ACHTES KAPITEL

KRIEGER DER STILLE: Bezeichnung für ein menschliches Wesen – Frau oder Mann –, das sich durch außerordentliche Fähigkeiten auszeichnet wie etwa mittels der Kraft der Gedanken zu reisen oder nicht zu altern, die Jugend auf ewig zu bewahren. In weiterem Sinn schließt der Begriff Personen ein, die über Heilkräfte verfügen oder eine andere Gabe besitzen, die sie von den übrigen Sterblichen unterscheidet. Anmerkung: Einige Historiker halten Sri Lumpa, Naïa Phykit, den Mahdi Shari der Hymlyas und andere Gründer neuer Religionsgemeinschaften zu den ersten Kriegern der Stille. Andere Gelehrte behaupten, es gebe eine Verbindung zwischen der Inddikischen Wissenschaft – einer Wissenschaft, deren Gesetze sich in einer sagenhaften Lichtarche befinden sollen –, den Kriegern der Stille und den früheren Rittern der Absolution. (Absolution: Oratio des Absoluten, Definition des Gründers der Inddikischen Wissenschaften, Satyan Mah Ourat.)

Universallexikon pittoresker Wörter und Redewendungen,
Akademie der lebenden Sprachen

Seit sich Jek in einem der Vororte Venicias rematerialisiert hatte, konnte er sich an der Schönheit der Kapitale nicht sattsehen. Shari hingegen machte den Mund nicht auf und zeigte sich an der Wunderwelt der Hauptstadt Syracusas völlig desinteressiert.

Was Jek hier sah, war mit Anjor nicht zu vergleichen. Im selben Maße wie die utgenische Hauptstadt hässlich, finster und deprimierend war, boten Venicias Gebäude und Gärten den strahlenden Anblick perfekter Harmonie. Er hatte den Eindruck, jedes Haus, jeder Platz, jede Brücke, jeder Park sei Teil eines Gesamtkunstwerks. Die einzige Gemeinsamkeit beider Städte bestand in den hohen Wachtürmen der Gedanken, deren Architektur das Bild sowohl der einen als auch der anderen Stadt störte.

Sharis und Jeks Reise durch den Äther hatte am Ufer eines breiten, träge fließenden Flusses ihr Ende gefunden, auf dem farbenprächtige Schiffe dahinglitten. Obwohl die Promenade ziemlich belebt war, hatte ihnen niemand Aufmerksamkeit geschenkt, als wäre das plötzliche Erscheinen dieses Mannes und dieses Jungen etwas völlig Normales.

Jeks erster Gedanke hatte Yelle gegolten. Sie schlief in einem dieser Gebäude in dieser Stadt, und sie plötzlich nach dreijähriger Trennung in seiner Nähe zu wissen, erfüllte ihn mit unbeschreiblicher Freude.

Shari und Jek hatten sich eine Weile ausgeruht und geistesabwesend die Müßiggänger betrachtet. Die beiden trugen Colancors und Jacken, die sie auf dem zwischen Terra Mater und Syracusa gelegenen Planeten Marquisat gekauft hatten. Shari hatte sich seinen Bart abrasieren lassen, denn die Kirche des Kreuzes sowie die Syracuser untersagten jegliche öffentliche Zurschaustellung menschlichen Haars, außer zwei kunstvoll geflochtenen Zöpfen, die als Schmuck außerhalb der den ganzen Kopf umschließenden Haube getragen werden durften.

Jek fühlte sich in dem straff am Körper anliegenden Colancor eingeengt, und er beneidete die Venicianer um ihren Hochmut und die Gelassenheit, mit denen sie sich in ihrer Kleidung bewegten. Und ihre prächtigen Mäntel, Capes oder Überwürfe ließen das Grau seines Gewands noch trister erscheinen. Einigen Passanten folgten in gewisser Distanz ein, zwei oder drei Gedankenschützer.

»Die Vorhut des Bloufs«, murmelte Shari. »Die Menschheit hat ihm die Schlüssel zu ihrer Seele übereignet …«

Shari besaß noch ein paar Standardeinheiten, und sie aßen in einem der zahlreichen Restaurants an der Uferpromenade. Dann nahmen sie eine Taxikugel – ein rundes, transparentes Fluggerät – und ließen sich ins historische Zentrum der Stadt, Romantigua, bringen.

Jek sah entzückt, wie die Zweite Nacht hereinbrach und den Himmel in rosa und hellviolette Farbtöne tauchte. Schwebende Lichtkugeln fingen überall zu leuchten an und glitten wie Sterne über die Avenuen. Zwar warf ihnen der Chauffeur verstohlene Blicke zu, da aber Shari ein so mürrisches Gesicht machte, redete er nicht mit ihnen. Er setzte sie auf einem kreisrunden Platz ab, in dessen Mitte ein Brunnen aus goldfarbenem Optalium stand.

Die beiden blieben eine Weile vor den Wasserspeiern – Tierskulpturen – stehen, aus deren Mündern sich Fontänen in das Rund ergossen.

»Figuren aus dem Bestiarium der Kirche des Kreuzes«, erklärte Shari leise. »Die legendären Hüter reiner Welten: Drachen, Teufel, Riesenspinnen, Oger, Schlangen … Monster in Symbolgestalt, die den Menschen den Zugang zur Quelle verwehren …«

Um den Brunnen herum unterhielten Straßenkünstler, Sänger und Tänzer das Volk mit ihren Darbietungen. Jek wäre gern geblieben, um das Schauspiel zu bewundern – vor allem die Tänzerinnen mit ihren fließenden eleganten Bewegungen hatten es ihm angetan –, aber Shari packte ihn am Arm und zog ihn fort. Durch enge, gewundene Gassen gelangten sie vor ein riesiges, von sieben Türmen umgebenes Gebäude.

Der Anjorianer erkannte es als den Bischöflichen Palast, den er oft während seiner mentalen Reisen besucht hatte. Trotz seiner Größe wirkte er plump neben den angrenzenden Häusern, die durch eine elegante Leichtigkeit bestachen.

Die beiden reihten sich in den Strom der Passanten vor dem Haupteingang ein. Es herrschte großes Gedränge, denn die zu einer Audienz zugelassenen Bürger wurden von den Leibgardisten am Betreten des ersten Innenhofs gehindert, obwohl sie ihre mit Siegeln versehenen Einladungen schwenkten.

Jeks Herz schlug schneller. Nur ein paar Mauern trennten ihn noch von Yelle. Er sah Shari erwartungsvoll an, doch sein Gefährte reagierte nicht. Da fragte sich Jek, ob der Mahdi wegen der Aufgabe, die ihnen bevorstand, so verschlossen sei, und war selbst sehr angespannt und nervös.

Er konnte nicht wissen, dass sein Gefährte seit ihrer Rematerialisation auf Syracusa von einer dunklen Vorahnung heimgesucht worden war. Shari hatte auf einer Seite seines Körpers einen entsetzlichen Schmerz verspürt, und eiskalter Schweiß hatte ihn vom Kopf bis zu den Füßen wie ein Leichentuch umhüllt. Denn er war sich gewiss, dass auf Ephren ein Unglück geschehen war. Doch weil der Kontakt zu Oniki und Tau Phraïm noch nicht unterbrochen war, hatte er beschlossen, seinen Plan durchzuführen. Es war bereits zu viel Zeit verloren gegangen, und der Blouf – das alles verzehrende Böse – gewann immer mehr Macht, auch wenn Tixu sein Ausbreiten hatte verlangsamen können.

Sobald wir Aphykit, Yelle und die beiden Jersaleminer befreit haben, reise ich zum Planeten Ephren, dachte Shari. Aber es genügt nicht, sie wiederzubeleben, nein, wir müssen einen Weg finden, die vier in eine andere Welt zu transportieren, weil nur Aphykit die Kunst beherrscht, auf ihren Gedanken zu reisen. Am besten geschieht das mit den Deremats der Kirche, die sich in der Nähe in einer Reparaturwerkstatt befinden. Diese Geräte sind zwar veraltet, aber sie funktionieren, denn sie werden von einigen hochgestellten Mitgliedern des Episkopats regelmäßig für Geheimreisen benutzt, das habe ich mit eigenen Augen gesehen, überlegte Shari.

Die Zweite Nacht war hereingebrochen, als die Gefährten den kaiserlichen Palast erreichten. Obwohl Jek auch dieses Gebäude während seiner mentalen Reisen mehrmals besucht hatte, war er von der Majestät des Herrschersitzes überwältigt. Er thronte hell erleuchtet auf einem Hügel am Rand Romantiguas wie ein Diadem auf dem Haupt einer Königin. Sie gingen in den öffentlichen Park. Die mit rosafarbenem Steinsalz bedeckten Wege und Alleen funkelten und glänzten im Schein der schwebenden Lichtkugeln. Die beiden Halbmonde der orangeroten Nachtgestirne standen über den hoch aufragenden Wachtürmen der Gedanken. Diener, Scaythen, Interlisten und Geistliche drängten sich auf der von Säulen gesäumten Freitreppe vor dem Palast. Ständig neu ankommende Taxikugeln und Personenairs spien ununterbrochen Menschen aus, Besucher der transparenten Kathedrale, die mit der Residenz des Imperators durch einen Gravitationskorridor verbunden war.

Jek spielte eine Weile mit einem Vogel, der seine Schwanzfedern zu einem farbenprächtigen schillernden Rad ausbreitete. Shari gelang es unter großen Mühen, die Kontrolle über sich selbst wiederzugewinnen.

Wir haben nur wenig Handlungsspielraum, dachte er, und ich darf mich auf keinen Fall durch irgendwelche Gefühle ablenken lassen. Es geht um die Zukunft der Menschheit. Schließlich haben wir unsere Aktion gut vorbereitet und seit unserem Besuch im Tempel der Inddikischen Annalen sowohl den Kaiserpalast als auch den Bischöflichen Palast bis in den letzten Winkel ausgeforscht und ständig das Umstellen des Codes überwacht.

Vier Standardstunden zuvor hatten beide beschlossen, dass die Zeit zum Handeln günstig sei. Zuerst waren sie auf den Planeten Marquisat gereist und hatten dort letzte Vorbereitungen getroffen. Außer der Kleidung hatten sie Waffen gekauft, kurzläufige Todeswellen, die sie in einer Innentasche ihrer Jacken trugen. In einer Dependance des Gesundheitsamts hatten sie für die Reanimation bestimmte Medikamente gestohlen und diese, exakt dosiert, in Spritzen aufgezogen. Diese Spritzen trug Shari, von einer flachen Schachtel geschützt, unter seinem Colancor am Körper. Doch ehe sie das Medikament den vier kryogenisierten Menschen injizierten, mussten sie noch den jeweiligen genetischen Code hinzufügen.

»Hast du auch alles behalten?«, fragte Shari Jek. »Wir haben noch etwa eine Stunde Zeit, ehe die Codes woanders platziert werden …«

Der Anjorianer hörte auf, mit dem Pfau zu spielen und sah den Mahdi ernst an.

»Als Erstes hole ich den Code aus dem Safe der kaiserlichen Staatskasse«, antwortete er schnell, als würde er eine Lektion aufsagen. »Dann den Code, der in der Magnetkugel im Hauptquartier der Purpur-Garden aufbewahrt wird. Daraufhin stoße ich in dem Raum zu dir, wo Yelle und die anderen liegen. Diese drei Aktionen dürfen nicht länger als fünf Sekunden dauern …«

Nachdem Jek diese Worte ausgesprochen hatte, wurde ihm erst bewusst, dass alles von diesen wenigen Sekunden abhing, nicht nur sein Leben, sondern auch das von Yelle, Aphykit, San Francisco und Phoenix und die Zukunft seiner Eltern sowie aller Menschen. Ein kalter Schauder überlief ihn.

»Fünf Sekunden! Auch mir bleibt nicht mehr Zeit für die beiden anderen Codes«, sagte Shari mehr zu sich selbst als zu seinem Gefährten. »Der dritte befindet sich momentan in einem Raum im Keller des Ferkti-Ang-Palastes, und der vierte ist an Bord eines Personenairs der Pritiv-Söldner, der Patrouille fliegt.«

»Wie willst du es schaffen, ihn zu lokalisieren?«

»Es ist gleich, ob es sich um ein feststehendes oder sich bewegendes Ziel handelt. Es genügt die bildliche Vorstellungskraft, um dorthinzugelangen. Allein die Kraft der Gedanken überwindet Zeit und Raum …«

Shari lächelte zum ersten Mal, seit sie Venicia durchstreiften, und fügte hinzu: »Ich hoffe, du bist derselben Meinung, denn Erfolg werden wir nur haben, wenn wir eben dieser Kraft vertrauen.«

»Zwischen jedem Transfer gibt es aber auch Zeiträume realer Existenz …«

»Ja. Und während dieser Augenblicke – der zwei Sekunden dauernden Rematerialisation besteht für uns höchste Gefahr. Denn wir können nur mit unseren Händen nach den Codes greifen. Ich habe schon versucht, mich der Telekinese zu bedienen, aber das kollektive Unterbewusstsein der Menschen ist bereits derart verkümmert, dass unser mentaler Einfluss auf die Materie praktisch gesehen inexistent ist.«

»Telekinese?«

»Das Bewegen von Gegenständen allein durch Gedankenkraft. Unsere Intervention ist doppelt wichtig, Jek At-Skin. Nicht nur, weil wir meine Mutter Aphykit, Yelle und die beiden Jersaleminer befreien, sondern weil wir die Menschheit dazu bewegen müssen, sich wieder zu entfalten. Wir sind die Krieger der Stille, die Boten der Ewigkeit …«

Als Jek diese Worte hörte, breitete sich ein Feuer in ihm aus und verzehrte seine zunehmende Furcht.

»Hoffentlich müssen wir nicht zur Waffe greifen«, sprach Shari weiter und deutete auf die leichte Beule in seiner Jacke. »Aber wir sind im Krieg und müssen auch töten, sollte es nötig sein. Also müssen wir während der gesamten Operation jederzeit schussbereit sein.«

Das Feuer in Jek wurde zu glühendem Eifer. Er sah sich wieder in Nea-Marsile, auf dem Planeten Franzia, wo er in Begleitung Marti de Kervaleurs von Bord der Papiduc geflohen war und zum ersten Mal in einem sonnendurchfluteten Park das Gefühl einer Ewigkeit, die ihn erfüllte, verspürt hatte – als schreite er über eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Raum und Zeit. Er dachte an seine Wegbegleiter: Marti, diesen seltsamen Schicksalsgefährten, der vor seinem Selbstmord so human gehandelt hatte; Papironda, der ihn geliebt und ihm zu einem – wenn auch ungeschickten – Vater geworden war; Professor Robin de Phart, den Zauberer Todeskuss, den alten Artrarak … Und der Gedanke an alle diese Männer machte ihn noch entschlossener. Wie zur Bekräftigung umfasste er den kalten glatten Lauf seiner Waffe.

Shari ließ den Blick lange über den in der Dämmerung liegenden Park und den hell erleuchteten Palast schweifen. Der sternenübersäte Himmel über Venicia strahlte Frieden aus. Doch jetzt drängte es ihn zu handeln; er hatte es eilig, Syracusa zu verlassen und zum Planeten Ephren zu reisen. Er musste in Erfahrung bringen, was mit Oniki und Tau Phraïm geschehen war.

»Wir müssen unbedingt ein paar Sekunden Vorsprung vor den Scaythen und den Kreuzlern gewinnen. Denn wir brauchen diese Zeit für die Injektionen und um in die Reparaturwerkstatt für die Deremats zu gelangen«, sagte er eindringlich. »Du wartest hier auf mich, bis ich unsere Gegner abgelenkt habe. Bist du bereit?«

Jek nickte. Seine Finger umklammerten den Kolben seiner Waffe.

 

Die fünf Nachtgestirne bildeten eine fantastische Lichterkette in einem Farbspektrum von Smaragdgrün bis Karmesinrot.

Der Seneschall Harkot stand vor dem großen Panoramafenster in seiner Suite im Kaiserpalast und betrachtete die schlafende Stadt, deren Schönheit ihn nicht unberührt ließ. Eine leichte Brise spielte mit den Blättern der Alleebäume und Sträucher, deren transparente Blüten und Früchte in schillernden Farben schimmerten. Auf dem Fluss Tiber Augustus glitten festlich beleuchtete Barken dahin.

Diese prächtige Stadt würde schon bald nicht mehr existieren, vom Nichts verschluckt werden. Kein Stein würde vom historischen Viertel Romantiguas, dem Herzen der kaiserlichen Hauptstadt, übrig bleiben, dem Stolz aller Syracuser.

Alles, jede Materie, jede Form, jeder Aggregatzustand würde bald von den Kräften der In-Creatur verschlungen werden, auch Harkot und seine zehntausend Matrix-Brüder. Absolute Stille würde jedes Geräusch ersticken und eine unendliche Kälte würde sich ausbreiten, die jeden Schöpfungsakt zunichtemachen würde.

Es schien Harkot, dass seine mentalen Implantate unter seiner Schädeldecke nur träge arbeiteten. Auf diese Weise empfand er Traurigkeit, oder er hatte vielmehr das Gefühl, einen großen Traum aller Wahrscheinlichkeit nach nicht verwirklichen zu können. Sein Gehirn war ohne Empfindungen oder gar Gefühle konzipiert worden, aber da er mit Menschen verkehrte, bedauerte er manchmal, dass die Menschheit ausgelöscht werden musste, damit die In-Creatur die Herrschaft antreten konnte. Wieder einmal litt er unter der trügerischen Leere, die die Meister-Creatoren in ihn implantiert hatten. Dieser Mangel bedrückte ihn, weil er sich nach Anerkennung seiner Leistung sehnte. Zwar hatte ihm der ehemalige Konnetabel Pamynx vor ihrer Fusion versichert, dass das neue neurologische Programm in seinem Gehirn weder subjektives Denken noch persönliches Leid zulasse, doch Harkot erkannte, dass sich die Meister-Creatoren in diesem Punkt geirrt hatten.

Harkot hatte in großem Maße – und er tat es noch immer  – dazu beigetragen, die glorreiche Herrschaft des Nichts vorzubereiten. Doch wenn auch die Menschheit sich selbst zum Untergang verurteilt hatte, selbst wenn das Hyponeriarchat nichts als eine Antwort auf die Schwächen dieser Menschheit war, fand er es doch bedauerlich, auf diese Weise auch die unbestreitbar schöpferischen Kräfte der Menschen mitauszulöschen.

Sollten meine neurologischen Daten etwa wieder mit diesem seltsamen Virus, Affekt genannt, infiziert worden sein?, fragte er sich.

Einem abstrusen Gedankengang folgend, fand der Seneschall des Ang-Imperiums eine mögliche Erklärung für das plötzliche und missliche Eindringen Tixu Otys in die Mechanismen des Hyponeriarchats. Innerhalb weniger Sekunden, im Augenblick, als sich der Geist des Orangers von seiner körperlichen Hülle getrennt und in das Erste Konglomerat eingedrungen war, hatte Harkot aus reiner Energie bestanden. Er war zu einer Wesenheit geworden, die sowohl einzigartig als auch mit einem interaktiven Lichtfeld verbunden war. Vor diesen bisher abstrakten Empfindungen wie Gefühlen oder Intuitionen hatte er sich gefürchtet, aber begriffen, dass es sich dabei um ein Urgeschöpf handelte, dem das Prinzip der Ewigkeit innewohnte.

Das Hyponeriarchat war anfänglich durch Tixu Otys Initiative destabilisiert worden, hatte aber bald reagiert und Verteidigungsmaßnahmen ergriffen, indem es Erinnerungen und Gedanken des Eindringlings verwirrt hatte. Ein schwieriges Unterfangen, denn die Meister-Creatoren mussten die Schutzbarriere, die durch das Antra herrschte, durchdringen, wodurch die In-Creatur eine Menge Energie verlor und in der Folge das Potenzial der Scaythen beträchtlich geschwächt war.

Auf diese Weise hatte der Oranger das Hyponeriarchat von seinem eigentlichen Ziel abgelenkt, damit sich die Urmenschen zusammenschließen und ihren Gegenschlag vorbereiten konnten. Leider hatte er dabei nicht beachtet, dass auch er zu den Urmenschen gehörte und dass er durch sein Opfer ebenfalls das Potenzial der Menschheit schwächte.

Trotzdem war das Hyponeriarchat zu der Überzeugung gekommen, der Zusammenschluss dieser zwölf Urmenschen würde für die In-Creatur eine ernsthafte Bedrohung darstellen. Vier dieser Menschen hielten sich hier auf Syracusa auf. Sie lagen in einem tiefen künstlichen Schlaf. Als Zeichen seiner Aufrichtigkeit, wenn nicht seines Glaubens, hatte der Seneschall Harkot die vier Körper der Obhut des Muffis der Kirche des Kreuzes überlassen – aber die Kryo-Codes zu ihrer Reanimation hatte er sorgsam verwahrt. Er hätte die vier verbrennen lassen können, doch er fürchtete, die Macht über ihren Geist, auf dieses Prinzip der Ewigkeit zu verlieren, auf das, was die Menschen »Seele« nannten. Denn Vertreter verschiedenster Religionen behaupteten, dass die Seele eines Menschen nach dessen physischem Tod in einen anderen Körper wechsle, etwa mit dem Prozedere zu vergleichen, wie die zerebralen Implantate der Scaythen nach ihrer Auflösung im Matrix-Bottich in eine neue physische Hülle injiziert wurden.

Das war nur ein Glaube, eine bisher noch nie bewiesene Hypothese. Aber die Wahrscheinlichkeit, sie könne zutreffen, war zu groß. Das Hyponeriarchat wollte kein Risiko eingehen, wie es bereits mit Sri Mitsu und Sri Alexu, den letzten Großmeistern der Inddikischen Wissenschaft geschehen war.

Solange die Seele in einem Körper gefangen war, konnte man sie lokalisieren, ihr folgen und sie physischem sowie psychischem Druck aussetzen. Unter diesem Gesichtspunkt war die Kryogenisierung die ideale Lösung: Im tiefgefrorenen Stadium reagierte das Gehirn nicht anders, als wäre es einem Auslöschungsprozess unterzogen worden. Selbst durch das Antra geschützt, versank der Geist in ein tiefes Koma, war sich seiner selbst nicht mehr bewusst und konnte somit auch nicht schöpferisch tätig werden.

Diesen vier Menschen musste die ehemalige Thutalin Oniki Kay hinzugezählt werden, die kürzlich auf Ephren gefangen genommen worden war. Der Großinquisitor Xaphox hatte dem Seneschall versichert, sie werde ihren Sturz von dem Korallenschild überleben. Sobald sie sich erholt habe, werde man sie ebenfalls kryogenisieren und wie die anderen als Köder benutzen. Nach ihrem Sohn, der auf mysteriöse Weise verschwunden war – obwohl erst drei Jahre alt, schien er über angeborene inddikische Kräfte zu verfügen –, werde überall gesucht.

Jetzt mussten nur noch der Mahdi Shari von den Hymlyas und sein junger utgenischer Gefährte ausgeschaltet werden, da die beiden, nach Jeks Worten bei seinem Besuch bei seinen Eltern zu schließen, vorhatten, dass sie die vier in Venicia befreien wollten. Dieses Vorhaben hatte der Seneschall unterstützt, indem er den beiden gezielt Informationen über den jeweiligen Aufbewahrungsort der Kryo-Codes hatte zukommen lassen – ein Täuschungsmanöver, denn die Codes waren falsch. Die richtigen Codes trug er immer bei sich. Völlig irrational, aber reflexartig glitt seine am höchsten entwickelte Extremität – er weigerte sich, sie als Hand zu bezeichnen – in die Tasche seines Kapuzenmantels und betastete die vier kleinen Kugeln mit den veränderten DNAs der Kryogenisierten.

Dieses Zellmaterial, das den Körpern, drei Stunden nachdem sie in den komatösen Tiefschlaf versetzt worden waren, entnommen worden war, musste unbedingt der chemischen Lösung, die den Prozess des Auftauens in Gang setzen würde, hinzugefügt werden, sonst würden die Betroffenen sterben.

Das GROSSE PROJEKT näherte sich seinem Ziel. Wie vorgesehen, beraubten die Gedankenauslöscher die Menschheit ihres Erinnerungsvermögens. Bald würde die In-Creatur die Früchte seiner stetigen Zerstörungsarbeit ernten. Dieses Ziel überstieg logischerweise Harkots Begriffsvermögen, denn als Nicht-Mensch besaß er nur Verstand, wenn er mit Menschen konfrontiert war. Und die Scaythen hatten keinen Zugang zu jenen Regionen, in denen die eigentlichen Kriege stattfanden. Sie waren nichts mehr als aus Materie hergestellte künstliche Konstrukte, aber sie besaßen ein entsetzliches Zerstörungspotenzial.

Ein Diener in rot-weißer Livree betrat das Zimmer und näherte sich Harkot. Automatisch durchforschte der Seneschall das Gehirn des Mannes und stellte fest, dass der Bedienstete bereits viele Auslöschungen hinter sich hatte. Er besaß weder eine Vergangenheit noch hatte er Wünsche, außer dem einen: ein effizienter und fügsamer Diener zu sein.

In seinem Kopf herrschte bereits nichts als eine öde Leere.

»Der Imperator wünscht Euch zu sehen, Exzellenz«, sagte er und verneigte sich.

Harkot fragte sich, was hinter dieser Aufforderung, beim Imperator zu erscheinen, stecke, er konnte aber keine zusätzlichen Informationen im Kopf des Dieners entdecken.

Was will Menati Ang zu dieser späten Stunde der Zweiten Nacht von mir?, fragte er sich. Leidet er etwa unter einem Anfall plötzlicher Hellsichtigkeit, diesem untrüglichen Zeichen, dass die totale Umnachtung unmittelbar bevorsteht. Vor drei Jahren bereits hat der Herrscher die Staatsgeschäfte in meine Hände gelegt und sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Sein einziger Lebenszweck besteht nur noch in der Befriedigung seiner Sinne. Denn unsere Auslöschungsprogramme reduzieren die Menschen auf ihre Funktionen; die Soldaten greifen zu den Waffen, die Kreuzler klammern sich an ihre Dogmen, die Höflinge pflegen ihre Eitelkeiten, und der Imperator interessiert sich nur noch für Sex.

»Woher haben Sie diese Information?«, fragte der Scaythe mit seiner metallisch klingenden Stimme, die in der Stille der Nacht noch unangenehmer klang.

»Ein Anruf, den ich auf Eurem persönlichen Jonaphon entgegengenommen habe, Exzellenz.«

»War der Imperator am Apparat?«

»Nein. Er hat einen Zeremonienmeister beauftragt, Exzellenz.«

»Kennen Sie diesen Zeremonienmeister persönlich?«

»Nein. Aber er zeigte mir den Ring mit den Insignien des Imperators als Legitimierung, Exzellenz.«

»Was hat er genau gesagt?«

»Dass der Imperator Menati Euch dringend sprechen müsse und Euch im kleinen Salon seiner Gemächer erwarte.«

»Warum bemüht er sich nicht hierher?«

Da der Diener seiner Funktion gemäß übertrieben obrigkeitshörig war, schien ihm die Frage äußerst unpassend zu sein.

»Ist Menati denn nicht der Imperator, Exzellenz?«

Die schwarzen Augen Harkots funkelten aus dem Halbdunkel seiner Kapuze hervor. Er kontaktierte seine Späher in den Gemächern Menatis, die Gedankenhüter und Auslöscher-Scaythen.

 

Die Schatzkammer des Imperators war nur dem Namen nach eine Kammer. In Wirklichkeit war sie ein mehr als fünfzig Quadratmeter großer Raum, der vollständig mit Metallplatten ausgekleidet war. Zehn schwebende Lichtkugeln ließen die Schätze aufleuchten, die auf den Tischen unter Glasglocken auf rotem Samt ausgebreitet lagen: Schmuckstücke aus Optalium, mit Edelsteinen verziert, holographische Wappen, Siegel, imperiale Wasserkronen und eine Unzahl antiker Objekte, deren Bedeutung nur Historiker kannten.

Rechts und links von der gepanzerten Tür standen zwei Männer Wache. Ihre Gesichter waren von schwarzen Masken bedeckt, und unter den hochgeschobenen Ärmeln ihrer ebenfalls schwarzen Overalls blitzten je zwei parallel verlaufende Schienen hervor.

Jek rematerialisierte sich zwischen zwei Tischen, direkt vor der Glasglocke, unter der Code lag: eine weiße Kugel, die zwei Zentimeter im Durchmesser maß und auf einem Sockel ruhte, neben dem ein holographisches Register lag.

Nach Sharis Ablenkungsmanöver – er hatte einem Zeremonienmeister seinen Siegelring gestohlen und den Seneschall Harkot zum Herrscher beordert –, hatten die Gefährten ein paar Minuten gewartet, bis sich der Seneschall zum Imperator begeben hatte, dann hatten sie voneinander Abschied genommen und sich mittels des Antras auf ihre ätherische Reise begeben.

Der Transfer vom Nichtkörperlichen zum Körperlichen, von der Leichtigkeit zur Schwere, vom Fließenden zum Festen verwirrte Jek. Er zögerte. Seine Waffe wog Tonnen in seiner Hand. Den zwei Wächtern war trotzdem keine Zeit zu reagieren geblieben. Zwar hatten sie eine schattenhafte Gestalt zwischen den Türen bemerkt, aber sie waren wie versteinert stehen geblieben, als hätte das Gesehene nicht ihr Gehirn erreicht. Jek jedoch lüftete die Glasglocke und griff schnell nach der weißen kleinen Kugel.

Hinter sich hörte er ein Geräusch und gleich darauf zuckte etwas wie ein Blitz durch das Halbdunkel des Raums. Er zog seine Hand zurück, ließ die Glasglocke fallen und warf sich zur Seite. Etwas zischte über seinen Kopf hinweg und krachte gegen die Metallwand ein paar Meter weiter.

Jek hatte das Gefühl, als hätte sich die Zeit plötzlich beschleunigt, als wäre eine Ewigkeit vergangen, seit er in die Schatzkammer eingedrungen war. Er begriff, dass die Glasglocke mit einer verborgenen Waffe verbunden war und das Anheben der Glasglocke sie aktiviert hatte, wie die weißen Tropfen auf der glatten Metallwand bewiesen, die aus einem Kryogenisateur stammten. Weder Shari noch er hatten diese Vorrichtung während ihrer mentalen Inspektion dieses Raums bemerkt. Nun fürchtete er, den vorgegebenen Zeitplan überschritten und damit das Vertrauen des Mahdis missbraucht und die Menschheit zum Untergang verdammt zu haben.

Sich kreuzende Lichtstrahlen flammten plötzlich auf, eine rotierende Scheibe durchschnitt pfeifend die Luft und bohrte sich knirschend in die Wand. Jenseits der Tür waren schreiende Stimmen zu hören. Wieder zögerte er.

Soll ich den Code an mich nehmen, obwohl ich bereits die vorgegebene Zeit überschritten habe? Oder soll ich sofort fliehen? Seine Gedanken überschlugen sich. Er war derart durcheinander, dass er das Antra nicht herbeirufen konnte. Weitere Wurfscheiben zischten durch die Luft. Er unterdrückte seine Panik, richtete sich auf und schoss blindlings auf seine Gegner, die Pritiv-Söldner. Der Lauf seiner Waffe spie einen hellen Strahl aus und traf den einen am Hals. Der Geruch nach verbranntem Fleisch breitete sich in der Schatzkammer aus. Der Mann ruderte mit den Armen, stürzte und stieß ein Röcheln aus. Die Wurfscheiben wurden aus seinem Gerät katapultiert und fielen auf seinen reglosen Körper.

Jek schoss auf den zweiten Söldner, vergewisserte sich aber nicht, ob er getroffen hatte. Er nutzte das Durcheinander und den Rauch aus seiner Waffe, der sich im Raum verbreitete, und ging zum Tisch. Dieses Mal musste es ihm gelingen. Er hob die Glasglocke, wich dem Schuss aus der automatisch funktionierenden Waffe aus und griff schnell nach der weißen Kugel.

Da wurde die gepanzerte Tür mit einem Krachen geöffnet, und etwa zehn Männer stürmten in den Raum. Jek warf ihnen nicht einmal einen Blick zu. Er konzentrierte sich ganz auf das Antra. Er schloss die Augen. Allein der Klang des Lebens pulsierte in seiner inneren Stille. Geräusche, Formen und Farben um ihn herum schwanden, und er versank in den Vibrationen des Antras.

 

Obwohl der im Souterrain liegende Raum des Ferkti-Ang-Palastes im tiefsten Dunkel lag, erkannte ihn Shari sofort wieder, weil das Antra ihn präzise an die beabsichtigte Stelle gebracht hatte. Aber er hörte Geräusche: das Rascheln von Kleidern, leise Schritte …

Tastend ortete er den Mauersims, wo der Kryo-Code gelegen hatte.

Nur noch eine Sekunde, dachte er.

Doch ehe er nach der Kugel greifen konnte, flammten in den Wänden integrierte Projektstrahler auf. Weißes, grelles Licht hinterließ auf dem Boden schleimige Spuren.

In Sekundenschnell erkannte er die neue Situation: Die Scaythen hatten die Vorgehensweise der Krieger der Stille vorhergesehen und ein Verteidigungssystem installiert. Unaufhörlich spien in die Wände integrierte Düsen jene charakteristisch riechende Flüssigkeit zur Kryogenisation aus. Noch konnte Shari dieser Chemikalie, die ihn zu lähmen drohte, durch gewagte Sprünge entgehen, aber die toxischen Dämpfe, die von ihr ausgingen, lähmten zunehmend seine Denk- und Reaktionsfähigkeit.

Er dachte kurz an Jek, der nun allein im kaiserlichen Palast war; an das grausame Schicksal, das seinen jungen Mitstreiter erwartete, sollte er in die Hände der Scaythen fallen. Trotz sorgfältigster Vorbereitung habe ich einen Fehler gemacht, ging es ihm durch den Kopf. Ich habe Seneschall Harkot unterschätzt. Wir sind der Macht des Hyponeriarchats nicht gewachsen. In schneller Folge tauchten Gesichter vor seinem geistigen Auge auf: Oniki, Tau Phraïm, Tixu, Aphykit, der Narr der Berge … Warum hat der unsterbliche Narr der Berge uns unserem Schicksal überlassen? Warum hat er die Menschheit verraten?

Aus den vier Ecken des Raums traten schwarz gekleidete Männer auf ihn zu. Shari drehte sich im Kreis und drückte unablässig auf den Abzug seiner Waffe. Zwei Pritiv-Söldner wurden getroffen und stürzten aufschreiend zu Boden. Weitere fielen.

Er hielt in der Bewegung inne und streckte die Hand nach der Kugel aus, nahm den Code und konzentrierte sich auf das Antra. Da bekam er einen Schlag auf den Arm, und sofort breitete sich eine schier unerträgliche Kälte in seinem Körper aus. Dann verlor er das Bewusstsein.

 

Zum ersten Mal war eine psychokinetische Reise für Jek schmerzhaft, vielleicht weil ihn zu viele widersprüchliche Gedanken beherrschten und er deswegen über nicht ausreichend geistige Kräfte verfügte, seinen Körper zu rematerialisieren. So blieb er eine Weile in jenen ätherischen Gefilden, wo weder Zeit noch Raum existieren.

Panik hatte ihn ergriffen, als er an das Hauptquartier der Purpur-Garde dachte und an die Lichtkugel, die über dem zweiten Code schwebte. Er wusste, dass er kostbare Zeit verloren hatte und dass Shari ihn wahrscheinlich im Park erwartete. Er versuchte, sich zu konzentrieren, schwebte aber immer noch zwischen dem leeren Himmelsraum und der Erde, weder in der einen Welt noch in der anderen. Dabei hatte er das Gefühl, sich aufzulösen; sollte er in diesem Stadium verharren, würde er für immer im Nichts versinken.

Mein Eindringen in die Schatzkammer hat sicher im Palast Generalalarm ausgelöst, dachte er. Trotzdem muss ich unbedingt den zweiten Code in meinen Besitz bringen. Und er versuchte erneut, Kraft zu sammeln. Aber eine übergroße Angst hatte ihn überwältigt und ihm die Orientierung genommen.

Da hörte er plötzlich von ganz fern eine vertraute Stimme: »Denk an mich, Jek. Denk an Yelle …«

Geliebte Yelle. Selbst im Schlaf wachte sie über ihn und fand die Kraft, ihn zu unterstützen. Denn allein für Yelle hatte er sich auf dieses gefährliche Abenteuer eingelassen.

Mit einem Mal war seine Angst verschwunden, und er sah das Hauptquartier der Purpur-Garden deutlich vor sich. Er sah auch die kleine weiße Kugel inmitten einer transparenten Magnetkugel, die in einem leeren Raum schwebte, dessen Wände mit einer kostbaren Tapete verkleidet waren und dessen Boden aus rosafarbenem Marmor bestand.

Die vier Wachhabenden – in purpurrote Colancors und Mäntel gekleidet – wirkten entspannt, ebenso ihre zwanzig Kameraden in dem daneben liegenden Raum. Ihre scharf geschliffenen Säbel steckten in den Scheiden. Offensichtlich war kein Alarm ausgelöst worden. Jek schloss daraus, dass er weniger Zeit als vermutet verloren hatte, und seine Hoffnung auf das Gelingen seiner Mission wuchs.

Als er sich jedoch in dem Raum rematerialisieren wollte, hielt ihn ein ungutes Gefühl davon ab. Es war keine Angst, sondern eine Intuition, die wie eine Alarmglocke in ihm schrillte. Diese Ruhe, die in den Räumen herrschte, hatte etwas Bedrohliches. Die Lässigkeit der Garden wirkte wie zur Schau gestellt, und die Magnetkugel schien ihn geradezu aufzufordern, sich ihrer zu bemächtigen. Nur mit knapper Not war er aus der Schatzkammer entkommen und würde ein großes Risiko eingehen, sollte er ein zweites Mal sichtbar werden. Aber er brauchte diesen Code, vielleicht war es sogar Yelles Code. Ohne ihn konnte sie nicht wieder zum Leben erweckt werden.

Er schwebte über dem Raum und zögerte, wie er sich entscheiden sollte. Um seine Chancen besser einschätzen zu können, musste er die Magnetkugel aus der Entfernung bewegen und beobachten, welche Reaktion sein Tun hervorrufen würde. Wahrscheinlich würden ein oder mehrere Wächter dadurch zu Tode kommen.

Aber dann fielen ihm wieder Sharis Worte ein: »Wir befinden uns im Krieg und müssen, falls es erforderlich ist, auch zum Töten bereit sein …«

Also nahm er in einer Ecke des Raums – möglichst weit von den Garden entfernt – wieder menschliche Gestalt an, jedes Mal ein Schock, der ihn einen kurzen Augenblick seines schnellen Reaktionsvermögens beraubte.

Sofort richteten sich die Blicke der Wächter auf ihn. Mit ausgestrecktem Arm zielte er auf die Magnetkugel und drückte ab. Er verfehlte sein Ziel, doch die vier Wächter lösten sich aus ihrer Erstarrung und liefen auf ihn zu.

Jetzt hörte Jek Stimmen und sah rote, schattenhafte Gestalten, die sich in der Tür zum Nebenraum drängten. Er hatte nicht erwartet, sein Ziel zu verfehlen. Wieder war kostbare Zeit vergangen, und seine Chancen standen schlecht. Der zweite Schuss durchlöcherte die Kugel, aber Kryo-Strahlen fielen von der Decke und bedeckten den Boden in einem Umkreis von zehn Metern um die Kugel.

Jek musste aufgeben – jedenfalls im Moment. Ohne seine Vorahnung wäre er jetzt kryogenisiert worden, und die Kreuzler hätten ihn in den Raum neben die vier anderen Körper gelegt.

Wer hat mich gewarnt?, fragte er sich. Yelle? Und ist wenigstens Shari unseren Feinden entkommen?

»Der Seneschall will ihn lebend!«, rief einer der Wächter, dessen Mantel mit schwarz-roten Epauletten verziert war.

Jek drückte pausenlos auf den Abzug seines Wellentöters, wobei er den Arm im Halbkreis schwenkte. Gleichzeitig bemühte er sich, die innere Stille herzustellen. Einer seiner Angreifer wurde im Gesicht getroffen, das sich sofort in eine rauchende schwarze Masse verwandelte. Die der Kryo-Flüssigkeit entströmenden Gase sowie der Rauch aus seiner Waffe benebelten den Anjorianer, tauchten ihn in eine heimtückische Euphorie.

»Denk an mich, Jek. Denk an Yelle …«

Nur mit größter Anstrengung und seiner gesamten Willenskraft gelang es ihm, das Antra herbeizurufen.

 

Trotz der späten Stunde hatten sich eine Menge Schaulustige um den Mann versammelt, der im Gras lag. Ein Pfau pickte an ihm herum, als wollte er ihn wecken. Der Paritole  – seiner nachlässigen Kleidung nach zu urteilen – sah aus, als schlafe er, aber seine gelbe, ins Grüne schimmernde Gesichtsfarbe und seine verlangsamte Atmung ließen darauf schließen, dass er kryogenisiert worden war. In der einen Hand hielt er einen Wellentöter mit kurzem Lauf, die andere umklammerte mit Daumen und Zeigefinger eine kleine weiße Kugel.

Ein frischer Wind war aufgekommen, der Vorbote der Ersten Dämmerung, während die fünf Satelliten bald am Horizont untergehen würden. Alle nächtlichen Müßiggänger fragten sich, wie ein Kryo, ein Bewusstloser, in den Park gelangen konnte. Außerdem stellte die Waffe ein weiteres Rätsel dar, denn aus ihrem Lauf stieg noch Rauch empor, ein Zeichen, dass sie vor Kurzem benutzt worden sein musste. Aber es war ebenso unwahrscheinlich, dass sich ein »Tiefgefrorener« einer Waffe bediente, wie es einem Venicianer einfacher Herkunft unmöglich war, bei Hofe empfangen zu werden. Also warfen sich die Umstehenden fragende Blicke zu. Sich verbal zu äußern, wagten sie nicht, weil sie Angst hatten, ihre Stimme könne ihre mangelnde autopsychische Selbstkontrolle verraten. Die beste Lösung wäre wohl gewesen, die Interlisten zu benachrichtigen, die vor dem Palast patroullierten, doch selbst dazu mangelte es ihnen an Mut.

»Bitte, treten Sie zur Seite!«, sagte da ein Junge leise.

Nur zu gern folgten die Leute seiner Aufforderung, denn sie hatten keine negativen Konsequenzen zu befürchten. Der Junge – er musste zwischen zehn und fünfzehn Jahre alt sein – wer wusste das schon bei Paritolen! – schlüpfte durch die Umstehenden, verscheuchte den Pfau und beugte sich über den Mann. Er trug dieselbe Kleidung wie der Mann zu ihren Füßen, einen grauen Colancor und eine ebensolche Jacke, die vor etwa zweihundert Jahren einmal modern gewesen waren. Und die Ähnlichkeit der beiden gipfelte darin, dass er ebenfalls einen Wellentöter mit rauchendem Lauf in der Hand hielt. Er rüttelte an der Schulter seines Gefährten, jedoch ohne Reaktion.

»Das bringt nichts«, erklärte ein Spießbürger mit dickem Bauch. »Sie können ihn nur wieder zum Leben erwecken, wenn Sie ihm eine mit seinem genetischen Code versetzte Reanimationsflüssigkeit injizieren. Am besten, Sie bringen ihn sofort in ein Kankenhaus in Venicia. Soll ich Ihnen eine Taxikugel rufen?«

Der Junge drehte sich um und warf dem Mann einen verzweifelten Blick zu. Diese Paritolen besaßen überhaupt keine autopsychische Selbstkontrolle. Man konnte in ihnen wie in einem entschlüsselten holographischen Buch lesen. Selbstzufrieden unterdrückte der Spießer ein triumphierendes Lächeln: Keine Emotion hatte sich in seine Stimme geschlichen.

»Da seine Waffe noch raucht, bezweifle ich, dass er schon vor drei Stunden kryogenisiert wurde«, mischte sich ein gut gekleideter Mann mit weiß geschminktem Gesicht ein. »Also ist der genetische Code zur Reanimation überflüssig.«

Der Junge stand auf, ging zu ihm und sah ihn so eindringlich an, dass der Mann einen Schritt zurücktrat. Dieser Blick jagte ihm Angst ein.

»Sind Sie sich dessen sicher?«

»Absolut sicher. Sie brauchen mich nicht so anzusehen, junger Freund. Fehlt Ihnen etwa jede emotionale Kontrolle? Was haben Sie eigentlich hier mitten in der Nacht mit einem Wellentöter in der Hand zu schaffen? Sind Sie etwa ein Dieb? Oder einer dieser Revolutionäre, die Syracusa destabilisieren wollen?«

Der Junge starrte ihn weiter an, schwieg aber.

»Vielleicht würde Sie ein Interlist oder ein Scaythe zum Reden bringen?«, sagte der Mann drohend.

Die Gaffer stimmten dem Sprecher zu, doch nur durch Gesten. Sie verachteten nicht nur alle Paritolen, sie fürchteten sie ebenfalls, weil diese Menschen ihren Jahrhunderte währenden Glauben an ihre Überlegenheit bedrohten. Diese beiden bewaffneten Typen, die aus dem Dunkel der Nacht aufgetaucht waren, hatten sicher Dreck am Stecken, und es wäre am besten, sie den Ordnungshütern zu übergeben. So dachten sie alle: Denn die Auslöschungsprogramme der Scaythen hatten aus ihnen bereits dem Staat genehme Untertanen ohne Moral und ohne eigenes Denkvermögen gemacht.

»Kommen Sie mit, mein Junge. Und machen Sie sich um Ihren Freund keine Sorgen. Die Interlisten kümmern sich um ihn.«

Die Leute glaubten, der junge Mann würde den Anweisungen des Mannes folgen, aber der Fremde hob seine Waffe und entsicherte sie.

Sie hatten nicht einmal Zeit zu protestieren, da schoss er bereits in die Luft.

»Haut ab! Sofort!«, schrie der Junge.

Die Gaffer vergaßen augenblicklich alle Selbstkontrolle und Würde. Sie stoben wie ein Schwarm aufgeschreckter Pfaue in alle Richtungen davon. Nur ein paar besaßen noch so viel Verstand, den Vorfall den wachhabenden Interlisten vor dem Palast zu melden.

 

Als Jek sich beruhigt hatte und nicht mehr zitterte, tastete er vorsichtig Shari ab. Der Körper seines Freundes war bereits so kalt und starr wie ein Eisblock. Die Berührung erinnerte ihn an die im Schnee liegenden Körper seiner Gefährten San Francisco und Robin de Phart im Zirkus der Tränen auf Jer Salem.

Nur mühsam konnte er den Mahdi umdrehen und fand erst nach längerem Suchen die Schachtel mit den Spritzen. Als er das Geräusch sich nähernder Schritte hörte, hob er den Kopf und sah eine Gruppe weiß gekleideter Gestalten, die auf ihn zuliefen.