Einem zufällig vorbeikommenden Zuschauer wäre in der Umgebung der Leas und der Devraulx-Abtei an diesem herrlichen Sonntagnachmittag im späten September nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Wenn ein Angler sich einem anderen näherte, kurz mit ihm plauderte und dann seinen Platz am Ufer einnahm oder wenn eine picknickende Familie nach ein paar Worten mit einem mit Rucksack und Wanderstock ausgerüstetem Wanderer beschloss, zusammenzupacken und zu gehen, weil die Wespen sie störten, wer sollte sich etwas dabei denken? Die Abtei wurde früh geschlossen und auf der Straße waren etwas mehr Autos als gewöhnlich zu sehen, aber es war ja auch ein überraschend schöner Nachmittag, den jeder genießen wollte, bevor Regen und Wind zurückkehrten.
Immer noch an der gleichen Stelle, ungefähr einen Kilometer die Straße hinab, außer Sichtweite von Harkness' Haus, warteten Banks und Susan. Vögel zwitscherten, Insekten summten und eine leichte Brise wehte durch die Bäume. Schließlich hielt ein anderer Wagen vor ihnen, aus dem gemeinsam mit Sergeant Richmond Superintendent Gristhorpe stieg und entschlossen auf Banks' Cortina zuschritt. Es gab nicht viel zu sagen, alles war bereits über Funk abgesprochen worden. Die Ersatzangler waren Polizisten in Zivil, die picknickenden Familien waren alle aus der Umgebung geschafft und Harkness' Haus und Grundstück umstellt worden.
»Wenn er da drin ist«, sagte Gristhorpe, »wird er uns nicht entwischen. Alan, wir beide fahren zurück zum Haus. Wir sagen, wir hätten noch ein paar Fragen. Vielleicht können wir die Sache ohne viel Aufhebens beenden.«
»Aber Sir«, meldete Susan sich zu Wort. »Ich glaube, ich sollte auch mitgehen.«
»Nein«, entgegnete Gristhorpe. »Sie bleiben hier bei Phil.«
»Aber ...«
»Hören Sie, ich zweifle Ihre Kompetenz nicht an, Susan. Aber was wir hier brauchen, ist Erfahrung. Alan?«
»Ganz meine Meinung«, erklärte Banks.
Gristhorpe nahm eine .38 Smith and Wesson aus seiner Tasche und reichte sie Banks, der sie ganz mechanisch kontrollierte, obwohl er wusste, dass Gristhorpe das bereits getan haben würde. Susan presste ihre Lippen fest aufeinander und Banks konnte spüren, dass sie sich gedemütigt fühlte. Er wusste, warum - sie hatte beachtliche Fähigkeiten -, aber sie war jung, unerfahren und hatte früher schon Fehler gemacht, sodass er der Entscheidung des Superintendents vollständig zustimmte. Wenn man es mit jemandem wie Chivers zu tun hatte, durfte man sich keine Fehler erlauben.
»Fertig?«, fragte Gristhorpe.
Banks nickte, folgte ihm in den ungekennzeichneten Rover und ließ die gekränkte Susan und den sie tröstenden Richmond in seinem Cortina zurück.
»Wie deutest du die Situation?«, fragte Gristhorpe, als Banks langsam zurück zur Packeselbrücke fuhr.
»Harkness ist nervös und außerdem hat er eine Riesenangst, glaube ich. Und das nicht nur, weil ich ihn verdächtige, etwas mit Gemma Scupham zu tun zu haben. Wenn ich raten sollte, würde ich sagen, Chivers ist entweder irgendwo im Haus oder er versteckt sich ganz in der Nähe. Und Harkness gewährt ihm nicht aus reiner Freundlichkeit Unterschlupf. Vielmehr ist er praktisch so etwas wie eine Geisel im eigenen Haus. Und er kann nichts dagegen unternehmen, ohne sich selbst zu belasten.«
»Gut«, meinte Gristhorpe. »Lass mich reden und halte du die Augen offen. Wir werden versuchen, Harkness aus dem Haus zu locken, wenn es geht.«
Banks nickte, bog in die Auffahrt und fuhr knirschend über den Schotter. Sein Magen krampfte sich zusammen; die Pistole hing schwer in seiner Tasche.
Sie klingelten an der Tür. Harkness riss sie unwirsch auf. »Sie schon wieder?«, schnauzte er. »Was, zum Teufel, wollen Sie denn dieses Mal?«
Gristhorpe stellte sich vor. »Ich glaube, es ist besser, wenn wir die Sache auf dem Revier regeln«, sagte er zu Harkness.
»Bin ich verhaftet? Das kann ja wohl nicht Ihr Ernst sein. Das ist doch nichts weiter als ein aus der Luft gegriffenes Lügengespinst.«
Er schwitzte.
»Ich glaube, es wäre das Beste, Sir«, beharrte Gristhorpe. »Selbstverständlich haben Sie das Recht, Ihren Anwalt zu konsultieren.«
»Ich werde Sie beide wegen ungerechtfertigter Verhaftung verklagen. Ich werde dafür sorgen, dass Sie vom Dienst suspendiert werden. Ich ...«
Banks meinte, dass sich auf der Treppe hinter Harkness etwas bewegt hatte, aber man konnte im Haus nur schwer etwas erkennen. Was dann folgte, kam so plötzlich und unerwartet, dass er erst im Nachhinein begriff, dass er nichts hätte tun können, um es zu verhindern.
Sie hörten einen dumpfen Knall und sofort darauf schienen sich Harkness' Augen mit Blut zu füllen. Seine Stirn öffnete sich wie eine Rose im Zeitraffer. Instinktiv stürzten Banks und Gristhorpe aus der Schusslinie. Als sich Banks an die Hauswand drückte, bemerkte er das Blut und Gewebe auf seinem Gesicht und seiner Brust. Es stammte von Harkness. Ihm wurde übel.
Die Zeit hing träge wie eine überreife Frucht über ihnen, bereit, jeden Moment hinabzufallen. Harkness lag mitten auf der Türschwelle; auf seinem kurz geschorenen Hinterkopf konnte man nur ein kleines Loch erkennen, unter seinem Gesicht trat eine dunkle Blutlache hervor und breitete sich um seinen Kopf herum aus. Gristhorpe stand mit dem Rücken an die Wand auf einer Seite der Tür gepresst, Banks auf der anderen. Im Haus war es totenstill. Dann - es konnten Minuten oder auch nur Sekunden nach dem Schuss gewesen sein - hörten sie vom anderen Ende des Hauses ein Krachen, gefolgt von einem Fluchen und dem Geräusch sich schnell entfernender Schritte.
Sie schauten sich kurz an, dann nickte Gristhorpe, lief als Erster durch die Tür und sicherte mit gezogener Pistole den Flur und die Treppe. Nichts. Banks folgte ihm, wobei er die Haltung annahm, die er während seiner Ausbildung gelernt hatte: die Waffe ausgestreckt in der einen Hand, mit der anderen das Handgelenk abstützend. Sie kamen ins Wohnzimmer, wo sie niemanden auffanden. Aber hinter den Verandatüren, von denen eine wohl im Vorbeistürmen mit dem Ellbogen eingeschlagen worden war, sahen sie Chivers den Rasen hinab zum Flussufer laufen.
»Geh ans Funkgerät, Alan«, sagte Gristhorpe. »Sie sollen das Netz zusammenziehen. Und warne sie, vorsichtig zu sein. Ruf außerdem einen Krankenwagen!«
Banks stürzte raus zum Wagen und gab die Nachricht an die Zivilbeamten weiter, die alle Funkgeräte in ihren Angelkisten oder Picknickkörben dabeihatten. Nachdem er einen Krankenwagen angefordert hatte, eilte er zurück ins Haus hinter Gristhorpe und Chivers her.
Chivers befand sich im Garten und rannte zum Fluss hinab. Im Rennen drehte er sich um und feuerte mehrere Male. Ein Fenster zersprang, Schiefersplitter rieselten vom Dach - dann ging Gristhorpe zu Boden. Banks suchte Deckung hinter der Rotbuche und schaute zurück auf den Körper des Superintendents, der ausgestreckt auf dem Rasen lag. Er wollte zu ihm, aber er durfte seine Deckung nicht aufgeben. Vorsichtig spähte er um den Baumstamm herum und suchte nach Chivers.
Chivers hatte nicht viele Fluchtmöglichkeiten. Zäune und dichte Hecken sperrten das Ufer nach Osten und Westen hin ab und schlossen Harkness' Grundstück ein. Vor ihm lag nur der Fluss. Nach einem kurzen Blick nach rechts und links und einem ungezielten Schuss sprang er kurz entschlossen ins Wasser. Bald reichte es ihm bis zur Hüfte, dann bis zur Taille. Er zielte auf die Buche und feuerte erneut. Die Kugel schlug mit einem dumpfen Knall in der Rinde ein. Als Banks wieder um den Stamm herum äugte, sah er die anderen Polizisten, alle mit gezückten Waffen, jenseits des Flusses in einer Linie näher kommen. Gristhorpe muss das gesamte verfluchte Tal abkommandiert haben, dachte er. Er schaute zurück zum Haus und sah Susan und Richmond, von der Verandatür eingerahmt, auf Gristhorpe starren. Er bedeutete ihnen, in Deckung zu gehen.
Als das Wasser bis zu seinen Achselhöhlen ging, blieb Chivers stehen und feuerte erneut, aber der Hahn erzeugte nur ein hohles Klicken. Er versuchte es noch ein paar Mal, doch seine Waffe war leer. Banks rief Richmond und Susan zu, sie sollten sich um Gristhorpe kümmern, und ging dann den Abhang hinunter.
»Kommen Sie raus«, rief er. »Schauen Sie sich um. Es ist vorbei.«
Chivers schaute sich um und sah die Männer; die das andere Ufer säumten. Sie waren jetzt in Reichweite. Er schaute wieder Banks an. Dann zuckte er mit den Achseln, warf seine Waffe ins Wasser und lächelte.
Banks hatte dafür gesorgt, dass bei jedem Schritt strikt die Vorschriften eingehalten worden waren. Demzufolge hatte man, als sie schließlich so weit waren, mit Chivers zu sprechen, den Beschuldigten über seine Rechte belehrt: Ihm war das Recht des juristischen Beistands eingeräumt worden, das er wiederholt abgelehnt hatte; ihm war die Möglichkeit gegeben worden, einen Freund oder Verwandten von seiner Verhaftung zu unterrichten, worüber er gelacht hatte; man hatte ihm sogar eine Tasse Tee angeboten, die er angenommen hatte. Der Dienst habende Sergeant hatte einen weißen Overall organisiert, damit Chivers seine nasse Kleidung wechseln konnte, denn gemäß der in der Strafprozessordnung festgehaltenen Vernehmungsmethoden »darf eine Person nicht vernommen werden, wenn ihr keine angemessene Kleidung angeboten worden ist«. Und das Verhörzimmer, in dem sie saßen, war zwar nicht besonders groß, aber immerhin, dem Gesetzestext entsprechend, »angemessen geheizt, beleuchtet und belüftet«. Wenn sich die Vernehmung über einen längeren Zeitraum erstrecken sollte, würde Chivers Mahlzeiten sowie die Gelegenheit zu Ruhepausen erhalten.
Obendrein war Jenny Füller im Revier erschienen und hatte darum gebeten, beim Verhör anwesend zu sein. Das war ein ungewöhnlicher Wunsch und zuerst lehnte Banks ihn ab. Doch Jenny ließ nicht locker und behauptete, dass ihre Anwesenheit sogar hilfreich sein könne, da Chivers vor Frauen gerne anzugeben schien. Schließlich bat Banks Chivers um seine Erlaubnis - was ihn maßlos ärgerte - und Chivers antwortete: »Je mehr, desto schöner.«
In Harkness' Haus, so wusste Banks, war das Team der Spurensicherung damit beschäftigt, Beweismaterial zu sammeln; Glendenning würde über Harkness' Leiche knien; eine Gruppe Constables würde den Garten umgraben, den Carl Johnson so liebevoll gepflegt hatte; und Froschmänner der Polizei würden den Fluss durchsuchen.
Manchmal, dachte Banks, hatte die schwerfällige Maschinerie des Gesetzes ihr Gutes - wie in diesem Fall, wo sie sein Verlangen, jemanden zu erwürgen, dämpfte. So oft er sich auch durch das Gesetz behindert gefühlt hatte, heute, da er dem Mann gegenübersaß, der mindestens drei Menschen ermordet, Superintendent Gristhorpe verwundet und Gemma Scupham entführt hatte, war er ironischerweise froh darum.
Während er Chivers anschaute, spürte er den Impuls, ihn zu töten, genauso wie man eine lästige Wespe erschlagen wollte. Aber es war kein Impuls, auf den er stolz war. Sein ganzes Leben lang, sowohl trotz als auch wegen seines Berufes, hatte Banks versucht, seine eigene Auffassung von Mitgefühl zu pflegen. Wenn das Verbrechen tatsächlich ein Teil dessen war, was uns zu Menschen macht, dachte er, dann verdient es eine eingehende Erforschung. Wenn wir die Plagen, die uns stören, einfach vernichten, kommen wir überhaupt keinen Schritt voran. Er wusste, dass er auf eine seltsame Art und Weise von Chivers lernen konnte. Das dabei erhaltene Wissen mochte er in seinem tiefsten Innern ablehnen, aber geistige und intellektuelle Feigheit hatte er sich noch nie vorwerfen lassen müssen.
Banks saß Chivers gegenüber, Richmond stand hinter ihm, neben der Tür, und Jenny hatte vor dem Fenster, diagonal von ihm, Platz genommen.
Aus der Nähe betrachtet, sah das Ungeheuer nicht besonders Furcht erregend aus, fand Banks. Ungefähr von Banks' Größe und mit der gleichen hageren, drahtigen Statur saß Chivers aufrecht, die Hände lagen flach auf dem Tisch vor ihm, die Handrücken waren mit einem rötlichen Flaum bedeckt. Seine Haut war blass, sein Haar war unscheinbar rötlich braun und seine allgemeine Erscheinung konnte nur als jungenhaft beschrieben werden. Er sah aus wie ein Junge, der Streiche ausheckte und amüsiert zuschaute, welche Auswirkungen sie auf ihre Opfer hatten.
Wenn es überhaupt etwas Hervorstechendes an ihm gab, dann waren es seine Augen. Sie waren so grün, wie das Meer manchmal aussah, und wenn er nicht lächelte, waren sie genauso kalt, so tief und unberechenbar wie der Ozean selbst. Wenn er allerdings lächelte, dann leuchteten sie plötzlich so hell und ehrlich auf, dass man das Gefühl hatte, ihm in allem vertrauen zu können. Zumindest beinahe, dachte Banks, denn man konnte in ihnen auch ein verrücktes Funkeln erkennen, das nicht unbedingt auf Wahnsinn hindeutete, aber vermuten ließ, dass er jeden Moment durchdrehen konnte. Nicht jeder würde das bemerken, aber es betrachtete ihn ja auch nicht jeder mit dem Wissen, dass er ein Mörder war.
Banks schaltete den Kassettenrekorder ein, wiederholte die Formalitäten und erinnerte Chivers an seine Rechte. »Bevor wir auf die anderen Anklagepunkte gegen Sie kommen«, sagte er, »möchte ich Ihnen ein paar Fragen zu Gemma Scupham stellen.«
»Warum nicht?«, sagte Chivers. »Das war eigentlich nur ein Spaß.« Seine Stimme, ein bisschen weinerlicher und höher, als Banks erwartet hatte, enthielt keine Spur eines regionalen Dialektes; sie war so nichts sagend und charakterlos wie die eines Nachrichtensprechers.
»Wessen Idee war es?«
»Mr Harkness suchte Gesellschaft.«
»Wie ist er mit Ihnen in Kontakt getreten?«
»Durch Carl Johnson. Wir kannten uns seit geraumer Zeit. Carl war ... nun, unter uns, Carl war nicht besonders helle. Genau wie der andere Kerl, wie war noch gleich sein Name?«
»Poole?«
»Genau. Einfältig, beide. Armleuchter.«
»Wie haben Sie Harkness kennen gelernt?«
»Hören Sie, spielt das wirklich eine Rolle? Für mich ist das alles ziemlich langweilig, wissen Sie.« Er rutschte auf seinem Stuhl umher und Banks bemerkte, dass er zu Jenny schaute.
»Tun Sie uns den Gefallen.«
Chivers seufzte. »Na gut. Harkness wusste natürlich, dass Carl ein feiger Trottel war, aber er hatte Kontakte. Vor ein paar Monaten brauchte Harkness jemanden, der eine Angelegenheit für ihn regelte.« Er machte eine verächtliche Handbewegung. »Anscheinend hatte jemand etwas aus seinem Londoner Büro gestohlen und Harkness wollte ihm eine Lehre erteilen. Da hat Carl sich mit mir in Verbindung gesetzt.«
»Und dann?«
»Ich habe den Job natürlich erledigt. Harkness hat gut gezahlt. Durch unsere kurzen Gespräche ahnte ich, dass er ein Mann mit ungewöhnlichen Vorlieben und einer Menge Geld war. Also dachte ich, ein kleiner Urlaub in Yorkshire könnte sich lohnen.« Er lächelte.
»Und - war es so?«
»Selbstverständlich.«
»Wie viel bekamen Sie?«
»Ich bitte Sie. Ein Gentleman spricht niemals über Geld.«
»Wie viel?«
Chivers zuckte mit den Achseln. »Ich habe um zwanzigtausend Pfund gebeten. Wir haben uns auf siebzehntausendfünfhundert geeinigt.«
»Also haben Sie Gemma Scupham nur des Geldes wegen entführt?«
»Nein, nein. Natürlich nicht. Nicht nur wegen des Geldes.« Chivers beugte sich vor. »Sie verstehen es nicht, oder? Es hörte sich so an, als könnte es Spaß machen. Es klang interessant.«
»Sie haben also durch Les Poole von Gemma gehört und sich gedacht, sie wäre das perfekte Opfer?«
»Ach, der Idiot hat ständig über sie geschimpft. Und ihre Mutter war anscheinend dumm wie ein Stück Holz, außerdem hat sie sich sowieso nicht sehr um das Kind gekümmert. Sie und Poole wollten das Kind nicht. Und Harkness wollte es. Der Käufer bestimmt den Markt. Es lief fast zu leicht. Wir haben sie mitgenommen, sind ein bisschen herumgefahren, um die Spur zu verwischen, dann haben wir sie nach Einbruch der Dunkelheit bei Harkness abgegeben und den Wagen zurückgebracht.« Er lächelte. »Sie hätten sehen sollen, wie er gestrahlt hat. Es war Liebe auf den ersten Blick.«
»Wussten Johnson oder Poole von der Sache?«
»Ich bin nicht dumm. Ich hätte keinem von beiden vertraut.«
»Was ist dann schief gelaufen?«
»Nichts. Es war ein perfektes Verbrechen.« Chivers dachte nach. »Aber Carl wurde lästig und habgierig. Sonst wären Sie nie im Leben auf Harkness gekommen.«
»Sind wir aber.«
»Ja. Carl hat etwas vermutet. Vielleicht hat er sogar das Kind gesehen, keine Ahnung. Oder er hat gesehen, wie sich Harkness an einem Kinderporno aufgegeilt hat, und hat zwei und zwei zusammengezählt. Das hat mich wirklich überrascht. So etwas hätte ich ihm nie zugetraut. Zwei und zwei zusammenzuzählen und zum richtigen Ergebnis zu kommen. Ich muss zugeben, ich habe ihn unterschätzt.«
»Und was passierte dann?«
Chivers legte seine Hände aneinander, seine Augen wurden glasig. Anscheinend war er in seiner eigenen Welt versunken. Banks wiederholte seine Frage. Chivers schien aus großer Entfernung zurückzukommen.
»Was? Oh.« Er machte erneut eine verächtliche Handbewegung. »Er versuchte, Harkness unter Druck zu setzen. Harkness kriegte es mit der Angst zu tun und rief mich wieder an. Ich sagte, ich kümmere mich darum.«
»Gegen Bezahlung?«
»Selbstverständlich. Ich würde nicht sagen, ich mache das alles nur des Geldes wegen, aber ich brauche gewisse Summen, um den Lebensstil zu führen, den ich gewohnt bin. Harkness vereinbarte ein Treffen mit ihm in der alten Bleimine, um ihn auszuzahlen, und Chelsea und ich haben ihn dort hingefahren. Der arme Kerl, er hat kein bisschen Verdacht geschöpft.«
»Chelsea?«
Er starrte auf einen Punkt über Banks' linker Schulter. »Ja. Blödsinniger Name, was? Wie kann man jemanden nur so nennen? Arme Chelsea. Sie konnte es einfach nicht ganz verstehen.«
»Was verstehen?«
»Die Schönheit des Ganzen.« Chivers wandte sich plötzlich wieder an Jenny. Seine Augen sahen wie dunkelgrüne Strudel aus, dachte Banks, deren Mittelpunkte vollkommen schwarz und deren boshafte Blicke mit Humor getränkt waren. »Damals hat es ihr gefallen, es hat sie erregt, wissen Sie. Und den armen Carl konnte sie sowieso nie leiden. Er hätte sie immer mit den Augen ausgezogen, sagte sie. Sie hätten den Blick in ihren Augen sehen sollen, als ich ihn getötet habe. Sie stand genau neben mir und ich konnte ihre Erregung riechen. Später am Abend hatten wir natürlich noch eine Menge Spaß. Aber sie wurde nervös, sie las die Zeitungen und begann, zu viele Fragen zu stellen ... Wie gesagt, sie konnte die Schönheit des Ganzen nicht vollständig verstehen.«
»Wussten Sie, dass sie schwanger war?«
Er wandte sich langsam wieder an Banks. »Ja. Das war der Gipfel. Es hat sie weinerlich gemacht, unerträglich sentimental. Da musste ich sie töten.«
»Warum?«
»Ich wollte nicht noch so einen Menschen wie mich in die Welt setzen.« Er zwinkerte. »Außerdem war es das, was sie wollte. Ich habe ein Gespür dafür zu wissen, was die Menschen wirklich wollen.«
»Was wollte sie?«
»Den Tod natürlich. Sie hat es genossen. Ich weiß es. Ich habe es erlebt. Wie sie um sich geschlagen und sich gewehrt hat, es war herrlich.« Er schaute wieder Jenny an. »Sie verstehen das, nicht wahr?«
»Und Harkness?«, fragte Banks.
»Oh, man konnte ganz leicht in seine schmutzige Seele schauen. Kleine Kinder. Kleine Mädchen. Früher hatte er es leicht gehabt - in Südafrika, in Amsterdam. Hier war es etwas schwierig für ihn. Er begann langsam zu verzweifeln. Man muss einfach die richtigen Leute kennen.«
Banks bemerkte, dass Chivers einen Teil seines Ärmels befeuchtet hatte und versuchte, einen alten Kaffeering auf dem Schreibtisch wegzuwischen. »Was ist mit Gemma passiert?«, wollte er wissen.
Chivers zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Ich habe meinen Teil des Geschäftes erledigt. Nachdem der alte Perverse mit ihr fertig war, hat er sie wahrscheinlich umgebracht und ihre Leiche unter dem Petunienbeet oder sonst wo vergraben. So machen die das doch, oder? Oder vielleicht hat er sie verkauft und versucht, seine Ausgaben wieder hereinzukriegen. Der Markt für solche Dinge ist ja sehr ergiebig.«
»Was ist mit der Kleidung, die wir gefunden haben?«
»Wollen Sie, dass ich Ihnen die Arbeit abnehme? Ich weiß es nicht. Ich nehme an, als ihm die Sache zu heiß wurde, wollte er Sie von der Fährte ablenken. Klingt das vernünftig?«
»Warum sind Sie nach Eastvale zurückgekehrt? Sie hätten ja wahrscheinlich davonkommen können.«
Chivers' Augen trübten sich. »Schicksal, nehme ich an. Ich kann es nicht ertragen, etwas zu verpassen. Außerdem haben Sie mich nur geschnappt, weil ich es wollte. Ich habe noch nie vor Gericht gestanden und bin noch nie im Gefängnis gewesen. Es könnte interessant werden. Und denken Sie daran - noch bin ich nicht im Gefängnis.« Er warf Jenny ein kurzes Lächeln zu und begann kräftiger auf dem Kaffeefleck herumzuwischen, ohne eine Wirkung zu erzielen. In dem Overall, den sie für ihn gefunden hatten, fühlte er sich sichtlich unwohl und kratzte sich hin und wieder, wenn der raue Stoff auf seiner Haut juckte.
Banks ging zur Tür und bat die beiden uniformierten Beamten herein, die auf dem Flur gewartet hatten. Mit einem Nicken bedeutete er ihnen, Chivers nach unten in eine Zelle zu führen.
Chivers saß am Schreibtisch und starrte auf den Fleck, an dem er unaufhörlich rieb und rieb. Schließlich gab er auf und schlug einmal hart mit seiner Faust auf den Tisch.
Banks stand mit einer Zigarette in der Hand bei ausgeschaltetem Licht vor seinem Bürofenster und schaute auf den dunkler werdenden Marktplatz hinab. Nachdem sie Chivers zugesehen und zugehört hatten, hatte er genau wie Phil und Jenny das Gefühl gehabt, er bräuchte ein langes, heißes Bad. Es war seltsam, wie sie sich getrennt hatten, um den Schmutz von sich abzuwaschen: Jenny war blass und still nach Hause gegangen, Richmond in den Computerraum verschwunden. Trotz der noch verbleibenden Arbeit hatte jeder das Bedürfnis des anderen nach ein bisschen Einsamkeit erkannt.
Kleine Fische wie Les Poole und andere, auf die Banks in Eastvale manchmal getroffen war, ließen ihn an der menschlichen Intelligenz verzweifeln; bei jemandem wie Chivers machte er sich ernsthafte Gedanken über die menschliche Seele. Banks war kein religiöser Mensch, aber als er die normannische Kirche mit ihrem niedrigen, eckigen Turm und der Rundbogentür mit ihren Heiligenskulpturen betrachtete, loderten eine Menge unbeantworteter Fragen in ihm.
Aber sie mussten warten. Das Krankenhaus hatte ihn angerufen, um ihm mitzuteilen, dass Gristhorpe eine Fleischwunde im Oberschenkel habe und sich bereits als schwieriger Patient erweise. Die Beamten der Spurensicherung hatten sich mehrmals von den Flussauen gemeldet; bisher hatten sie bei ihrer Suche nach Gemmas Leiche noch kein Glück gehabt, zudem wurde es dunkel. Die Froschmänner hatten ihre Sachen zusammengepackt und waren nach Hause gegangen. Chivers' Waffe hatten sie ohne Probleme gefunden, aber von Gemma gab es keine Spur. Sie würden morgen weitermachen, obwohl sie sich keine große Hoffnung machten. Der Garten war ruiniert, aber bisher hatten die Männer nichts als Steine und Wurzeln zum Vorschein gebracht.
Harkness' Leiche lag mittlerweile in der Leichenhalle, und wenn ihn jemand für die Beerdigung zurechtmachen musste, dann konnte man ihm nur viel Glück wünschen. Banks erschauderte bei der Erinnerung. Er hatte sein Gesicht wieder und wieder gewaschen, doch er meinte, das Blut immer noch riechen zu können. Und da er wusste, dass er das Hemd und das Jackett nie wieder würde tragen können, hatte er beides weggeworfen und die Sachen angezogen, die er für Notfälle immer im Revier aufbewahrte.
Außerdem musste er an Chelsea denken. So hieß also die arme verrenkte Gestalt auf dem Hotelbett in Weymouth. Warum hatte sie sich von einem Unmenschen wie Chivers angezogen gefühlt? Konnten denn die Menschen das Böse nicht erkennen, wenn es ihnen direkt ins Gesicht starrte? Wahrscheinlich erst, wenn es zu spät war, dachte er. Und dann das Baby. Chivers war sich seiner eigenen Boshaftigkeit bewusst und hatte seine wahre Freude daran. Chelsea. Wer war sie? Woher stammte sie? Wer waren ihre Eltern und was für Menschen waren sie? Stück für Stück würde er es herausfinden.
Ungefähr eine Stunde lang war er mit seinen Gedanken allein gewesen und hatte beobachtet, wie langsam die Dämmerung über den gepflasterten Platz hereinbrach und nach und nach die Menschen zum Abendgottesdienst in die Kirche gingen. Der Lichtschein durch die farbigen Fensterscheiben des Queen's Arms an der gegenüberliegenden Ecke sah einladend aus. Gott, er könnte einen Drink vertragen, um den Geschmack des Blutes aus seinem Mund zu spülen. Und aus seiner Seele.
Das jähe Klingeln des Telefons durchbrach die Stille. Er nahm ab und hörte sofort Gristhorpes Stimme. »Die Arschlöcher wollten mich nicht rauslassen, um Chivers zu vernehmen«, fluchte er. »Hast du es getan? Ist es gut verlaufen?«
Banks musste lächeln und versicherte Gristhorpe, dass alles in Ordnung war.
»Du musst unbedingt vorbeikommen, Alan. Es gibt da ein paar Dinge, über die ich mit dir sprechen will.«
Banks zog seinen Mantel an und fuhr ins allgemeine Krankenhaus von Eastvale. Er hasste Krankenhäuser, er hasste den Geruch nach Desinfektionsmittel, die gestärkten Kittel, die blassen Gestalten, die an Ständern hängende Plastikbeutel durch die düsteren Flure schoben, aus denen eine durchsichtige Flüssigkeit in sie hineintröpfelte. Aber Gristhorpe hatte ein ganz angenehmes Einzelzimmer. Jemand hatte ihm bereits Blumen geschickt und Banks bekam plötzlich ein schlechtes Gewissen, weil er mit leeren Händen gekommen war.
Gristhorpe sah etwas blass und geschwächt aus, hauptsächlich durch den Schock und den Blutverlust, aber davon abgesehen schien er in ganz guter Form zu sein.
»Harkness hat niemals damit gerechnet, wegen Gemmas Entführung Ärger mit der Polizei zu kriegen, nicht wahr?«, fragte er.
»Nein«, sagte Banks. »Und nach allem, was uns Chivers erzählt hat, hatte er auch keine Veranlassung dazu. Es war ein fast perfektes Verbrechen. Er hat es geschafft, sich in der Gegend total zurückzuhalten. Niemand wusste, wie abartig seine Vorlieben wirklich waren.«
»Genau, aber alles hat sich geändert, nachdem Johnson ermordet worden war, richtig?«
»Ja.«
»Und du warst wegen deines Komplexes ein bisschen schroff zu Harkness, oder?«
»Kann sein. Worauf willst du hinaus?«
Gristhorpe versuchte sich im Bett aufzusetzen und verzog sein Gesicht. »Deine Haltung ihm gegenüber ließ ihn vermuten, dass wir ihn auf dem Kieker hätten, oder?«, meinte er.
»Wahrscheinlich.« Banks rückte die Kissen zurecht. »Ich glaube, er war sich ziemlich sicher, dass ich wiederkommen würde.« Der Superintendent trug einen gestreiften Schlafanzug, fiel ihm auf.
»Und er hat sich belästigt gefühlt und damit gedroht, den Polizeipräsidenten anzurufen und vielleicht auch noch den Premierminister und wer weiß wen noch.«
»Ja.« Banks schaute ihn verwirrt an. Worauf wollte Gristhorpe hinaus? Es war gar nicht seine Art, um den heißen Brei herumzureden. Hatte das Delirium schon eingesetzt?
»Nehmen wir mal an, Chivers hat die Wahrheit gesagt«, fuhr Gristhorpe fort, »und er hat Gemma am Dienstagabend bei Harkness abgeliefert und Johnson am Donnerstagabend getötet. Harkness könnte also Gemma vor dem Mord an Johnson lebendig aus dem Haus geschafft haben, sagen wir nach Amsterdam. Aber warum hätte er das tun sollen? Und wenn er es bis dahin nicht getan hatte, dann wäre er für einen solchen Schritt später wahrscheinlich zu nervös gewesen.«
»Das denke ich auch«, stimmte Banks zu. »Und er könnte ihre Kleider am Donnerstagabend oder am Freitag, nachdem ihm Chivers erzählt hatte, dass Johnson tot war, und er sein Honorar kassieren wollte, im Hochmoor versteckt haben, um uns abzulenken. Wegen seiner Beziehung zu Johnson muss Harkness zu diesem Zeitpunkt gewusst haben, dass wir ihn aufsuchen würden. Aber er könnte sie überall vergraben haben. Das Haus ist sehr abgelegen und durch die Bäume ziemlich gut geschützt. Ich meine, selbst wenn jemand auf der Straße vorbeigekommen wäre, hätte er nicht bemerkt, dass im Garten gerade eine Leiche vergraben wird, oder?«
»Aber unsere Leute haben bisher noch nichts gefunden.«
»Du weißt, dass es dauern kann. Es ist ein großer Garten. Wenn sie dort ist, werden die Leute sie finden. Und dann gibt es noch den Fluss.«
»Falls sie wirklich dort ist.«
Banks sah die Bluttransfusion langsam in Gristhorpes Ader tropfen. »Was soll das heißen?«
»Hier.« Gristhorpe rollte sich vorsichtig zur Seite und holte etwas aus dem Nachtschrank hervor. »Ich habe einen von unseren Jungs gebeten, es als Beweismaterial aufzunehmen und mir hierher zu bringen.«
Banks starrte auf das polierte Silber. »Der Kelch?«
»Ja. Er stammt aus dem sechzehnten Jahrhundert, glaube ich. Erinnerst du dich, dass Phil und Susan mich in Harkness' Wohnzimmer getragen und auf das Sofa gelegt haben, bis der Krankenwagen kam? Als ich da lag, ist mir das Ding aufgefallen. Ich konnte ihn kaum übersehen, er stand genau auf meiner Augenhöhe.«
»Ich verstehe immer noch nicht, was das mit Gemma zu tun hat«, sagte Banks, der sich allmählich Sorgen machte, dass Gristhorpe ernsthafter verwundet worden war, als er vorgab.
»Nicht?« Gristhorpe reichte ihm den Kelch. »Siehst du diese Gravur?«
Banks betrachtete den Kelch. »Ja.«
»Das ist das Banner der Wallfahrt der Gnade. Siehst du die fünf Wunden Christi? Ich erkläre es dir, dann kannst du nachschauen, ob ich Recht habe.«
Verwirrt schlug Banks seine Beine übereinander und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
In der späten Dämmerung verließ Banks Eastvale. Es war die Zeit des Abends, in der sowohl das Grün der Wiesen auf den Berghängen als auch das Grau der Kalksteinhäuser und Natursteinmauern nur noch verschiedene Schattierungen der Dunkelheit sind. Aber der Fluss schien mit einem Licht, das er am Tage gespeichert hatte, aus eigener Kraft zu glitzern und schlängelte sich durch die bewaldeten Flussauen, die als Leas bekannt waren.
Während er fuhr, erinnerte sich Banks an Gristhorpes Worte: »In der Geschichte Yorkshires begann die Wallfahrt der Gnade als religiöser Aufstand gegen Henry VIII., ausgelöst durch die Schließung der Klöster im Jahre 1536. Harkness' Haus ist später gebaut worden, dieser Kelch ist also wahrscheinlich ein kostbares Familienerbstück und war für denjenigen, der ihn besaß, ein mächtiges Symbol. Im siebzehnten Jahrhundert war es in diesem Teil des Landes häufig gefährlich, römisch-katholischen Glaubens zu sein; trotzdem hielten die Menschen an ihrer Konfession fest. Doch sie vermieden unnötige Risiken. Wenn sie also inkognito umherwandernde Priester in ihre Häuser einluden, damit die eine Messe zelebrierten oder ihnen die Beichte abnahmen, wussten sie, dass sie jeden Moment mit Soldaten rechnen mussten, die an ihre Tür hämmerten. Und deshalb haben sie Verstecke für die Priester gebaut, Hohlräume in den Mauern, in denen die Priester verschwinden konnten. Manche dieser Verstecke waren sogar noch raffinierter gebaut. Sie führten zu unterirdischen Gängen und Fluchtwegen.
Ich bin in Lyndgarth aufgewachsen, von Harkness' Haus nur ein Stück den Berg hinauf«, war Gristhorpe fortgefahren, »und als wir Kinder waren, hat es immer Gerüchte über das alte De-Montfort-Haus gegeben, wie es damals genannt wurde. Wir glaubten, dass es dort spuken würde und dass das ganze Gelände mit Geheimgängen durchzogen sei. Du kennst ja die Fantasie von Kindern. Wir sind natürlich nie hineingegangen, aber wir haben uns Geschichten darüber ausgedacht. Ich hatte das alles völlig vergessen, bis wir gestern Abend dort hingefahren sind - und ich muss zugeben, alles ist so schnell passiert, dass es mir sofort wieder entfallen ist. Bis ich diesen Kelch sah. Da begann ich nachzudenken. Das Datum passt, deshalb ist es einen Versuch wert, meinst du nicht?«
Banks hatte zugestimmt. Er bog in die Auffahrt und hielt vor der Polizeiabsperrung. Der wachhabende Beamte kam auf ihn zu, und als er Banks erkannte, ließ er ihn durch.
Als er an dem im Garten arbeitenden Team der Spurensicherung vorbeikam, grüßte Banks nickend. Als Reaktion schüttelten die Männer ihre Köpfe: Sie hatten noch nichts entdeckt. Das Grundstück sah wie ein Filmset aus: Die hellen Bogenlampen warfen Schatten von grabenden Männern, außerdem war es durch den Lärm der Bohrer und das Brummen des Generators so laut, dass man die über diesen Krach gerufenen Anweisungen kaum verstehen konnte. Im Haus untersuchten die Männer Teppiche und Sofas, hoben mit Klebebandstreifen Fasern ab oder fuhren über manche Flächen mit Handstaubsaugern.
Zuerst überprüfte Banks die Küche, schaute hinter dem Kühlschrank und dem Herd nach und ging dann in das Esszimmer, wo man ihm half, die gewaltige, antike Vitrine, in der Besteck und Kristallgläser aufbewahrt wurden, zur Seite zu schieben. Nichts.
Die Durchsuchung der Bibliothek ergab auch nichts, sodass er als Nächstes ins Wohnzimmer ging, wo ihm der verschmutzte, angelaufene Kelch zum ersten Mal auf dem Couchtisch aufgefallen war. Auch dadurch, dass er den Kelch wiedergesehen und zudem bemerkt hatte, wie sauber er war, war bei seinem Besuch mit Susan am Nachmittag seine Unruhe ausgelöst worden.
Das Bücherregal gegenüber dem Kamin sah nicht gerade vielversprechend aus, und als Banks begann, die alten National Geographie-Magazine herauszuziehen und nach einer Art Hebel oder Knopf zu suchen, kam er sich ziemlich töricht vor. Wie in einer Geschichte von Edgar Allan Poe, dachte er.
Doch dann wurde er fündig: ein perfekt in das Holz eingelassener Messingriegel, links auf der Rückseite des größten Brettes. Als wäre er erst kürzlich geölt worden, ließ er sich leicht zurückschieben, woraufhin sich das gesamte Bücherregal wie eine Tür an Scharnieren von der Wand wegdrehte. Vor ihm zeichnete sich eine dunkle Öffnung mit einer hinabführenden, ausgetretenen Steintreppe ab.
Banks rief nach einer Taschenlampe, erhielt sie und trat in die Öffnung. An einem Haken zu seiner Linken hing ein Ring mit zwei Schlüsseln. Im Vorbeigehen nahm er sie mit.
Am Boden der Stufen führte ein unebener, feuchter Gang weiter, wahrscheinlich weit weg vom Haus, um den Wanderpriestern damals eine Fluchtmöglichkeit zu bieten. Banks leuchtete mit seiner Taschenlampe nach vorn und sah, dass der Gang nach wenigen Metern von Trümmern blockiert war. Aber die beiden schweren Holztüren links und rechts des Ganges sahen ohnehin viel interessanter aus. Zuerst versuchte Banks, die Tür auf der rechten Seite zu öffnen. Sie war verschlossen. Mit angehaltenem Atem und klopfendem Herzen probierte er die Schlüssel. Der zweite passte.
Die Scharniere quietschten ein bisschen, als er die Tür langsam aufdrückte. In der Dunkelheit herumtastend, fand er einen Lichtschalter, eine nackte Glühbirne ging an und erhellte einen kleinen, quadratischen Raum mit weiß getünchten Wänden. In der Mitte stand ein Ledersessel mit einer Fußstütze, die herausglitt, wenn man sich hineinsetzte, und davor stand ein Fernsehapparat mit angeschlossenem Videorekorder. Banks bezweifelte, dass Priesterverstecke mit Elektrizität versorgt gewesen waren, Harkness musste sich also die Mühe gemacht haben, eigenhändig Kabel in seine Privathöhle zu verlegen. In einem Gestell neben dem Sessel entdeckte Banks ein Sortiment pornografischer Magazine, in denen ausnahmslos Kinder widerlichen und erniedrigenden Handlungen unterworfen waren. In dem Schränkchen unter dem Videorekorder befanden sich eine Reihe Videokassetten ähnlicher Natur.
Als Banks zurück auf den Gang ging und vor die andere Tür trat, fragte er sich ängstlich, was er wohl vorfinden würde. Er steckte den zweiten Schlüssel in das Schloss - es ließ sich mühelos öffnen. Dieses Mal musste er nicht nach einem Lichtschalter tasten. An der Seite des engen Bettes stand eine kleine Tischlampe mit einem orangefarbenen Schirm. Daneben lagen ein Buch mit Kindergeschichten und ein Pillenfläschchen. Die Wände waren mit der gleichen Tünche wie der andere Raum gestrichen, aber eine Flickendecke mit stilisierten Urwaldtieren - Löwen, Tigern und Leoparden mit freundlichen, menschlichen Gesichtszügen - bedeckte die kleine, reglose Gestalt auf dem Bett.
Es war Gemma Scupham, daran gab es keinen Zweifel.
Zwischen den schmutzigen Flicken konnte Banks nur einen Teil ihres Gesichtes erkennen und es sah weiß aus. Sie lag bewegungslos auf ihrem Rücken, ihr rechter Arm war über den Kopf erhoben. Auf der blassen Haut der Innenseite ihres Armes verlief die Narbe eines schmalen Schnittes.
Banks konnte keinen Atem, kein Leben spüren. Er bückte sich, um genauer hinzuschauen. Als er so über Gemma gebeugt stand, glaubte er, eines ihrer Augenlider zucken zu sehen. Er erstarrte. Da passierte es wieder.
»Mein Gott«, murmelte er zu sich selbst, und als er in Ehrfurcht hinabschaute, bildete sich eine Träne, kullerte aus Gemmas Augenwinkel und hinterließ eine saubere und glänzende Spur auf ihrer schmutzigen Wange.