KAPITEL 12
Flüstern
Pencubitt, Dezember 1935
Ich war gerade dabei, das Grabmonument der Hellyer-Kinder im Garten von Blackness House zu zeichnen. Es war ein wunderschöner Sommermorgen, und ich genoss es, von Lavendelbüschen, Sonnenblumen, Schmetterlingen, Bienen, Jasmin und einem alten Pfau namens Oliver umgeben zu sein. Ein Pärchen Honigfresser hockte nebeneinander auf dem Steinzaun, und ich machte rasch eine Skizze von den beiden Vögeln. Nur der Lärm von Bauarbeitern störte die Idylle. Es schienen immer irgendwelche Männer an Blackness House zu arbeiten, wodurch Mrs Bydrenbaugh sich anhaltende Beliebtheit in Pencubitt sicherte, zu einer Zeit, in der so viele arbeitslos waren und am Hungertuch nagten. Im Lauf der Monate hatte ich mich an ihr Klopfen und die lauten Stimmen gewöhnt.
Violet kam vom Haus her auf mich zu. »Nicht schlecht! Das ist sogar ziemlich gut, nicht wahr?«, trällerte sie. »Ich kann kein bisschen zeichnen. Mutter sagt, du hättest ein Auge für so was.« Sie ließ sich neben mir auf der eisernen Bank nieder und drapierte übertrieben sorgfältig die Falten ihres fliederfarbenen Kleides um sich herum. Ich stöhnte innerlich. In letzter Zeit kam Violet häufig heraus, um sich mit mir zu unterhalten, wann immer ich versuchte zu arbeiten – dummes, mädchenhaftes Geplapper über Kinohelden, den König, Jazzmusik und die Bewohner des Poet’s Cottage. Ich zog meine eigene Gesellschaft vor: Einsamkeit belohnte mich stets mit kreativer Inspiration. Violet hatte jedoch kein Verständnis für die Bedürfnisse eines Künstlers. Wenn es nach ihr ging, war die Welt nur dazu da, sämtliche ihrer Wünsche zu erfüllen. In dieser Hinsicht war sie Pearl sehr ähnlich. Wie kleine Kinder kreisten sie nur um sich selbst. Der mangelnde Ehrgeiz der jungen Frau, die selbstzufriedene Akzeptanz ihres eingeschränkten Verstandes ärgerten mich. Warum wurde Geld an jemanden verschwendet, der es so wenig verdiente? Ich, die nach Wissen hungerte und dem Altar der kreativen Künste huldigte, hatte so geringe Mittel, um den Drang in mir zu nähren. Violet war ausreichend hübsch und niedlich, doch sie besaß keinerlei Tiefe. Ich wusste, dass eine Freundschaft zwischen uns niemals ebenbürtig sein würde. Sie besaß den gesellschaftlichen Hintergrund und das Geld, ich hingegen nur den Wunsch nach dem, was sie als selbstverständlich betrachtete. Ich würde ihr das immer übelnehmen und sie insgeheim verachten.
Ich seufzte tief und ignorierte ihr Geplapper über Clark Gable, Mae West und einige andere Namen, die mir nichts sagten. Mutter würde eine solche Unterhaltung nicht gutheißen. Sie glaubte, dass die moderne Musik und das Kino Werke des Teufels waren, die für einen faulen Geist und dekadente Köpfe erschaffen wurden. Leider ließ sich Violet von einsilbigen Antworten nicht abschrecken, und ihre Worte flatterten wie Schmetterlinge um mich herum. Ich versuchte weiterzuzeichnen, aber meine Konzentration war dahin.
Ein Großteil von Violets Gesprächen drehte sich darum, wie unzumutbar ihre Mutter war. »Mutter hält ständig todlangweilige Predigten über das Leiden der Armen von Pencubitt. Wie glücklich wir uns schätzen könnten und dass wir Gutes tun müssten. Das ist ja so öde! Ich kann schließlich nichts dafür, dass ich reich geboren wurde, oder? Halten die Eltern der leidenden Armen denen endlose Vorträge über die Leiden der Reichen? Sicher nicht, vermute ich mal! Das Leben ist so gemein und unfair!« (Da musste ich ihr in Gedanken recht geben, wenn man bedachte, wie viel Geld für ihre Ausbildung verschwendet wurde.)
Oder: »Wenn Mutter doch nur einwilligen würde, nach Amerika zu reisen. Dann würde ich nach Los Angeles fahren und Mr Gable treffen! Ich finde ihn ja so stattlich und viel begehrenswerter als alle Männer in Tasmanien. Da kann auch kein Fred Astaire mithalten. Nicht mal Rudolph Valentino. Die sind beide so langweilig! Ich habe gestern Nacht geträumt, Mr Gable würde mich küssen und seine Hand auf meine Brust legen. Es war so aufregend!«
Dann: »Mutter kennt … aber davon darfst du niemandem etwas erzählen. Du musst es mit ins Grab nehmen! Gibst du mir dein Ehrenwort?« Das jämmerliche Ding verhakte tatsächlich ihre Finger mit meinen und ließ mich die andere Hand aufs Herz legen, ehe sie fortfuhr: »Mutter kennt eine Frau in Hobart, die sich an Pearl erinnert, als sie noch ein kleines Mädchen war. Pearls Familie kam auf der Lady Mary Anne mit irgendwelchen Freifahrkarten aus England. Ihre Familie war, wie Mutter es ausdrückt, von nicht einwandfreiem Charakter.« Da hörte ich Violet zum ersten Mal richtig zu. »Es heißt, Pearls Mutter war verrückt. Ja, so richtig verrückt. Sie hat sich umgebracht, kurz nachdem sie in Hobart ankamen. Sie hat auf der Reise ein Kind verloren. Ich frage mich, wie? Ist es über Bord gegangen?« Violet kicherte über irgendeine krankhafte Phantasievorstellung, die sie erheiterte, ehe sie mit großen Augen fortfuhr, wobei sie die Stimme theatralisch senkte: »Sie glaubten, das hätte sie vollends verstört. Pearls Vater musste die restlichen Kinder großziehen. Man sagt, er war kaltherzig und ein Langweiler. Pearl wurde sich selbst überlassen. Das erklärt doch ihre ziemlich seltsamen Geschichten und ihr Verhalten, findest du nicht?« Sie kicherte wieder in sich hinein. »Ich hoffe, sie kommt nicht nach ihrer Mutter und tut irgendetwas Dummes. Sie droht ja immer damit, sich umzubringen, wenn sie für immer in Pencubitt bleiben muss. Ich finde es unglaublich unanständig und dreist, wie sie da alle miteinander schlafen. Mutter wird richtig wütend, wenn ich versuche darüber zu reden. Stell dir nur mal vor, wie Maxwell mit diesem Pudding Angel schläft! Er sieht gar nicht schlecht aus, aber sie ist wie ein Früchtebrot auf zwei Beinen.« Sie hielt inne, woraufhin ich das Bedürfnis unterdrücken musste, sie zum Weiterreden zu drängen. Also war mein Verdacht richtig. Maxwell hatte, aus welchen Gründen auch immer, eine Affäre mit Angel.
»Ich weiß, warum Pearl das unterstützt.« Violet spürte, dass sie nun meine volle Aufmerksamkeit besaß, und fuhr triumphierend fort. »Sie hat es mir gesagt. Sie will frei sein, um ihre eigene Affäre mit diesem stinkenden Fischer fortsetzen zu können.« Sie schnaubte vor Lachen. »Sie hat mir erzählt, er sei wirklich ein unglaublicher – also, ich kann mich an das genaue Wort nicht mehr erinnern, das sie verwendet hat, aber sie meinte Liebhaber. Ja! Das hat sie gesagt! Schau mich nicht so an! Sie ist schon unglaublich, was? Ich glaube, sie hat auch mal versucht, eine Affäre mit mir anzufangen. Sie hat mich unter irgendeinem Vorwand in ihr Schlafzimmer hinaufgelockt und …«
Ich hatte genug gehört. Rasch unterbrach ich die schmutzige Geschichte, die sie mir anvertrauen wollte, mit der kurzen Frage, ob ihre Mutter sie wohl inzwischen suche. Und was ihre Mutter wohl davon halten würde, wenn sie wüsste, dass Violet die Angestellten von ihren Pflichten abhielt.
Das dumme Ding zog schließlich ab, aber nicht ohne vorher zu kommentieren, wie rot mein Gesicht war, und mir zu versprechen, dass sie mir auf Blackness ein »Geheimnis« zeigen wolle, das mir ganz sicher gefallen würde. Sie küsste mich zum Abschied auf eine unangenehm anhängliche Art. »Ich bin ja so froh, dass du zum Arbeiten hierhergekommen bist, Birdie. Es ist einfach unsagbar trist, wenn ich nur mit Mutter, der Langweilerin, hier bin. Es ist seltsam – ich hab dich immer für öde und eine alte Jungfer gehalten, aber jetzt hab ich das Gefühl, wir können Freundinnen sein. Ich vermisse meine Freundinnen von der Schule, und Pearl ist so mit ihrem Fischer beschäftigt. Wir werden doch Freundinnen, nicht wahr, Birdie? Da wird Pearl aber überrascht sein, wenn wir auch gute Freunde werden!«
Ich bestätigte, dass Pearl in der Tat überrascht sein würde. Violet hob die Arme über den Kopf, drehte eine langsame Pirouette und warf sich für mich in Pose. Sie wusste, dass ich sie in diesem Moment schön fand. Mit ihren blonden Locken und dem Porzellanteint glich sie einer kleinen Puppe, die im Sonnenlicht auf dem Rasen tanzte. Dann rannte sie zurück zum Haus, wobei sie mir Luftküsse zuwarf und versprach, morgen ihr »Geheimnis« zu enthüllen. Ich muss zugeben, dass ich keinen zweiten Gedanken an dieses Versprechen verschwendete. Es erschien mir wie die kindischen Spiele eines jungen Mädchens, das viel zu viel Zeit und einen leeren Kopf hatte, den sie mit Phantasien füllte. Wenn überhaupt, dann erwartete ich ein Sammelbuch voller Bilder von Filmstars oder irgendeinen Unsinn dieser Art.
Und doch, als ich zusah, wie sie in den Schatten von Blackness House verschwand, kamen mir plötzlich einige Zeilen von William Shakespeares Romeo und Julia in den Sinn:
Werd ich dann nicht in dem Gewölb ersticken,
Des giftger Mund nie reine Lüfte einhaucht,
Und so erwürgt da liegen, wann er kommt?
Und leb ich auch, könnt es nicht leicht geschehn,
Dass mich das grause Bild von Tod und Nacht
Zusammen mit den Schrecken jenes Ortes
Dort im Gewölb in alter Katakombe,
Wo die Gebeine aller meiner Ahnen
Seit vielen hundert Jahren aufgehäuft,
Wo frisch beerdigt erst der blutge Tybalt
Im Leichentuch verwest; wo, wie man sagt,
In mitternächtger Stunde Geister hausen –
Weh, weh! – könnt es nicht leicht geschehn, dass ich,
Zu früh erwachend – und nun ekler Dunst,
Gekreisch wie von Alraunen, die man aufwühlt,
Das Sterbliche, die’s hören, sinnlos macht …
Es war, als hätte sich ein Schatten auf mich herabgesenkt, und auf einmal kam es mir vor, als wären Schönheit, Jugend, Freundschaft und Sonnenschein allesamt vergänglich. Ich sah die Wahrheit: Die Menschheit drückt der Erde einen unbeständigen Stempel auf. Wir sind lebende Gespenster, armselige, verschwommene Träume unserer selbst, glauben, jeder Moment daure ewig, und sind doch so substanzlos wie Wolken.
Während ich dort saß, waren die Stimmen der Arbeiter beim Haus lauter geworden. Ich blickte hinüber, da ich einen Streit vermutete, und sah einige Männer vom Anwesen fortgehen. Sie kamen aus der alten Kapelle, die Mr Hellyer nach dem Tod seiner Frau erbaut hatte. Mrs Bydrenbaughs jüngster Beschluss, die Kapelle als Außenraum für Violet restaurieren zu lassen, war bei den Handwerkern nicht sonderlich beliebt. Die Gerüchtemacher von Pencubitt munkelten, es wären mehr Geister um Blackness House gesichtet worden, seit die Arbeiten dort begonnen hatten. Selbst in diesen harten Zeiten hatten einige der Handwerker den Auftrag von Anfang an abgelehnt. Nun traten vier Männer vom Ort durch das Haupttor von Blackness House, während die anderen ihnen spöttisch hinterherjohlten. Ich sah, wie Mrs Bydrenbaugh aus dem Haus gelaufen kam, um mit dem Vorarbeiter zu sprechen.
Old Tom, der Gärtner, kam begleitet von seinem Gehilfen Percy mit einem Schubkarren auf mich zu. Ich kannte Tom, seit ich ein kleines Mädchen war, und unterhielt mich gern mit ihm. Die Neugier trieb mich dazu, ihn zu fragen, was denn die Männer erschreckt hatte.
Er lachte verächtlich und hob dabei einen Sack Pferdemist mit solcher Lässigkeit vom Schubkarren, dass es einem viel jüngeren Mann zur Ehre gereicht hätte. »Dieses ganze Geschwätz über Geister! Sollten sich was schämen. Der junge Bertie ist auch gegangen, und das obwohl er vierzehn hungrige Mäuler zu stopfen hat! Ausgewachsene Männer, die was von Gespenstern faseln. Hab noch nie einen solchen Unsinn gehört. Da, verteil mal den Dung, Junge!« Old Tom sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und zeigte auf Percy. »Der hat auch Angst, aber ich lass ihn nicht gehen. Nein, der bleibt schön beim alten Tom. Ich arbeite hier in Blackness House, seit ich kurze Hosen getragen habe, und ich hab nie einen Geist gesehen! Mein alter Vater glaubt, er hätte sie mal gesehen, aber der mochte den Apfelwein ein bisschen zu gern, wenn Sie verstehen, was ich meine, Miss Birdie. Mein Dad hat sie wohl immer dann gesehen, wenn er ein paar Gläser Apfelwein getrunken hatte.« Er zwinkerte mir zu und lachte über seinen eigenen Scherz.
»Wen gesehen?«, hakte ich nach.
»Die verhüllte Frau, Miss Birdie. Die Frau, von der sie behaupten, sie würde hier herumspuken, seit sie das zugemauerte Versteck in der Kapelle gefunden haben. Da lagen Knochen und die Wand war zerkratzt.« Er warf einen Blick zurück zum Haus. »Sie behaupten, es sei Hellyers Frau gewesen. Dass sie verrückt geworden ist, nachdem ihr Kind starb, und er sie da eingeschlossen hat, um sie verhungern zu lassen. Jetzt zieht ihr Geist rastlos umher, weil ihr Ruheort zerstört wird. Haben Sie schon mal einen solchen Haufen Unsinn gehört?« Er lachte, bis er von einem Hustenanfall geschüttelt wurde. »Oh, da kommt die Chefin. Besser, wenn ich mich bei den Rosen blicken lasse.« Er verschwand zwischen den Rosenbüschen in der Nähe und tat so, als kümmere er sich um die Blumen, während er Percy Anweisungen zurief.
Mrs Bydrenbaugh ließ sich neben mir auf der Gartenbank nieder und warf einen Blick in mein Skizzenbuch. Sie schwitzte und wirkte aufgewühlt. »Violet hat gesagt, Ihre Skizze sei gut, und das ist sie. Zweifellos haben Sie diese Narren gesehen, die eben davongelaufen sind, und haben sich Old Toms Tratsch angehört?« Sie warf einen scharfen Blick zu den Rosenbüschen hinüber, wo Tom und Percy bestimmt aufmerksam lauschten. »Ich würde es zu schätzen wissen, wenn Sie für sich behalten, was hier heute passiert ist. Es ist schwierig genug, gute Handwerker zu bekommen, auch ohne dass noch mehr von ihnen hysterisch die Arbeit verweigern. Nichts als ein Haufen Tagediebe, die ein paar alte Tierknochen finden und anfangen herumzuheulen, Geister seien hinter ihnen her. Ich bin nur froh, dass Violets Vater, Charles, nicht mehr am Leben ist – er konnte faule Angestellte nicht ausstehen.«
»Sie glauben nicht an Geister?«, wagte ich zu fragen.
Es folgte ein kurzes Schweigen, währenddessen sie das Grabmal betrachtete. »Ich glaube an ein Flüstern aus der Vergangenheit, für das manche Menschen empfänglich sind. Ich habe diese Frau im langen Mantel, von der alle reden, nie gesehen, aber ich spüre manchmal ihre Gegenwart, wie eine Art Schattenrest, mit dem ich zusammenstoße, wenn ich meinem Tagwerk nachgehe. Dieses Haus ist voll von Geschichten und Geheimnissen.« Sie fuhr in einem unbewussten Echo von Violets voriger Aussage fort: »Ich glaube nicht an wilde Erzählungen, die bei jedem Mal unheimlicher werden, weil müßige Arbeiter nach Ausreden suchen, um ihren Lohn zu versaufen. Ich brauche mehr Leute wie den alten Tom hier: kein Grips, wenig Phantasie, aber handwerklich geschickt.«
Als sie weiter so daherredete, vermochte ich das Blut ihrer Vorfahren in ihren Adern zu erahnen. Die stählerne Sicht auf die Dinge und die Entschlossenheit, die Hellyer dazu getrieben hatte, in solch trostloser tasmanischer Wildnis einen englischen Landsitz zu erbauen, nur um dann miterleben zu müssen, wie seine heißgeliebte jüngste Tochter vor seinen Augen in dem Wägelchen, das er für sie gebaut hatte, ums Leben kam, gefolgt vom Tod seiner Frau weniger als ein Jahr später. Die meisten Einwohner von Pencubitt glaubten, sie sei aus Kummer gestorben: Es hieß, ihr Haar wäre vor Schreck weiß geworden, als sie aus dem Haus gerannt kam und ihr Kind blutig und zerschlagen in der Auffahrt liegen sah. Vielleicht handelte es sich auch bloß, wie Mrs Bydrenbaugh gesagt hatte, um eine Geschichte, die mit der Zeit immer mehr ausgeschmückt wurde.
Irgendwann verstummte sie, und wir saßen in unbehaglichem Schweigen da. Ich hatte das Gefühl, dass Mrs Bydrenbaugh mir noch etwas anderes anvertrauen wollte, doch auf ihre nächsten Worte war ich nicht vorbereitet. »Ich weiß, dass Sie und ich Geschichte beide sehr schätzen. Ich wünschte nur, Violet hätte das auch geerbt. Sie ist ein liebes Mädchen, aber sie kommt nach ihrem verstorbenen Vater und hat einen hohlen Kopf. Wenn sich eine Unterhaltung nicht um einen amerikanischen Filmstar oder irgendeinen Schlager dreht, hat sie keinerlei Interesse. Ich spüre, dass Sie sind wie ich und für Sie im Flüstern der Vergangenheit eine gewisse Romantik liegt.«
Ich war überrascht und zugegebenermaßen geschmeichelt von ihrer Bemerkung. Innerhalb eines Vormittags hatten mir sowohl Mutter als auch Tochter von Blackness House freundschaftliche Avancen gemacht. Als Mrs Bydrenbaugh sodann anbot, mir die Kammer zu zeigen, welche die Männer freigelegt hatten, nahm ich dankbar an. Zuerst musste ich ihr jedoch versprechen, dass ich nicht darüber schreiben würde, bevor ich nicht ihre Genehmigung dazu hatte.
Indem ich das hier niederschreibe, breche ich natürlich dieses Versprechen, doch ich glaube nicht, dass das noch von Bedeutung ist. Vermutlich wäre es ihr nun egal. Denn wie hätten wir an diesem wunderschönen Sommertag, als so viel Hoffnung in der Luft lag, ahnen können, dass Blackness House und das Poet’s Cottage von einer solchen Tragödie heimgesucht würden? Als ich ihr durch den Rosengarten zu dem imposanten Anwesen folgte, war nicht mal ein Hauch der drohenden Ereignisse zu spüren.
Eine Gruppe von Männern war bei unserem Herankommen offenbar in eine hitzige Diskussion vertieft. Wir befanden uns nun auf der Rückseite des Hauses, wo die Hühner um das Waschhaus und den alten Abort herumgluckten. Ein Stück entfernt, neben dem steinernen Schulgebäude und gegenüber des Kräutergartens, stand die kleine Kapelle. Im Schulgebäude fanden immer noch öffentliche Versammlungen statt. Die Kapelle hingegen war nicht mehr genutzt worden, bis Mrs Bydrenbaugh ihre schicksalsträchtige Entscheidung gefällt hatte, sie für Violet restaurieren zu lassen.
Die Arbeiter verstummten, als sie uns erblickten. Einige nahmen ihre Kappen ab. Ich kannte diese Männer schon mein ganzes Leben, und trotzdem spürte ich ihre Abneigung uns gegenüber, was mich verwirrte. Werkzeug lag ringsherum verstreut, und in der Luft schwebte immer noch Staub. Ich warf einen Blick auf die Tür der kleinen, dunklen Kapelle, denn ich war neugierig, was wohl ihre Aufregung verursacht hatte.
»Alles wieder ruhig, Peter?«, herrschte Mrs Bydrenbaugh den Vorarbeiter an. »Ich habe Miss Pinkerton mitgebracht, damit sie sich mal Ihr geheimes Zimmer ansehen kann. Sie wird nicht die Flucht ergreifen und Trost im Bierkrug suchen, im Gegensatz zu einigen Ihrer Männer. Kann sie es gefahrlos betreten? Haben Sie drinnen nach Schlangen geschlagen?«
»Haben wir, Madam. Es gab ein paar Tigerschlangen, aber die haben wir erledigt.« Er zeigte auf den hinteren Zaun, über dem zwei große Schlangen hingen.
»Na, dann sind Ihre Männer wenigstens zu etwas gut«, kommentierte Mrs Bydrenbaugh. Sie schüttelte missbilligend den Kopf. »Machen so einen Aufstand wegen ein paar Geistern! So einen Unsinn habe ich ja noch nie gehört!«
»Das habe ich ihnen auch gesagt, Madam«, erwiderte Peter. Er warf mir einen Blick zu, und ich sah, dass ihm trotz seiner Worte nicht ganz wohl in seiner Haut war.
Zu dritt betraten wir die Kapelle. Die Arbeit war hastig abgebrochen worden: Auf dem Boden lag überall Werkzeug herum und daneben halb ausgepacktes Essen für die Mittagspause. Edward Hellyer hatte die Kapelle zum Gedenken an seine Frau Elizabeth und für private Familienandachten erbaut. Ich war früher bereits einmal dort gewesen und wusste, dass es sich um ein einfaches, rustikales Gebäude handelte. An einigen Stellen war der Sandstein brüchig geworden, und es gab ein halbes Dutzend Bänke sowie einen kleinen Holzaltar. Ein winziges Bleiglasfenster spendete rot gefärbtes Licht. Vom Dach hingen riesige Spinnweben herunter und Peter warnte uns, nicht hineinzulaufen.
»Hier ist ja noch nicht viel vorangegangen!«, schnauzte Mrs Bydrenbaugh ihn an. »Es ist hinterm Altar«, erklärte sie an mich gewandt. »Passen Sie auf, wo Sie hintreten, denn es könnte noch mehr Schlangen geben.« Ich persönlich bezweifelte, dass irgendeine Schlange es wagen würde, sich in Mrs Bydrenbaughs Nähe zu begeben, blieb aber trotzdem wachsam.
Ich entdeckte es sofort – man hatte ein großes Loch durch die eine Wand geschlagen – und bald erkannte ich auch, weshalb die Männer solche Angst hatten. Hinter der Wand verbarg sich ein winziger Raum. Wenn ich die Arme ausstreckte, konnte ich die Wände auf allen Seiten berühren. In der Ecke lag ein Haufen schimmliger Lumpen, die längst verrottet waren. Als ich sah, dass an einer Stelle einige Worte in den Stein gekratzt standen, ging ich näher hin und las: ICH VERGEBE EUCH. MÖGE GOTT MIR BEISTEHEN.
Ich spürte, wie mir die Haare im Nacken zu Berge standen. Mein Atem ging flach, und ich wäre am liebsten davongelaufen. In dieser winzigen Kammer war irgendetwas Schreckliches passiert, sie barg irgendein dunkles Geheimnis, das nun zum Vorschein kam. Ich verstand nun, weshalb einige der Männer sich dorthin geflüchtet hatten, wo Leben und Gelächter herrschte.
Als ich mich nach Mrs Bydrenbaugh umsah, las sie die Frage in meinen Augen. »Der Streich irgendeines Kindes«, meinte sie. »Ich finde dauernd irgendwelche Wandkritzeleien von Kindern früherer Generationen. Besitz zu verschandeln ist leider eine der eher ärgerlichen Kinderangewohnheiten. Ich musste es aus Violet, als sie klein war, auch herausprügeln.«
Sie zeigte auf einen Rupfensack in der Ecke. »Ich habe Peter die Knochen einpacken lassen, die sie gefunden haben. Das hat den Männern Angst eingejagt. Ein paar alte Knochen, und schon bellen sie rum, man hätte hier irgendeine Frau eingesperrt. Ich weiß, dass die meisten von ihnen nicht lesen können, aber man könnte schwören, sie seien mit den Schauerromanen von Ann Radcliffe groß geworden oder anderem Schund dieser Art.«
Ich schaute Peter an. Er sah genau so aus, wie ich mich fühlte, und ließ den Blick unruhig umherschweifen.
»Sollten die Knochen nicht von der Polizei untersucht werden?« Schließlich hatte ich meine Stimme wiedergefunden. »Woher wollen Sie wissen, dass da ein Tier verendet ist? Vielleicht wurde ein Verbrechen begangen.«
»Du lieber Himmel, Birdie. Ich hatte angenommen, Sie hätten mehr Verstand!«, rief Mrs Bydrenbaugh. »Sie sprechen von meinen Vorfahren. Ich erbitte mir also einen respektvolleren Ton! Es gab kein Verbrechen. Vermutlich laufen Sie gleich den Männern hinterher ins Wirtshaus. Heben Sie sich Ihre Phantasie für Ihre Kunst auf!«
Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben, doch ich wollte einfach nur weg. Der Raum fühlte sich verunreinigt an. Vielleicht war es die abgestandene Luft, die mir zu schaffen machte, sagte ich mir, denn ich wollte ja glauben, dass es einen logischen Grund für die Furcht gab, die mir durch die Adern kroch. Doch es war, als sei dies ein Ort, an dem großes Unglück und Unheil gediehen war. Und durch das Aufbrechen der Wand hatten wir dieses nun entfesselt und auf die Welt losgelassen.
Die Kammer hätte nie geöffnet werden dürfen. Die Arbeiter hatten die Büchse der Pandora aufgemacht und alles freigelassen, was darin hätte gefangen bleiben sollen. Ich wünschte mir, Mrs Bydrenbaugh hätte mir den versteckten Alkoven in der Kapelle nie gezeigt. Er verfolgt mich immer noch.
Wenn ein Flüstern aus der Vergangenheit Leben zerstören kann, dann wurden wir an jenem Tag alle vom blutigen Pfeil des Schicksals getroffen.