lilly Paolo kennengelernt hatte, gab es einen signifikanten Anstieg bei den Werbeeinschaltungen und Lilly hatte den Verdacht, dass er ihr Magazin unauffällig förderte. Sie waren inzwischen gute Freunde geworden. Lilly lernte seinen Einfluss kennen, erlebte, wie Mitglieder der Regierung seine Nähe suchten, sah ihn politische und gesellschaftliche Fäden ziehen und öffentliche Projekte kippen oder fördern. Er machte Wahlwerbung für die Sozialistische Partei, obwohl sein Beruf als Anwalt eher eine Zugehörigkeit zum bürgerlichen Lager vermuten ließ, und ließ sie an seinen Gedanken zu innovativen Projekten teilhaben. Manchmal fragten sie einander auch um Rat, und Ralf, der die Freundschaft mit Amüsement verfolgte, nannte ihn den „Napoleon von Wien“.

Einmal im Monat trafen sie sich zum Mittagessen, und als ­eines Tages zufällig Sybille vorbeiging und sich zu ihnen setzte, war klar, dass Paolo eine neue Gespielin suchte. Er hatte plötzlich wieder diesen ungebremsten, nackten, geilen Blick, den sie so gut kannte … „Ich muss Sybille vor ihm warnen“, aber während sie es dachte, wusste Lilly, dass es schon zu spät war. Tief in ihrem Inneren war ihre Freundin sehr einsam und versuchte diese Leere mit immer neuen erotischen Abenteuern zu verdrängen. Das Spiel war eröffnet. Sie spürte einen kleinen Stich und dachte mit einer leichten Wehmut, wie vergänglich diese pure Geilheit war. Wie leicht sie schal wurde und wie sicher das Ende vorprogrammiert war. „Ich hätte diese Zeit noch mehr genießen sollen …“

In den nächsten Wochen sah sie zu, wie Sybille – ohne sich ihr anzuvertrauen, weil es ihr offenbar so peinlich war wie Lilly damals – sich von einer normalen Frau in einen Vamp verwandelte. Sie schien nicht nur ihre Obsession mit Paolo zu leben, sie zeigte sie auch in ihrer Kleidung. Sie, die immer gerne flache Treter getragen hatte, kam plötzlich mit Stöckelschuhen daher, die man als Mordwaffe hätte verwenden können. Ihre wallenden Hippieklamotten verschwanden von einem Tag auf den anderen und machten hautengen, tief ausgeschnittenen Kleidern Platz.

An dem Tag, als Sybille in einem mehr als kurzen Tigerkleid, einem passenden, kleinen, frivolen Hütchen, schwarzen Netzstrümpfen und Schuhen mit Tigermuster auftauchte, war Lilly versucht, ihr zu sagen, dass sie in ihrer Kleidung besser etwas mehr Abstand zu den Prostituierten am Gürtel wahren sollte. Sie entschied sich dann doch, ihr keinen Ratschlag zu geben, und merkte, dass sie sie insgeheim bewunderte für ihre Hemmungslosigkeit.

Sybille lag mehr als sie saß auf der Bank des Stammtisches in Oswald & Kalb in der Bäckerstraße, einem Szenetreff mit guter Küche, der auch von Journalisten gern besucht wurde. Es war ein guter Platz für Liebespaare, die öffentlich nicht zueinander stehen wollten oder konnten. Man stand an der Bar oder saß am Stammtisch, und keiner fragte nach guten Sitten oder Moral oder was die Paare, die einander „zufällig“ hier trafen, anschließend noch vorhatten. Einige von ihnen, das hatte Ralf ihr erzählt, besuchten dann meist das Hotel Orient, das beste Stundenhotel der Stadt, das nicht mehr als fünfzehn Minuten von der Bäckerstraße entfernt lag. Es war also keinesfalls ungewöhnlich, dass Sybilles Hand unauffällig auf Paolos Schritt ruhte und er wie nebenbei ihre Brust streichelte, während er politische Gespräche führte.

Lilly hatte damals nur ihre Unterwäsche und ihren Gang verändert und war sich schon unglaublich frivol vorgekommen. Und außerdem wäre sie nie auf die Idee gekommen, ihre Obsession öffentlich zu leben. Als sie am Nachhauseweg mit Ralf darüber sprach, sagte er nur trocken: „Gott sei Dank, es gibt Grenzen, was der Ruf von Psychologie Morgen verkraften kann.“

Einen Mann gab es seit Paolo noch immer nicht in Lillys Leben. Die Zeitschrift war ihr Baby, und nachdem Ralfs Partner in München lebte, verbrachten sie und Ralf viele Abende miteinander, teilweise in der Redaktion und häufig in ihren Stammlokalen. Neben Oswald & Kalb gab es noch ihren Lieblingsgriechen im dritten Bezirk. Ihr Stammtisch war immer für sie reserviert und Lefti, der Besitzer, der eigentlich Lefteris hieß, gab ihn erst nach neunzehn Uhr her, wenn klar war, dass die beiden jetzt wahrscheinlich nicht mehr kommen würden.

Lilly war glücklich und dankbar für Ralfs sexuelle Orientierung. Gleichzeitig litt sie mit ihm, weil es immer noch Menschen gab, die Homosexualität für eine perverse Neigung hielten, die man abschaffen sollte. Das Gesetz hatte ihnen bis vor Kurzem recht gegeben und sexuelle Handlungen zwischen Männern als Unzucht bezeichnet und bestraft. Die Tatsache, dass das Mann-Frau-Thema in ihrer Beziehung keine Rolle spielte, erleichterte sie. Ralf konnte sie ohne Nebengedanken innig umarmen, sich in seine Arme werfen, wenn sie unglücklich war, und mit ihm über die Männer reden, in die sie gerade verliebt war. Einmal im Monat gingen sie ins Theater. Sie war eine Kulturbanausin, wie Ralf schon am Anfang ihrer Freundschaft festgestellt hatte, und er suchte die Stücke aus.

Außerdem reiste Lilly viel. Eine der Besonderheiten des Magazins war der erlebnisorientierte Zugang in der Berichterstattung. Sie hatte darauf bestanden, weil sie am lebendigsten schrieb, wenn sie die Geschichten mindestens teilweise selbst erlebt hatte. Ralf hasste es, zu reisen. Er reiste lieber im Kopf und bewegte sich über die Stadtgrenzen freiwillig nur dann hinaus, wenn es unumgänglich war. München war eine Ausnahme. Dort, in der Wohnung von Chris, seinem Lebensgefährten, fühlte er sich zu Hause, das fiel nicht unter Reisen.

Ansonsten hielt er es mit Winston Churchill: No sports. Lilly dagegen liebte Sport. Sie schwamm, sie wanderte und fuhr Ski. Sie war so aufgewachsen. Ihre Mutter hatte immer Trost bei der Bewegung in der Natur gefunden.

Ralf und sie hatten manchmal Diskussionen darüber, weil ihre Reisen das Budget unnötig belasteten. „Warum kannst du nicht einfach jemanden in Wien interviewen oder nach München fahren? Du setzt dich in den Zug und bist am nächsten Tag wieder da.“ Er kannte die Antwort schon und wusste ohnehin, dass er keine Chance hatte. Lilly musste der Nomadin in ihr immer wieder Auslauf geben. Es gab kein Vorsäß und keine Almen in Wien, wo sie mit dem Vieh von einem Platz zum nächsten ziehen konnte, aber dafür gab es andere Städte und Länder. Und wenn sie nicht mindestens alle sechs Wochen eine Abenteuerreise machen konnte, wurde sie unruhig. Meistens fuhr sie dann nach Frankreich. So wie jetzt auch, um eine Geschichte zum Thema Trauma zu recherchieren. Sie sprach fließend Französisch, weil ihre Mémé aus Lyon kam und so wie ihre Mutter aus Liebe nach Wien in „die Fremde“ gezogen war. Lilly liebte die Sprache und träumte und dachte, wenn sie von Reisen aus Frankreich zurückkam, noch wochenlang in ihrer Vatersprache, wie sie es nannte.

Vorarlberg gehörte zwar offiziell nicht zum Ausland, obwohl es sich schon einmal darum bemühte hatte. Die Schweizer wollten damals nicht und nannten das kleine Land: Kanton übrig.

Lillys Vater konnte bis zu seinem Tod den Bregenzerwälder Dialekt nie wirklich sprechen, und ihre Mutter hatte Deutsch wie eine Fremdsprache gelernt, als sie zu ihm nach Wien gezogen war. Dann hatte sie die beiden Sprachen, die nicht miteinander verknüpfbar waren, vollkommen getrennt nebeneinander gestellt und sie aus ihren Fächern, in denen sie verstaut waren, nach Bedarf herausgenommen. Das war kein Problem gewesen, solange Lillys Eltern sich nicht stritten oder sich im Bregenzerwald aufhielten. Lilly konnte sich noch genau an die gemeinsamen Abendessen am „Burôtisch“04 in der Stube in Mellau erinnern. An der Wand hing der Spruch: „Meor ehrod das Ault und grüßed das Nü und blibot üs sealb und dr Hoamat trü.“ Was soviel heißt wie: „Wir ehren das Alte, wir grüßen das Neue und bleiben uns selbst und der Heimat treu.“

Lilly wusste, dass ihre Mutter sich wie eine Verräterin fühlte, wenn sie mit ihrem Vater vor ihren Eltern Hochdeutsch sprach und es kaum schaffte, in ihren Heimatkanal zu wechseln, wenn sie das Wort an die beiden richtete. Ihre Großeltern wiederum bemühten sich krampfhaft, sich in der „Fremdsprache“ verständlich zu machen, was manchmal zu hilflosen sprachlichen Verrenkungen führte, unter denen ihre Mutter litt. Lilly fand die kreativen Wortschöpfungen wunderbar und amüsierte sich darüber.

Wenn ihre Eltern dann später auf ihrem Zimmer stritten, verfiel ihre Mutter in den allerbreitesten Dialekt und nannte ihren Vater im Zorn „an fula Sukog“, was soviel wie „fauler Sauhund“ hieß, weil er es in den vielen Jahren ihrer Beziehung nicht geschafft hatte, ihre Sprache auch nur annähernd zu erlernen.

Lilly hatte diese Probleme nicht. Sie war ganz natürlich mehrsprachig aufgewachsen. Der Umstieg in den jeweils anderen Sprachkanal fiel ihr leicht. Ralf liebte es am meisten, wenn sie, die Füße auf ihren Schreibtisch gelegt, mit ihrer Mutter oder ihrer besten Freundin Ella, die eigentlich Aurelia hieß, in Mellau telefonierte. Die vielen „Jaus“ und „Daus“ faszinierten ihn, auch wenn er das meiste nicht verstand.

Rotraut und Erwin vom Leporello, ihrer Lieblingsbuchhandlung in der Liechtensteinstraße, hatten wieder einmal ganze Arbeit geleistet. Lilly saß an dem kleinen Tischchen, an dem die Kunden schmökern konnten, und las sich quer durch Bücher über Traumatherapie.

Die internationale Traumaexpertin, die sie sich für ihre Geschichte als Expertin ausgesucht hatte, war einem stark lösungsorientierten Zugang verpflichtet und lebte und arbeitete in Lyon. Lilly würde übermorgen dorthin fliegen, um an einem Seminar für Therapeuten teilzunehmen.

Die Stadt empfing sie mit heiterem Sonnenschein. Sie stellte ihr Gepäck in dem kleinen Hotel ab, in dem sie immer wohnte, und zog sich nur kurz in ihrem Lieblingszimmer mit Blick auf die Saône bequemere Schuhe an. Sie kannte Lyon wie ihre Westentasche. Mémé war gründlich vorgegangen. Zuerst hatte sie das Kind von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit geschleppt, dann waren die Museen an der Reihe gewesen. Lilly hatte sich mehr für die Details des alltäglichen Lebens interessiert. Sie wollte die Schwäne füttern, die bei den vielen Brücken, die die beiden Stadthälften miteinander verbanden, auf die Touristen warteten. Sie wollte die Bewohner der Hausboote, die am Ufer vertäut lagen, beobachten und inspizierte jeden Blumentopf und jedes Möbelstück auf den Schiffdecks genau. Sie versuchte durch halb zugezogene Vorhänge in die Schiffszimmer hineinzusehen und war einmal so lange vor einem der Fenster stehen geblieben, bis die Besitzer sie und Mémé zu einer Besichtigung eingeladen hatten. Sie wollte dem Mann zuhören, der auf dem steilen Fußweg zur Basilika französische Chansons sang und sich selber auf der Ziehharmonika begleitete. Sie wollte dem kleinen Pfad folgen, der dort, wo er saß, vom Hauptweg abzweigte. Sie zeigte ihrer Großmutter begeistert jede einzelne Pflanze in dem kleinen Gärtchen, das wider Erwarten am Ende des Pfades hinter hohen Büschen verborgen lag, und berührte mit ihren kleinen Händen die warmen Steine, die jemand liebevoll zu einem schützenden Mäuerchen aufgeschichtet hatte.

Sie verbrachte Stunden damit, die Dächer der Stadt von oben zu betrachten. Sie sah jede noch so kleine Terrasse, jedes Tier aus Stein, jede Figur, die einen Giebel schmückte. Grand-Mère liebte ihre einzige Enkeltochter abgöttisch und ließ sich, obwohl sie eine strenge, disziplinierte Frau war, geduldig von hier nach dort zerren.

Lilly ließ dafür das Kulturprogramm geduldig über sich ergehen. Wenn sie dann im eleganten, kleinen Salon ihrer Großmutter saß, heiße Schokolade trank und mit Orangenmarmelade gefüllte Croissants aß, war sie rundum glücklich. Am Anfang hatte ihr Vater sie auf ihren Reisen nach Lyon begleitet. Das war auch schön, aber anstrengend. Die beiden Erwachsenen trugen ihre Spannungen untereinander subtil über das Kind aus, und Lilly musste mehr als einmal in ihre Fantasiewelt flüchten, weil es draußen so laut zuging.

Als sie alt genug war, flog sie als „unbegleitetes Kind“ mit ­einer Plastiktasche mit ihren Daten um den Hals nach Lyon und lebte für vierzehn Tage im Schlaraffenland. Sie war der Mittelpunkt in Mémés Leben, ihr „petit Bijoux“, und alles drehte sich um sie.

Lilly lächelte und schickte Mémé einen Gruß in den Himmel. Sie war nicht gläubig, wusste aber sicher, dass die Menschen, die sie liebte, über den Tod hinaus mit ihr verbunden blieben. Ob sie sich dort oben mit ihren Bregenzerwälder Großeltern gut verstand? Zu Lebzeiten hatte es nach der Hochzeit ihrer Eltern keinen Kontakt mehr gegeben. Einmal hatte sie als Kind gehört, wie Mémé zu ihrem Vater gesagt hatte: „Sie stinken nach Stall, was soll ich mit ihnen?“ Lilly hatte das nicht verstanden, sie liebte den Stallgeruch.

Ihr Großvater war ein schweigsamer Mann gewesen, der am liebsten mit seiner Pfeife auf der Hausbank gesessen war, und wenn Lilly ihn etwas gefragt hatte, erst nach einem längeren Schweigen bedächtig geantwortet hatte. Von ihm hatte sie gelernt, wie man ein mutterloses Kitz mit einer Milchflasche füttert und wie man einem verletzten Vogel das Beinchen schient.

Am Abend setzte sich Lilly, müde von ihrem langen Spaziergang an alle Lieblingsplätze ihrer Kindheit mitten unter die Touristen auf den Place Bellecour, aß einen Salade niçoise und trank ein Glas französischen Landwein. Sie fühlte sich nicht einsam, auch wenn sie allein unterwegs war und konnte überall den lebendigen Atem dieser Stadt spüren.

Lilly schwelgte die beiden Tage während ihres Traumaseminars in einem Sprachbad und genoss es, dass sie den ganzen Tag Französisch hörte und Französisch sprach. Sie lernte, dass viele Traumata von selbst heilten und dass aber acht bis fünfzehn Prozent sich einfach nur abkapselten und ungelöst im Verborgenen darauf warteten, geheilt zu werden. Sie erfuhr, dass auch noch Jahrzehnte später traumatische Ereignisse plötzlich mit großer Vehemenz an die Oberfläche kommen konnten, häufig ausgelöst durch ein Ereignis in der Gegenwart.

Lilly wurde plötzlich bewusst, dass eine ganze Generation von Männern und auch Frauen schwerst traumatisiert war durch die Erlebnisse im Krieg. Sie hatte ihren Vater mehrfach gefragt, wie das damals war, als er als junger Mann in seiner zerlumpten Uniform mit Frostbeulen an den Füßen aus Russland geflüchtet und zu Fuß von Norddeutschland bis in den Bregenzerwald gegangen war. Er hatte ihr die Zigarettendose aus Blech mit dem Einschussloch gezeigt, die ihm das Leben gerettet hatte, weil sie in seiner Brusttasche gesteckt war. Er war noch immer über seine entfernten Verwandten empört, von denen er, als er im Allgäu halb verhungert an ihre Türe geklopft hatte, mit dem Satz empfangen wurde: „Bist du dreckig, zieh dir sofort die Schuhe aus!“

Viele Jahre später, als Lilly einen grausam realistischen Kriegsfilm im Fernsehen gesehen hatte, wurde ihr erst klar, dass all die Toten, die Verletzten, das viele Blut, die Todesangst und die zerbombten Städte zum Alltag ihres Vaters gehört hatten. Lilly kannte zerbombte Städte. Sie war ein Nachkriegskind und hatte es geliebt, in den Ruinen zu spielen. Das war zwar streng verboten, aber Willi war schließlich ihr bester Freund. Mit ihm schlich sie sich davon, und er zeigte ihr die größten Froschteiche in den Trümmern und die schönsten „Wohnzimmer“ in den Ruinen, in denen sie dann mit anderen Kindern aus der Nachbarschaft spielten, wenn sie in Wien zu Besuch war.

Am zweiten Tag des Seminars gab es neben dem theoretischen Input auch praktische Aufgaben zu lösen. Sie suchte sich für die Übungen zu zweit eine Frau in ihrem Alter aus, die sich als Pauline vorstellte und aus Straßburg kam. Es ging darum, einander anzuleiten, ein mögliches Trauma gut in einem sicheren Koffer zu verstauen, um es erst dann hervorzuholen, wenn es einen passenden Rahmen zur Bearbeitung gab.

Lilly bat Pauline anzufangen, weil ihr absolut nichts einfiel, womit sie arbeiten konnte.

Als der Schmerz und der Schock kamen, war Lilly völlig unvorbereitet. Pauline, die nicht locker ließ, hatte sie gebeten, einen Augenblick in die Stille zu gehen und ihre Augen zu schließen. Vielleicht würde dann doch noch etwas auftauchen, was sich lohnte, in einen sicheren Koffer gepackt zu werden. Es war nicht ein Ereignis, es waren sogar zwei.

Das erste Bild war Lilly vertraut, auch wenn sie es schon wieder erfolgreich verdrängt hatte. Ihr Vater, der sie vor Mutters Bett gezerrt und eine Hure genannt hatte. Das zweite Bild war nicht weniger wuchtig, aber es war so, als ob sie es zum ersten Mal sah und spürte:

Lilly in ihrer ersten Klasse in der Volksschule in Mellau. Ihre Oma hatte ihr eine wunderbare, bemalte Holzschachtel mit Bleistiften und Buntstiften geschenkt. Sie setzte sich erwartungsvoll vor das linierte Heft, das der alte Lehrer ausgeteilt hatte. Sie konnte schon ein bisschen schreiben, Mémé hatte ihr das Alphabet beigebracht, obwohl Vater dagegen gewesen war. „Sie wird sich in der Schule langweilen, wenn du ihr jetzt schon alles zeigst.“ – „Es ist ja auf Französisch, was spielt das für eine Rolle“, hatte seine Mutter, die sich schon immer wenig darum gekümmert hatte, was ihr Sohn wollte, geantwortet.

Der Lehrer malte ein großes A und ein großes B auf die Tafel und bat die Kinder, diese Buchstaben so genau wie möglich nachzumalen. Er war mager und verhärmt, und man sah ihm an, dass er schon viel zu viel Kreide eingeatmet hatte.

Lilly war sofort fertig, und als der Lehrer sah, dass sie ihren Bleistift schon wieder hingelegt hatte, kam er zu ihrem Platz. „Sehr schön, dann mal es noch einmal.“ Lilly freute sich über das Lob und beugte sich eifrig wieder über ihr kleines Holzpult.

Als er ihr das Heft wegriss, grob den Bleistift aus der linken Hand nahm und sie anschrie: „Nimm sofort die gute Hand!“, wusste Lilly nicht einmal, was er damit meinte. Sie hatte noch nie von einer „guten“ und einer „bösen“ Hand gehört und fing bitterlich an zu weinen. „Du bist ein Stadtfratz, und glaub ja nicht, dass du hier bei uns eine Extrawurst braten kannst“, sagte der Lehrer gehässig und sah verächtlich auf Lillys schönes Kleidchen hinunter. Ihre Mutter hatte es für diesen einen Tag aus der Wienkiste geholt.

Pauline berührte Lilly, der die Tränen durch ihre geschlossenen Lider flossen, vorsichtig am Knie und sagte sanft: „Leg es in den Koffer, was immer es ist.“

Lilly hatte schon vergessen, dass sie eigentlich Linkshänderin war und dass sie in der Schule mit einer Weidenrute, die der Lehrer sich täglich an der Bregenzer Ache schnitt, geschlagen wurde, weil sie es nicht schaffte, mit der „guten Hand“ zu schreiben. Ihrer Mutter hatte sie von ihrem Martyrium nichts erzählt. Sie war so traurig, man durfte sie nicht belasten.

Als Lilly Lyon verließ, nahm sie sich vor, ihrer vernachlässigten Hand wieder einen Platz zu geben. Im Flugzeug bestellte sie ein Glas Champagner und hielt das Glas ganz bewusst mit der linken Hand. Gleichzeitig hatte die Journalistin einen neuen Plan. Sie wollte sich mit den Folgen auseinandersetzen, unter denen umgelernte Linkshänder litten.

Lilly war gerade erst den dritten Tag wieder in der Redaktion und schrieb an ihrer Geschichte über Traumata, als Paolo anrief: „Ich habe etwas Interessantes für dich, eine Veranstaltung, auf der ein berühmter Hirnforscher einen Vortrag halten wird. Die Gäste sind handverlesen, wenn du Lust hast, kannst du mich gerne begleiten, Kristina interessiert sich dafür nicht.“

In ihrer Freundschaft war Paolos Frau längst kein Thema mehr. Lilly war froh darüber. Kristina war jemand, mit dem sie sich auch befreunden könnte, und wie immer die beiden ihre Sexualität geregelt hatten, sie war nicht mehr involviert.

Auch Sybille hatte schon wieder der nächsten Obsession Platz gemacht. Als alles vorbei und ihre Freundin wieder ansprechbar war, hatten sie an einem feuchtfröhlichen Abend ihre Geheimnisse ausgetauscht und festgestellt, dass Paolos erotische Auftritte sich von Frau zu Frau kaum unterschieden. Er hatte sein Repertoire und seine Vorlieben und offenbar wenig Bedarf, sie zu verändern. Das Neue erlebte er ohnehin in der Phase, in der er seine erotischen Abenteurer ermutigte, eigene Inszenierungen zu gestalten.

Das Schloss Belvedere, ein Barockkleinod mitten in Wien, in dem der Vortrag stattfinden würde, hatte seine Türen in den großen Park geöffnet. Gut gekleidete Menschen standen an runden, weiß gedeckten Stehtischchen, unterhielten sich angeregt und musterten die Neuankömmlinge unauffällig, aber kritisch. Paolo wusste um seine Wirkung und inszenierte seinen Auftritt dementsprechend. „Zieh was Anständiges an, und bitte keine hohen Schuhe“, war seine Regieanweisung am Telefon gewesen. Paolo, der nur ein Meter sechzig groß war, liebte Frauen, die ihn überragten, man könnte fast sagen, dass das sein Markenzeichen war. Aber Lilly, mit ihrem Gardemaß von ein Meter achtzig, sollte den Größenunterschied nicht noch mehr betonen. Sie nahm Paolos Marotten und seine Einmischungen amüsiert zur Kenntnis. Kein Mann hatte sich je das Recht herausnehmen dürfen, sie so herumzukommandieren. Aber Paolo war kein Mann mehr für sie. Er war ein Freund, ein Spinner, ein Original, ein Genie, sie konnte ihn nicht mit normalen Maßstäben messen.

Er hinterließ an jedem Tisch eine Wortspende und sein starkes Parfum, und es gab kaum jemanden, den er nicht begrüßte. Sie waren schon fast am Ende des kiesbestreuten Weges angelangt, als Paolo plötzlich ausrief: „Da bist du ja endlich, ich habe dich den ganzen Vormittag versucht zu erreichen!“ Der Mann, dem er jetzt auf die Schulter klopfte und dann vertraulich seinen Arm um ihn legte, war genauso klein wie er und vermutlich in einem ähnlichen Alter. Er trug so wie Paolo einen schwarzen Anzug und sein braun gelocktes, ziemlich langes Haar mit ein paar grauen Strähnen gab ihm eine verwegene Note. „Das ist Lilly, sie schreibt ganz anständige Sachen, wenn sie will.“

Der Mann nahm ihre Hand und sah sie mit einem sehr aufmerksamen Blick aus seinen braunen, golden gesprenkelten Augen an. Seine Nase war etwas zu groß und sein Mund zu breit, und gleichzeitig wirkte sein Gesicht seltsam harmonisch und attraktiv. Sein Körper war durchtrainiert, und als sie etwas später gemeinsam zum Vortragssaal schlenderten, bemerkte Lilly, dass der Mann, der ihr als Oskar vorgestellt worden war, einen ähnlichen Gang wie Paolo hatte und ebenfalls genagelte Schuhe trug.

Lilly saß zwischen den beiden Männern und versuchte aufmerksam dem Vortrag zu folgen. Es war nicht einfach, weil Oskar sie von der Seite beobachtete und dieser Tätigkeit ungeniert Vorrang gab. Sie machte sich ein großes Rufzeichen auf ihre Notizen. Wenn das stimmte, was dieser Mann vortrug, dann kam eine Revolution auf sie zu. Dann lief alles falsch in unserer Gesellschaft. Kinder wurden kontraproduktiv unterrichtet, Mitarbeiter nicht genug motiviert, Beziehungen mussten unter ganz neuen Gesichtspunkten betrachtet werden. Ralf würde fasziniert sein.

Noch in den Applaus hinein übernahm Paolo mit seinen knappen Gesten unauffällig die Regie für das Programm danach. Er deutete hierhin und dorthin, winkte Menschen zu sich heran, und kaum strömten die Gäste dem Ausgang zu, hatte sich um Paolo schon eine Runde von Männern versammelt, die nur vereinzelt von Frauen begleitet waren. „Wir treffen uns im Demel im zweiten Stock, ich habe einen Salon reservieren lassen.“

Lilly stieg nicht in eines der Taxis, die er bestellt hatte. Sie zog es vor, zu Fuß zu gehen und schlenderte über den Schwarzenbergplatz an der Oper vorbei durch die Kärntner Straße über den Graben zur berühmten Hofkonditorei. Als sie dort ankam und mit leichtem Bedauern von der sonnigen Straße ins Stiegenhaus trat und die Türe zum ersten Stock öffnete, war der Demel-eigene Service schon im vollen Gang. Demelinerinnen, wie das Servierpersonal in den schwarzen Kleidern mit den weißen Schürzchen genannt wurde, eilten mit Silberplatten durch die ehrwürdigen Räume und sprachen die Gäste in der dritten Person an. „Möchten ablegen, gnädige Frau?“, sagten sie zu Lilly, die einen leichten Mantel über dem Arm trug, und nahmen ihr das Kleidungsstück beflissen aus der Hand. Es gab Champagner, geräucherten Lachs mit Salat und kleine, köstliche Törtchen aus der hauseigenen Backstube. Die Tischgespräche fielen in die Kategorie „nützlich mit Tauschgeschäftscharakter“. Die Männer gaben einander Informationen weiter, versprachen hier und dort Hilfe bei politischen Interventionen und nahmen von den Frauen, die nur eine dekorative Rolle spielten, kaum Notiz.

Lilly fühlte sich unwohl. Und während Paolo in seinem Element war, schien auch Oskar sich zu langweilen. Er saß neben seinem Boss, wie er ihn im Gespräch manchmal nannte, und schloss immer wieder seine Augen, als ob er unauffällig ein kleines Nickerchen machte. Wenn er sie dann wieder öffnete, fiel sein Blick unweigerlich auf Lilly, die ihm direkt gegenüber saß. Dann studierte er so lange ihr Gesicht, bis sie unter seinen Blicken rot wurde.

Nach einer Stunde beschloss sie, unauffällig abzuhauen, und entfernte sich, ohne sich von Paolo und den anderen Gästen zu verabschieden. Sie würden sie nicht vermissen, hier ging es um Networking zwischen Männern, bei den Frauen genügte es, dass sie verschwiegen waren.

Sie nahm ihren Mantel und trat auf den Kohlmarkt hinaus. Es war inzwischen dämmrig geworden, und die meisten Menschen hasteten an ihr vorbei. Die einen, weil sie von der Arbeit kamen, die anderen, weil sie noch rasch etwas einkaufen wollten. Dazwischen flanierten die Touristen mit ihren Reiseführern, machten begeistert Platz und zückten ihre Fotoapparate, wenn ein Fiaker auf dem Weg zur Hofburg vorüber fuhr.

Lilly überlegte kurz, was sie mit dem angebrochenen frühen Abend machen sollte, und entschied sich dafür, zu Fuß in den neunten Bezirk zu spazieren. Sie hatte erst ein paar Meter zurückgelegt, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte und erschrocken aufschrie. „Tut mir leid, ich wollte Sie nicht überfallen, ich möchte Sie einfach nur ein Stück begleiten.“ Oskar strahlte sie an, und Lilly merkte, dass sie sich freute. Sie fühlte sich mit diesem Fremden seltsam wohl, und als sie durch den Volksgarten an den Rosenbeeten vorbei zum Ausgang Richtung Burgtheater gingen, war klar, dass der Abend zu jung war, um ihn hier zu beenden.

Das Café Landtmann lag einen Steinwurf weit entfernt und war brechend voll. Lilly liebte die roten Samtlogen, in denen man sich ungestört unterhalten konnte, und wollte enttäuscht wieder gehen. Oskar hob seine rechte Hand, mit der linken berührte er sie sanft an der Schulter und hinderte sie daran, das Traditionscafé wieder zu verlassen. Der Oberkellner kam sofort auf sie zu und sagte: „Wir haben natürlich einen Platz für Sie, Herr Baldini.“ Er führte sie zu einer der besten Logen direkt am Fenster und nahm das Reserviertschild weg.

Die nächsten Stunden vergingen in einer Mischung aus Informationsflut und Gefühl. Sie waren noch immer beim Sie, aber dieses Sie war nur ein kleiner, köstlicher Zaun, der ihrer nonverbalen Erotik einen prickelnden Rahmen gab. Gleichzeitig war es so, als hätte Lilly Oskar schon viele Jahre gekannt oder vielleicht sogar, als hätte sie schon viele Jahre auf ihn gewartet.

Oskar hatte früher in Salzburg gelebt, wo seine Mutter, die aus Rosenheim kam und Deutsche war, in einem kleinen Haus residierte, das ihm gehörte. Lilly wunderte sich über das Wort „residiert“, es klang so, als ob er mindestens über eine Fürstin sprach. In Wien lebte er in seiner Dienstwohnung, einem Zweizimmerappartement, das ihm Paolo zur Verfügung gestellt hatte. Im Augenblick teilte er es mit der Frau eines bekannten Zahnarztes, die von zu Hause ausgezogen war. Die Beziehung war eigentlich schon wieder zu Ende, weil – wie Oskar es nannte – „überhaupt nicht alltagskompatibel“. Seine Exfreundin war nur noch da, weil die Gespräche mit ihrem Mann über eine Rückkehr in die gemeinsame Wohnung einige Diplomatie erforderten. Seinen Vater hatte er nur einmal gesehen. Der hatte seine Mutter zwar noch vor der Geburt von Oskar geheiratet, „weil es sich so gehörte“, sich dann aber nie mehr um seinen Sohn, der ein „Berghüttenunfall“ war, gekümmert. Nach seinem Studium in Maschinenbau hatte Oskar in England und in Amerika gelebt und war seit ein paar Jahren Paolos Mitarbeiter bei dessen Anlagengeschäften. Er konnte fließend Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch und wurde häufig im Ausland eingesetzt. Als Lilly ihn nach seiner Berufsbezeichnung fragte, zögerte er einen Augenblick und sagte dann: „Wohl am ehesten Industrial Consultant.“

Es war schon Mitternacht, als sie gemeinsam das Lokal verließen und in der atemberaubenden historischen Kulisse zwischen Burgtheater und Rathaus am Ring standen. Und jetzt?

Oskar sagte nichts und sah sie einfach an. Weder fragte er sie nach ihrer Telefonnummer noch gab er ihr seine. Er hätte sie in den Arm nehmen und küssen können. Lilly hätte sich nicht gewehrt. Für eine Sekunde tauchte Paolo auf. Die beiden Männer waren grundverschieden und doch gab es ein paar frappierende Ähnlichkeiten.

Als ein Taxi vorbeifuhr, hielt Oskar es mit einer eleganten Geste an. Sie stiegen wortlos ein. Der Taxifahrer sah in den Rückspiegel und fragte routiniert: „Wo soll’s hingehen?“ Oskar schwieg. Lilly schwieg. Der Fahrer räusperte sich und nahm ein Bonbon aus einer Tüte, die auf dem Nebensitz lag. Er packte es geräuschvoll aus und sah dabei unverwandt in den Rückspiegel. Er trug eine Schirmmütze aus grauem Tuch, schien sich über nichts mehr zu wundern und gab sich auch nicht die Mühe, seine Frage zu wiederholen.

Als die Stille unerträglich wurde, beschloss Lilly, ohne Kommentar wieder auszusteigen und Oskar im Taxi zurückzulassen. Sie hatte gerade die Hand auf die Türklinke gelegt, als er das Schweigen brach: „Wo Sie wohnen, müssen Sie schon selber wissen.“ Er sagte es zärtlich, und seine Stimme war wie eine Berührung, die sie verzauberte.

Lilly hörte sich zum Taxifahrer sagen: „Servitengasse, gegenüber der Kirche“, und die einzige Frage, die sie beschäftigte, war die, ob der Fahrer sauer sein würde, weil die Fahrt nicht viel länger als fünf Minuten dauern würde.

Lilly hatte Mühe, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Ihre Hand zitterte so stark, dass sie nicht merkte, wie auch ihre Knie zitterten. Sie machte Licht, und Oskar pfiff anerkennend, als er vom Vorraum in ihr großzügiges Wohnzimmer trat. Sie hatte ihn nicht gebeten, seine Schuhe auszuziehen, weil es ihr plötzlich peinlich und spießig vorkam. Sie konnte Straßenschuhe in privaten Räumen nicht ausstehen, und Ralf, der das ähnlich sah, pflegte zu sagen: „Wer sich freiwillig Hundescheiße nach Hause einladen möchte, möge sich gern bedienen.“

Sie bot Oskar einen Drink an, und obwohl sie eigentlich nichts anderes wollte, als seine Haut auf ihrer Haut zu spüren, hatte Lilly Angst, die Initiative zu ergreifen. Sie wollte diesen Mann nicht verlieren, noch ehe es begonnen hatte.

Sie saßen auf ihrem weißen Sofa und redeten und redeten. Er hatte seine Hand auf ihren Nacken gelegt, mehr nicht. Es war vier Uhr morgens, als Oskar auf die Uhr schaute und sagte: „Ich muss jetzt gehen, Lydia wohnt noch bei mir, sie wird sich sonst Sorgen machen.“ Lilly spürte, wie sich ihre weit offene Vagina wie eine Auster verschloss. Dann eben nicht … Sie sagte es nicht, aber ihr verschlossener, misstrauischer Blick aus schmalen Augen brauchte keinen Text.

Sie standen im Vorzimmer, Lilly steif wie ein Brett, als Oskar sie zärtlich in den Arm nahm und ihre verschlossenen Lippen mit den seinen öffnete. Er küsste sie so lange, bis sie ihren Widerstand aufgab, dann hielt er sie ein Stück von sich weg und sagte ernst: „Das ist anders mit dir, ich will kein Spiel. Ich werde meine Beziehung zu Lydia abschließen und dann wiederkommen.“

01 Er ist keiner von uns, das tut nicht gut. Wir sind arm und sie sind reich.

02 Mädchen aus dem Bregenzerwald

03 Du bist eine echte Wälderin, man merkt das Wiener Blut nicht.

04 Bauerntisch