KAPITEL 3
Das Miauen der Katze
Es vergingen zwei Wochen, bis Sadie Gelegenheit hatte, Birdie zu besuchen. Termine an der Burnie Highschool mussten wahrgenommen werden, die Betty besuchen würde, weil es in Pencubitt selbst keine Highschool gab, sowie Einkäufe fürs Haus getätigt werden. Außerdem hatte Sadie einen Abgabetermin für die Zeitschrift Women’s World. Sobald sie ihren Artikel über Frauen mittleren Alters per E-Mail weggeschickt hatte, war endlich genug Zeit, um Birdies Einladung zu folgen.
»Kommen Sie rein, meine Liebe. Oh! Heute Abend ist es kalt draußen! Nein, Liebes, es ist nicht zu spät. Ich habe zu Abend gegessen und wollte mir gerade einen Tee kochen.« Birdie zog ihren Umhang fester um die Schultern und führte Sadie ins Haus. »Wie schön, Sie hier bei mir daheim begrüßen zu dürfen. Lassen Sie sich von Dash nicht stören. Dash! Sei still! Benimm dich. Sadie ist unser Gast!« Der kleine Malteser-Terrier sprang aufgeregt kläffend um Sadie herum. »Dash!«, rief Birdie, woraufhin der Hund schließlich verstummte und sich hechelnd auf den Boden fallen ließ. Birdie wandte sich an Sadie. »Kommen Sie mit in den Wintergarten, Liebes. Möchten Sie eine Tasse Tee?«
»Sehr gerne. Aber Sie müssen mich nicht bedienen, Birdie. Lassen Sie mich das machen.«
»Unsinn! Ich bin vielleicht alt, aber nicht krank. Sie warten hier mit Dash, und ich setze das Wasser auf.« Sie verschwand im Flur und ließ Dash zurück, der Sadie misstrauisch anfunkelte und knurrte.
Sie versuchte, ihn zu ignorieren, und zog ihr Handy heraus, um Betty eine SMS zu schicken. Ihr war nie wohl dabei, ihre Tochter abends allein zu lassen, doch Betty hatte darauf bestanden, dass es kein Problem sei. Sie würde sich mit ihrem Buch ins Bett legen. Während Sadie auf eine Antwortnachricht wartete, musterte sie die Buchrücken in den Regalen. Abgesehen von Dickens und den Brontë-Schwestern gab es Bücher über Fotografie, Kunst, Mondrian und tasmanische Geschichte. In der Ecke stand die Plastik eines ziemlich hässlichen Vogels, der einen roten Samthut trug, und das Fensterbrett zierte eine Sammlung Muscheln sowie rot und silber bemalte Seesterne. An der Wand hingen gerahmte Porträts von Dash, schwarzweiße Schnappschüsse von Menschen, bei denen es sich wohl um Verwandte und Freunde von Birdie handelte, sowie eine Ansammlung Schwarzweißfotografien von Pencubitt. Ein großes, gerahmtes Foto zeigte eine jüngere, lächelnde Birdie in ihrem Garten neben einem freundlich aussehenden, attraktiven weißhaarigen Mann, der ein violettes Samtjackett und einen Schal mit Schottenkaro trug. Maxwell. Sadie unterdrückte den Impuls, das Bild ihres Großvaters in die Hand zu nehmen, um ihn genauer zu betrachten. Seit so langer Zeit war er in ihrem Leben unerwähnt und doch stumm präsent gewesen. Hier, im Haus seiner Geliebten, wurde er plötzlich real.
»Da wären wir! Oh, was ist denn das für ein Krach?«
Eilig las Sadie die Nachricht von ihrer Tochter – Prima. Bis später. Kuss –, ehe sie Birdie das Tablett abnahm. Dicke Scheiben selbstgemachtes Früchtebrot schmiegten sich an eine Teekanne. Birdie bestand darauf, Sadie einzuschenken.
»War das von Ihrer Tochter?« Sie zeigte auf das Handy, sprach aber weiter, ohne eine Antwort abzuwarten. »Lionel vom Krankenhaus hat versucht, mich zu so einem zu überreden. Aber daran habe ich kein Interesse. Er sagt, wenn ich in Schwierigkeiten bin, könnte ich sie zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen. Stellen Sie sich vor, Leute, die Tag und Nacht angerufen werden wollen! All diese Mikrowellen, die da die ganze Zeit ins Ohr strömen, müssen sich doch aufs Gehirn auswirken. Sie ist wirklich ein hübsches Mädchen – Ihre Tochter, meine ich. Kommt äußerlich nach Ihrer Großmutter. Aber Sie auch, mit diesen schönen dunklen Haaren. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie wunderschön Pearl war«, sagte sie traurig. »Wie ein Filmstar. Sie hatte ein Gesicht wie aus einer Schokoladenwerbung. Es war ihr Segen und ihr Fluch zugleich.«
»Wie meinen Sie das?« Sadie wünschte sich, sie hätte daran gedacht, ihr Aufnahmegerät einzuschalten. Jetzt war es zu spät. Sie konnte nicht riskieren, Birdies Gedankengang zu unterbrechen, der ohnehin schon sprunghaft genug war.
»Es machte sie träge. Weniger dazu geneigt, andere Seiten an sich weiterzuentwickeln. Sie war ziemlich verwöhnt von all der Aufmerksamkeit. Von der Venus gesegnet, aber die Götter verlangten einen Preis für ihre Gabe. Ich war oft froh, dass ich immer nur durchschnittlich aussah.« Sie nippte an ihrem Tee, doch ihr Blick ruhte weiterhin auf Sadies Gesicht.
»Also, ich würde Sie jetzt nicht als Durchschnitt bezeichnen«, widersprach Sadie, die das Gefühl hatte, es würde eine Antwort von ihr erwartet. »Sie sahen aus wie die junge Vivien Leigh.«
»Wie lustig, Ihre Großmutter sagte genau dasselbe«, meinte Birdie. »Ich selbst konnte es nicht sehen. Ich hatte kein Selbstbewusstsein. Wir wurden damals nicht dazu erzogen, uns etwas auf uns selbst einzubilden. Wenn ich mir jetzt die Fotos anschaue, kann ich sehen, dass ich ein wenig hübsch war, doch damals war mir das nicht bewusst. Nicht wie Pearl! Nein, sie hielt sich wirklich für die Größte! Spüren Sie sie im Haus?«, wollte sie plötzlich wissen.
Sadie wusste nicht, was sie antworten sollte. »Nicht im Sinne von rasselnden Ketten und einem Gespenst, das nachts durch die Flure wandert«, erwiderte sie schließlich zögernd. »Aber ich habe das Gefühl, dass das Poet’s Cottage ihr Haus ist. Als wären wir die Gäste, und die Seele des Ortes gehört Pearl.«
»Ja. Sie hat nie gerne etwas losgelassen, die Arme«, sagte Birdie. »Essen Sie noch Früchtebrot! Es ist aus der Bäckerei am Ort – Mrs Pennyquick bäckt es. Sie hat vor sieben Jahren ihre Zwillinge verloren, die Arme. Wurden beide überfahren, ein Unfall mit Fahrerflucht. Ich würde sagen, jemand vom Festland. Die fahren hier immer wie die Verrückten. Das hat sie nie verwunden. Ihr Mann ist ein Jahr später mit der Tochter des Postlers durchgebrannt. Es muss der Schock gewesen sein. Ein junges Ding, gerade mal zwanzig und ein Gesicht wie ein Schaf. Also die war wirklich keine Schönheit, aber Mr Pennyquick muss irgendwas in ihr gesehen haben. Mrs Pennyquick blieb hier, backte Kuchen und führt inzwischen das Geschäft besser, als er es je getan hat, der Depp. Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass er in Hobart lebt und zwei weitere Kinder hat. Männer sind seltsame Tiere, nicht wahr? Ich bin stets dankbar, dass ich Maxwell hatte. Er war so anders als der übliche schwächliche Typ Mann, dem man für gewöhnlich so begegnet. Viele Männer scheinen sich nur für Weiber, Pferderennen und Alkohol zu interessieren. Haben Sie das Brot von dort schon mal probiert? Die Leute kommen am Wochenende sogar aus Launceton, um Mrs Pennyquicks Kuchen und Brote zu kaufen. Vielleicht verleiht all die Trauer und der Verlust, den sie erlitten hat, den Sachen einen besonderen Geschmack, ihrem Backen eine intensivere Energie? Traurigkeit und Sorgen, gesprenkelt mit Sesam und Körnern … Die Menschen versuchen heutzutage so sehr, glücklich zu sein, nicht wahr? Arme Trottel mit ihren Selbsthilfebüchern und Fernsehshows. Als ich jung war, haben die Leute das Leben viel mehr akzeptiert. Man hat einfach weitergemacht. Ich bin sicher, es ist das Fernsehen, das diese unerreichbaren Erwartungen schafft.«
»Welche Dinge hat Pearl nicht gerne loslassen wollen?«, fragte Sadie im Versuch, die Unterhaltung wieder zurück aufs Thema zu lenken.
Birdie warf ihr einen schelmischen Blick zu. »Nun, vor allem Maxwell. Er sagte Pearl schon Monate vor ihrem Tod, dass er sie verlassen wollte. Sie hat es sehr schlecht aufgenommen. Für sie war es schwierig, zu begreifen, dass er wirklich absolut genug von all ihren Faxen hatte und sie nicht mehr liebte. Pearl glaubte, es sei ihr gottgegebenes Recht, dass die Leute sich vor ihrem Altar verneigten – sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie es mit jemandem zu weit treiben konnte. Seltsam, wie die Menschen mitunter so clever auf manchen Gebieten und so dumm auf anderen sein können. Ich schätze mal, wir sind eben komplexe Wesen.«
»Maxwell wollte sie verlassen, weil er sich in Sie verliebt hatte«, wagte Sadie einzuwerfen. »Das muss für meine Großmutter ziemlich hart gewesen sein.«
»Es hat ihr nicht gefallen, nein. Aber Pearl hatte ihre eigenen Liebeleien. Ich kann Ihnen ehrlich sagen, dass sie sich, als Maxwell gehen wollte, keine grauen Haare hat wachsen lassen.«
»Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, wer meine Großmutter umgebracht hat?«, fragte Sadie.
Birdie klopfte sich an die Schläfe. »Da oben war sie schwach«, sagte sie. »Heute würde man das vermutlich als bipolare Störung oder als Zwangsneurose bezeichnen und medikamentös behandeln. Damals wusste man wenig über psychische Krankheiten und hatte auch nicht viel Mitgefühl. Wir wussten, dass viele der Männer, die aus dem Krieg zurückkamen, nicht ganz richtig im Kopf waren, aber das nahmen alle eben so hin – da gab es keine Therapie und keine Medikamente. Diese Männer haben ihre Launen möglicherweise an ihren Frauen und Familien ausgelassen, aber auch das akzeptierte man. Ihre Generation ist viel empfindlicher. Zu meiner Zeit tolerierten die Leute exzentrisches Verhalten einfach – wie Madge Bunnings Sohn. Er war immer ein sehr seltsamer Junge. Hatte so einen gewissen unsteten Blick, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wenn man versuchte, mit ihm zu reden, kicherte er nur, grunzte wie ein Schwein oder tat so, als sei er ein deutscher Soldat, oder irgendein Unfug dieser Art. Eines Tages zog er alle seine Kleider aus, marschierte mit einem Gewehr die High Street hinunter und brüllte, die Würmer würden seine Innereien fressen und seine Augäpfel würden brennen. Hat alle Passanten verschreckt. Bald darauf hat man ihn nach New Norfolk geschickt. Madge hatte noch acht weitere Kinder und wohnte in einem winzigen Cottage in der Earl Street, bevor es abgebrannt ist. Zweifellos war es für sie ein Segen, als man Errol weggeschickt hat. O meine Liebe, ich bin schon wieder abgeschweift.«
»Was hat Pearl gemacht, dass Sie glauben, sie sei psychisch krank gewesen?«
»Was sie gemacht hat? Viel zu viel, um darauf in dieser kurzen Unterhaltung einzugehen!« Birdie stand mühsam auf, lehnte aber Sadies Hilfsangebot ab. »Nein, es geht schon, Liebes.« Sie ging zur Anrichte hinüber, wo sie eine Schublade öffnete und ein moosgrünes Fotoalbum herausnahm. Dann setzte sie sich neben Sadie aufs Sofa und legte das Album auf ihre Knie.
»Also«, meinte sie, während sie die Seiten durchblätterte, »wo sind wir? Ah – da!«
Sadies Herz setzte einen Schlag aus, als sie die Bilder ihrer Großmutter sah. Da war sie im Badeanzug mit einem kurzen Rock darüber, einen riesigen Sonnenhut auf ihrem glatten Haar, und warf sich auf dem unverkennbaren Shelley Beach fürs Foto in Pose. Neben ihr saß ein gutaussehender junger Maxwell und lächelte hinauf in die Kamera. Lächelte er Birdie an, die das Foto aufgenommen hatte? Thomasina und Marguerite mit ihren Zöpfen und Schwimmreifen waren von Eimern, Schaufeln und Puppen umgeben. Es sah aus wie das Bild einer glücklichen Familie.
»Fotos lügen«, sagte Birdie, als hätte sie Sadies Gedanken gelesen. »Ich erinnere mich noch so genau an diesen Tag. Pearl hatte eine ihrer Launen, weil sie zu Hause sein und schreiben wollte – oder, was wahrscheinlicher war, darauf versessen war, Teddy oder irgendeinen anderen Mann zu treffen –, und Maxwell hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht, indem er auf einem Familientag am Strand bestand.«
Sadie hörte eine seltsame Stimme in ihrem Kopf: Ein Familientag mit dir, Birdie. Der Frau, die schließlich mit Maxwell zusammenkam. Es war fast, als sei der Gedanke nicht Sadies eigener gewesen. Sie sagte: »Teddy? Meinen Sie Edward Stephens?«
»Ja, Edward, aber wir haben ihn alle Teddy genannt. Der Fischer, dem das Denkmal im Dorf gewidmet ist. Wie die meisten Männer und Frauen in Pencubitt über dreißig war auch er völlig vernarrt in Pearl. Und sie erwiderte seine Leidenschaft.« Birdie beugte sich mit blitzenden Augen vor. »Sie hatte eine Affäre mit ihm, von der Maxwell wusste. Es hat ihn fast kaputtgemacht, den armen Kerl.«
Und darum hat er sich an dich gewandt, Birdie. Pearls tolle Freundin, die nur zu gerne bereit war, deren Mann zu trösten. Sadie versuchte, die Stimme in ihrem Kopf zu ignorieren und blätterte im Fotoalbum herum. Es fiel ihr schwer, nicht auf die wenigen Aufnahmen, die Marguerite als Kind zeigten, zu reagieren. Sie hatte einen Kloß im Hals, und die Tränen in ihren Augen verschleierten ihr einen Moment lang die Sicht. Als sie aufblickte, merkte sie, dass Birdie sie mitfühlend ansah.
»Nehmen Sie das Album zum Anschauen mit nach Hause. Es gibt nur ein paar Bilder von den Mädchen. Damals hat niemand viel fotografiert. Die meisten Leute konnten sich keine Kamera leisten, aber irgendwie ist es Pearl immer gelungen, an Luxusgüter zu kommen. Bitte passen Sie gut darauf auf«, bat Birdie. »Ich habe auch noch etwas anderes für Sie.« Sie stand wieder auf, schloss den unteren Schrankteil der Anrichte auf und holte einen Karton hervor. »Das hier könnte Ihnen bei Ihrer Recherche helfen. Es ist das Manuskript von Netzespinnerin.«
»Aber ich habe Die Netzespinnerin doch schon ge–«, setzte Sadie an.
»Das hier ist das Original. Sie werden eine Menge Änderungen finden.« Birdie streichelte mit ihrer runzligen Hand, die von Altersflecken übersät war, über den Kartondeckel. »Der Verlag hat darauf bestanden – sie waren mit der Originalversion der Ereignisse nicht zufrieden. Es ist eine Rohfassung, also seien Sie gewarnt. Einige Schimpfwörter. Völlig unüberarbeitet.« Ein weiterer spitzbübisch listiger Blick, und dann ging der Karton in Sadies Hände über. Es war, als seufze die Luft.
Sadie drückte auf dem Heimweg das Manuskript fest an die Brust und bewunderte den Mond, der sein Licht über das gesamte Städtchen ergoss. Er war noch nicht ganz voll, aber sein Leuchten machte die altmodischen Gaslampen entlang der Straße unnötig. Die Luft prickelte vor Kälte und Sadie atmete ganz tief ein, denn sie genoss es, wie ihr Zwerchfell sich mit der reinen Luft ausdehnte. Sie blieb stehen, um die High Street zu bewundern. Nächtlicher Nebel verhüllte die lange Reihe der historischen Häuser, die sich die kurvige Straße hinunter bis zum schwarzen Meer zogen. Mit den altmodischen Straßenlaternen und den Ladenfronten wirkte die Szenerie wie aus einem englischen Dorf. Von einem großen, schönen georgianischen Haus miaute ihr eine Katze freundlich zu.
»Hallo, Mieze«, begrüßte Sadie sie. »Sei nur schön vorsichtig auf der Straße!«
»Sie sind aber spät noch unterwegs.«
Eine verrückte Sekunde lang dachte Sadie, die Katze hätte gesprochen, dann drehte sie sich um und sah eine Frau hinter sich stehen. Es war die elegante Blonde, die sie an ihrem ersten Morgen im Poet’s Cottage vom Fenster aus erspäht hatte. Wie schon damals war die Frau auch an diesem Abend perfekt zurechtgemacht: Sie hatte ein violettes Tuch um den Hals geschlungen und ihr Make-up war makellos. Das einzige Unpassende war der Karton Milch in ihrer Hand. Sadie war sich ihres abgesplitterten Nagellacks und der abgetragenen, flachen schwarzen Schuhe plötzlich sehr bewusst.
»Hallo, ich bin Maria. Maria Collins. Ich wohne in der Lodge.« Maria zeigte auf das eindrucksvolle georgianische Gebäude. »Großartiger Name, nicht wahr? Sie ist trotzdem eine großartige, alte, schäbige Dame. Willkommen in Pencubitt. Oder eher, willkommen zurück! Sie sind eine Tatlow, und die Tatlows kehren immer wieder zurück!«
»Das habe ich jetzt schon ein paar Mal gehört.« Sadie schüttelte Marias ausgestreckte Hand. »Vielen Dank für den Korb, den Sie uns vor die Tür gestellt haben. Ich hatte vor, Sie anzurufen. Sind Sie aus Pencubitt?«
»Nein. Wir sind sozusagen frisches Blut. Wir sind jetzt seit ungefähr elf Jahren hier, und ich vermute mal, man wird uns immer noch als frisches Blut betrachten, wenn wir dreißig Jahre hier wohnen. Ich komme vom Festland und mein Mann, Allister, ist Engländer. Wir wohnen hier in der Lodge und uns gehört das Piratennest Bed & Breakfast unten am Wasser.«
»Das habe ich gesehen. Es ist bezaubernd!«, stellte Sadie begeistert fest. »Ist es schwierig, sich in einer Stadt dieser Größe mit Pensionsgästen den Lebensunterhalt zu verdienen? Falls das keine unhöfliche Frage ist!«
»Nein, fragen Sie nur! Es geht einigermaßen. Wir werden den Kindern keine Schulden hinterlassen, aber zu Millionären werden wir sie auch nicht machen. Es war verdammt viel einfacher, bis Gracie angefangen hat, die Stadt aufzukaufen.«
»Gracie?«
»Sie haben noch nicht von Gracie gehört? Sie müssen wirklich mehr unter die Leute! Ich bin überrascht, dass eine von den alten Gänsen hier Sie noch nicht eingeweiht hat. Gracie Johnson Mason – die Königin von Pencubitt, wie ich sie nenne. Sie stammt ursprünglich aus Kanada und hat in den letzten acht Jahren so viele alte Häuser in Pencubitt aufgekauft, wie sie nur konnte, einschließlich das Blackness House. Ich glaube, sie besitzt jetzt ungefähr sieben. Darunter auch ein paar hier in der Straße: Sie hat es speziell auf historische Gebäude abgesehen. Allerdings machen sie es ihr hier natürlich auch leicht.« Maria blickte sich um und senkte dann die Stimme, obwohl nirgends jemand zu sehen war. »Die Einheimischen mögen die alten Häuser nicht. Zu feucht und kalt, sagen sie, man muss zu viel Arbeit reinstecken. Sie wohnen lieber weiter draußen in modernen Backsteingebäuden.« Sie zog eine Grimasse, die ihre Einstellung dazu deutlich zum Ausdruck brachte.
»Und was hat die Königin von Pencubitt mit all diesen Häusern vor? Pensionen?«
»Mit B&Bs käme ich besser klar als mit der Realität. Nein, sie ist eine Exzentrikerin, die sie kauft, ein Vermögen in die Renovierung investiert und die Häuser dann leer stehen lässt. Sie lagert darin die Möbel, die sie auf ihren Reisen um die Welt gesammelt hat. Sie erzählt allen, sie würde sie für ihre Kinder herrichten, aber keines von denen hat je mehr als zehn Minuten in Pencubitt verbracht. Sie sind zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt, um sich für dieses Provinznest zu interessieren. Die arme Gracie. Ich glaube, sie sah es als eine Möglichkeit, ihre Familie zusammenzuhalten, nachdem sie ihren Sohn verloren hatte.«
Flüsternd fuhr Maria fort: »Sie ist ziemlich verrückt, müssen Sie wissen. Reich und verrückt. Sie macht mich wahnsinnig! Ich hatte da ein Haus im Auge, aber sie hat es sich sofort gekrallt, als Ruby gestorben ist. Alte Häuser verdienen es, dass man ihre Seelen wiederherstellt und in ihnen wohnt. Nicht renoviert zu werden, damit sich Spinnen und Staub darin ungestört versammeln können. Gott behüte sie, sie ist eine der nettesten, liebenswürdigsten Damen, der Sie je begegnen werden – aber völlig verrückt. Es überrascht mich, dass sie noch nicht bei Ihnen geklopft und versucht hat, das Poet’s Cottage zu kaufen. Ich persönlich würde das Poet’s wegen seiner Gespenster und seiner Geschichte lieben. Nichts zieht Gäste mehr an als ein schöner Geist im Zimmer. Sollten Sie je verkaufen wollen, kommen Sie zuerst zu mir! Es war ein ganz schöner Schlag, als wir erfuhren, dass Sie vorhatten, das Haus zu übernehmen – also nichts für ungut. Haben Sie sie schon gesehen?«
Sadie, die immer noch versuchte, die Vorstellung zu verdauen, dass Leute vom Festland hier Häuser aufkauften, als handle es sich um ein Monopoly-Spiel, schüttelte den Kopf. »Meine Großmutter? Nein, ich weiß nicht, ob ich an Geister glaube, obwohl das Haus etwas von ihrem Wesen behalten zu haben scheint. Ich wünschte, ich hätte sie gekannt.« Eine Welle des Bedauerns wegen der Großmutter, die sie nur durch die Geschichten ihrer Mutter kannte, überrollte Sadie, gefolgt von überwältigender Sehnsucht nach ihrer Mutter. Wie sehr Marguerite dieses ganze Lokalkolorit und den Tratsch genossen hätte! Der einzige Geist, den Sadie sehen wollte, war der von Marguerite, doch sie konnte ihre Mutter hier irgendwie überhaupt nicht spüren.
»Familie, was?«, meinte Maria. »Man kann nicht mit, aber auch nicht ohne. Ihre Großmutter ist hier eine echte Berühmtheit. Sie war wunderschön, nicht wahr? Wobei die Frauen damals immer so elegant aussahen.« Maria musterte ihre Gesprächspartnerin, und ihre wachen meergrünen Augen erinnerten Sadie an den stets gegenwärtigen Ozean.
Die freundliche Katze tauchte wieder auf, rieb sich an ihren Beinen und schnurrte. Maria hob sie hoch und kraulte sie unterm Kinn. »Sie sehen ihr ein bisschen ähnlich. Es muss wunderbar sein, mit einer solch schillernden, glamourösen Frau verwandt zu sein. In meinem Stammbaum gibt es einen Sträfling, aber das ist auch so ziemlich das Interessanteste. Man hat ihn hierher deportiert, weil er Brot geklaut hat, der arme Kerl.
Wir haben übrigens noch ein paar andere Schriftsteller und Künstler in Pencubitt. Da ist zum Beispiel Jeremy, der Gedichte schreibt und hübsche Bilder von düsteren, abstrakten Meerlandschaften malt. Nicht ganz mein Geschmack, aber die Leute vom Festland stehen drauf. Momentan sind tasmanische Künstler durchaus gefragt. Angeblich sind wir in! Mary Donaldson und so. Dann gibt es noch Birdie. Sie ist eine seltsame Frau, nicht wahr? Erstaunlich für ihr Alter. Sie ist immer noch ganz da.« Maria tippte sich an die Stirn. »Ich habe die Biographie gelesen. Wirklich eine ziemliche Spinnerin, Ihre Großmutter, wenn Sie es mir nicht übelnehmen, aber eine echte Persönlichkeit. Ich hätte sie zu gerne kennengelernt! Sie ist so etwas wie die Norman Lindsay von Tasmanien – können Sie sich vorstellen, wie sie es am Strand getrieben hat oder nackt hier herumgelaufen ist? Den Kindern haben ihre Bücher gut gefallen, als sie noch klein waren. Ich würde zu gerne schreiben, wenn ich die Zeit dazu hätte. Keine Kindergeschichten wie Pearl, sondern Romane für Erwachsene. Im Piratennest bekomme ich jedenfalls genug Material, um mehrere Bücher zu füllen. Ich könnte die Jackie Collins von Pencubitt sein!« Die beiden Frauen lachten. »Also, ich sollte wohl besser mal reingehen. Sonst denkt Allister noch, ich bin mit einem der Fischer durchgebrannt. Vielleicht mögen Sie ja mal auf einen Kaffee vorbeikommen?«
»Sehr gerne«, erwiderte Sadie und meinte es auch so. Sie hatte das Gefühl, in der lebenslustigen, fröhlichen Maria eine mögliche Freundin gefunden zu haben.
Während ihres zehnminütigen Heimwegs hoffte Sadie, dass auch Betty bald gute Freundinnen finden würde. Sie wollte, dass ihre Tochter das neue Leben genoss. Es versetzte ihr immer wieder einen Stich, wenn sie an die Hänseleien dachte, die Betty so lange schweigend erduldet hatte. Sadie blieb stehen und sah zum Poet’s Cottage hinauf. Der riesige Mond schien fast die Kamine zu berühren und der Nebel hüllte Haus und Garten ein. Sie schüttelte verwundert den Kopf, dass das Leben sie in dieses Haus gezogen hatte. Es war, als sei der Geist von Poet’s Cottage ein lebendiges Wesen, das die Hand nach ihr ausstreckte und sie bat, renoviert und bewohnt zu werden. Als würde es sich nach Poesie, Lachen, Kreativität und Leben sehnen. Lieber Gott, falls es in diesem Haus Geister gibt, dachte Sadie, dann lass sie bitte sanft sein. In diesem Moment verspürte sie nichts als Liebe und die Sehnsucht, geliebt zu werden.
»Mummy? Bist du da?«, flüsterte Sadie. Das Donnern der Wellen auf dem Strand war die einzige Antwort. Als sie das Haus betrat, fühlte sie sich töricht. Für einen Beobachter von der Straße aus hätte es so ausgesehen, als hätte das Poet’s Cottage sie verschluckt.
Betty hörte ihre Mutter die Treppe heraufkommen und schob Die Netzespinnerin unter ihr Kopfkissen. Hoffentlich würde ihre Mutter nicht bemerken, dass es fehlte. Seit sie hierhergezogen waren, hatte sie das dringende Bedürfnis, so viel wie möglich über ihre Großmutter herauszufinden.
Die Leute machten immer wieder Bemerkungen über ihre Ähnlichkeit mit Pearl, aber Betty selbst konnte sie nicht erkennen. Pearl war wie ein alter Filmstar mit ihren riesigen Augen und dem kleinen Gesicht. Sie war dünn und elegant. Betty fühlte sich nie dünn oder elegant. Ihre Mutter sah für eine Frau über fünfzig nicht schlecht aus. Die Männer schauten ihr auf der Straße immer noch hinterher und manchmal erntete sie anerkennende Pfiffe. Sogar Bettys Freundinnen erwähnten immer wieder, wie gut ihre Mutter aussah. Betty hatte das Gefühl, sie selbst hätte die Gelegenheit verpasst, als die Schönheit verteilt wurde. Wenn sie nur ein bisschen abnehmen könnte, dann würde das ihre Züge vielleicht verbessern. Ihr Gesicht erschien ihr so rund im Vergleich zu den anderen Frauen in ihrer Familie, ihre Schultern zu breit, ihr Busen zu groß, die Hüften und Oberschenkel zu stramm. Aber sie wusste, dass sie diese zerstörerischen Gedanken nicht zulassen durfte. Sie lag im Bett und versuchte, die depressive Stimmung und den Selbsthass zu bekämpfen, die wie schwarzer Nebel durch sie hindurchwaberten. Sie versuchte es mit einer Visualisierung, die Sarah ihr in einer der Therapiesitzungen beigebracht hatte: Sie stellte sich vor, wie sie mit Hilfe eines großen Schwerts die negativen Gedanken angriff und außer Gefecht setzte, um sich danach darauf zu konzentrieren, Licht und Schönheit in sich hineinzuatmen.
Seit ihre Mutter von der neuen Schule angefangen hatte, merkte sie, dass sie sich zunehmend gestresster fühlte. Schrecken erfüllte Betty, wann immer sie daran dachte, dass sie dort mit Freundeskreisen konfrontiert würde, die schon seit Jahren bestanden. Im Poet’s Cottage jedoch fühlte sie sich beschützt und sicher. Gleichzeitig vermisste sie ihren Vater. Es stiegen ihr immer noch Tränen in die Augen, wenn sie daran dachte, wie ihre Mutter ihn behandelt hatte. Es war kein Wunder, dass er Mum wegen einer anderen Frau verlassen hatte, so wie sie ständig an ihm herumnörgelte.
Betty lauschte, wie ihre Mutter sich auf der anderen Seite des Flurs bettfertig machte. Das Rauschen der Toilettenspülung, das Summen der elektrischen Zahnbürste, laufende Wasserhähne. Bettys Tür wurde leise geöffnet und sie spürte, wie ihre Mutter dort stand und nach ihr sah, wie sie es immer getan hatte. Dann entfernten sich ihre Schritte wieder.
Betty lag in der Dunkelheit und lauschte dem Wind, der an den Fensterläden rüttelte, dem Krachen der Wellen und den knarrenden Geräuschen im Haus. Sie fragte sich, weshalb ihre Urgroßmutter, die doch offensichtlich alles besaß – bejubelte Schönheit, zwei bezaubernde Töchter, eine Karriere als Schriftstellerin, einen ihr treu ergebenen Ehemann, und, in Bettys Augen das Beste von allem, einen schlanken Körper –, Opfer eines sadistischen Killers geworden war. Wer hatte ihrer Urgroßmutter an jenem Tag im Keller das Leben genommen? Ein Freund oder ein Fremder? Als sie hörte, wie die Tür ihrer Mutter geschlossen wurde, setzte sie sich auf, schaltete die Nachttischlampe an und klappte ihren Laptop auf, in der Hoffnung, dass Sadie das Geräusch des hochfahrenden Computers nicht hören würde.
Sie checkte ihren Blog und ihre Laune sank. Keine interessanten Freundschaftsangebote und nur ein Kommentar. Nichts von Brad. Vermisste er sie überhaupt? Es war, als sei sie vom Erdboden verschwunden. Betty las ihren letzten Blog-Eintrag noch einmal: Es ist total irre, in einem Haus zu wohnen, in dem es spukt. Die gesamte Stadt spricht von diesem Geist und man kann seine Gegenwart hier wirklich spüren. Nicht wie bei Stephen King, sondern eher wie eine tiefe Traurigkeit, als gäbe es etwas, das noch gelöst werden müsste. Wenn ihr sehen wollt, wie meine Urgroßmutter aussah, hier ist ein Link zu ihrer Fan-Website: www.pearltatlow.com. Seht euch nur die tollen Klamotten an, die sie trägt. Ganz schön cool, was? Die würden bei eBay oder auf den Märkten in Paddington eine Menge einbringen. Ich finde ihre Schuhe total klasse!
Abgesehen vom Geist meiner Urgroßmutter habe ich eine wirklich verrückte Großtante, die wie eine hutzlige, alte, böse Hexe am Ende des Gartens wohnt. Ich glaube, sie ist mega-eifersüchtig auf meine Urgroßmutter, denn Thomasina ist kein bisschen hübsch. Sie sieht aus wie eine Kartoffel auf zwei Beinen mit Strickjacke drüber. Ihr Kleidungsstil ist der Hammer und sie hat Barthaare! Voll eklig!
Ich hoffe, dass ich den Geist finde, bevor die Schule anfängt. Auf die Schule freue ich mich so was von überhaupt nicht! Mum wollte, dass ich in Launceston aufs Internat gehe, aber ich bin total durchgedreht, als sie mir das gesagt hat. Ich würde am liebsten hierbleiben und Hausunterricht bekommen. Ich glaube, das wäre cool, aber Mum sagt, das geht auf keinen Fall. Also habe ich beschlossen, dass ich vielleicht an die Burnie High gehe. Das ist eine gemischte Schule mit Jungs und Mädchen. Davor hab ich eine Scheißangst!
Abgesehen davon stopfe ich mich pausenlos voll. Das Essen ist hier echt total gut! Fish and Chips, frische Krebse und anderes Meeresgetier – göttlich. Abends hab ich sogar mal Kartoffelbrei gegessen. Selbst Pastinaken schmecken hier lecker! Ich hätte nie gedacht, dass Gemüse so klasse schmecken kann! Vom Kartoffelbrei habe ich nur ein paar Löffel gegessen, aber ich hab mich trotzdem schlecht gefühlt. Ich hab zwar nicht den Finger benutzt – mein alter Trick –, aber dafür mehr Sport gemacht, um die Ausrutscher auszugleichen. Ich hab echt so Schiss, dass ich zunehme. In Pencubitt scheint es eine Menge fetter Frauen zu geben. Die sind alle total süchtig nach Kohlehydraten. Vermutlich liegt’s am Wetter, denn es ist wirklich saukalt. Es macht Mum glücklich, wenn ich esse, und weil sie mit meiner Magersucht so viel hat durchmachen müssen, versuche ich mein Bestes, alles drinzubehalten.
Bisher hab ich noch keine süßen Jungs entdeckt – die Stadt ist so klein. Hier gibt es haufenweise alte Leute. Im Vergleich dazu sieht man in Sydney kaum alte Leute. Warum wohl? Neulich haben wir eine alte Dame getroffen, Birdie Pinkerton. Mum mag sie total, aber ich fand sie ein bisschen unheimlich. Ihre Augen schauen direkt in einen hinein. Findet ihr nicht auch, dass ältere Menschen manchmal ein bisschen seltsam sein können?
Und wenn wir schon von gruselig sprechen: Meine Urgroßmutter wurde genau hier im Keller dieses Hauses mit einem Messer getötet. Echt, kein Witz.
Lasst mich wissen, was in Sydney los ist. Falls irgendeiner von euch das liest und falls ihr mich noch nicht vergessen habt: Ich vermisse euch, Leute!
Betty hielt inne und löschte dann die letzten beiden Sätze. Wem wollte sie etwas vormachen? Sie vermisste ihre sogenannten »Freunde« nicht wirklich, und vermutlich würde keiner von denen ihren Blog lesen. In der St. Catherine’s Highschool war sie das Gespött ihrer Mitschülerinnen gewesen, ausgelacht und ausgegrenzt. Die Mädchen hatten sie höchstwahrscheinlich längst vergessen. Sie sollte den Blog einstampfen …, aber andererseits war es eine kreative Beschäftigung und vielleicht las ihn jetzt gerade irgendein süßer Kerl in Deutschland und verliebte sich in sie.
Während Betty die Nachricht auf ihrem Blog postete und dann den Computer herunterfuhr, saß Sadie im Bett gegenüber, das Netzespinnerin-Manuskript auf dem Schoß, und genoss das stürmische Wetter draußen, das seit ihrer Heimkehr heftiger geworden war.
In Birdies Blick hatte etwas Wissendes gelegen, als sie Sadie das Manuskript übergab. Enthielt dieser erste Entwurf das Geheimnis, was mit Pearl geschehen war? Sadie hoffte inbrünstig, einen Hinweis darauf zu finden, warum ihre Großmutter im Keller des Poet’s Cottage so grausam zu Tode gekommen war. Erstaunt darüber, wie anders die ersten Absätze im Vergleich zur veröffentlichten Version waren, begann sie zu lesen.