Um zehn nach elf am Samstagmorgen stand Banks mit einem Kaffee in der Hand am Fenster seines Büros und schaute hinab auf den Marktplatz. Es war wieder ein herrlicher Tag - der fünfte in Folge - mit einem hellblauen Himmel und hohen Schleierwolken. Außerdem war es der vierte Tag seit Gemma Scuphams Entführung.
Unten auf dem mit Kopfstein gepflasterten Platz war der Markt in vollem Gange. Touristen und Einheimische spazierten durch die Stände, an denen alle erdenklichen Waren feilgeboten wurden, von Kleidung über gebrauchte Bücher bis hin zu Autozubehör und kleinen Elektrogeräten. Als Banks beobachtete, wie neue Ware aus den Transportern geladen wurde, fragte er sich, wie viele der Artikel gestohlen und wie viele wohl von der Ladefläche eines Lastwagens »gefallen« waren. Der größte Teil der Verkaufsgüter war natürlich legal und stammte aus der Überproduktion oder hatte die Qualitätskontrollen einer Firma nicht passiert und wurde nun etwas über den Selbstkosten verkauft; aber ein belebter Markt war immer auch ein idealer Ort, um heiße Ware loszuwerden.
Von dem Einbruch in Fletchers Warenhaus würde allerdings nichts dabei sein. Fernseher und Stereoanlagen hätten auf einem Markt im Freien zu viel Aufmerksamkeit erregt. Solches Diebesgut wurde hauptsächlich durch Mundpropaganda in Pubs oder Videoverleihen verkauft.
Banks dachte wieder daran, wie glatt die Aktion verlaufen war. Die Einbrecher hatten ein Loch in den Maschendrahtzaun geschnitten, den Wachhund betäubt und die Alarmanlage außer Betrieb gesetzt. Dann hatten sie einen Transporter mit Elektronikwaren voll geladen, waren in die dunkle Nacht verschwunden und seitdem nie gesehen worden. Mindestens drei Männer waren dafür nötig gewesen, überlegte er, und Les Poole war wahrscheinlich einer von ihnen. Aber im Moment gab es weitaus wichtigere Dinge, über die er nachzudenken hatte. Immerhin wurde Poole überwacht, sodass Banks von jedem Schritt, den er außer der Reihe unternehmen sollte, schnell erfahren würde.
Da immer mehr Touristen in die Stadt strömten, kam der Verkehr auf der Market Street fast zum Erliegen. Und an einem Markttag gab es zudem kaum Parkplätze. Die Autofahrer mussten bestimmt eine gute halbe Stunde nach einem freien Platz in den engen Gassen suchen. Ein arbeitsreicher Tag für die Verkehrspolizei.
Banks öffnete einen Spaltbreit das Fenster. Er konnte die Hupen und das Stimmengewirr vom Platz unten hören; außerdem zog, vermischt mit den Abgasen, der Geruch von frisch gebackenem Brot aus der Bäckerei in der Market Street nach oben.
Bei der morgendlichen Konferenz hatte Gristhorpe Banks und Constable Susan Gay den Mordfall in der Bleimine übertragen. Gristhorpe selbst wollte gemeinsam mit Sergeant Richmond die Ermittlung bei der Suche nach Gemma Scupham verfolgen, wobei Jenny Füller als Beraterin fungieren sollte. Mit jedem Tag, der verging, wuchs der Druck. Einige Eltern waren verängstigt und hatten ihre Kinder bis auf weiteres aus der Schule genommen. Seit Gemma verschwunden war, hatten Polizeikräfte in der gesamten Region Hausbesuche unternommen und Durchsuchungen von Brachland und entlegenen Gebieten durchgeführt. Überraschenderweise war bisher noch nichts ans Licht gekommen. Es sah so aus, als wäre Gemma vom Erdboden verschwunden. Obwohl er von dem Fall wegbeordert worden war, wusste Banks, dass er sich auf dem Laufenden halten musste. So leicht konnte er Gemma Scupham nicht vergessen.
Für einen Moment schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, die beiden Verbrechen könnten in irgendeiner Weise miteinander verbunden sein. Dass in Swainsdale zwei schwere Delikte zu ungefähr der gleichen Zeit passierten, war äußerst selten. Sollte das reiner Zufall sein? Im Augenblick kam er mit dieser Frage nicht weiter, er würde sie aber im Hinterkopf behalten.
Seine erste Aufgabe bestand darin, die Leiche, die sie gefunden hatten, zu identifizieren. Bestimmt war es möglich, ein Foto zu veröffentlichen, manchmal halfen auch die Etiketten in der Kleidung weiter. Dann gab es medizinische Merkmale wie Operationsnarben und Muttermale sowie das Zahnschema. Wenn der Mann aus der Gegend stammte, war es ziemlich leicht, solchen Informationen auf den Grund zu gehen; war er jedoch ein Fremder, war es praktisch unmöglich. Banks hatte bereits Constable Gay losgeschickt, um Nachforschungen in Gratly und Relton anzustellen, den der Mine nächstgelegenen Dörfern, aber er erwartete sich nicht viel davon. Bestenfalls hatte jemand vielleicht einen Wagen in Richtung Mine fahren gesehen.
Auf der Kreuzung von Market Street und Marktplatz, genau vor dem Queen's Arms, hatte sich ein roter Transporter breit gemacht. Wütende Autofahrer begannen zu hupen. Ohne sich um die ärgerlichen Touristen zu kümmern, lud der Fahrer des Transporters seelenruhig Kartons mit Strumpfhosen und Damenunterwäsche aus. Ein Mann stieg aus und marschierte zu ihm.
Banks wandte sich vom Fenster ab und überdachte den Tatort an der Bleimine. Das Opfer war wahrscheinlich in der Schmelzhütte ermordet worden, an einem abgelegenen Ort also. Seine Taschen waren geleert und seine Leiche war im Rauchabzug versteckt worden, der wegen der Gefahr durch herabfallende Steine nur selten betreten wurde. Man konnte also davon ausgehen, dass der Mörder die Leiche so lange wie möglich unentdeckt wissen wollte. Da die meisten Spuren in einer Ermittlung nach den ersten vierundzwanzig Stunden auftraten, war das nur zu verständlich. Aber die Leiche war wesentlich früher entdeckt worden, als der Mörder es erwartet hatte, was Banks möglicherweise einen Vorteil verschaffte.
Gerade als Banks sein Büro verlassen wollte, um sich frischen Kaffee zu holen, klingelte das Telefon. Es war Vic Manson aus dem gerichtsmedizinischen Labor nahe Wetherby.
»Sie sind aber schnell«, staunte Banks. »Was haben Sie denn?«
»Glück. Wollen Sie wissen, um wen es sich handelt?«
»Sie wissen es schon?«
»Tja. Ich würde es ja gerne auf brillante Schlussfolgerungen zurückführen, aber es war reine Routine.«
»Fingerabdrücke?«, mutmaßte Banks. Die wurden im Labor als Erstes überprüft, und obwohl die Fingerabdrücke der meisten Menschen nirgendwo aktenkundig waren, so waren es doch die von vielen. Mal wieder Schwein gehabt.
»Richtig. Er hat in Armley gesessen. Hat versucht, eine alte Dame um ihre Ersparnisse zu bringen, allerdings war sie cleverer als er. Sein Name ist Carl Johnson. Er stammt aus Bradford, lebte aber seit ungefähr einem Jahr quasi vor Ihrer Haustür: Calvin Street Nr. 59, Apartment 6.«
Banks kannte die Straße. Sie befand sich im nordöstlichen Teil von Eastvale, die großen, alten Häuser dort waren in billige Wohnungen unterteilt worden.
»Sie können sich seine Akte aus dem Computer ausdrucken lassen«, schlug Manson vor.
»Danke, Vic. Werde ich machen. Bleiben Sie am Ball!«
»Habe ich vielleicht eine andere Wahl? Wir sind bis zum Hals mit Arbeit eingedeckt. Aber ich melde mich bei Ihnen, wenn wir mehr herausgefunden haben.«
Banks eilte in Richmonds Büro. Richmond saß vor seinem Computer und tippte gerade etwas ein, sodass Banks wartete, bis er an einer Stelle war, wo er eine Pause machen konnte. Dann erklärte er ihm, was Vic Manson herausgefunden hatte.
»Kein Problem«, sagte Richmond. »Lassen Sie mich nur noch diesen Bericht in die Datei eingeben, dann drucke ich Ihnen die Akte aus.«
»Danke, Phil.«
Banks holte sich einen Kaffee und ging zurück in sein Büro. Auf dem Marktplatz wimmelte es jetzt von Menschen, die vor den Ständen stehen blieben, die Ware begutachteten, den Marktschreiern zuhörten und dem Verkäufer zuschauten, der mit Tellern jonglierte, als wäre er ein Zirkusartist.
Carl Johnson. Der Name sagte ihm nichts. In London würde Banks jetzt auf die Straße gehen, um Informanten zu befragen und im Untergrund arbeitende Beamte zu treffen. Irgendjemand würde schon ein Gerücht oder eine verräterische Bemerkung aufgeschnappt haben. Aber in Eastvale gab es keine wirkliche kriminelle Unterwelt. Und ganz sicher war ihm niemand bekannt, der dazu imstande war, auf eine solche Weise zu töten, wie Carl Johnson getötet worden war. Natürlich gab es Schattengewächse wie Les Poole, aber Poole war in seinem tiefsten Inneren ein Feigling, und was auch immer er schon angestellt haben mochte - ein Mörder war er nicht. Dennoch könnte es sich lohnen, ihm gegenüber Johnsons Namen zu erwähnen - nur um seine Reaktion zu testen.
War dem Mörder Johnsons Vorstrafe unbekannt, hatte er nicht gewusst, wie leicht er dadurch zu identifizieren war? Wer auch immer es war, er hatte sicherlich große Anstrengungen unternommen, die Leiche zu verstecken, aber er hatte nicht versucht, die Haut von den Fingerkuppen zu trennen, wie es manche Mörder taten. Vielleicht war er zart besaitet, was allerdings angesichts der Art, wie er Johnson getötet hatte, unwahrscheinlich erschien. Vielleicht war er einfach sorglos. Sorglos oder überheblich. Was auch immer der Grund war, Banks wusste nun, wohin er selbst als Nächstes gehen würde: in die Calvin Street Nr. 59, Apartment 6. Dort konnte er beginnen.
Wenn Gristhorpe umgedrehte Kreuze, schwarze Kerzen, Drudenfüße und zeremonielle Umhänge erwartet hatte, dann hätte er nicht falscher liegen können. Melville Westmans Cottage in Helmthorpe war so gewöhnlich, wie es nur sein konnte: weiße Raufasertapete mit gekringelten Mustern, eine beige dreiteilige Sitzgarnitur, Fernseher, Musikanlage. Durch die weiße Spitzengardine vor den Fenstern schien die Sonne und verlieh der Wohnung eine helle, luftige Atmosphäre. Die einzigen Hinweise auf Westmans Interessen konnte man im Bücherregal finden: Eliphas Levis Le Dogme et le Rituel de la Haute Magie, Mathers' Übersetzung von Der Schlüssel des Salonion, Crowleys Magie in Theorie und Praxis, Malleus Maleficarum sowie ein paar weitere Bücher über Astrologie, Kabbala, Tarot, Hexerei und rituelle Magie. Darüber hinaus trug ein Stoffbanner über dem Kamin die Aufschrift: »Das einzige Gebot soll lauten: Tue, was du willst«. In dieser Art Stickerei hätte man eigentlich solch altertümliche Sprüche wie »Ein Haus ist aus Stein gebaut, ein Heim ist aus Liebe gebaut« erwartet.
Genauso enttäuscht wäre Gristhorpe gewesen, wenn er mit einem ungepflegten, irre blickenden Doppelgänger Charles Mansons gerechnet hätte. Westman war ein gediegener Herr mittleren Alters mit spärlichem, mausgrauem Haar. Über einem weißen Hemd trug er einen grauen Pullover mit V-Ausschnitt, auch seine Hosen mit korrekten Bügelfalten waren grau. Er war ein kleiner, korpulenter Mann, besaß aber durchaus Präsenz. Das lag teilweise an den leicht aufgeblähten Nasenlöchern, die seinem Gesicht einen konstanten Ausdruck arroganten Naserümpfens gaben, und teilweise an den kontrolliert eindringlichen Blicken seiner kalten Augen.
»Das hat ja ziemlich lange gedauert«, sagte er zu Gristhorpe und deutete auf einen Sessel.
Gristhorpe nahm Platz. »Ich verstehe nicht.«
»Ach, kommen Sie, Superintendent. Lassen Sie uns keine Spielchen spielen. Das Mädchen, das vermisste Mädchen. Ich habe davon in der Zeitung gelesen.«
»Was haben Sie damit zu tun?«
Westman setzte sich Gristhorpe gegenüber und beugte sich mit auf dem Schoß gefalteten Händen in seinem Stuhl vor. »Natürlich nichts. Aber es ist Ihre Pflicht nachzufragen, nicht wahr?«
»Und?«
Westman lächelte und schüttelte langsam den Kopf. »Und nichts.«
»Mr Westman«, sagte Gristhorpe. »In Fällen wie diesen müssen wir jede Möglichkeit in Betracht ziehen. Wenn Sie irgendetwas über das Verschwinden des Kindes wissen, dann wäre es am besten, Sie sagen es mir.«
»Ich habe es Ihnen gesagt. Ich weiß nichts. Warum sollte ich auch?«
»Wir wissen beide von Ihrer Verwicklung in Hexerei und Satanismus. Seien Sie nicht naiv.«
»Verwicklung? Hexerei? Satanismus? Superintendent, nur weil ich eine andere Religion als Sie praktiziere, halten Sie mich wohl für eine Art Monster. Ich bin kein Satanist und ich bin auch kein Hexer. Die meisten Menschen, die Sie als Hexen bezeichnen würden, sind unwissende Laien, die sich die einstigen Lebensweisen und Bräuche als Vorwand für sexuelle Ausschweifungen aneignen. Ehemalige Hippies und Esoteriker.«
»Egal, wie Sie sich nennen«, erklärte Gristhorpe, »in der Vergangenheit sind Leute wie Sie an Opferungen beteiligt gewesen.«
»Jungfrauenopfer? Also wirklich! Sie verwechseln mich schon wieder mit diesen psychopathischen Satanisten, die altertümliche Bräuche als Vorwand missbrauchen. Leute, die zu viel Aleister Crowley gelesen haben und der Meinung sind, er passe zu ihren geschmacklosen Fantasien. Aber Crowley hat übertrieben. Sie finden ein paar blödsinnige, an die Wand geschmierte Drudenfüße und ein bisschen lateinisches Gekrakel und schon glauben Sie, Sie hätten es mit dem Teufel zu tun. Aber das ist nicht der Fall.«
Gristhorpe deutete zum Bücherregal. »Mir ist aufgefallen, dass Sie auch ein paar Bücher von Aleister Crowley besitzen. Sind Sie deshalb ein psychopathischer Satanist?«
Westmans Mundwinkel verzogen sich wie ein vertrocknetes Sandwich. »Wer in der Lage ist, ihn zu verstehen, kann von Crowley eine Menge lernen. Wissen Sie, worum es in der Magie geht, Superintendent?«
»Macht«, antwortete Gristhorpe.
Westman schnaubte verächtlich. »Typisch. Das Wort hat den gleichen Stamm wie >Magister<, Meister, Lehrer, Weiser. Ziel des »meisterhaften Werkes< ist es, Gott zu werden, und Sie tun es als nackten menschlichen Hunger nach Macht ab.«
Gristhorpe seufzte und versuchte sich zu beherrschen. Der dozierende Ton des Mannes ging ihm auf die Nerven. »Mr Westman, mir persönlich ist es absolut egal, an welche Illusionen Sie sich klammern. Das ist nicht der Zweck ...«
»Illusionen! Superintendent, glauben Sie mir, die Arbeit des Magiers ist weit entfernt von Illusion. Sie ist eine Angelegenheit des Willens, des Mutes, intensiver Studien der ...«
»Halten Sie mir keine Vorträge, Mr Westman. Ich kenne mich mit dem Thema bereits zur Genüge aus. Ich weiß zum Beispiel, dass Opfer wichtig sind, weil man lebende Geschöpfe als Energielager betrachtet. Wenn man sie tötet, wenn man ihr Blut verspritzt, setzt man diese Energie frei und konzentriert sie. Ich weiß außerdem, dass hinter einer Opferung - neben diesem praktischen Zweck - der Blutrausch und die mörderische Raserei stecken. Der Weihrauch, der Zauberspruch und schließlich der Blutschwall. Orgasmisch, ein sexueller Kick.«
Westman winkte ab. »Ich merke, dass Sie nichts davon verstehen, Superintendent. Sie sprechen erneut von den Abweichlern, den Scharlatanen.«
»Und ein Menschenopfer«, fuhr Gristhorpe fort, »ist das wirkungsvollste von allen und erzeugt den ultimativen Kick. Besonders die Opferung eines unbefleckten Kindes.«
Westman schürzte die Lippen und legte seinen Zeigefinger an den Mund. Einen Augenblick lang starrte er Gristhorpe an, dann zuckte er mit den Achseln und lehnte sich zurück. »In der wahren Magie ist ein Menschenopfer selten«, erklärte er. »Für die Menschen, die diese Konfession praktizieren, ist es in einer derartig engstirnigen Welt wie derjenigen, in der wir wohnen, schon schwer genug zu existieren. Wir werden uns daher hüten, die Situation noch dadurch zu verschlimmern, dass wir Kinder entführen und sie abschlachten.«
»Sie wissen also überhaupt nichts über Gemma Scupham?«
»Nicht mehr, als in den Zeitungen steht. Und obwohl ich in Anbetracht meines bedauerlichen Rufes mit Ihrem Besuch gerechnet habe, habe ich, so wie ich das sehe, keinerlei Ähnlichkeit mit irgendeinem der Verdächtigen.«
»Stimmt, aber das heißt nicht, dass Sie nicht in irgendeiner Weise mit ihnen verkehren. Eine Menge Leute erledigen ihre schmutzige Arbeit nicht selbst.«
»Kommen jetzt die Beleidigungen? Nun, vielleicht haben Sie Recht. Vielleicht habe ich ein paar Zombies präpariert, um den Auftrag auszuführen. Erinnern Sie sich an den Skandal von Rochdale, Superintendent? Zehn Kinder wurden ihren Eltern weggenommen und der Obhut von Sozialarbeitern übergeben, die ein paar abenteuerlichen Märchen über rituellen, satanischen Missbrauch aufgesessen waren. Und was ist passiert? Sie wurden wieder nach Hause geschickt. Es gab keine Beweise. Kinder haben eine überschwängliche Fantasie. Wenn ein Sechsjähriger erzählt, er habe eine Katze gegessen, dann kann man davon ausgehen, dass es eine aus Schokolade war oder dass der Kleine irgendwelche Cornflakes in Tierform gefrühstückt hat.«
»Die Angelegenheit in Rochdale ist mir bekannt«, sagte Gristhorpe, »ich weiß auch, was in Nottingham passiert ist. Bei der Verhandlung kam es nicht zutage, aber später haben wir herausgefunden, dass es tatsächlich rituellen Missbrauch gegeben hatte. Diese Kinder wurden gequält und gedemütigt, man ließ sie hungern und missbrauchte sie als Sexualobjekte.«
»Aber sie wurden nicht dem Teufel geopfert oder irgend so ein Blödsinn. Die ganzen Märchen über organisierten satanischen Missbrauch wurden widerlegt. Missbrauch findet meistens im weiteren Familienkreis statt, zwischen Familienmitgliedern.«
»Das ist jetzt nicht das Thema.« Gristhorpe beugte sich vor. »Gemma Scupham wurde aus ihrem Elternhaus entführt und wir können nicht die geringste Spur von ihr finden. Wenn sie getötet und irgendwo in den Bergen verscharrt worden wäre, dann hätten wir sie höchstwahrscheinlich schon längst gefunden. Haben wir aber nicht. Worauf deutet das Ihrer Meinung nach hin?«
»Keine Ahnung. Ich denke, Sie sind der Detektiv. Sagen Sie es mir.«
»Auf zwei Möglichkeiten. Entweder ist sie tot und ihre Leiche ist sehr gut versteckt worden, vielleicht außerhalb von Swainsdale, oder jemand hält sie irgendwo gefangen, vielleicht für eine Rolle, die sie in irgendeinem Ritual spielen soll. Deswegen bin ich hier, um mit Ihnen zu reden. Und glauben Sie mir, ich wäre lieber woanders.«
»Ich ziehe meinen Hut vor Ihrer Kombinationsgabe, Superintendent, aber Sie würden Ihre Zeit wesentlich besser nutzen, wenn Sie tatsächlich woanders wären. Ich weiß nichts.«
Gristhorpe schaute sich im Zimmer um. »Was wäre, wenn ich einen Durchsuchungsbefehl erwirke?«
Westman stand auf. »Das müssen Sie nicht. Schauen Sie sich nur um!«
Und das tat Gristhorpe. Das Cottage war nicht groß, so brauchte er nicht lange. Im ersten Stock befanden sich ein Badezimmer und ein Büro. Inmitten des Durcheinanders auf dem Schreibtisch brummte ein Computer und ein Drucker stieß Blätter aus.
»Ich bin Softwareberater«, erzählte Westman. »Von daher bin ich hauptsächlich zu Hause tätig. Außerdem muss ich auch an manchen Wochenenden arbeiten.«
Gristhorpe nickte. Sie gingen nach unten und schauten sich in der Küche um, gingen dann weiter in den Keller, einen dunklen, kalten Raum mit weiß getünchten Wänden, der hauptsächlich als Lager für Kohlen und die verschiedenen Einzelteile eines alten Vincent-Motorrades genutzt wurde.
»Ein Hobby«, erklärte Westman. »Sind Sie nun zufrieden?«
Sie stiegen wieder hoch ins Wohnzimmer. »Kennen Sie jemanden, der etwas mit der Sache zu tun haben könnte?«, wollte Gristhorpe wissen. »Aus welchem Grund auch immer?«
Westman hob seine Augenbrauen. »Jetzt bitten Sie also um Hilfe, nicht wahr? Ich würde Ihnen gerne den Gefallen tun, aber, wie gesagt, ich habe keine Ahnung. Ich opfere keine Kinder, habe es nie getan und werde es nicht tun - überhaupt keine menschlichen Lebewesen. Ich habe Ihnen bereits gesagt, ich bin kein Dilettant. Ihnen meine Überzeugungen begreiflich zu machen würde zu lange dauern und außerdem sind Sie wahrscheinlich viel zu voreingenommen, um sie zu verstehen. Aber auf jeden Fall haben sie nichts mit sensationslüsternem Satanismus zu tun.«
»Aber Sie werden doch Leute kennen, die etwas damit zu tun haben. Gibt es solche Laien oder Dilettanten, wie Sie es ausdrücken, solche nach immer neuen Kicks suchenden Satanisten hier in dieser Gegend?«
»Nicht dass ich wüsste. Es gibt ein paar Hexenversammlungen, aber die sind ziemlich zahm, und wahrscheinlich wissen Sie von denen sowieso. Amateure. Die würden keine Fliege opfern, geschweige denn ein Kind. Ihre Zusammenkünfte haben ein bisschen was von einer Kirchengesellschaft. Nein, Superintendent, ich glaube, Sie sind auf der falschen Spur.«
Gristhorpe stand auf. »Vielleicht, Mr Westman, aber ich bleibe lieber nach allen Seiten offen. Machen Sie sich keine Umstände, ich finde allein hinaus.«
Auf der Straße atmete Gristhorpe die frische Luft ein. Er hatte keine Ahnung, warum er gegenüber Westman und seinesgleichen eine solche Abneigung verspürte. Schließlich hatte er einiges über schwarze Magie gelesen und wusste daher, dass hinter einem Interesse an diesem Thema nicht unbedingt das Böse an sich stehen musste. Vielleicht lag es an seinem methodistischen Hintergrund. Er war schon seit Jahren nicht mehr in die Kirche gegangen, aber er wurde das sichere Gefühl nicht los, dass ein derartiges Verlangen nach gottähnlicher Macht, ob nun Mumpitz dahinter steckte oder nicht, ein Sakrileg war, das ebenso die Vernunft und den gesunden Menschenverstand verhöhnte wie Gott.
Im Norden thronte die Kalksteinwand von Crow Scar über dem Dorf. Heute schimmerte sie in der Herbstsonne, die höher gelegenen Weiden verfärbten sich bereits hellbraun. Die Natursteinmauern, die im Zickzack durch das ganze Tal verliefen, glänzten wie durch die Erde stechende Rippen und Wirbel eines Riesen.
Gristhorpe spazierte die belebte High Street entlang; Touristen machten Schaufensterbummel und schauten sich Wanderutensilien und heimisches Kunsthandwerk an, Wanderer saßen an den Holztischen vor dem Dog and Gun oder dem Hare and Hound, schlürften ein Pint Theakston's oder knabberten ein Sandwich. Die Verlockung war groß, sich dazuzusetzen, doch Gristhorpe beschloss zu warten und erst, wenn er wieder in Eastvale sein würde, ein spätes Mittagessen einzunehmen.
An der Weggabelung bog er von der Straße ab und ging zum Helmthorper Revier, einem umgebauten Reihenhaus - errichtet aus dem heimischen grauen Kalkstein das mit einem Sergeant und zwei Constables besetzt war. Als Gristhorpe eintrat, saß Constable Weaver vor einer alten, manuellen Schreibmaschine und hackte auf die Tasten ein. Gristhorpe kannte ihn von dem Steadman-Fall, dem ersten Mord, den sie seit hundert Jahren in Helmthorpe gehabt hatten.
Weaver schaute auf, errötete und kam herbei. »Ich kann mich einfach nicht an den Computer gewöhnen, Sir«, gestand er. »Ich gebe ständig die falschen Befehle ein.«
Gristhorpe lächelte. »Wem sagen Sie das. Wenn ich mit diesen Geräten zu tun habe, komme ich mir immer wie ein kompletter Idiot vor. Aber sie haben auch ihr Gutes. Hören Sie zu, Junge, kennen Sie Melville Westman?«
»Ja.«
»Liegt irgendetwas gegen ihn vor? Also, ich meine keine Vorstrafen oder so, nur Gerüchte, Verdachtsmomente.«
Weaver schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht, Sir. Ich meine, wir wissen, dass er einer von diesen schwarzen Magiern ist, aber er ist nie wirklich aufgefallen. Ich glaube ja nicht an diesen Kram - Verfluchungen und Ähnliches.«
»Was ist mit dem Schaf?«
»Ja, gut, wir haben ihn verdächtigt - und verdächtigen ihn eigentlich immer noch -, wir konnten jedoch nichts beweisen. Warum, Sir?«
»Es ist vielleicht nichts, aber ich möchte, dass Sie ihn ganz diskret im Auge behalten, wenn Sie können. Und hören Sie mal hin, was so getratscht wird.«
»Geht es um das kleine Mädchen, Sir?«
»Ja. Aber erzählen Sie das um Gottes willen nicht überall herum.«
Weaver sah gekränkt aus. »Natürlich nicht, Sir.«
»Gut. Lassen Sie mich wissen, wenn Sie irgendetwas Außergewöhnliches sehen oder hören. Und achten Sie darauf, dass er nicht merkt, dass Sie ihn beobachten. Der Kerl ist ein ausgekochtes Arschloch.«
»Ja, Sir.«
Gristhorpe ging hinaus zu seinem Wagen. Westman hatte wahrscheinlich die Wahrheit gesagt, dachte er, aber in den vergangenen Jahren hatte es so viele Enthüllungen über die Verbindungen zwischen Kindesmissbrauch und satanischen Ritualen gegeben, dass er diese Möglichkeit überprüfen musste. So etwas kann hier nicht passieren, behauptete ein jeder. Doch - es konnte passieren. Sein Magen knurrte. Jetzt war es wirklich Zeit, nach Eastvale zurückzufahren.
Banks glaubte, dass man eine Menge über die Leute erfuhr, wenn man sich anschaute, wie sie wohnten. Unfehlbar war diese Methode natürlich nicht. Zum Beispiel konnte ein Mensch, der normalerweise auf Ordnung bedacht war, wenn er unter Druck geriet, die Dinge schleifen lassen. Aber im Großen und Ganzen war ihm seine so gewonnene Einschätzung immer hilfreich gewesen.
Als er in dem winzigen Wohnzimmer des Apartments 6 in der Calvin Street Nr. 59 stand und versuchte, sich ein Bild von Carl Johnson zu machen, entdeckte er nur sehr wenige Anhaltspunkte. Zuerst schnupperte er die Luft: muffig, staubig, mit einem Hauch von verdorbenem Gemüse. Etwas anderes konnte man von einer seit mehreren Tagen unbenutzten Wohnung auch nicht erwarten. Dann lauschte er. Er rechnete nicht damit, Gespenster und den Widerhall der Gedanken des Toten zu hören, aber auch Wohnungen besaßen ihre Stimmen, die manchmal von vergangenem Leid oder erinnertem Lachen flüsterten. Nichts. Sein erster Eindruck war, dass es sich hier um einen zeitweiligen Ort zum Ausruhen handelte, der lediglich zum Essen und Schlafen benutzt worden war. Die wenigen Möbel sahen gebraucht aus und stammten wahrscheinlich vom Flohmarkt oder aus dem Nachlasshandel. Der Teppich war so zerschlissen, dass man kaum noch das Muster erkennen konnte. An den cremefarben gestrichenen Wänden hingen weder Fotos noch Bilder, auch waren keinerlei Bücher zu sehen, nicht einmal ein zerfledderter Bestseller.
Die Küche war einfach ein durch einen Vorhang vom Zimmer abgetrennter Bereich, in dem sich eine Herdplatte, ein Toaster und ein wenig Lagerfläche befanden. In der Spüle bemerkte Banks einige schmutzige Töpfe und Teller. Die Regale boten nicht mehr als Teebeutel, löslichen Kaffee, Zucker, Margarine und ein paar Dosen Baked Beans. Es gab keinen Kühlschrank, neben der Spüle stand eine Flasche geronnene Milch, dazu ein Stück verschimmeltes Weißbrot und drei Dosen McEwan's Lagerbier.
Das Schlafzimmer, das mit der gleichen düsteren Cremefarbe gestrichen war, war mit einem Einzelbett eingerichtet, die Laken in Unordnung, das Kissen fleckig und mit Schweiß oder Haarcreme verschmiert. Schmutzwäsche lag zu einem unordentlichen Haufen auf dem Boden getürmt.
Die Kommode enthielt Socken und Unterwäsche und im Schrank fand sich kaum mehr als ein paar karierte Hemden, Sportschuhe, ein Paar Hush Puppies, Jeans und ein Blouson. Nichts deutete für Banks darauf hin, dass Johnson seine Wohnung oder sein Bett mit jemandem geteilt hatte.
Noch nie hatte Banks eine Wohnung gesehen, die so wenig über ihren Bewohner aussagte. Natürlich ergaben sich allein aus dieser Beobachtung eine Reihe von Erkenntnissen: Johnson hatte sich eindeutig nicht für ein hübsches, sauberes, ständiges Heim interessiert; auch hatte er sich nicht viel aus Besitz oder aus Kunst und Literatur gemacht. Aber das war die Negativliste. Wofür hatte er sich also interessiert? Dafür gab es keine Anzeichen. Er schien nicht einmal einen Fernseher oder ein Radio besessen zu haben. Was tat ein Mann, wenn er nach Hause in eine solche Umgebung kam? Woran hatte er gedacht, wenn er in dem quietschenden Ohrensessel mit den abgewetzten Armlehnen saß und seine Baked Beans auf Toast futterte? War er jeden Abend ausgegangen? In einen Pub? Mit einer Freundin?
Aus seiner Polizeiakte wusste Banks, dass Carl Johnson dreißig Jahre alt war und nach ein bisschen Ärger als junger Kerl wegen »Pakistani-Klatschens« und Fußballrowdytums drei Jahre seines Erwachsenenlebens für versuchten Betrugs im Gefängnis verbracht hatte. Das war kein sehr verdienstvolles Leben gewesen und es hatte der Nachwelt anscheinend nichts von Bedeutung hinterlassen.
Die Wohnung bedrückte Banks. Er stemmte ein Fenster auf und ließ etwas frische Luft herein. In einem Zimmer auf der anderen Straßenseite konnte er ein Baby schreien hören.
Als Nächstes musste er die Wohnung gründlicher durchsuchen. Er hatte bisher keine Briefe, keinen Ausweis, keine Rechnungen und nicht einmal eine Geburtsurkunde gefunden. In der heutigen Zeit konnte doch bestimmt niemand ganz unbehelligt von jeder Bürokratie leben, oder? Banks schaute unter den Sofakissen nach, unter der Matratze, über den Türrahmen und in den hintersten Ecken der Regale in Küche und Schlafzimmer. Nichts. Wie er während seiner Zeit beim Drogendezernat gelernt hatte, bot eine Wohnung nicht viele Verstecke und die meisten waren der Polizei wohl bekannt.
Carl Johnsons Wohnung machte da keine Ausnahme. Banks fand den dicken Umschlag an die Unterseite der Spülkastenabdeckung geklebt - ein ziemlich einfallsloser Platz - und nahm ihn mit ins Wohnzimmer. Er musste darauf achten, ihn nur vorsichtig an den Kanten zu berühren. Dann legte er ihn auf den Tisch am Fenster und schlitzte eine Ecke mit seinem Taschenmesser auf, um zu sehen, was sich darin befand. Zwanzig-Pfund-Scheine. Und zwar eine ganze Menge, so wie es den Anschein hatte. Mit Hilfe des Messers versuchte er, jeden Schein einzeln vorzuziehen und das Geld zu zählen. Aber es war zu mühsam und er kam durcheinander. Geduld. Er nahm eine Tüte für Beweismaterial aus seiner Tasche, ließ den Umschlag hineinfallen und schaute sich ein letztes Mal im Zimmer um.
Die gesamte Wohnung verströmte den Geruch primitiver Habgier, aber ein primitiver Krimineller wie Johnson endete für gewöhnlich nicht ausgenommen wie ein Fisch in einer stillgelegten Bleimine. Was war anders an Johnson gewesen? Worauf war er aus gewesen? Erpressung? Die Wohnung sagte Banks nichts mehr, also schloss er ab und ging.
Auf der anderen Seite des Flures sah er einen Kopf aus Apartment 4 herausspähen und ging hinüber. Der Kopf wich zurück und seine Besitzerin versuchte die Tür zu schließen. Banks stellte einen Fuß dazwischen.
»Ich habe nichts gesehen, ehrlich, Mister«, stammelte die Frau. Sie war ungefähr fünfundzwanzig, hatte glattes, rotes Haar und ein blässliches Gesicht mit Sommersprossen.
»Was sagen Sie?«
»Ich habe Sie nicht gesehen. Sie waren nicht hier. Ich habe nichts. Bitte ...«
Banks zog seinen Dienstausweis hervor. Die Frau legte eine Hand auf ihr Herz. »Gott sei Dank«, sagte sie aufatmend. »Heutzutage kann man nie wissen. Man liest ja so allerhand in der Zeitung.«
»Das ist wahr«, stimmte Banks zu. »Warum haben Sie herausgeschaut?«
»Ich habe Sie da drinnen gehört, deshalb. Für eine Weile war es ruhig in der Wohnung.«
»Wie lange?«
»Ich bin mir nicht sicher. Aber bestimmt seit zwei oder drei Tagen.«
»Kennen Sie Carl Johnson?« Johnsons Identität war von der Presse bisher noch nicht enthüllt worden, also konnte die Frau nicht wissen, dass er tot war.
»Nein, kennen würde ich nicht sagen. Wenn wir uns zufällig auf der Treppe getroffen haben, haben wir uns ab und zu mal unterhalten. Er schien ein recht angenehmer Kerl zu sein, immer lächelnd und freundlich. Was ist eigentlich los? Ist er bei Nacht und Nebel umgezogen?«
»So in der Art.«
»Für mich sah er nicht wie ein Verbrecher aus.« Sie legte die Arme um sich und schauderte. »Aber sicher kann man da ja nie sein, oder?«
»Worüber haben Sie so gesprochen, wenn Sie sich auf der Treppe begegneten?«
»Ach, über dies und das. Wie teuer alles wird, über das Wetter ... worüber man halt so redet.«
»Haben Sie mal Freunde von ihm kennen gelernt?«
»Nein. Ich glaube, er hatte auch keine. Er war eher ein Einzelgänger. Ein paar Mal habe ich Stimmen drüben gehört, aber mehr auch nicht.«
»Wann? Vor kurzem?«
»In den letzten Wochen.«
»Wie viele Leute haben Ihrer Meinung nach gesprochen?«
»Nur zwei, würde ich sagen.«
»Könnten Sie die andere Stimme beschreiben?«
»Tut mir Leid, aber ich habe ja nicht gelauscht. Ich meine, die Geräusche sind ja sowieso nur abgeschwächt hörbar, man kann eigentlich nicht verstehen, was jemand sagt. Außerdem hatte ich den Fernseher an. Ich konnte sie nur bei den leisen Stellen hören.«
»War es ein Mann?«
»Ja, es war ein anderer Mann, da bin ich mir sicher. Auf jeden Fall hatte er eine ziemlich tiefe Stimme.«
»Danke, Mrs ...?«
»Gerrard, Miss.«
»Danke, Miss Gerrard. Wissen Sie, ob Mr Johnson einen Wagen besaß?«
»Ich glaube nicht. Jedenfalls habe ich ihn nie in einem gesehen.«
»Haben Sie eine Ahnung, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente?«
Sie schaute weg. »Nun, er ...«
»Hören Sie, Miss Gerrard, mir ist es egal, ob er das Sozialamt oder die Steuer betrogen hat. Darum geht es mir nicht.«
Sie kaute ein paar Sekunden auf ihrer Unterlippe und lächelte dann. »Tja, wer macht das nicht, oder? Ich nehme an, selbst Polizisten schummeln ein bisschen bei der Einkommensteuer, oder?«
Banks lächelte zurück und legte seinen Zeigefinger vor die Lippen.
»Und ein Detektiv in einer so hohen Stellung wie Sie würde sich für so etwas Belangloses nicht interessieren, oder?«
Banks schüttelte den Kopf.
»Na gut«, gab sie nach. »Ich weiß es auch nur, weil er einmal das Wetter erwähnt hat. Es wäre so schön für eine Arbeit im Freien, meinte er.«
»Eine Arbeit im Freien?«
»Ja.«
»Welche? Auf dem Bau, Straßenbauarbeiten?«
»Nein, er hat keine Gräben gebuddelt. Er war Gärtner, Mr Johnson hatte wirklich ein Händchen für Pflanzen.«
Erstaunlich, welche Ausbildungen man heutzutage im Gefängnis absolvieren konnte, dachte Banks. »Wo hat er gearbeitet?«
»Wie gesagt, ich weiß es nur, weil wir mal darüber gesprochen haben, wie stinkreich manche Leute sind und wie der Rest von uns mehr schlecht als recht versucht, sich durchzuschlagen. Also, er war kein Kommunist, aber ...«
»Miss Gerrard, wissen Sie, wo er gearbeitet hat?«
»Aber ja. Ich finde manchmal kein Ende, oder? Er hat bei Mr Harkness gearbeitet, der in diesem schönen, alten Haus außerhalb von Fortford lebt. Hat ganz gut gezahlt, erzählte Mr Johnson. Aber der kann es sich ja auch leisten, oder?«
Der Name sagte ihm etwas. Vor einem oder zwei Jahren war im regionalen Käseblatt ein Artikel über ihn erschienen. Adam Harkness, so erinnerte sich Banks, stammte aus einer hiesigen Familie, die nach Südafrika ausgewandert war und ein Vermögen mit Diamanten gemacht hatte. Harkness war in die Fußstapfen seines Vaters getreten, hatte eine Weile in Amsterdam gelebt und war nach Swainsdale zurückgekehrt, um sich mehr oder weniger zur Ruhe zu setzen.
»Ich danke Ihnen«, sagte Banks. »Sie haben mir sehr geholfen.«
»Wirklich?« Sie zuckte mit den Achseln. »Das freut mich.«
Banks ging hinaus auf die Straße und ließ sich durch den Kopf gehen, was er von Miss Gerrard erfahren hatte. Johnson hatte für Adam Harkness gearbeitet und wurde wahrscheinlich ohne lästige Fragen bar auf die Hand bezahlt. Das könnte die tausend oder mehr Pfund in dem Umschlag erklären. Andererseits bezweifelte er, dass man als Gärtner so viel verdienen konnte. Und warum hatte er das Geld versteckt? Um es vor Dieben zu schützen? Da vor ihm selbst nichts sicher war, war sich Johnson wahrscheinlich der Gefahr, große Summen Geldes herumliegen zu lassen, nur allzu bewusst. Vielleicht hatte er kein Bankkonto und war einer von denen, die ihre Barschaft in einer Matratze oder, wie in diesem Fall, in der Klospülung versteckten. Aber sehr überzeugend klang das immer noch nicht. Banks schaute auf seine Uhr. Fast vier Uhr nachmittags. Noch Zeit genug, um Adam Harkness vor dem Abendessen einen Besuch abzustatten.
Detective Sergeant Philip Richmonds Augen begannen zu schmerzen. Er speicherte seine Datei ab, stand dann auf, streckte sich und rieb sein Kreuz. Vier Stunden hatte er jetzt am Computer gesessen, viel zu lange, um auf einen Bildschirm zu starren. Wahrscheinlich bekam man Augapfelkrebs von der ganzen Strahlung. So hilfreich diese Computer auch waren, grübelte er, man musste aufpassen, dass man die Arbeit daran nicht übertrieb. Andererseits stiegen heutzutage mit jedem Kurs, an dem er teilnahm, und mit jedem Wissen, das er sich über Computer aneignete, seine Beförderungschancen.
Er stellte sich ans Fenster. Glücklicherweise ging das neue Computerzimmer wie Banks' Büro zum Marktplatz hinaus. Da es sich bei dem Raum jedoch nur um eine umgebaute Kammer für Putzmaterial handelte, war das Fenster winzig. Auf jeden Fall hatte ihm der Arzt geraten, gelegentlich vom Bildschirm weg in die Ferne zu schauen, um seinen Augenmuskeln eine Abwechslung zu verschaffen.
Zahlreiche Touristen gingen bereits zurück zu ihren Wagen, verstopften nun bestimmt viele von Eastvales Seitenstraßen und handelten sich dabei wohl eine ordentliche Anzahl von Strafzetteln ein. Einige Marktstände wurden auch schon abgebaut.
Er wollte bald Feierabend machen und sich dann für seine Verabredung mit Rachel Pierce herrichten. Letztes Jahr an Weihnachten, als er ein Alibi in einem Mordfall überprüfen musste, hatte er sie in dem Spielzeugladen in Barnard Castle kennen gelernt, in dem sie beschäftigt war. Seitdem waren sie fest zusammen. Noch sprachen sie nicht von Hochzeit, aber wenn die Beziehung weiterhin so gut verlaufen sollte, dann würde Richmond ernsthaft in Erwägung ziehen, ihr einen Antrag zu machen. Noch nie zuvor war er einem so warmherzigen und humorvollen Menschen wie Rachel begegnet. Sie teilten sogar dieselbe Vorliebe für Science-Fiction. Beide schätzten sie Philip K. Dick und Roger Zelazny. Heute Abend wollten sie sich den neuen Horrorfilm im Crown ansehen. Zumindest für Eastvale war der Film neu, denn ein Film kam hier immer erst ein paar Monate später ins Kino als überall sonst im Land. Rachel liebte Gruselfilme und Richmond liebte die Art, wie sie sich dabei an ihn klammerte. Er schaute auf seine Uhr. Falls kein Notfall eintrat, konnte er in ein paar Stunden bei ihr sein.
Das Telefon klingelte.
Richmond fluchte und nahm ab. Die Telefonistin teilte ihm mit, dass jemand Superintendent Gristhorpe zu sprechen wünsche, der nicht im Hause war, und sie den Anruf deshalb an Richmond durchstellen müsse.
»Hallo?«, ertönte eine Frauenstimme in der Leitung.
Richmond stellte sich vor. »Was kann ich für Sie tun?«
»Nun«, sagte sie zögernd, »ich wollte eigentlich den verantwortlichen Beamten sprechen. Ich habe die Sondernummer gewählt, die in der Zeitung angegeben war. Aber dort hat mir der Constable gesagt, ich sollte diese Nummer anrufen, wenn ich mit Superintendent Gristhorpe sprechen will.«
Richmond erklärte die Situation. »Ich bin sicher, dass auch ich Ihnen helfen kann«, fügte er hinzu. »Worum geht es denn?«
»Na gut«, sagte sie. »Der Grund, warum ich Sie so spät anrufe, ist, dass ich es gerade erst von der Putzfrau gehört habe. Sie kommt einmal die Woche, müssen Sie wissen, jeden Samstagvormittag.«
»Was haben Sie gehört?«
»Sie sind verschwunden. Mit allem Drum und Dran. Beide. Oh, verstehen Sie mich nicht falsch, sie haben alle Rechnungen bezahlt und ich würde sagen, sie sehen nicht unbedingt haargenau so aus wie das Paar, das die Zeitungen beschrieben haben. Aber es ist doch komisch, oder? Die Leute verschwinden normalerweise nicht einfach so ohne ihre Kaution, noch dazu, wenn sie die Miete im Voraus bar bezahlt haben.«
Richmond nahm den Hörer für einen Moment vom Ohr und runzelte die Stirn. Warum ergab das alles keinen Sinn für ihn? Wurde er wahnsinnig? Hatte sich die Computerstrahlung schon bis in seine Hirngewinde gefressen?
»Von wo rufen Sie an?«, fragte er.
Sie klang überrascht. »Aus Eastvale natürlich. Aus meinem Büro. Ich arbeite immer lange.«
»Wie ist Ihr Name?«
»Patricia. Patricia Cummings. Aber ...«
»Eins nach dem anderen. Sie sagten eben, Sie rufen aus Ihrem Büro an. Was ist das für ein Büro?«
»Ich bin Maklerin. Randall and Palmer's, gleich über den Platz, gegenüber vom Polizeirevier. Jetzt...«
»In Ordnung«, erwiderte Richmond. »Ich kenne das Haus. Weshalb rufen Sie an?«
»Ich dachte, ich hätte mich klar und deutlich ausgedrückt, aber anscheinend muss man es Ihnen buchstabieren.«
Richmond grinste. »Ja, bitte. Buchstabieren Sie es.«
»Es geht um das Mädchen, das verschwunden ist, Gemma Scupham. Deshalb wollte ich mit dem verantwortlichen Beamten sprechen. Ich glaube, ich könnte etwas über das Paar wissen, das Sie suchen - die beiden, die es getan haben.«
»Ich bin sofort bei Ihnen«, antwortete Richmond und legte auf. An der Anmeldung ließ er eine Nachricht für Gristhorpe zurück, dann stürzte er hinaus auf den Marktplatz.