ZWANZIGSTES KAPITEL

Tot sind sie alle. Sie sind tot,
Die Scaythen, Herrscher und Zeloten,
Die falschen Boten eines Glaubens,
Eines Reichs, dem Untergang geweiht.

 

Sie alle sind gestorben und verdorben,
Mörder waren sie.
Doch ihre Asche ist verweht
Wie unsere Angst und Furcht,
Die niemals mehr besteht.

Syracusisches Volkslied,
Von dem großen Badour Jil Saherva gesungen

Wisst Ihr, wohin diese Tür führt?«, fragte Whu. Fracist Bogh schüttelte den Kopf. Nachdem die beiden Männer aus der Werkstatt geschlichen waren, hatten sie sich mühsam in völliger Dunkelheit durch die unterirdischen Gänge vorgetastet und in diesem Labyrinth praktisch die Orientierung verloren. Von Zeit zu Zeit erhellte ein Lichtblitz die Schwärze, dem das ferne Geräusch einer Explosion folgte. Es wurde noch immer gekämpft.

Sie hatten beschlossen, sich im Palast auf die Suche nach einem funktionierenden Deremat zu machen, um sich auf Terra Mater transferieren zu lassen. Wie der ehemalige Ritter so trug auch Fracist Bogh jetzt die Uniform eines Pritiv-Söldners, und trotz seines Widerwillens hatte er eine weiße Maske angelegt, die Whu mit Stofffetzen am Kopf des Geistlichen befestigt hatte. Beide hatten sich mit je zwei Wellentötern bewaffnet, die sie den Gefallenen abgenommen hatten. Doch bis jetzt war ihnen in den dunklen Gängen weder Freund noch Feind begegnet.

»Kennt Ihr denn Euren Palast nicht?«, fragte Whu verärgert.

»Die Kellerräume dieses Gebäudes sind derart weiträumig und verzweigt, dass man Jahre braucht, um sich hier zurechtzufinden.«

»Das ist ziemlich unerfreulich. Vielleicht gehen wir immer nur im Kreis …«

»Wir haben keine andere Wahl, als dem Kreuz zu vertrauen. Ein Vers im Buch der Gnaden lautet: Wenn du auch wanderst in der Finsternis, so bete zum Kreuz, und es wird einen Pfad des Lichts unter deinen Füßen ausbreiten …«

»Ihr redet manchmal wie eine Himâ der Abruzzen.«

Nachdem Whu das gesagt hatte, überkam ihn die Sehnsucht, seine Geliebte sofort in die Arme zu nehmen.

»Wie wer?«

»Wie eine Seherin der Abruzzen-Berge auf dem Sechsten Ring …«

»Was machtet Ihr auf dem Sechsten Ring?«

Nach kurzem Zögern antwortete Whu: »Ich war Kinderhändler. Unsere Organisation belieferte vor allem die Kardinäle Eurer Kirche.«

»Das ist wohl eine Beschäftigung, die sich schlecht mit den Idealen der Ritter der Absolution verträgt …«

»Diese Kardinäle hielten sich ebenso wenig an die Grundregeln des Kreuzes!«

»Aber diese armen, unschuldigen Kinder …«

»Vielleicht wurden unschuldige Kinder nie von den Jägern der Organisation eingefangen«, sagte Whu provozierend.

»Diese Behauptung ist ungeheuerlich!«, sagte Fracist Bogh, mit ungläubigem Zorn in der Stimme.

»Das hypothetische Konstrukt, Kinder seien a priori unschuldig, d. h. harmlos und naiv, führt dazu, dass sie sich als Erwachsene für nichts mehr verantwortlich fühlen«, argumentierte Whu. »Ich bin mir durchaus bewusst, dass die Behauptung, auch Kinder trügen Verantwortung, Euch ungeheuerlich vorkommen muss. Aber wenn wir den Kindern das Recht absprechen, souverän zu sein, werden wir die Probleme der Menschheit nie lösen.«

»Ich hingegen glaube, dass dieses Argument Euch erlaubt, sich elegant aus der Affäre zu ziehen, weil Ihr dann für Euer Handeln keine Schuldgefühle empfinden müsst. Da Ihr überzeugt seid, dass Kinder die Herren ihres Schicksals sind, müsst Ihr keine Reue darüber empfinden, was Ihr ihnen Schreckliches angetan habt.«

Whu blieb stehen und dachte nach. »Ich bin mir meiner Verantwortung bewusst«, sagte er schließlich traurig. »Die Kinder wären nicht zu Opfern geworden, hätte ich mich nicht zu ihrem Henker gemacht. Sie erlaubten mir, ihr Henker zu werden, und ich erlaubte ihnen, meine Opfer zu werden. Es handelte sich um ein Recht, eine Wahl.«

»Ein Recht? Eine Wahl?«, entgegnete Fracist Bogh empört. »Die Kinder des Nord-Terrariums in Anjor, die ich vergasen ließ; die Kinder Jer Salems, die ich töten ließ; die Kinder, die ich zwangsweise zu guten Kreuzianern machte, hatten sie eine Wahl?«

Whu nickte. »Ja, das glaube ich.«

»Das glaubt Ihr?«, rief Fracist Bogh wütend. »Hier den Glauben anzuführen, ist wenig überzeugend, Ritter!«

»Die angeblich kindliche Unschuld kommt uns gelegen, weil sie als Argument dazu dient, als Erwachsener nicht voll für unser Leben verantwortlich zu sein. Diese Theorie alimentiert zudem ein Gedankengut, das die Menschheit von der Quelle ihres Ursprungs abschneidet; sie impliziert den Zufall, die These biologischer Zufälligkeiten, eine Dominanz der Materie über den Geist und somit das Unvermögen des Menschen, seine Umwelt zu gestalten. Sie räumt äußeren Kräften eine ungeheure Macht ein … Und wenn ich vom Henker spreche … Unschuld ist vielleicht nicht der passende Terminus. Es wäre wohl besser, von Urreinheit zu sprechen.«

»Dann vertretet Ihr also die Theorie der Ursünde, des Sündenfalls?«

»Eher in struktureller Hinsicht. Lange vor dem Keimen ausgebrachte Saat, die sich aber wegen des trockenen Bodens nie entwickeln konnte.«

»Ich entdecke einen Widerspruch in Eurer Rede, Ritter. Wenn diese Saat nicht keimt, dann geschieht es, weil deren Nutznießer es weder wollen noch wünschen. Das Austrocknen ihrer Böden macht ihre Rechte sowie ihr Wahlvermögen irrelevant.«

»Unsere Rechte und das Wahlvermögen implizieren jedoch, dass wir ihnen einen anderen Sichtwinkel aufzeigen müssen. Damit ein jeder erst nach Kenntnis der Sachlage entscheiden kann.«

»Seltsam! Erst auf Umwegen gelangt Ihr zu demselben Schluss, zu Dingen, die der Kirche schon lange Sorge bereiten. Gerade deshalb versucht sie ja, auf die eine oder andere Weise das Gewissen der Menschheit zu sensibilisieren.«

Whu lachte kurz und bitter auf. »Ich hoffe nur, nicht zu einem jener Dogmatiker zu werden, die ihre Worte wie Waffen gebrauchen.«

»Habt Ihr im Kloster oder in Eurer Untergrundorganisation gelernt, so zu philosophieren?«

»Weder noch. Das Xui hat mich zu solchen Überlegungen geführt.«

»Das Xui?«

»Die Energie, die alles auf diesen Welten miteinander verbindet. Das strukturelle Gedächtnis dieses Universums. Der Gesang des Geistes.«

»Und wären die Zeloten nichts als …«

Whu bedeutete Fracist Bogh zu schweigen. Sie hatten gerade einen Gang betreten, an dessen Ende ein schwacher Lichtschein schimmerte. Zuerst blieben sie eine Weile unbeweglich stehen. Da sie kein Geräusch hörten, gingen sie vorsichtig weiter, bis sie zu einem Kellergewölbe kamen, das Fracist Bogh sofort erkannte.

Das Licht stammte von einer auf einem Tischchen liegenden Laserlampe vor einer der zahlreichen Nischen in der Wand und beleuchtete transparente Luftkugeln, in denen seltsame Objekte schwammen.

»Was ist das?«, fragte Whu.

»Die Geschlechtsorgane der Vikare«, antwortete der ehemalige Muffi, leicht amüsiert. »Wir befinden uns in der Gruft der Kastraten. Dort bewahren die Eunuchen der Großen Schäferei ihre Penisse und Hoden auf.«

»Warum haben sie sie nicht behalten? Sie wären ihren Besitzern doch wohl nützlicher gewesen und wenn auch nur zum Pinkeln.«

»Dieses Opfer war ein Symbol ihres Willens, Körper und Geist in den Dienst der Kirche zu stellen«, antwortete Fracist Bogh. »Ihr spracht vorhin von Zeloten, von Fanatikern. Die Vikare sind Fanatiker, Männer, die sich kastrieren lassen, um nicht den Versuchungen des Fleisches zu erliegen.«

»Das Keuschheitsgelübde reicht also nicht?«

Fracist Bogh ließ den Blick über eine der Luftkugeln schweifen. Der Anblick ekelte ihn inzwischen weniger als während seiner ersten Besuche in der Gruft.

»Nur wenige halten sich an ihr Gelübde. Das Fleisch ist schwach, Ritter …«

»Und Ihr? Habt Ihr es gebrochen?«

»Ich habe meinen Penis nur zum Pinkeln gebraucht, wie Ihr Euch ausgedrückt habt. Sollte ich Extasen gekannt haben, konnte ich durch den Anblick der Grausamkeiten meine Lust sublimieren. Ich betrachtete die Menschen am Feuerkreuz. Vielleicht wäre es für die Menschheit und mich besser gewesen, ich hätte mich wie die Vikare kastrieren lassen, um nicht weiterhin unter diesem Trieb zu leiden …«

»Die Vikare unterliegen einer Illusion, wenn sie glauben, auf diese Weise ihr Problem zu lösen. Wahrscheinlich ist diese Verstümmelung das Schlimmste, nicht nur, weil sie physiologisch gesehen krank macht, sondern weil sie die Seele für immer verletzt. Sie bewahren ihre Sexualorgane auf, um sie zu betrachten, nicht wahr?«

»Um sich zu sammeln und im Glauben zu bestärken«, entgegnete Fracist Bogh. »Die Vikare bezeichnen ihre Sexualorgane als ihre persönlichen Opfergaben.«

»Jetzt, da sie sich von ihnen getrennt haben, messen sie ihnen noch mehr Bedeutung zu. Denn sie haben ihre Sexualität nicht besiegt, sondern sie wie ein bösartiges Tier in einen Käfig gesperrt. Solange man unversehrt ist, kann man die Triebe in sich besiegen, aber die Vikare können nur noch spüren, wie sie erstarken.«

»Eine ebenso beschränkte wie dumme Sichtweise, meine Herren!«, hörten die beiden eine Fistelstimme.

Whu drehte sich sofort um. Zuerst rief er das Xui. Als er in den See aus Energie eingetaucht war, warf er einen Blick über die Schulter. Fracist Bogh hatte bereits eine seiner beiden Waffen auf die Gruppe schwarzer Gestalten gerichtet, die aus dem Halbdunkel traten. Im Licht einer Laserlampe erkannte er einige Mitglieder des Hohen Vikariats: Bruder Astaphan, den Sprecher, Bruder Mourk El-Salin, den Vorsitzenden des Verwaltungsrats, Bruder Palion Sudri, Geschäftsführer für hierarchische Angelegenheiten, und andere Brüder, die er vom Sehen kannte, deren Namen er aber vergessen hatte.

»Ihr solltet diese Masken abnehmen, meine Herren«, sagte Bruder Astaphan. »Ihr seid ebenso wenig Pritiv-Söldner, wie wir Männer sind«, fügte er hinzu und verzog sein bleiches, runzeliges Gesicht zu einer Grimasse, die wohl ein Lächeln sein sollte.

Fracist Bogh antwortete, indem er seine Waffe ein Stück höher hob.

»Ein Wellentöter beeindruckt mich nicht!«, sagte der dickleibige Bruder Mourk El-Salin. »Auch wir sind bewaffnet. Ihr könnt zwei oder drei von uns töten. Aber wir sind in der Überzahl und werden uns ein Vergnügen daraus machen, Euch von jenen Anhängseln zu befreien, die Euch so sehr quälen.«

Seine kleinen, in den Fettpolstern des Gesichts fast verschwundenen Augen funkelten vor Bösartigkeit.

»Nehmt diese Masken ab, oder wir reißen sie Euch ab!«, keifte Bruder Palion Sudri, dessen Adamsapfel an seinem dünnen faltigen Hals auf und ab hüpfte.

Fracist Bogh zögerte nicht. Mit einer wilden Geste streifte er die Maske von seinem Gesicht und schleuderte sie zu Boden.

Die Vikare standen einen Moment sprachlos da und starrten den Muffi mit offenem Mund und großen Augen an. Da stand er vor ihnen, ihr einstiger Verbündeter, der jetzt zu ihrem unerbittlichsten Feind geworden war.

»Schon lange habt Ihr uns nicht mehr die Ehre erwiesen, uns einen Besuch abzustatten, Eure Heiligkeit«, murmelte Bruder Astaphan schließlich.

»Der letzte war vor mehr als drei Jahren«, stimmte Fracist Bogh zu.

»Seither hat sich vieles verändert«, sagte Bruder Mourk El-Salin. »Wir haben ein Komplott geschmiedet und Euch zum Muffi gemacht. Damals wart Ihr ein unerbittlicher Mann, ein Diamant mit schneidender Kante, ein Schwert der Kirche, ein Feuer an den Kreuzen.«

»Auch wenn Ihr Eure Geschlechtsorgane nicht geopfert habt, wart Ihr mit Leib und Seele ein Diener der Kirche«, sagte Bruder Palion Sudri. »Ihr wart ein Ehrenmann.«

»Und was ist aus Euch geworden? Weil Ihr Euch mit Schande bedeckt habt, werdet Ihr aus Eurem Palast gejagt!«, sagte Bruder Astaphan mit vor Wut zitternder Stimme. »Ihr seid ein Mann, der seine Freunde verraten hat, der sich als Pritiv-Söldner verkleiden muss, damit er der göttlichen Bestrafung entgeht; Ihr seid ein Mann, der von der gesamten Geistlichkeit wie von den Syracusern gehasst wird, ein Mann, der von der Kirche nicht nur abgefallen ist, sondern auch gegen sie intrigiert hat.«

»Und ein Mörder seid Ihr!«, flüsterte Bruder Mourk El-Salin. »Ein Mann, der seinen Vorgänger erwürgt hat, um dessen Platz einzunehmen.«

»Seid so freundlich und werft hierauf einen Blick, Eure Heiligkeit!«, sagte Bruder Palion Sudri, wobei er die letzten Worte mit höchster Verachtung aussprach.

Einer Tasche seines schwarzen Chorhemds entnahm er ein rotes Röhrchen, einen Messacode mit integriertem Projektor. Er aktivierte ihn und richtete das Gerät auf Fracist Bogh. Etwa vierzig Zentimeter hohe dreidimenionale Projektionsbilder wurden sichtbar.

Sie zeigten einen auf einem Luftsofa sitzenden Greis. Er trug einen weißen Colancor, gesäumt mit der Bordüre aus rosa Optalium, darüber ein Chorhemd, ebenfalls weiß, mit changierenden spiralförmigen Mustern.

Fracist Bogh erkannte Barrofill XXIV. sofort. Den nervösen, vor dem Sofa stehenden Mann erkannte er jedoch nicht gleich. Dem Rot und dem Violett seiner Kleidung nach musste es sich um einen Kardinal handeln.

»Das seid ja Ihr!«, flüsterte Whu.

»Euer Freund ist ein guter Beobachter, Eure Heiligkeit«, sagte Bruder Astaphan ironisch.

Der Kardinal – Fracist Bogh konnte noch nicht fassen, dass diese holographische Aufzeichnung ihn darstellte – beugte sich plötzlich über den Muffi und drückte ihm die Halsschlagader ab. Der Greis verteidigte sich nicht, nur seine Arme und Beine zuckten. Dann versteifte sich sein Körper, bis er schlaff in sich zusammensank und zu Boden glitt. Der Kardinal tastete nach dem Puls des alten Mannes, hob die Leiche auf und setzte sie wieder auf das Sofa. Er schloss seinem Vorgänger die Augen und ging.

Die Kamera verweilte noch kurz auf dem Gesicht des Ermordeten, ehe die Projektion endete. Weil es keinen Ton gab, wirkten die Bilder noch dramatischer und hinterließen einen bedrückenden Eindruck.

In Fracist Bogh weckten sie längst vergessen geglaubte Erinnerungen, nicht nur an die Tat, sondern auch an die Unterhaltung davor und das schmerzhafte Implantieren des elektromagnetischen Chips unterhalb seines Brustbeins. Jetzt erkannte er die Bedeutung der Botschaft, die ihm post mortem des Muffis gesandt worden war, in ihrer ganzen Tragweite. Dieser Jahre andauernde Blackout hatte plötzlich eine Erklärung gefunden.

Barrofills XXIV. Stimme ertönte wieder in seinem Inneren: »Euch wurde mental ein Mordbefehl implantiert … Macht auszuüben, ohne sich die Hände mit Blut besudeln zu müssen, existiert nicht … Was haltet Ihr als künftiger Muffi von dem Namen Barrofill XXV.? … Der Gründer der Kirche des Kreuzes war ebenfalls ein Meister der Inddikischen Wissenschaft … Dieser Chip wird dir Unglück bringen, dich in blutige Kämpfe verstricken … Die Kastrierten haben zwar keine Eier mehr, aber sie können logisch denken … Zögere nicht, mir diesen letzten Liebesdienst zu erweisen … Ein geglückter Tod kann vielleicht die Irrtümer eines vergeudeten Lebens wiedergutmachen …«

Jetzt hatte Fracist Bogh den unterbrochenen Lauf seines Lebens wieder aufgenommen, und dieses zurückgewonnene Gefühl der eigenen Integrität rührte ihn zutiefst.

»Was ist aus Eurer autopsychischen Selbstkontrolle geworden, Eure Heiligkeit?«, spottete Bruder Mourk El-Salin. »Ihr seid den Tränen nahe, wie ein ganz gewöhnlicher Mensch.«

»Habe Ihr Euch den Spitznamen Marquisatole nicht widerrechtlich angeeignet?«, höhnte Bruder Palion Sudri.

»Diese Aufzeichnung wurde den Experten der staatlichen Holovision übergeben«, fügte Bruder Astaphan hinzu. »Momentan wird sie im gesamten Ang-Imperium gesendet. Ihr allein seid für den Niedergang der Kirche verantwortlich.«

Die Anschuldigungen der Vikare nahm er kaum wahr. Sie glaubten, ihn mit diesem Dokument belastet zu haben, doch das Gegenteil war eingetreten. Es hatte seine Entschlusskraft gestärkt. Nicht nur dass er seine mörderische Tat nicht bereute, er fühlte sich auch frei von jeder Schuld, was die Vergasung der Bewohner des Nord-Terrariums sowie die Zerstörung Jer Salems und die zahllosen an den Feuerkreuzen gestorbenen Menschen betraf. Er glaubte, wieder dieses lästige Kribbeln im Solarplexus zu spüren, das von dem elektromagnetischen Chip ausgelöst wurde.

»Welcher Niedergang?«, fragte er.

»Gravierende Ereignisse haben stattgefunden, seit Ihr wie eine Katzenratte durch die Kellergewölbe des Palastes irrt«, antwortete Bruder Astaphan.

»Die Scaythen von Hyponeros sind verschwunden!«, sagte Bruder Palion Sudri aufgeregt.

»Alle Scaythen!«, betonte Bruder Mourk El-Salin. »Seneschall Harkot, die Großinquisitoren, die heiligen Auslöscher, die Hüter der Wachtürme, die Gedankenschützer …«

»Das ist aber mal eine gute Nachricht!«, rief Fracist Bogh erfreut.

»Eine solche Reaktion von Eurer Seite erstaunt uns nicht, Eure Heiligkeit«, rügte Bruder Astaphan. »Ein Mann, der seine Zeit damit verbracht hat, die Fundamente unserer heiligen Kirche zu unterhöhlen, kann sich über das Verschwinden der Scaythen nur freuen. Aber für uns wie für alle, die für die Kirche gelebt und in ihrem Sinn gehandelt haben, bedeutet die nun schwindende Ausbreitung des Wahren Wortes einen Sieg unserer Feinde, der Feinde des Glaubens. Einen Sieg, den Ihr davongetragen habt, Eure Heiligkeit.«

»Ohne die Scaythen der heiligen Inquisition und ohne die heiligen Auslöscher können wir Verhaltensweisen, die von der Kirche abweichen, nicht mehr ausmerzen!«, brüllte Bruder Palion Sudri. »Wir kennen die geheimsten Gedanken der Sünder nicht mehr und müssen uns auf den Augenschein verlassen. Das öffnet der Scheinheiligkeit Tür und Tor.«

»Ein bedauernswerter Rückschritt für die universale Alleinherrschaft der Kirche des Kreuzes!«, sagte Bruder Astaphan und seufzte.

»Erst seit ein paar Stunden ist das Verschwinden der Scaythen bekannt geworden, und schon wurden auf einigen Planeten Missionare, Vikare und sogar Kardinäle von Einheimischen massakriert«, verkündete Bruder Mourk El-Salin. »Der Imperator Menati hat öffentlich Selbstmord begangen, nachdem er seine Gemahlin und seine Kinder getötet hatte.«

»Das geschah nur Euretwegen!«, schrie ein junger Vikar mit hochrotem Gesicht und deutete anklagend auf Fracist Bogh. Seine hervorquellenden Augen funkelten wütend, als er weitersprach.

»Ihr habt Euer Wort nicht gehalten! Ihr habt uns nicht unterstützt, wie versprochen! Ihr habt nicht mit dem Seneschall Harkot zusammengearbeitet! Euretwegen haben uns die Scaythen verlassen, denn Ihr habt Euch der Inddikischen Wissenschaft bedient, um Euren Geist vor der Inquisition zu schützen. Obwohl Ihr nichts als ein kleiner Paritole seid, dem es an politischem Fingerspitzengefühl mangelt, ein Mann, der unfähig ist, das große Erbe der Kirche zu verwalten!«

»Warum habt Ihr mich dann zu Eurem Obersten Hirten gemacht?«, fragte Fracist Bogh gelassen.

Der junge Vikar stand jetzt kaum einen Meter vor ihm und fuhr mit seiner Tirade fort.

»Euer Vorgänger hat uns getäuscht, Eure Heiligkeit. Ich selbst habe die Untersuchung geleitet und dazu beigetragen, alle dunklen Machenschaften aufzudecken, den Plan des Vierundzwanzigsten zu enthüllen. Er allein hat Euch auserwählt, er hat den Vikaren Euren Namen eingeflüstert. Und wir sind blinden Auges in diese Falle getappt! Wir haben die Wahl gefälscht, um Euch zum Pontifex zu machen! Doch gleich zu Beginn Eurer Regentschaft beschlichen uns Zweifel. Während des Prozesses gegen Dame Sibrit wart Ihr nicht mehr dieser unerbittliche Ankläger, der uns seinerzeit so beeindruckt hatte. Da begriffen wir, dass Ihr von dem Geist jenes unwürdigen Greises, Eures Vorgängers, infiziert sein musstet. Euer Verrat steht sicherlich im Zusammenhang mit diesem Chip, der Euch implantiert wurde. Dieses Detail entging leider unserer Aufmerksamkeit, bis Spezialisten uns darauf aufmerksam machten. Doch als wir unseren Fehler bemerkten, war es zu spät … zu spät!«, schrie der junge Vikar hasserfüllt und nahe daran, Fracist Bogh zu schlagen.

Whu hielt sich bereit. Er atmete tief ein und aktivierte das Xui.

»Wahrscheinlich habt Ihr auch etwas mit dem Verschwinden unseres Bruders Jaweo Mutewa zu tun, Eurem ehemaligen Privatsekretär auf Ut-Gen«, sagte Bruder Astaphan.

»Wir haben uns in unserer Gruft versammelt, um darüber zu beraten, welche Maßnahmen wir ergreifen können, um das momentan verheerende Bild der Kirche in der Öffentlichkeit zu korrigieren«, erklärte Bruder Palion Sudri. »Dafür brauchten wir einen Sündenbock. Und was wäre besser gewesen als diese holographische Aufzeichnung? Ein Mann, auf den sich der Hass und die Enttäuschung aller richten würde; ein Mann, der in die Kirchengeschichte als ein wahres Monster eingehen wird!«

»Also haben wir alle Brüder des Vikariats mobilisiert, um Jagd auf Euch zu machen, Eure Heiligkeit. Und gleichzeitig haben wir jegliche Energieversorgung unterbrochen.«

»Ihr wart unsere Beute, Eure Heiligkeit. Das von uns gehetzte Wild. Wir mussten Eurer habhaft werden, tot oder lebendig. Denn unserer Darstellung der Geschehnisse durftet Ihr auf keinen Fall widersprechen. Wir mussten Euch endgültig zum Schweigen bringen.«

»Schon hatten wir jede Hoffnung verloren, denn wir vermuteten, dass es Euch gelungen sei, Euch vor dem Abschalten der Energiezufuhr auf einen anderen Planeten transferieren zu lassen. Also haben wir uns wieder hier versammelt, um eine neue Strategie zu entwickeln.«

»Doch dann eilte uns das Kreuz in seiner unendlichen Güte zu Hilfe! Es schickte Euch geradewegs in unsere Arme, Eure Heiligkeit!«

»Doch Ihr habt unendliches Glück, denn wir werden Eure Schandtat nicht publik machen. Ihr werdet nicht als Angeklagter vor dem Kirchentribunal stehen.«

»Denn wir haben bereits über Euch gerichtet, Eure Heiligkeit.«

»Und wir haben Euch zum Tode verurteilt.«

»Ihr werdet eines sehr langsamen Todes sterben. Wir werden Euch demselben Prozedere unterziehen, das wir erleiden mussten, um in das Vikariat aufgenommen zu werden.«

»Wir fesseln Euch an einen der Pfeiler dieser Gruft und entmannen Euch bei vollem Bewusstsein.«

»Die Wunde wird nicht versorgt. Und Ihr werdet nicht einmal mit Eurem Penis urinieren können, auf den Ihr doch so stolz seid.«

»Euer Todeskampf wird sehr lange dauern. Doch macht Euch keine Sorgen, wir werden Euch regelmäßig einen Besuch abstatten.«

»Von Zeit zu Zeit werden wir ein Stück aus Eurem Körper schneiden oder reißen. Einen Nagel, einen Zahn, ein Auge, die Zunge … Und Euer Schmerzensgeheul wird in unseren Ohren wie süße Musik erklingen.«

»Ihr werdet uns anflehen, Euch zu töten, Eure Heiligkeit. Aber erst dann, dann wird alle Schmach getilgt sein, die Ihr uns angetan habt.«

»Und jetzt, Eure Heiligkeit, übergebt mir Eure Waffe!«, sagte der junge Vikar und streckte fordernd die Hand aus.

Fracist Bogh warf Whu einen fragenden Blick zu. Der Ritter nickte. Der Vikar ergriff den Wellentöter und drehte sich triumphierend zu seinen Brüdern um.

Lange konnten sie sich nicht ihres Sieges erfreuen. Der Todesschrei Whus mähte sie alle nieder. Wie von einer unsichtbaren Sense getroffen, stürzten sie nacheinander zu Boden. Einige gaben noch Lebenszeichen von sich. Fracist Bogh zückte seine zweite Waffe und erschoss sie. Es roch nach verbranntem Fleisch in der Gruft.

»Gehen wir«, sagte er und steckte die Waffe wieder ein. »Von hier aus kenne ich den Weg.«

 

Trotz Whus Rat hatte sich Fracist Bogh geweigert, die Maske wieder aufzusetzen.

Die beiden Männer gingen über Korridore und Flure, alle in einem desolaten Zustand und von Toten übersät. Die Luft stank nach Rauch und Verfall und man konnte kaum atmen.

»Ist es noch weit?«, fragte Whu ungeduldig und der Erschöpfung nahe.

»Wenn ich mich recht erinnere, müssten wir bald zur Bibliothek kommen«, antwortete Fracist Bogh.

»Gibt es dort einen funktionierenden Deremat?«

»Ich fürchte, wir müssen unser Glück außerhalb des Palastes versuchen, denn die Vikare haben die Energiezufuhr unterbrochen.«

»Vielleicht genügt es, sie wiederherzustellen.«

»Das glaube ich nicht, denn die Vikare werden die kodierten Schlüssel an sich genommen oder zerstört haben.«

»Kennt Ihr jemanden in der Stadt, der über einen Deremat verfügt?«

»Eigentlich nicht … Seit drei Jahren habe ich ausschließlich im Palast gelebt. Ich hatte viele Feinde, wie Ihr wohl bemerkt habt …«

»Momentan wäre es mir lieber, wir könnten auf Freunde zählen«, murrte Whu.

»Wir handeln nach Euren Grundsätzen, Ritter, und gestalten unser Umfeld nach unseren Bedingungen. Also machen wir aus Feinden Freunde.«

»Das ist nicht der Moment für Scherze …«

»Es war kein Scherz.«

Die Männer betraten die völlig verwüstete Bibliothek. Inmitten der umgestürzten Regale samt deren Inhalt lagen Tote. Die Film-Bücher hatten sich beim Aufschlagen auf den Boden geöffnet. Bilder flirrten über winzige flache Displays, begleitet von leisen Kommentaren aus den integrierten Lautsprechern.

Das Gemurmel wurde von einem Stöhnen unterbrochen. Die beiden blieben stehen und zogen ihre Waffen. Fracist Bogh ging langsam in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Ein schwer verletzter Osgorite lag hinter einem Regal, das nicht umgefallen war. Der Geistliche konnte den Anblick des Sterbenden kaum ertragen. Dem Mann fehlte praktisch die gesamte rechte Körperseite. Mit seiner gesunden Hand umklammerte er die Linke des ehemaligen Muffis.

»Wer … wer … sind … Sie?«

»Fracist Bogh.«

Der Name schien dem Mann nichts zu sagen. Whu hatte sich den beiden inzwischen genähert und betrachtete verständnislos die Szene.

»Besser bekannt bin ich unter dem Namen Barrofill der Fünfundzwanzigste …«

»Eure … Eure Heiligkeit … Ihr lebt … gepriesen sei das Kreuz«, sagte der Osgorite und richtete sich mit letzter Kraft etwas auf. Er sah Fracist Bogh bewundernd an. »Darf ich … Euren Ring küssen, den Julischen Korund?«

»Ich habe ihn jemandem gegeben, der sich mittels eines Deremats im Palast bereits hat transferieren lassen.«

»Und warum … habt … habt Ihr … das nicht … getan?«, sagte er mühsam mit kaum noch hörbarer Stimme.

»Die Vikare haben die Energiezufuhr unterbrochen. Deshalb funtionieren die Deremats nicht. Wir müssen außerhalb des Palastes danach suchen.«

»Ihr könnt … die … unseres Geheimnetzes … nehmen …«

Fracist Bogh beugte sich über den Sterbenden. »Wo befinden sich diese Deremats?«

Ein Zucken durchlief den Körper des Schwerverletzten. Ein Blutschwall kam aus seinem Mund. Fracist Bogh schüttelte den Kopf des Mannes.

»Die Adresse? Geben Sie mir die Adresse.«

»Mikeli-Ang-Straße siebenundzwanzig … Romantigua … dritte Etage … Code … Maltus … Segnet … segnet mich … Eure …«

Ein neuer Schwall Blut kam aus dem Mund des Mannes, dann starb er. Fracist Bogh schloss ihm die Augen und sprach ein Gebet.

 

Auch Whu hatte inzwischen seine Maske abgenommen. Die beiden Männer gingen durch die verwüstete Bibliothek. Von diesem Raum, der große Schätze beherbergt hatte, dem Stolz der Gelehrten und Muffis, war praktisch nichts übrig geblieben.

»Ich glaube allmählich, dass Ihr Recht habt«, sagte Whu plötzlich, das Schweigen brechend.

»In welcher Hinsicht?«

»Dass man Feinde zu Freunden machen soll.«

»Dieser Mann war kein Feind.«

»Ich spreche von der Transformation widriger Elemente in positive Elemente. Metaphorisch gesprochen, eine Verwandlung von Blei in Gold.«

»Es handelt sich um Eure Grundregeln, Ritter!«

»Doch Ihr habt sie äußerst effizient praktiziert, weitaus erfolgreicher, als ich es jemals hätte tun können. Ich kannte nur die Theorie – und das Xui. Durch das Xui kann ich noch sehr viel lernen.«

»Wir alle können voneinander sehr viel lernen. Auch wenn die Pfeiler an verschiedenen Orten stehen, so stützen sie gemeinsam das Gebäude.«

»Wie die zwölf Pfeiler des Tempels des Lichts …«, murmelte Whu.

Eine mit Schutt überladene Treppe führte direkt auf den Innenhof mit dem Großen Turm. Dort drängten sich Interlisten, Söldner, Gardesoldaten, Geistliche und Bedienstete. Alle verwirrt, erschöpft und mit schmutziger Kleidung. Wegen des Energieausfalls funktionierten die künstlichen Lichtquellen nicht, aber die Dunkelheit der Zweiten Nacht bot den beiden Gefährten in diesem Chaos einen perfekten Schutz.

 

In Romantigua, dem historischen Stadtviertel Venicias, feierte das Volk das Verschwinden der Scaythen spontan mit einem großen Fest. Überall traten zur Belustigung der Menge Schauspieler und Artisten auf. Es wurde getanzt und gesungen, während sich die Nacht langsam dem Ende zuneigte.

Sogar die Kinder sangen: »Tot sind sie alle. Sie sind tot. Der Imperator ist tot. Der Marquisatole ist tot …«

»Der Marquisatole?«, fragte Whu.

»Eine Zusammensetzung aus Marquisatiner und Paritole …«, erklärte Fracist Bogh. »Damit bin ich gemeint.«

Die beiden erreichten die Mikeli-Ang-Straße. Obwohl sie noch die Overalls der Pritiv-Söldner trugen, schenkten ihnen die Leute keine Aufmerksamkeit. Und die Dienst habenden Interlisten feierten lieber mit, als für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

»Vielleicht freuen sie sich zu früh«, sagte Whu nachdenklich. »Ich bin überzeugt, dass die Scaythen noch nicht aufgegeben haben. Nicht umsonst haben sie über Jahrhunderte dieses Spiel gespielt …«

»Vielleicht hat ihr Verschwinden etwas mit der Befreiung der vier im Tiefschlaf liegenden Personen im Palast zu tun. Ich habe den Mahdi Shari vergessen zu fragen, wie er sich die Codes für ihre Reanimation beschafft hat. Es kann nicht einfach gewesen sein.«

Sie betraten die mit Marmor und weißem Optalium ausgekleidete Halle des Hauses und wollten gerade auf die blaue Lichtsäule des Gravitationsrohrs zugehen, als ein Wächter in rot-weißer Uniform auf sie zulief und ihnen den Weg versperrte.

»Was wollen Sie hier, meine Herren?«

»Einem Bekannten einen Besuch abstatten«, antwortete Fracist Bogh.

»Verzeihen Sie, aber Ihre unkorrekte Kleidung verbietet  …« Der Mann erstarrte und sah Fracist Bogh entsetzt an.

»Wir hatten keine Zeit, unsere Garderobe zu wechseln.«

»Verschwinden Sie! Oder ich hole die Interlisten!«, drohte er, einer Panik nahe.

Whu sah sich kurz um, konnte aber niemanden in dem Vestibül sehen.

»Wovor haben Sie Angst?«, fragte Fracist Bogh.

»Hauen Sie ab!«, schrie der Wachmann und ging rückwärts auf sein Büro zu. »Verschwinden Sie …«

Mehr konnte er nicht sagen. Ein blitzartiger Strahl hatte seine Stirn getroffen. Er sackte in sich zusammen.

Fracist Bogh drehte sich um. »Seid Ihr verrückt geworden?«, schrie er wütend.

»Diese Art zu Töten ist nicht besonders ästhetisch. Aber für den Mann hier durfte ich mein Xui nicht verschwenden …«

»Musstet Ihr ihn umbringen? Ihr scheint vergessen zu haben, dass Ihr nicht mehr Mitglied einer Bande von Sklavenhändlern seid, Ritter!«

»Philosophisch betrachtet, ist der Tod Teil des Lebens, pragmatisch gesehen, hätte dieser Mann uns größte Schwierigkeiten bereitet. Gegner, die in Panik geraten, sind unberechenbar und daher gefährlich.«

»Wovor hatte er Angst?«

»Vor Euch, wie mir scheint.«

 

Die beiden sprangen von der Plattform, noch ehe sie zum Stillstand gekommen war, und liefen zu der einzigen Wohnungstür auf dem Flur.

»Erinnert Ihr Euch an den Code?«, fragte Whu leise.

Fracist Bogh antwortete nicht. Er starrte nur die bläulich leuchtende Tastatur neben der Tür an, übersetzte die holographischen Symbole in Gedanken in Buchstaben und gab den Code ein: MALTUS.

Er dachte kurz an den Obersten Gärtner, und ihm schien, als seien Jahre seit dessen Tod vergangen.

Dann öffnete sich die Tür mit einem leisen Quietschen, und sie gingen in die geräumige, von schwebenden LichtKugeln erleuchtete Wohnung. Sie hörten Stimmen aus einem der Zimmer und erwarteten, dort mehrere Personen anzutreffen. Doch als sie den großen Raum betraten, saß dort nur eine junge Frau auf einem Sofa.

Sie betrachtete eine dreidimensionale Projektion in Lebensgröße, und die Stimmen, die sie gehört hatten, stammten von den Kommentatoren. Die Frau trug ein kimonoartiges, mit Gold besticktes Gewand aus grüner Seide, hatte üppiges gelocktes Haar und schlanke braune Beine. Sie rauchte eine Zigarette aus rotem Tabak.

Plötzlich drehte sie sich um. Als sie die Männer sah, hob sie die Arme, wie zum Schutz.

»Wir wollen Ihnen nichts tun«, sagte Fracist Bogh schnell. »Maltus Haktar, der Leiter der Untergrundorganisation schickt uns.«

Als die junge Frau diesen Namen hörte, entspannte sie sich. »Haben Sie Neuigkeiten von ihm?«

»Leider nur schlechte.«

Tränen traten in ihre großen dunklen Augen. Mit einer ungeduldigen Geste strich sie sich die Haare aus der Stirn.

»Kennen Sie ihn?«, fragte Fracist Bogh.

Schluchzend sank sie in sich zusammen.

»Ich bin Barrofill der Fünfundzwanzigste …«

Sie richtete sich abrupt auf. Blanker Hass stand in ihren Augen. »Ihr seid ein Monster!«, schrie sie. »Ein Monster! Jetzt erkenne ich Euch! Ihr habt Euren Vorgänger ermordet, den Beschützer der Osgoriten! Und meinen Vater habt Ihr auch getötet. Meinen Vater!«

Fracist Bogh wollte antworten, doch Whu deutete auf den dreidimensionalen Bildschirm. Dort lief gerade die Szene, die ihnen die Vikare in der Gruft gezeigt hatten. Die lebensgroßen Bilder wirkten noch realistischer, während die Stimme des Sprechers das ungeheuerliche Verbrechen schilderte.

»Aus zuverlässiger Quelle haben wir erfahren, dass die Wahl Fracist Boghs zum Muffi nichts als eine Fälschung war. Ein Fakt, der nun niemanden mehr erstaunt, aber jetzt ein neues Licht auf die Persönlichkeit Boghs wirft, einen Marquisatiner, einen Paritolen, einen Mörder …«

Die junge Frau sprang auf, stürzte sich auf Fracist Bogh und zerkratzte ihm das Gesicht.

»Ihr seid ein Monster! Niemals hätte mein Vater in Eure Dienste treten dürfen!«

Beiden Männern gelang es nur mühsam, sie außer Gefecht zu setzen. Whu hielt sie – unter den Achseln gepackt  – fest. Noch versuchte sie, Fracist Bogh zu treten, ihre Kraft erlahmte aber bald. Durch ihre heftigen Bewegungen hatte sich der Gürtel ihres Gewands gelöst und Fracist Bogh sah, dass ihr Bauchnabel mit einem roten Korund geschmückt war.

»Es ist mir gleichgültig, was Sie über mich denken«, sagte er. »Würde Ihr Vater noch leben, er könnte Ihnen erklären, dass die Vikare ein Komplott geschmiedet haben. Als Mitglied einer Geheimorganisation müssten Sie wissen, dass Manipulation das wichtigste Werkzeug zur Erlangung und Erhaltung der Macht ist.«

Sie spuckte ihm ins Gesicht.

»Sagen Sie mir nur, wo Ihr Deremat steht«, sagte er und wischte sich den Speichel von der Wange.

»Haut ab! Alle beide!«

Er konnte sich nicht mehr beherrschen und ohrfeigte sie. Sie schluchzte und fing am ganzen Körper zu zittern an.

»Geht! Lasst mich in Ruhe!«

»Wo ist Ihr Deremat?«

»Lasst mich los. Ich zeige ihn Euch …«

 

Maltus Haktars Tochter schloss die Tür des kleinen Deremat-Raums hinter sich und ließ die Männer allein. Das längliche Gerät verfügte über eine ausreichende Kapazität, um die beiden direkt auf Terra Mater zu transferieren.

»Jetzt verstehe ich die Angst des Hausverwalters«, sagte Fracist Bogh. »Von nun an werde ich immer der Mörder Barrofill des Vierundzwanzigsten sein. Ein Monster.«

»Aber ich weiß, dass Ihr ein Monster reinen Herzens seid«, sagte Whu.

Der Ritter streckte seinem Gefährten die Hand entgegen. Fracist Bogh ergriff sie freudig.

»Zwar sind wir nicht immer einer Meinung, aber ich bin froh, dich kennengelernt zu haben«, fügte Whu hinzu.

Fracist Bogh lächelte seinen Freund an, denn sprechen konnte er vor Rührung nicht.