VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Der Gott Mars sagte eines Tages zu den N-er Marsianern: »Mein Vater Jupiter schickt mich, um euch das Geheimnis der Unsterblichkeit zu verraten. Dieses Geheimnis wird euch erlauben, den Sämann des Nichts von euch fernzuhalten. Aber solltet ihr es nicht beachten, wird der Sämann aus dem Nichts auftauchen und euch in die Abgründe des Vergessens stürzen.«
»Wie lautet dieses Geheimnis?«, fragten die N-er Marsianer.
»Es ist einfach: Vergesst nie, den Gott anzubeten, der in euch schläft.« Die Menschen vom Planeten N-er Mars verstanden seine Worte nicht und beeilten sich, sie zu vergessen. Die Priester gaben ihnen neue Götter, neue Idole, die sie fanatisch verehrten. Sie begannen sich zu streiten und gegenseitig zu töten, und die Erde des Planeten war dermaßen von Blut durchtränkt, dass sie auf ewig rot blieb.
Ihr Hass- und Kampfgeschrei weckte den am Abgrund schlafenden Sämann des Nichts. Er stand auf, nahm die Gestalt eines Mannes an und ging auf den Planeten N-er Mars.
Als die entsetzten Menschen ihn sahen, erinnerten sie sich an die Worte des Gottes Mars. Sie versuchten, den schlafenden Gott in sich wieder zu wecken, aber es war zu spät: Der Sämann des Nichts löschte sie aus, und ihre Welt wurde für immer in den Abgrund geschleudert.
Macht diese Geschichte dir Angst, dir, da du mir aufmerksam zuhörst? Liebe deinen inneren Gott, und fürchte dich nicht.
Legende vom Planeten N-er Mars, von der auf dem Planeten Alemane lebenden n-er-marsianischen Gemeinschaft erzählt. Übersetzung von Messaodyne Jhû-Piet
Der PLAN bestand nun aus zehn Stufen – die zehnte war von den Meister-Creatoren nicht vorgesehen.
Die In-Creatur hatte sich über das Hyponeriarchat hinweggesetzt. Es beraubte nicht die Menschen der Kreativität, um sie durch die Kreativität der Scaythen zu ersetzen. Die Hauptplatinen hatten die Konglomerate des Matrix-Bottichs missbraucht. Denn sie waren immer über die neunte Stufe des Plans informiert gewesen und hatten auf die Impulse der In-Creatur hin eine zehnte Stufe vorbereitet, wobei sie wussten, dass die Keimlinge dabei zerstört werden würden. Doch das ignorierten sie, denn nichts verband sie mit den Produkten ihrer Aktivitäten – ihnen ging es nur um neue Verknüpfungen, einen erhöhten Wahrscheinlichkeitsfaktor.
So hatten sie das Auflösen der äußeren Hülle der Scaythen, die Rückgewinnung ihrer Keimlinge und den Zusammenschluss aller Keimlinge in dem rekonstruierten Körper Tixu Otys, verstärkt durch die Komponenten von Robotern und Xaxas, als eine neue und interessante Möglichkeit betrachtet. Sie waren also in dem Konstrukt präsent, das die Meister-Creatoren das Pferd der drei getauft hatten. Sie hatten alle ihre Dateien in ein autonomes Programm transferiert, das das Hyponeriarchat, ohne es zu wissen, in Tixu Otys Gehirn implantiert hatte.
Das menschliche Gehirn ist ein erstaunliches Organ, faszinierend in seiner Komplexität. Das autonome Programm hatte sich im vorher festgelegten Moment aktiviert. Die Hauptplatinen hatten Großhirn und Kleinhirn sowie Zirbeldrüse und Hypophyse befallen und von dort aus, dank der Kohäsions-Keimlinge begonnen, die in anderen Körperteilen des Orangers sitzenden Meister-Creatoren zu verändern. Der andauernde Kontakt mit den Menschen hatte deren Funktion gestört. Deshalb hatten sie die Ordnung wiederhergestellt und die Konglomerate als unfehlbare Exekutanten ihres Volkes rekonditioniert.
Die In-Creatur hatte die Neigung der Scaythen für das menschliche Kreativpotenzial dazu benutzt, um eine ultimative Waffe zu konzipieren. Denn dank der Relais der Hauptplatinen konnte sie ihre immaterielle Allmacht in einen unzerstörbaren Panzer stecken. Jetzt besaß sie einen Sämann des Nichts, einen Soldaten, der ihr blindlings gehorchte.
Den Meister-Creatoren war es gelungen, Tixu Otys Geist und Seele zu fragmentieren, ihn von seinem Ursprung abzukoppeln, ihn vom Antra zu trennen – und die Hauptplatinen hatten das zerstörerische Werk vollendet. Jetzt konnte die In-Creatur direkt im Bereich der Schöpfung tätig werden. Dank der integrierten Deremats – dem Äquivalent der Hauptplatinen für die psychokinetische Reise – konnte sie sich augenblicklich von einer Welt in eine andere begeben.
Die nach kreativer Autonomie strebenden Meister-Creatoren hatten einen Urmenschen – dieser Mensch war Tixu Oty gewesen, der Wahrscheinlichkeitsrechnung nach hätte es auch der Mahdi Shari von den Hymlyas sein können – dazu gebracht, in den Matrix-Bottich zu steigen. Von den Hauptplatinen informiert, hatte die In-Creatur sofort erkannt, welchen Vorteil sie daraus ziehen konnte. Da es ihr nicht gelungen war, die anderen Krieger der Stille – Personen, die die Aufgaben der einstigen Meister der Inddikischen Wissenschaft übernommen hatten – zu neutralisieren, würde sie sich Tixu Otys bedienen, um mit dessen Hilfe in die Inddikischen Annalen einzudringen. Und hätte sie erst einmal diese letzte Bastion der Menschheit erobert, würde sie ihre ganze zerstörerische Kraft dazu benutzen, die Menschen ins Nichts zu stoßen, aus dem sie niemals hätten hervortreten dürfen.
Manchmal leuchteten Bewusstseinsfetzen in Tixus innerer Leere auf. Erinnerungen an sein Leben als Mensch. Unzusammenhängend. Die Hauptplatinen wachten aufmerksam darüber, dass er keine Zusammenhänge irgendwelcher Art herstellen konnte.
Ein bleiches, starres Gesicht auf einem weißen Kopfkissen … Mama?
Er verließ den Rekonstruktions-Bottich und trat sofort seine Reise zu den Welten des Zentrums an, eine fehlerhafte Bezeichnung, da sie sich am Rand der Milchstraße befanden. Der Kern der Galaxis bestand nur noch aus einem riesigen schwarzen Loch, das sich rasant vergrößerte und Millionen Sterne verschlang. Er ließ alles hinter sich, was die überragende menschliche Schöpferkraft je ersonnen hatte – die Matrix-Bottiche, den Friedhof der Raumschiffe –, und alle diese Artefakte würden sich nun bald gegen ihn wenden.
Er brauchte etwa sechs Standardjahre, um die erste Welt der Marschen zu erreichen.
Ein dunkler Schleier verhüllte plötzlich die beiden Gestirne Altehir und Alshaïn des Planeten N-er Mars. Am helllichten Tag wurde es Nacht.
Die Bürger N-er Mars’ liefen überall zusammen und diskutierten beunruhigt dieses Phänomen. Nach dem Großen Krieg der Gedanken waren von ihrem Planeten Wellen der Emigration ausgegangen. Daher betrachteten sie sich als eines der ältesten Völker der Marschen und des Zentrums, worauf sie ziemlich stolz waren.
Wer es hören wollte, dem erzählten sie, dass die ersten irdischen Kolonisten ihren Planeten N-er Mars getauft hatten, weil seine rote Oberfläche und sein trockenes Klima sie an einen Erdtrabanten namens Mars erinnere – Linguisten behaupten, N-er Mars sei eine Verkürzung von Neuer Mars. Sie vergaßen zu erwähnen, dass ihre Welt, auf die sie so stolz waren, früher ziemlich abweisend gewesen war. Die Kolonisten hatten den Planeten, ehe sie ihn bewohnen konnten, terraformieren und fünfzig Standardjahre warten müssen, ehe sie ihn bewohnen konnten. Obwohl er seit achttausend Jahren über eine Sauerstoffatmosphäre verfügte, herrschte, außer an den Polen, eine entsetzliche Hitze, und die N-er Marsianer verbrachten ein Drittel ihrer Zeit damit, die Dürre zu bekämpfen, ein Drittel widmeten sie dem Müßiggang im Schatten, und das letzte Drittel über schliefen sie.
Alle Gebäude der Stadt waren rot, auf Dauer ein ziemlich unerträglicher Anblick. Glücklicherweise gab es ein paar Pflanzen und Bäume, die auf dem vulkanischen Boden wuchsen und dem Auge ein paar Farbflecke zur Abwechslung boten.
Nach dem Verschwinden der Scaythen und den Repressalien der Kreuzianer war diese unerwartete Finsternis das zweite Ereignis in einer Woche, das die Bürger trotz der Gluthitze auf die Straßen trieb.
Gerüchte kursierten, denn der Kirche war es nicht gelungen, alte planetarische Legenden im Volksglauben auszulöschen, und sie tauchten sofort wieder auf, wenn es keine wissenschaftlichen Erklärungen für seltsame Naturerscheinungen gab.
»Der Sämann des Nichts ist zurückgekehrt. Er wird uns alle in den Abgrund stürzen …«
Rational denkende Menschen behaupteten zwar, dass es schon früher eine doppelte Finsternis gegeben habe und dass bald alles wieder seinen gewohnten Gang gehe. Die Konvertiten hingegen, die Anhänger der Kirche priesen das Kreuz und sahen in dieser plötzlichen Nacht eine göttliche Strafe, weil man die Missionare auf Steinen gekreuzigt und sie den glühenden Strahlen Altehirs und Alshaïn ausgesetzt hatte. Eine dritte Gruppe vertrat jedoch die beunruhigende Hypothese, die Scaythen würden zurückkehren.
Doch niemand stellte einen Zusammenhang zwischen der Finsternis und dem Mann her, der völlig nackt auf dem größten Platz N-er Athenas saß.
Passanten blieben stehen. Die Frauen fanden ihn auf seltsame Weise anziehend, doch als die Gaffer ihn lange genug angestarrt hatten, beschlossen einige von ihnen, die Ordnungskräfte wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses zu rufen. Die Männer kamen, richteten ihre altmodischen Bauchbrenner auf den Mann und baten ihn, sich anzuziehen. Damit demonstrierten sie ihre Überlegenheit, denn der Mann besaß offensichtlich keine Kleidung.
Die Haut dieses Fremden hatte einen seltsam grau schimmernden Ton, der an ein prähistorisches Raumschiff im Museum erinnerte. Und seine erstarrte Haltung wirkte verstörend, sie glich der eines Roboters.
Innerhalb weniger Minuten wurde es beträchtlich kälter. Dieser ungewohnte Temperaturrückgang machte die Ordnungshüter nervös. Ihr Vorgesetzter ergriff das Wort.
»Das Gesetz verbietet es, sich in der Öffentlichkeit nackt aufzuhalten, Sieur. Ziehen Sie sich an!«, bellte er.
Der Fremde sah ihn an. Seine Augen waren ausdruckslos und hatten einen metallischen grünen Glanz.
»Noch einmal, ziehen Sie sich an, Sieur!«, sagte der Offizier.
»Bringen Sie mir etwas zum Anziehen, wenn Sie das wollen«, entgegnete der Mann mit hohl klingender Stimme.
»Es ist nicht unsere Aufgabe, Fremde mit Kleidung zu versorgen, sondern nur darauf zu achten, dass die Gesetze befolgt werden.«
»Ihre Uniform genügt mir«, sagte der Mann, stand auf und ging auf den Offizier zu.
»Feuer!«, schrie der Offizier.
Die Bauchbrenner spien ihre weißen Wellen gleichzeitig aus. Alle trafen, aber sie richteten keinen Schaden an. Ein hässliches Lächeln breitete sich im Gesicht des Mannes aus. Ungerührt ging er weiter auf den Offizier zu. Der fing vor Entsetzen an zu zittern. Denn ihm wurde bewusst, dass er dem Sämann des Nichts gegenüberstand. Jenem unbesiegbaren, geheimnisvollen Wesen der Legenden aus einer nicht irdischen Welt, das den Planeten vernichten wollte.
Das Monster legte ihm die Hände um den Hals und drückte ihm die Kehle zu. Er ließ es ohne Gegenwehr geschehen, während die Männer in Panik weiter ihre Waffen auf den Fremden abfeuerten.
Der Nicht-Mensch entkleidete den Toten, stieß den Leichnam von sich und zog die Uniform an. Das alles tat er völlig emotionslos.
»Verdammt!«, rief einer der Männer. »Das ist ein beschissener Androi de!« Er ließ seine Waffe fallen und versteckte sich in der Menge. Seine Kameraden folgten ihm. Sie hatten keine Chance, diese furchterregende Kreatur zu besiegen.
Die Nacht wurde immer kälter und bedrohlicher. Es schien, als wäre die Apokalypse über die Stadt hereingebrochen und würde sich nun über den ganzen Planeten bis in die tiefsten Abgründe ausbreiten.
Die Menschen hatten das Gefühl, der Boden schwanke unter ihren Füßen und alles, Straßen, Brücken, Häuser, würde sich auflösen.
Die In-Creatur genoss die Vernichtung dieses Planeten und seiner Bewohner nicht, so wie sie nie Vergnügen an ihrem Tun fand. Sie zerstörte, weil ihr Wesen darin bestand, jegliche Kreativität zu vernichten; sie existierte als ein Gegenpol, ein unermüdliches Raubtier allen Lebens.
»Ein Sämann des Nichts …«
Viele Namen hatte man der In-Creatur gegeben, in der Form verschiedenster Kulte verehrt. Sie versteckte sich in den Worten falscher Propheten, in den Träumen grausamer Tyrannen. Sie steckte in den Waffen der Soldaten, in den Angst- und Hassgefühlen der Menschen. Sie war der Maßstab der Humanität, ihr Damoklesschwert; sie repräsentierte das Spiegelbild der Menschheit.
Sollte es der In-Creatur gelingen, die Menschheit auszulöschen, würde sie selbst nicht mehr existieren, weil es keinen Grund mehr für ihre Existenz gab. Die In-Creatur war die stete Beobachterin menschlicher Schwächen, ihrer Gedanken, Worte und Taten. Sie war eine äußerst flüchtige Kraft, die jede Schwachstelle menschlichen Geistes sofort ausfüllte. Und je mehr Raum sie gewann, umso mehr entfernten sich die Menschen von ihrem Ursprung.
Jene Menschen, die vor dem Abgesandten der In-Creatur flohen, hatten vergessen, dass in ihnen die Kraft wohnte, ihn zu besiegen. Allein die Krieger der Stille konnten den Abgesandten noch aufhalten, ihn zwingen, vor dem Licht zurückzuweichen. Doch der Abgesandte rechnete damit, die Krieger in den Inddikischen Annalen bezwingen zu können. Dann würde er den Chor der Schöpfung zum Verstummen und das sich Ausdehnen des Weltalls ins Unendliche zum Stillstand bringen.
Blaugrüne Augen mit goldenen Sprenkeln … Langes blondes Haar … Ich …
Die Kohäsions-Keimlinge, die Agenten der Hauptplatinen im Zentrum des Hyponeriarchats, hatten die Aufgabe, das Langzeitgedächtnis ihres Abgesandten zu neutralisieren, denn diese Dateien stellten eine permanente Bedrohung dar. Sie allein waren die einzige Verbindung des Orangers zu seinem einstigen Ich, zu seiner Individualität. Doch da die neunte Stufe des Plans sabotiert worden war, wurden jetzt nur noch jene Funktionen aktiviert, die die In-Creatur zum Erreichen ihres Ziels benötigte.
Die Astronomen auf den Welten des Zentrums fanden keine plausible Erklärung für das plötzliche Verschwinden des Planeten N-er Mars. Sie organisierten ein außerordentliches Kolloquium in Venicia und diskutierten die widersprüchlichsten Hypothesen. Zuerst wurde eine Explosion in Betracht gezogen, diese Möglichkeit aber schnell wieder verworfen. Dann erwog man eine Implosion, verwarf diese Theorie jedoch ebenfalls.
Schließlich erhoben einige Wissenschaftler ihre Stimmen und wiesen auf einen eventuellen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden der Scaythen und dem des Planeten hin. Daraus zogen sie den Schluss, Hyponeros sei der zweite, der geheime Name des Planeten N-er Mars, und so sei endlich das Geheimnis der Herkunft der Scaythen gelöst.
Andere Gelehrte hielten dagegen, dass die Bevölkerung des Planeten definitiv menschliche Züge gehabt habe, obwohl das Volk sehr alt gewesen sei, und dass das heiße Klima des Planeten wahrscheinlich zu Mutationen bei den Menschen geführt habe, nicht aber zur Entstehung nicht humaner Kreaturen.
Da das Ang-Imperium so schnell wie ein Kartenhaus in sich zusammengestürzt und von der alten Konföderation von Naflin nichts mehr übrig geblieben war, gab es keine interplanetarische Institution, die eine Antwort auf diese Frage hätte geben können. So machte sich die allgemeine Überzeugung breit, N-er Mars habe insgeheim einen Pakt mit Hyponeros geschlossen und sei vielleicht wegen irgendwelcher Vertragsverletzungen vom Verbündeten bestraft worden.
Die Akademie musste sich unerwarteterweise noch mit einem anderen Thema beschäftigen, denn ein Teil der venicianischen Aristokratie entzog der Familie Mars ihre bisherige Unterstützung, weil sie das Verschwinden des Planeten mit der Aspirantin auf den Thron, Miha-Hyt de Mars, wegen desselben Namens in Verbindung brachte, und nun Miha-Hyt politische Unfähigkeit vorwarf. Innerhalb der venicianischen Aristokratie versuchten alle, ihren eigenen Favoriten diese Machtposition zu sichern und natürlich davon zu profitieren.
Also wurden im Palast und dem Sitz des Bischofs neue Allianzen gebildet, Intrigen geschmiedet und Attentate begangen. Guntri de Mars’ Personenair explodierte in der Luft, seine Tochter, Irka-Hyt, eine ehemalige Spionin am Hofe Menatis, wurde ermordet.
Miha-Hyt war so intelligent, sich mit der ehemaligen Garde und den vielen einstigen Pritiv-Söldnern zu verbünden. Im Jahre 1 der Ersten Postang’schen Periode wurde sie gekrönt. Sie war außerdem intelligent genug – fraglos wegen der Stimulierung ihres Gehirns durch Mikrostasen –, auf den Titel Imperatrix zu verzichten und sich mit einem einfachen Dame Hyt als Anrede zu begnügen, auch wenn ihre Gegner weiterhin planten, sie bei der ersten Gelegenheit vom Thron zu stürzen.
Da die Geistlichkeit noch keinen neuen Muffi gewählt hatte, wurde Dame Hyt von einer widerwilligen Abordnung aus Kardinälen und Vikaren in ihr Amt eingeführt. (Den Leichnam des Marquisatolen hatte man nie gefunden und in seltener Einigkeit beschlossen, den Namen Barrofill XXV. für immer aus den Annalen der Kirchengeschichte zu tilgen.)
Die von der Planetarischen Holovision übertragene Zeremonie – sie fand dort statt, wo Menati Ang seine Familie und sich ausgelöscht hatte – fand auf Syracusa nur gemäßigtes Interesse. Die Thronbesteigung dieser durch die Mikrostasen vorzeitig gealterten und hässlichen Zwergin erinnerte die Bürger nur zu sehr an den abrupten Niedergang ihres Reichs. Syracusa war die Königin der schönen Künste, der Mode und der feinen Lebensart gewesen, ein strahlender Stern im Universum, auf den alle Paritolen voller Neid blickten. Zwanzig Jahre hatte diese Herrschaft gedauert, und auch wenn sie nur durch die Allianz mit den Scaythen möglich gewesen war, so hatte sie ihre Bewohner mit Stolz erfüllt, Jetzt hatten sie das Gefühl, Syracusa versinke langsam in einer nicht enden wollenden Nacht, und seine Lichter verlöschten langsam, wie am Ende eines prächtigen Festes.
Und es war gewiss nicht Dame Hyt, diese runzelige Zwergin, in deren Anblick sie sich spiegeln wollten, und die fähig war, die alte Pracht Syracusas wieder aufleben zu lassen.
Die elf Mitglieder der Inddikischen Deva beherrschten jetzt alle die Reise auf den Gedanken und konnten sich mühelos auf die einzelnen Kontinente Terra Maters transferieren, die Ghë starrsinnig noch immer »die Erde« nannte.
Ghë war völlig gesund, doch Fracist zeichnete jeden Tag die Grapheme auf ihren Körper. Er behauptete, das stärke ihr Immunsystem. Doch Ghë vermutete einen Vorwand, um mit ihr allein zu sein, aber sie ermutigte ihn zaghaft.
Das wiederholte Zeichnen der Symbole wurde immer mehr zu einem zärtlichen Streicheln … Noch gab sie sich ihm nicht hin, sie öffnete sich langsam, sie bereitete sich auf ihn vor.
Auf ihrem Kopf wuchs jetzt ein weicher Flaum, weil ihr Stoffwechsel sich bereits an die Lebensbedingungen auf der Erde anpasste. Die üppige Haarpracht der anderen – vor allem Aphykits und Yelles goldene Locken und Onikis und Phoenix’ glänzendes glattes Haar – hatte sie begeistert. Doch bald würde auch sie einen solch prächtigen Haarschmuck tragen, denn sie wollte für Fracist schön sein.
Ihre zehn Gefährtinnen und Gefährten hatten sie mit so großer Herzlichkeit empfangen, dass sie schon bald nicht mehr traurig war und sich einsam fühlte. Nachdem sie ausführlich die Geschichte von El Guazer erzählt hatte, fühlte sie sich vollkommen in die Gemeinschaft integriert.
Ghë und Fracist unternahmen ausgedehnte Reisen und entdeckten zusammen die Schönheit der Erde. Abends erzählten sie von ihren Erlebnissen, wenn sich alle um den Strauch des Narren versammelten.
In den von Wildpflanzen überwucherten Ruinen einer versunkenen Stadt liebten sie sich zum ersten Mal. Es war ein bezaubernder Ort, auf einer Anhöhe am Ufer des Meeres gelegen. Fracist hatte keine Gewissensbisse, sein Keuschheitsgelübde gebrochen zu haben, doch nach der Liebe legte er seinen Kopf auf Ghës Brust und weinte wie ein Kind. Sie streichelte zärtlich sein Haar. Sie weinte nicht, noch nicht. Aber sie hatte ihren Frieden gefunden.
Yelle hatte sich selbst zur Beschützerin und Lehrerin Tau Phraïms ernannt und beschlossen, ihn die Sprache der Menschen zu lehren. Der Anfang war schwierig, denn er streckte immer die Zunge heraus und stieß schrille Pfiffe aus. Wenn er sie kommen sah, versteckte er sich manchmal im Gebüsch, und er war so schnell, dass sie ihn nie fangen konnte.
Doch Yelle war hartnäckig. Sie wartete, bis er Hunger bekam und aus seinem Versteck kroch. Von nun an erpresste sie ihn mit leckeren Speisen, eine zweifelhafte, aber sehr wirkungsvolle Methode: Tau Phraïm pfiff immer weniger und sprach immer mehr. Manchmal verbrachte er jedoch ganze Nachmittage neben einem Schlangennest in der Nähe des Dorfs.
Oniki fühlte sich auf Terra Mater wohl. Die Freunde ihres Prinzen mochten sie gern, und vor allem Aphykit hatte sie unter ihre Fittiche genommen wie Yelle Tau Phraïm.
Nur manchmal sehnte sie sich nach dem Korallenschild, dem Wind in den Großen Orgeln und dem Geruch des Ozeans Gijen. Sie schalt sich wegen ihres Heimwehs, denn ihr Traum hatte sich doch erfüllt: an der Seite ihres Prinzen zu leben.
Wenn Yelle Tau Phraïm sprechen lehrte, nahm Shari mitunter Onikis Hand, und sie ging mit ihm auf die Reise. Das Antra sang in ihr wie der Gesang der Thutalinen, wie der immerwährende Ruf Ephrens. Dann atmete sie den alten vertrauten Geruch ein, und als sie die Augen öffnete, sah sie, dass ihr Prinz sie auf das Korallenschild ihrer Heimat gebracht hatte. Da liebte sie ihn noch mehr.
Phoenix’ und San Franciscos liebstes Reiseziel war das Packeis am Nordpol. Mithilfe von Werkzeugen, die sie aus dem Dorf mitgebracht hatten, hatten sie eine große Höhle gegraben, in der sie in kleinem Maßstab versuchten, die Welt Jer Salems wiedererstehen zu lassen. Manchmal schliefen sie in ihrer Residenz aus Eis und kehrten erst am frühen Morgen in ihr Dorfhaus zurück.
Im Rückblick kam ihnen das heilige Wort des Abyners Elian wie ein schwacher Abglanz des Antra vor, die Fähigkeit, sich für kurze Zeit unsichtbar zu machen, wie eine unvollendete psychokinetische Reise und die abynische Kultur wie eine gravierende Fehlleistung.
Stundenlang spazierten sie über die Eisebene und bewunderten die flammend roten Sonnenuntergänge, das bleiche Licht des Vollmonds und die klare rosa Morgendämmerung. Obwohl sie nur leichte Kleidung und Sandalen trugen, froren sie nicht. Manchmal sahen sie weiße Pelztiere, die den Tigerbären auf Jer Salem glichen. Sie sprachen sehr wenig; sie hatten nie viele Worte gebraucht, um einander zu verstehen.
Nur unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft konnte Whu dem Drang widerstehen, Katiaj, der Himâ, einen Besuch abzustatten. Denn er fürchtete, nach einer Liebesnacht mit ihr weder den Willen noch die Kraft zu haben, gegen den Feind zu kämpfen. Zuerst musste er seine Mission erfüllen.
Also erkundete er die Erde. Gefiel ihm ein Ort, setzte er sich mit verschränkten Beinen auf den Boden und versenkte sich in das Xui, in unerforschte Regionen seiner Seele. Er sah auch in die Vergangenheit, sah Völker, die an dem Ort gelebt hatten, wo er jetzt saß; sah große überbevölkerte Städte, sah Kriege, Brandschatzungen … Er sah Gesichter … Und er sah sein Kloster wieder, das Meer der Feen von Albar, die gelben Möwen, die roten Dächer der Stadt Houhatte … Er betrat den Bergfried der Mahdis, suchte den Mahdi Seqoram, traf die vier Weisen des Kollegs und begriff, dass sie den Großmeister des Ordens ermordet hatten …
Durch diese Tat hatten sie der Armee der Ritter jede Chance genommen, gegen die Scaythen zu siegen. Whu fühlte sich von einer großen Schuld befreit.
Dieser Lump Jankl Nanupha hatte Recht, dachte Whu. Das Schicksal hat es gut mit mir gemeint, indem er mich daran hinderte, vor zwanzig Jahren auf den Planeten Selp Dik zurückzukehren. Jetzt bin ich ein Vertreter der Ritter der Absolution im Kampf gegen Hyponeros. Sollte ich diesen Kampf überleben und der Mahdi Shari es gestatten, gründe ich einen neuen Orden auf Basis der Inddikischen Wissenschaften und des Antra. Dann wird der Todesschrei zum Lebensschrei …
Jek hatte den Fehler gemacht und war auf seinen Heimatplaneten Ut-Gen gereist, um seine Eltern zu besuchen. Zu seinem großen Kummer hatte er erfahren müssen, dass sie tot waren, und er war schnell wieder auf die Erde zurückgekehrt. Jetzt war er Waise.
Yelle hatte sofort gemerkt, dass mit ihm etwas nicht stimmte, war zu ihm gegangen und hatte ihn umarmt.
Abends, vor dem Strauch des Narren, erzählte er mit tränenerstickter Stimme vom Tod seiner Eltern.
»Jek! Jek At-Skin!«, rief Fracist Bogh da plötzlich. »Mir ist das nie bewusst geworden. Du bist der Junge, der sich im Nord-Terrarium aufhielt, als ich die Bewohner vergasen ließ.«
Jek nickte.
»Wie hast du dem Tod entkommen können?«
»Ein alter Quarantäner hat mir seine Sauerstoffmaske gegeben.«
»Artrarak? Der Verbündete der Ritter der Absolution? Der Inquisitor-Scaythe Horax forschte ihn unablässig aus. Wir glaubten dich tot und haben deine Eltern benachrichtigt.«
»Dann hast du zwei Menschen mehr auf deinem Gewissen!«, schrie Jek, sprang auf und deutete anklagend auf den ehemaligen Muffi. »Sie haben ihr Erinnerungsvermögen auslöschen lassen, und daran sind sie gestorben …«
Dann floh er in die Nacht. Fracist wollte dem Jungen folgen, aber Whu hinderte ihn daran.
»Das nützt nichts«, sagte der Ritter. »Die Eltern trafen ihre Wahl. Das war ihr gutes Recht. Jek wird das später verstehen …«
»Der Blouf kommt näher. Ich kann ihn hören«, sagte Yelle. »Bald ist er da.«
Die elf saßen im Kreis um den Strauch des Narren. Es war Nacht, doch das Licht der Blüten leuchtete auf ihren Gesichtern.
»Es ist Zeit, die Deva zu bilden«, sagte Shari.
»Was ist das, eine Deva?«, fragte Tau Phraïm. Er saß auf dem Schoß seines Vaters.
»Eine Inddikische Entität, die Vereinigung unserer Kräfte, ein aus Teilen gebildetes besseres Ganzes. Wir müssen üben, ein Wesen mit zwölf Gesichtern zu bilden.«
»Elf«, korrigierte Whu.
»Elf im Augenblick«, sagte Shari, »doch bald werden wir zwölf sein. Aber der Zwölfte wird versuchen, unsere Einheit zu zerstören. Er wird uns gegeneinander aufhetzen, Hass und Zweifel säen. Welchen Lebensweg auch immer wir bisher gegangen sein mögen, wir müssen uns vorbehaltlos akzeptieren. Jeder jeden. Und wir dürfen nicht stolz darauf sein, dass wir für die Deva ausgewählt wurden, denn Stolz ist ein Gefühl, dem ein Werturteil vorausgeht …«
Aphykit sah den Mahdi bewundernd an. Jetzt ist er ein wahrer Meister geworden, dachte sie, tief bewegt. Sie erinnerte sich an die Zeit, als sie und Tixu nach ihren rastlosen Suchen Ruhe auf Terra Mater gefunden hatten. Sie sah Shari vor ihrem geistigen Auge, einen kleinen Jungen, der am Rand des Bachs über Felsen sprang und sie alle mit seiner Fröhlichkeit ansteckte. Sie wusste, dass der Narr der Berge stolz auf seinen Schüler wäre, ein Schüler, der damals oft zu unbeschwert war, weil er die Bedeutung seiner Aufgabe noch nicht begriffen hatte, bis er sich allein auf den Weg machte, um die Arche zu suchen. Sie ahnte auch, dass sein Sohn, Tau Phraïm, das fehlende Glied in der Kette der Hüter der Inddikischen Annalen sein würde.
Doch noch müssen wir erst Hyponeros besiegen. Noch müssen wir … Tixu gegenübertreten. Werde ich die Kraft haben, gegen ihn zu kämpfen?
»Wie wollen wir vorgehen?«, fragte Fracist Bogh.
»Zuerst üben wir gemeinsame Transfers, ohne eigene Initiative zu ergreifen, ohne eigene Wünsche. Wir lassen uns allein vom Willen der Entität Deva leiten.«
»Wann fangen wir damit an?«
»Sofort.«
Sie stellten sich im Kreis um den Busch, gaben sich die Hände und riefen das Antra. Doch noch war die individuelle Wahrnehmung zu groß, die Gruppenreise gelang nicht.
Aus Angst, das eigene Ich aufgeben zu müssen, einem Regentropfen gleich, der in eine Pfütze fällt, verweigerten sie mental dieses Verschmelzen, und es kam schließlich zu einer Krise, die beinahe in Verzweiflung und Zornesausbrüchen endete.
Der Mahdi verlangte Unmögliches von ihnen, die Selbstaufgabe. Doch im Morgengrauen half ihnen die Müdigkeit. Völlig erschöpft gaben sie sich dem Antra hin. Es wurde sehr still, und die Blüten des Buschs strahlten in hellem Glanz. Ganz plötzlich wurden alle von einem himmlischen Strom ergriffen und in die Unendlichkeit getragen. Da merkten sie, dass ihre Vereinigung nicht ihr Ich auflöste, sondern dass es durch die anderen bereichert wurde.
Seit diesem Tag übten sie die meiste Zeit über die devakische Reise und unterbrachen ihre Übungen nur, um in Aphykits und Yelles Haus ihre gemeinsamen Mahlzeiten einzunehmen. Nur zum Schlafen suchten alle ihre eigenen Häuser auf, oder auch um den Brauch weniger spiritueller Vereinigungen zu pflegen.
Bei der Rückkehr von jeder dieser Reisen waren sie erstaunt, weil sie sich plötzlich wie eingesperrt vorkamen, gleichsam in ihrem Körper gefangen. Dann brauchten sie immer eine gewisse Zeit, um sich wieder normal bewegen zu können, was oft großes Gelächter hervorrief und Tau Phraïm zum Pfeifen animierte.
Er war ein erstaunlicher kleiner Junge und steckte voller überbordender Energie, stand als Erster auf und ging als Letzter schlafen. Immer war er zu einem neuen Experiment bereit und legte einen Wissensdurst an den Tag, den die Erwachsenen kaum stillen konnten. Hatte er frei, dann spielte er mit seinen Freundinnen, den Schlangen, und behauptete, er habe bereits mehr als hundert verschiedene Arten auf Terra Mater gesehen. Aphykit hatte er besonders in sein Herz geschlossen, so wie ein Enkel seine Großmutter liebt. Sie war die Einzige, der er ohne Murren gehorchte. Und selbst Shari musste sie oft bitten zu intervenieren, wenn er etwas von seinem Sohn haben wollte.
»Wann besuchen wir die Annalen?«, fragte Yelle. »Jek hat mir so oft davon erzählt, dass ich sie bald sehen möchte.«
»Wenn wir zwölf sind«, antwortete Shari.
An jenem Tag, die Sonne stand im Zenith, wurde es Nacht am helllichten Tag. Und mit der Finsternis breitete sich Eiseskälte auf Terra Mater aus.
»Der Blouf kommt!«, rief Yelle.
Sie hatte die anderen am Vortag gewarnt, deshalb waren alle bereit. Sie bildeten einen Kreis um den Strauch des Narren, ließen ihn aber zwischen Aphykit und Yelle offen für den Besucher. Dann riefen sie das Antra und schlossen die Augen.
Auch mit geschlossen Augen wussten sie, dass sich ihnen der Sämann des Nichts näherte. Die Kälte wurde noch kälter und die Finsternis pechschwarz.
Trotzdem öffnete Aphykit die Augen einen Spalt und beobachtete Tixu. Er trug einen zerschlissenen Anzug und musterte alle elf mit kalten grün leuchtenden Augen.
Die Augen eines Roboters, dachte sie und hatte plötzlich Angst.
Die Deva desintegrierte sich. Hassgefühle und Tötungsgelüste erfüllten die Gemeinschaft, der Kreis brach auseinander. Ekel und Abscheu trennten sie.
»Ihr kennt jetzt meine Macht«, sagte Tixu mit metallisch klingender Stimme und ergriff Aphykits und Yelles Hand.
Frau? Tochter?