KAPITEL 14
Das Kricketmatch
Pencubitt, Januar 1936
Ich sah Pearl das nächste Mal am Neujahrstag beim Kricketmatch. Es handelte sich dabei um ein alljährliches Ereignis in Pencubitt. Während Mutter und ich den Sport selbst sterbenslangweilig fanden, freuten wir uns immer auf den Jahrmarkt von Pencubitt, der zugleich mit dem großen Match stattfand, einschließlich Wurfbude, Ponyreiten, einem Clown mit Zaubertricks und Luftballons, vielen weiteren Attraktionen, Schreib- und Zeichenwettbewerben und – das Spektakulärste von allem – der gefürchteten Schlangengrube! Für Mutter war eines der Highlights die Aufführung des Kirchenchors zur Mittagszeit. Und während die Teams den Sieg auf dem Kricketfeld ausfochten, versuchten sich die Hausfrauen von Pencubitt und Burnie gegenseitig mit den besten Biskuittorten, Apfelkuchen, Sandwichs, selbstgebrautem Ingwerbier, Sahnebaisers, Lamingtons und Pasteten zu übertreffen. Alle zogen sich schick an, die Männer Nadelstreifenanzug und Pork-Pie-Hüte, die Frauen ihre besten Kleider, Hüte und Handschuhe. Kinder brachten die paar wenigen Weihnachtsgeschenke mit, die sie, mit viel Glück, vielleicht bekommen hatten, damit ihre Freunde sie bewundern und beneiden konnten.
Ich hatte mein Outfit für diesen Anlass sorgfältig ausgewählt: ein helles, himmelblaues Kleid mit zitronengelben Tupfen, das ich nach einem Buttericks-Schnittmuster genäht hatte, dazu ein neues Paar weißer Pumps, für die ich fast das ganze Jahr hatte sparen müssen. Carole Lombard hatte in einer Zeitschrift etwas ganz Ähnliches angehabt. Dazu trug ich einen weißen Strohhut und Handschuhe, und als ich in den Spiegel sah, fand ich mich fast hübsch. Mein Haar, das ich tags zuvor mit Stofffetzen aufgewickelt hatte, fiel in glänzenden, braunen Wellen herab. Ich wagte sogar, etwas Rouge auf meine Wangen und Lippen aufzutragen, in der Hoffnung, dass Mutter es nicht bemerken würde.
Sie blickte finster drein, als sie sah, wie ich mich im Spiegel bewunderte. »Eitelkeit ist eine Sünde.«
Father Kelly holte uns zu Hause ab, um Mutter zu begleiten. Er war mürrisch und ernst wie immer, machte mir jedoch ein Kompliment über mein Äußeres. Er sagte, er möge Blau an jungen Frauen. Wir trugen Körbe mit Scones, Sandwichs mit Fischpaste und Tomaten sowie einen Victoria-Biskuitkuchen, den wir für das Picknick gebacken hatten.
Als wir das Gelände betraten, die Girlanden ringsherum in den Bäumen und die vielen Menschen sahen, alle fein herausgeputzt, empfand ich die vertraute Begeisterung. Überall konnte man die freudige Erwartung der Dorfbewohner spüren: Ein neues Jahr war angebrochen mit dem Versprechen, dass die Dinge sich bessern würden. Wie zur Verstärkung unserer optimistischen Gefühle schien die Sonne von einem aquamarinblauen Himmel herab. Nachdem wir unseren Beitrag zum Picknick im entsprechenden Zelt abgeliefert hatten, ließ ich Mutter mit einer Flasche Limonade und einigen ihrer Freundinnen im Schatten eines Baumes zurück und schlenderte zur Wurfbude hinüber, um mein Glück zu versuchen. Nie hatte ich meine Freude vergessen, als ich mit zwölf eine wunderschöne Feenpuppe an einem Stab gewann. Mutter nahm sie mir weg und gab sie der Kirche für ein kleines Mädchen, das ärmer war als ich. Monatelang weinte ich jeden Abend und sehnte ich mich nach dieser Puppe. Seitdem hoffte ich, meinen Triumph aus jenem Jahr zu wiederholen und meine kindliche Freude an einem wunderschönen Preis wiederzuerleben, so töricht mein Wunsch auch war.
»Na, wenn das nicht unsere blaue Birdie ist«, erklang eine vertraute Stimme. Ich erstarrte und verfluchte mich selbst, dass ich nicht bei Mutter unter dem Baum in Sicherheit geblieben war. Vor mir an der Bude stand Pearl, zusammen mit Violet, Maxwell und den beiden Mädchen. Thomasina sah mich über einen riesigen Schokoapfel hinweg finster an. Pearl küsste mich demonstrativ auf beide Wangen, während Maxwell mich begrüßte, ohne mir dabei in die Augen zu sehen. Ich spürte eine seltsame Anspannung und fragte mich, ob es wohl daran lag, dass ich seit jenem schrecklichen Heiligabend nicht mehr im Poet’s Cottage gewesen war. Maxwell war nicht mehr der Mann, wie ich ihn einst gekannt hatte, nicht nur in seiner äußerlichen Erscheinung – er wirkte hager und gealtert –, sondern auch in seinem jüngsten Verhalten Angel gegenüber. Pearl war schöner denn je in ihrem bodenlangen zitronenfarbenen Kleid mit breiten dunkelblauen Streifen, weißen Plateauschuhen und einer langen Perlenkette. Dazu trug sie einen leuchtend gelben Sonnenschirm. Ihr modisches Outfit zog viele Blicke auf sich. Einige Passanten lachten heimlich hinter vorgehaltener Hand.
Violet nickte mir zu, doch im Gegensatz zu unseren früheren Begegnungen machte sie keine Anstalten, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Sie hielt Marguerite an der Hand und kicherte nicht wie sonst mädchenhaft. Als ich genauer hinsah, stellte ich fest, dass ihr Gesicht blass wirkte und sie dunkle Schatten unter den Augen hatte.
Ich kam mir komisch vor, wie ich da vor ihnen stand. Mit Ausnahme von Pearl taten sie alle so, als wollten sie nicht mit mir reden. Nachdem ich Pearl, die von ihrem neuesten Buch faselte, ein paar Minuten gelauscht hatte, entschuldigte ich mich unter dem Vorwand, Mutter etwas zu essen vom Buffet holen zu müssen.
Als ich durch die Menge davonging, fühlte ich mich unerträglich einsam. Trotz unserer unterschiedlichen Temperamente war es mir zu Beginn meiner Freundschaft mit Pearl vorgekommen, als hätte ich eine Geistesverwandte getroffen. Wie auch ich liebte sie Literatur, Poesie und die schönen Künste, und ich hatte geglaubt, unsere gemeinsame Begeisterung für Kultur würde eine Brücke zwischen den eher ungleichen Aspekten unserer Persönlichkeit bilden. Diese Brücke war nun eingestürzt, und ich fühlte mich wie die Außenseiterin, die ich war.
Das Kricketmatch wurde vor einer jubelnden Menge eröffnet, nachdem der Kapitän des gegnerischen Teams eine Münze geworfen hatte. Ich saß neben Mutter und wünschte mich tausend Meilen weit weg. Trotz der Hitze war Mutter aufgekratzt und teilte mit ihren Freundinnen Klatsch, Sandwichs und Scheiben gekühlter Wassermelone. Zu meiner Bestürzung ließen sich die Tatlows und Violet, die Mädchen im Schlepptau, im Schatten eines großen Baumes neben uns nieder. Ich kochte vor Wut, dass sie mir bei all dem zur Verfügung stehenden Platz ausgerechnet meinen Ausschluss aus ihrer Runde unter die Nase reiben mussten. Ich hörte die Mädchen zanken und auch Pearls scharfen Tonfall, als sie die beiden zurechtwies. Maxwell schaute kurz herüber und hob die Hand, doch er lud mich nicht zu ihnen ein. Schließlich begegneten sich zumindest unsere Blicke, und er schien eine Art Entschuldigung anzubieten. Ich senkte den Blick und tat so, als betrachte ich meine neuen Schuhe, während ich mit den Tränen kämpfte.
Als Mutter und ihre Freundinnen missbilligende Geräusche von sich gaben, riskierte ich einen weiteren Blick hinüber und sah, dass sich Teddy und Victor Pearls Grüppchen angeschlossen hatten. Hastig schaute ich weg, aus Angst, Victor könne mich dabei ertappen, wie ich zu ihnen hinüberstarrte. Zweifellos verbrachte er die Feiertage daheim in Pencubitt.
»Von dem Moment an, als sie hier ankam, wusste ich, dass es Ärger geben würde!«, schnaufte Mutter. Aus dem Kreis der Frauen kamen zustimmende Laute. Jede von ihnen hatte irgendeine Geschichte über eine liederliche Tat von Pearl auf Lager, jede davon empörender als die zuvor. Ich hörte nur halb zu, bis irgendwann Angels Name fiel.
»Sie war schon immer ein Dummerchen«, sagte Mutter. »Beschränkt und faul. Ich wusste, dass es nicht gutgehen konnte, als sie zu denen in Anstellung ging! Ihre arme alte Mutter hat nichts mehr von ihr gehört, seit sie abgehauen ist. Keinen Ton. Sollte man nicht meinen, dieses verdorbene Mädchen würde ihr wenigstens eine kurze Nachricht schicken? Allerdings ist die Mutter auch ein schlichtes Gemüt, das steht fest! All diese Kinder, und dann lässt sie auch noch die Hühner und Schafe mit ins Haus! Könnt ihr euch diese Schweinerei vorstellen?« Sie warf einen Blick zu Maxwell hinüber. »Wenn ihr mich fragt«, meinte sie, und ihre Augen erinnerten mich an eine Kröte vor einer saftigen Fliege, »vermutlich hat sie sich mit dem da in Schwierigkeiten gebracht, wenn ihr versteht, was ich meine. Wann immer ich die beiden auf der Straße zusammen gesehen habe, haben sie sich angeschmachtet. Vielleicht ist es ja ein Segen für ihre Mutter, dass sie abgehauen ist.« Die versammelten Frauen brachten im Chor ihr angemessenes Entsetzen zum Ausdruck.
Ich beobachtete eine große Jack-Jumper-Ameise, die in der Nähe meiner Hand krabbelte, und dachte über die Worte meiner Mutter nach. Es war mir neu, dass Angel verschwunden war, und es ergab auch gar keinen Sinn, dass sie keinen Kontakt zu ihrer Mutter aufgenommen hatte. Auch wenn sie ihre Fehler hatte, so war sie mir ihrer Familie gegenüber doch stets loyal und besorgt vorgekommen. Mir war unbehaglich zumute, da ich das Geheimnis kannte, über das Mutter wohl unbeabsichtigt gestolpert war. War Angel dermaßen verzweifelt darüber gewesen, dass sie in anderen Umständen war (falls das wirklich stimmte), dass sie fortgelaufen war? Wo konnte sie mit so wenig Geld überhaupt hingehen? War ihr etwas zugestoßen? Und falls Angel tatsächlich verschwunden war, sollte man dann nicht die Polizei informieren?
Mutter zog einen Schuh aus und schlug die Ameise platt. »Ich würde sagen«, verkündete sie und betrachtete dabei Maxwell mit zufriedener Miene, »dieser junge Mann dort weiß ganz genau, warum das Mädchen abgehauen ist. Sie hat es vermutlich vorgezogen, zu verschwinden, bevor die Stadt herausfindet, dass sie eine Dirne und eine Sünderin ist.«
Aber sie war doch in Maxwell verliebt.
Die Menge klatschte verhalten, als einem der Jungs vom Burnie-Team ein spektakulärer Vierer gelang. Ich stand auf, denn ich brauchte etwas Zeit, um meine Gedanken zu sortieren.
Am Limonadenstand der örtlichen Pfadfinderinnengruppe kaufte ich mir etwas zu trinken und wechselte ein paar höfliche Worte mit einer alten Klassenkameradin. Sie war seit fünf Jahren verheiratet, hatte bereits vier Kinder. Die Unterschiede zwischen ihrem und meinem Leben betrübten mich ein wenig. Phoebe Green, die während unserer gesamten Schulzeit in jeglicher Hinsicht so unscheinbar gewesen war, kannte die Leidenschaft eines Mannes und die Schmerzen der Geburt, während ich – in der Schule für mein künstlerisches Talent und meine Leistungen gelobt sowie für mein Äußeres gepriesen – noch immer alleine war.
Mein Blick wanderte wieder zur Tatlow-Familie hinüber. Marguerite, in ihrem hellrosa Spitzenkleid hübsch wie immer, rannte um den Baumstamm herum und schnitt Maxwell Grimassen, wobei ihr blondes Haar im Wind flatterte. Ihre Schwester ignorierte währenddessen das Spiel und stocherte mit einem Stock an der Baumrinde herum. Sicher versuchte sie irgendein Insekt zu töten.
»Da ist sie! Hab ich dir nicht gesagt, dass sie heute das hübscheste Mädchen hier ist?«
Ich drehte mich um und sah Victor und Teddy hinter mir. Teddys Kompliment ließ mich erröten, und ich nippte verwirrt an meinem Getränk.
»Victor hat nach dir gefragt, also hab ich ihm gesagt, er soll dich besser schnell suchen, bevor dich irgendein anderer wegschnappt«, meinte Teddy. Der normalerweise so stille Fischer war heute redseliger, als ich es gewohnt war. Vielleicht lag es auch nur am Bier, das er in sich hineinschüttete. »Na, jetzt wo wir sie gefunden haben, lass ich euch beide mal quatschen.« Teddy schlenderte in Richtung von Pearls Gruppe davon.
Victor erkundigte sich, ob ich schon etwas gegessen hätte, und als ich verneinte, schlug er vor, wir könnten uns etwas vom Grillstand hinter der Haupttribüne holen, an dem es hoch herging. Nachdem wir unsere Teller mit Würstchen, Zwiebelringen, gebratenen Tomaten und einigen welken Salatblättern beladen hatten, setzten wir uns auf die Tribüne, um das Spiel anzuschauen. Es war an der Zeit für Pencubitts Durchgänge, und die Einheimischen feuerten ihr Team laut an, als die ersten Schlagmänner auf den Platz marschierten.
Victor erzählte mir von seiner neuen Arbeit als Volontär bei der Zeitung in Burnie. Sein Vater war enttäuscht, dass er sich gegen den Eintritt bei der Polizei entschieden hatte. »Er hatte gehofft, ich würde dort die Ausbildung durchlaufen, nach Pencubitt zurückkommen und dann hier übernehmen, wenn er sich zur Ruhe setzt«, sagte er. »Kannst du dir vorstellen, das ganze Leben in diesem Kaff zu verbringen? Ich will die Welt erleben, Birdie! Ich will in London, Paris, New York arbeiten. Ach, egal wo, bloß nicht hier!« Ich teilte seine Sehnsucht nicht. Ich war glücklich in Pencubitt. Ich liebte es, am Meer zu sein und den Wechsel von Ebbe und Flut und die durchziehenden Wolken zu beobachten. Ich verstand seine Rastlosigkeit und den Wunsch, fremde Küsten zu sehen, doch mehr als nach allem anderen sehnte ich mich nach einem eigenen Heim und nach Kindern. Es war für mich fast unmöglich, mir Reisen nach Melbourne vorzustellen, von Europa ganz zu schweigen.
Von der Tribüne aus hatte ich einen freien Blick auf Mutter und Pearl unter ihren jeweiligen Bäumen. Father Kelly näherte sich Pearls Gruppe, unterhielt sich ein paar Minuten mit ihnen und zog dann mit zorniger Miene von dannen. Kurz darauf erhob sich auch Violet, herrschte Pearl offenbar an und lief dann davon, wobei sie sich mit der Hand an die Stirn fasste, als würde sie etwas quälen und ihr Schmerzen bereiten. Ich grübelte jedoch nicht darüber nach, was wohl vorgefallen war. Maxwell sah ab und an zu mir herüber, und ich war eitel genug, mir einzubilden, er sei eifersüchtig darauf, mich mit Victor zu sehen. Von dieser Vorstellung beflügelt, schob ich meinen anhaltenden Groll auf Victor wegen seines Verhaltens an jenem Abend des Mördersuchspiels beiseite und flirtete auf eine Weise mit ihm, die mir gar nicht ähnlich sah. Immer wieder sagte er mir, wie hübsch ich aussähe und dass Blau seine Lieblingsfarbe sei. Er beharrte darauf, dass er mich vermisst hatte und dass es in Burnie keine Mädchen gab, die es mit meinem Äußeren und meinem Verstand aufnehmen könnten. Seine Schmeicheleien stiegen mir zu Kopf, und als er nach meiner Hand griff, ließ ich die Berührung zu, genoss sogar die Wärme seiner Hand auf meiner.
Das Match ging zu Ende. Burnie hatte gewonnen, was den auswärtigen Spielern eine Runde gutmütigen Applaus und Jubel seitens der Heimmannschaft einbrachte, gefolgt von Racheschwüren, Burnie im folgenden Jahr haushoch zu schlagen. Victor hatte den Druck seiner Hand verstärkt: Sein Daumen erkundete meine Handinnenfläche, was mir angenehme Schauer durch den Körper jagte. Sein rechtes Bein an meinem Oberschenkel hatte eine ähnliche Wirkung.
Maxwell schaute hinauf auf die Tribüne. Ich warf ihm einen Blick zu. War es möglich, dass Maxwell eifersüchtig war? All die grausamen Sticheleien, mit denen Pearl mich wegen meiner Gefühle für Maxwell gequält hatte, fielen mir wieder ein. Maxwell, der mich jahrelang wie eine Art weiblichen Kumpel behandelt hatte und der Angel gegenüber dann doch so wenig Zurückhaltung an den Tag gelegt hatte. Ich ertrug es nicht. Mutter war durch ihre Freundinnen abgelenkt. Ich warf meine Bedenken über Bord und neigte meinen Kopf Victor entgegen. Wir küssten uns, zuerst ganz leicht, dann inniger. Ich zog ihn zu mir heran und genoss die Art und Weise, wie seine Hände meine Taille umfingen, doch noch mehr genoss ich das Wissen, dass Maxwell von unten zusah. Vielleicht heirate ich Victor, dachte ich. Er ist attraktiv genug, und wir könnten in einer anderen Stadt neu anfangen, wo ich Maxwell nicht sehen musste. Ich würde Victor seine einmalige Verfehlung mit Pearl verzeihen. Wie konnte ich es ihm verübeln? So wie sie sich den Männern an den Hals warf – da fiel es jedem Mann schwer, zu widerstehen.
Nun knabberte Victor an meinem Ohr und blies sanft hinein. Sein Atem war ein wenig unangenehm, und ich musste den Impuls unterdrücken, ihn von mir wegzuschieben. »Ich bin verrückt nach dir, Birdie«, flüsterte er. »Du siehst so hübsch aus heute. Seit der Party damals kann ich nicht aufhören, an dich zu denken.«
Ich hörte ihm jedoch nicht länger zu. Pearl und Maxwell waren aufgestanden, als wollten sie gehen. Ehe sie verschwanden, blickte Maxwell noch einmal hinauf auf die Tribüne und hob die Hand. Pearl sah nicht in unsere Richtung.
Mutter war natürlich fuchsteufelswild. »Führt sich vor allen derart auf!«, zischte sie, sobald wir zu Hause ankamen. »Die ganze Stadt hat zugesehen, wie du dich von diesem nichtsnutzigen Kerl hast begrapschen lassen. Vor all meinen Freundinnen und vor Father Kelly! Ich wäre am liebsten auf der Stelle gestorben! Das ist ihr Einfluss. Sie hat dich angesteckt mit ihrer Gossenmoral! Dein armer Vater hätte sich so was von geschämt, wenn er noch leben würde, das mit anzusehen!«
Es war sinnlos, mit ihr argumentieren zu wollen, wenn sie eine ihrer Launen hatte. Ich musste es aussitzen und hoffen, dass sie irgendwann erschöpft aufhören würde. Ich flüchtete nach draußen und setzte mich auf die vordere Veranda in die kühle Abendluft. Von Moskitos zerstochen zu werden war besser, als Mutter zu lauschen. Ich konnte sie drinnen immer noch für die Erlösung meiner Seele beten hören. So kann ich nicht weiterleben, dachte ich. Ich stellte mir vor, mit Victor durchzubrennen, mit ihm in Burnie zu leben oder sogar in Hobart, wo Mutter mir nichts anhaben konnte. Wenn ich auch sonst nichts von Pearl gelernt hatte, dann hatte sie mir doch zumindest gezeigt, dass es eine andere Lebensform gab. Ein Leben, in dem die Menschen nicht fürchteten, von einem strafenden Gott bis in alle Ewigkeit verurteilt zu werden, sondern im Hier und Jetzt und zu ihrem eigenen Vergnügen lebten. Wo Menschen es wagten, die Bibel in Frage zu stellen, anstatt sich zu bemühen, wortwörtlich nach ihr zu leben.
Victors Mund auf meinem hatte eine schlummernde Leidenschaft geweckt. Ich erinnerte mich daran, wie er mich angesehen hatte, und ich wollte, dass er mich wieder so ansah. Ich wollte seinen Mund auf meinem spüren.
Später, im Bett, schob ich die Hände unter die Decke und rief mir wieder den Ausdruck in Victors Augen in Erinnerung, die Berührung seiner Haut und seines Mundes. Als meine Lust ihren Höhepunkt erreichte, und ich mir den Mund zuhielt, damit Mutter nichts hörte, hatte ich Maxwells Gesicht vor Augen.
Es war immer Maxwells Gesicht, das ich sah.
Gegen Ende dieses brütend heißen Januars erhielt ich folgende Nachricht:
Hallo alter Kumpel,
hab Dich schon eine Weile nicht mehr im Poet’s gesehen und dachte, es würde Dich vielleicht interessieren, dass man Dich vermisst. Die Mädchen haben nach Dir gefragt und wollten wissen, wann Du mal wieder mit zu einem unserer Strandpicknicks kommst. Du wirst nicht glauben, wie sehr die beiden in die Höhe geschossen sind!
Sonst ist hier alles wie immer. Ich habe im Garten gearbeitet und die alten Dienstbotenunterkünfte entrümpelt – ich bin am Überlegen, das Gebäude in einen Werkzeugschuppen zu verwandeln. Pearl ist so beschäftigt wie immer. Sie arbeitet an Gertrude Goannas Kaffeekränzchen – oder war es Billy Blauzunge und die Wattle-Elfe? Ich weiß es nicht … irgendein alberner Nonsens. Nach einer Weile kann ich nicht mehr folgen! Aber es macht Pearl zufrieden.
Ich schätze mal, Du hast gehört, dass Angel abgehauen ist? Das war ein ganz schöner Schlag. Sie war echt ein liebes Mädchen und kam so gut mit unseren zwei Teufelinnen zurecht.
Verdammt, Birdie! Du fehlst mir wirklich sehr. Bleib nicht zu lange weg, alte Freundin.
Alles Liebe,
Maxwell
PS: Ist es nicht widerlich heiß? Ich denke die ganze Zeit, dass diese Hitze doch mal aufhören muss.
Ich las diese Nachricht unzählige Male. Ich kannte jede Leerstelle, jeden Absatz. Ich lernte die Worte auswendig, bis ich sie mir im Schlaf vorsagen konnte.
Doch ich blieb weg.
Der Januar 1936 war einer der heißesten Sommer, die ich je erlebt hatte. Alle waren reizbar und alle, die es konnten, hielten sich in ihren Häusern auf, um der Hitze zu entkommen. Fliegen und Insekten wurden zu echten Plagen. In der Zwischenzeit wurde Edward VIII. zum König gekrönt. Noel Cowards neues Stück Astonished Heart wurde in London uraufgeführt. Rudyard Kipling starb. Der letzte Tasmanische Wolf würde in sieben Monaten in einem Zoo in Hobart verenden. Und Pearl Tatlow hatte nur noch sechs Monate zu leben.