ACHTZEHNTES KAPITEL

Schick, Soäcra, deine Strahlen
In meinen Aven.1
Dein Licht brennt nie zu heiß,
Denn ich weiß,
Dass du, wenn müde, weiterwanderst …
Hat mein Aven dir gefallen,
Kommst du zurück. Zur Freude von uns allen,
Soäcra.

»Einladung in den Aven«
Volkslied der Völker der Tropen Platonias

Mit diesen Wilden kann man überhaupt nichts Brauchbares anfangen!«, schimpfte Kardinal Kill, der Gouverneur des Planeten Platonia.

Die Mitglieder der Delegation waren gerade aus dem Personenair der Kirche ausgestiegen. Dicht gedrängt standen sie am Rand der Erdspalte und beobachteten die vollständig nackten Menschen, etwa fünfzig Meter unter ihnen, wie sie ihren Beschäftigungen nachgingen.

Die grünlichen Tornados am perlgrauen Himmel über ihnen waren gleichbedeutend mit einer unerträglichen Hitze. Die Platonier der Tropen nannten diese Wirbelstürme »Schwingen des Feuerdrachens«.

Wie alle Siedlungen auf Platonia hatte man das Dorf Bawalo nicht auf der karstigen wüstenähnlichen Oberfläche des Planeten errichtet, sondern in einer wasserreichen Höhle mit üppiger Vegetation. Dieses Gewässer, in dem sich die Strahlen des gelben Gestirns von Platonia, Soäcra, spiegelten, gehörte zu dem unterirdischen Ozean Niger Grande – einem weit verzweigten Netz aus Seen, die durch Flüsse, Bäche und Wasserfälle miteinander verbunden waren und während der Regenzeit durch sintflutartige Niederschläge gespeist wurden.

Da die Erosion ein Leben auf dem Planeten unmöglich machte, hatte es sich umso üppiger in unzähligen Avens, Höhlen, Grotten und anderen Hohlräumen im Gestein entwickelt. Geologische Formationen boten Schutz gegen die Hitze, ließen aber den Regen hindurch und filterten ihn. Dieses feuchtwarme Klima hatte eine wuchernde Vegetation hervorgebracht: riesige leuchtende Farnpflanzen, die bei Einbruch der Nacht für Helligkeit sorgten; große Blumen mit durchsichtigen Blütenkronen, die einen betäubenden Duft ausströmten; Phanerogame mit schirmartig geformten Blättern; Obstbäume, die drei- oder viermal im Jahr abgeerntet werden konnten. Den Genuss der aus Mohnpflanzen gewonnenen Halluzinogene hatte die Kirche verboten, doch die Ureinwohner frönten weiterhin den alten Bräuchen während ihrer traditionellen Feste.

Dieser Überfluss der Tropen zusammen mit einem überbordenden Fischreichtum des Ozeans Niger Grande – man konnte die Tiere praktisch mit der Hand fangen – hatte die Platonier der Tropen zu einem Volk von Müßiggängern werden lassen. Die Platonier des Nordens hingegen lebten in Avens, in denen dichte Nadelgehölze wuchsen, und waren deshalb zu einem fleißigen Volk geworden, dessen Arbeitskultur der der anderen Welten des Zentrums ähnelte.

Beide Völker unterschieden sich auch in physischer Hinsicht. Die Nordländer hatten schwarze Haut und krauses Haar, sie waren groß und athletisch und trugen Kleider. Die Südländer waren kleiner – nicht größer als ein Meter fünfzig –, ihre Haut war bronzefarben und ihr Haar glatt und schwarz.

Trotz aller missionarischer Bemühungen setzten sie sich über das imperiale Dekret hinweg, das die Nacktheit verbot, weil sie als rückständig und gotteslästerlich angesehen wurde.

»Ich bin fest entschlossen, das zu ändern, Pater Hectus«, fuhr Kardinal Kill fort. »Sie haben diesen … diesen Eingeborenen gegenüber eine erstaunliche Nachsicht an den Tag gelegt. Was das betrifft, sind Sie leider nicht der Einzige …«

Pater Hectus Bar, der Leiter der kreuzianischen Mission, biss sich auf die Lippe. Der unerwartete Besuch des Kardinals und des Großinquisitors, des Scaythen Wyroph, kam zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Vor ein paar Stunden hatte er einen Messacode von seinem alten Freund Maltus Haktar bekommen, im dem er ihn über die sehr wahrscheinliche Rematerialisierung von sechs oder sieben Personen im Missionshaus informierte. Sein Mitplanetarier hatte ihn gebeten, den Reisenden die zwei Deremats zur Verfügung zu stellen. Obwohl der Oberste Gärtner keine weiteren Erklärungen abgegeben hatte, wusste Hectus Bar, dass es sich um illegale Transfers handelte. Sein Jugendfreund Maltus Haktar hatte ihn einst für das Untergrundnetz angeworben. Durch seinen Eid an die Organisation gebunden, hatte er damals heimlich zwei Maschinen in Bawalo installieren lassen.

Das bedauerte der Pater jetzt zutiefst, vor allem in der bedrohlichen Gegenwart des Großinquisitors in seinem roten Kapuzenmantel, denn er fürchtete, dass sich die ungebetenen Besucher noch vor dem Eintreffen der Delegation – die außer dem Kardinal und dem Inquisitor aus vier Gedankenschützern, zwei Scaythen der heiligen Inquistion, zwei in Blau und Grün gekleideten Exarchen und zwanzig Interlisten bestand – in Bawalo rematerialisieren könnten. Obwohl er dank der Symbole über mentalen Schutz verfügte, fürchtete er, dass Wyroph und dessen Akolythen von seinen verbotenen Aktivitäten erfahren könnten.

»Und deshalb habe ich mich entschlossen, ihre Schäfchen einem Auslöschungsprozedere zu unterziehen«, hörte der Pater den Kardinal sagen.

»Wann soll dieses Prozedere stattfinden, Eure Eminenz?«, fragte der Pater.

Ein süffisantes Lächeln umspielte den Mund des Kardinals, während er seinen Blick über die braunen Gestalten schweifen ließ, die unten im Dorf Bawalo zwischen ihren Hütten hin- und herliefen, im klaren Wasser Niger Grandes badeten oder die Strahlen Soäcras genossen.

»Es soll sofort stattfinden, Pater Hectus. Schon viel zu lange missachten diese Ungläubigen Ihre Autorität. Die Autorität der Kirche!«

Der Missionar wurde aschfahl. »Jetzt sofort? Aber …«

»Spricht etwas dagegen, dass wir diese Primitiven zum Wahren Wort bekehren?«, fragte der Großinquisitor.

»Vielleicht ziehen sie es dann vor, an der Oberfläche zu leben und sich nicht wie Katzenratten in Erdhöhlen zu verkriechen!«, schimpfte der Kardinal, der seine APSK unter dem drückend schwülen Klima allmählich nicht mehr aufrechterhalten konnte.

»Niemand kann auf der Oberfläche dieses Planeten leben, außer vielleicht einige Stämme im hohen Norden«, protestierte der Missionar. »Die Hitze Soäcras ist unerträglich, und die hohen Niederschläge während der Regenzeit haben eine zerstörerische Kraft. Sogar Daukar wurde in einem Aven errichtet …«

»Reden Sie mir nicht von Daukar! Diese Anhäufung einfacher Hütten kann man kaum als Hauptstadt bezeichnen. Ich habe für diesen Planeten ehrgeizige Pläne: eine aus Stein und Glas gebaute Stadt und einen auf Pfählen errichteten Dom, der den Fluten trotzen kann. Venicianische Architekten beschäftigen sich schon mit diesem Projekt. Wir werden diese Welt aus ihrem Schattendasein befreien und ihre Bewohner von ihrer Ignoranz!«

Er beugte sich über den Aven, als wollte er ihn mit seinem Speichel tränken. Ein Pfad, ursprünglich von den herabfließenden Wassermassen gebildet, wand sich bis auf den Grund der Vertiefung. Obwohl man Serpentinen in den Fels gehauen hatte, war der Pfad sehr gefährlich. Schon oft war Hectus Bar beim Hinuntergehen gestolpert und mehrere Meter abgestürzt, bis Sträucher seinen Sturz gebremst hatten.

Am grauen Himmel bildeten sich grüne Tornados und lösten sich wie prächtiges Feuerwerk wieder auf. Der Wind hatte sich gelegt, doch die Temperatur war um mehrere Grad gestiegen. Der große Personenair stellte die einzige Erhebung in dieser braunen, kahlen Ebene dar.

»Wir sterben bald vor Hitze, Pater Hectus!«, mahnte Kardinal Kill.

»Ihr wollt eine Stadt an der Oberfläche bauen …«, versuchte der Missionar abzulenken.

Sein Vorgesetzter warf ihm einen hasserfüllten Blick zu, und der Pater dachte, dass er besser den Mund gehalten hätte. Auch schien ihm, als würde sich eine gewisse Kälte in seinem Kopf ausbreiten. Deshalb zitierte er stumm die Schutz-Grapheme.

»Bringen Sie uns sofort in Ihre Mission. Das ist keine Bitte, sondern ein Befehl!«

»Den Personenair können wir nicht benutzen, Eure Eminenz. Das Risiko ist zu groß, einen Felssturz auszulösen.«

»Gut. Dann gehen wir eben zu Fuß!«

Hectus Bar verneigte sich und ging langsam auf den abschüssigen Pfad zu. Die Mitglieder der Delegation folgten ihm einer nach dem anderen.

Sie brauchten eine Stunde, bis sie auf dem Grund des Avens angekommen waren. Der Kardinal war nicht sehr sicher auf den Beinen. An jeder Kehre blieb er stehen, schöpfte Atem, kämpfte gegen das Schwindelgefühl an, wischte sich den Schweiß von der Stirn und verfluchte Platonia.

Als die Einheimischen den Besuch kommen sahen, ließen sie von ihren Aktivitäten ab – die vor allem in Baden, Schlafen, Essen und sexuellen Handlungen bestanden  – und versammelten sich um die Neuankömmlinge. Als diese nackten braunen Männer, Frauen und Kinder den Kardinal berührten, machte er eine abwehrende Geste. Ihn ekelte vor diesen Menschen, und er hielt sich ein parfümiertes Taschentuch vor die Nase, das er glücklicherweise eingesteckt hatte, denn er konnte den säuerlichen Geruch ihrer schweißüberströmten Körper kaum ertragen.

Viel lieber hätte er den Regierungssitz in den Norden verlegt, wo die Eingeborenen geschickte Holzhandwerker waren, aber der Kirchenrat hatte ihn autorisiert, diese neue Stadt neben dem Aven von Daukar errichten zu lassen. Nun hatte er es eilig, Nea-Daukar – nur mühsam war es seinen Ratgebern gelungen, ihn davon abzuhalten, die Stadt Kill-Ville zu nennen – als Beweis syracusischer Genialität entstehen zu sehen.

Die Behausungen in Bawalo waren noch primitiver als die Daukars. Die Wände bestanden aus miteinander verflochtenen Ästen und waren von Efeu überwuchert, darüber befand sich ein Strohdach. Es gab weder Türen noch Fenster, lediglich einen runden Eingang, den nur die Eingeborenen aufrecht durchschreiten konnten. Die Straßen glichen eher Dschungelpfaden, die durch eine schier undurchdringliche Vegetation führten.

In seiner Angst zu ersticken, hob der Kardinal den Kopf und blickte sehnsüchtig nach oben. Der majestätische Lichtstrahl Soäcras zog ihn in seinen Bann, er war voller Magie. Sein Blick ruhte wieder auf den Tropikalen. Er musterte die Brüste der Frauen, die Genitalien der Männer, diese aufregenden Körper – und ein bitterer Geschmack erfüllte seinen Mund.

»Pater Hectus, sagen Sie Ihren Schäfchen, sie sollen sich von mir fernhalten!«, sagte er gehässig.

»Dann würdet Ihr sie verärgern. Das ist ihre Art, Fremde willkommen zu heißen«, entgegnete der Missionar.

»Müssen wir uns ihren Sitten beugen, Pater Hectus?«

»Eine derartige Forderung könnte sie aggressiv, wenn nicht blutrünstig machen.«

»Die Interlisten würden sie innerhalb von Minuten zu Asche reduzieren.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher, Eure Eminenz. Sie verfügen über Kenntnisse im Reich der Pflanzen, die sie unberechenbar machen.«

»Ihre Worte lassen mich ratlos zurück, Pater Hectus. Diese … diese Primitiven scheinen Sie zu faszinieren.«

»Ich hatte nur Gelegenheit, sie kennenzulernen, Eure Eminenz.«

Die Mission des Geistlichen stand etwas außerhalb des Dorfes, am Rand einer kleinen Bucht des Niger Grande, wo sich eine große Hütte befand, die aus demselben Material wie die Hütten der Einheimischen gefertigt worden war. Je näher sie der großen Hütte kamen – sie bestand aus mehreren Räumen: Wohnraum für den Missionar, kreuzianischer Gebetsraum, Büro und Krankenzimmer (das gelegentlich von dem Geistlichen in Anspruch genommen wurde, wenn ihn die Einheimischen mit ihren Tränken vom tropischen Fieber befreiten) –, umso besorgter wurde Pater Hectus.

Die Interlisten hatten ihre liebe Not, sich einen Weg durch die Kinder, die sich um sie scharten, zu bahnen. Sie waren von den Uniformen und den Wellentötern mit den langen Läufen begeistert. Die Frauen jedoch ergriffen lachend die Hände der Exarchen und legten sie auf ihr Bäuche oder Brüste, so als wollten sie den Männern Appetit machen.

Hectus Bar betrachtete amüsiert das Treiben. Die Sitten dieser Menschen hatten ihn anfangs ebenso überrascht, als er vor fünfzehn Jahren die Stelle von Pater Xautier eingenommen hatte. Der Geistliche war an einem Herzinfarkt gestorben, obwohl Hectus Bar vermutete, dass sein Vorgänger zu große Dosen Aphrodisiaka eingenommen habe. Denn seit dem ersten Tag seines Amtsantritts fand er jeden Abend jemanden in seinem Bett: Frau, Mädchen, Mann oder Junge. Zuerst hatte er sein Keuschheitsgelübde nicht gebrochen. Die Bawaloaner hatten daraus geschlossen, dass Weiß-Gelb (so nannten sie ihn wegen seiner Hautfarbe und seines safrangelben Gewands) andere sexuelle Vorlieben habe, und ihn mit anderen »Spielgefährten« zu verwöhnen versucht: mit lebenden oder toten Fischen und schließlich mit besonders geformten Blättern oder Früchten. Nichts hatte geholfen. Erst als sie ihm wieder junge Frauen anboten, hatte Weiß-Gelb seinen Widerstand aufgegeben und war ein häufiger Gast in den »kleinen Avens« jener Frauen geworden, die Interesse an ihm gezeigt hatten. Schon bald kursierten schmeichelhafte Gerüchte über seine Potenz, und dann wünschten sich alle Frauen, mit dem Missionar zu schlafen. Und wie sein Vorgänger war Pater Hectus nun gezwungen, täglich Aphrodisiaka zu nehmen, um seine Männlichkeit unter Beweis stellen zu können. Damit hatte er mit einem fundamentalen Dogma der Kirche gebrochen, aber er tröstete sich damit, dass sein Vorgesetzter ihn auf diesen nur IHM allein bekannten verschlungenen Pfad geschickt haben musste. Seines Wissens nach war er nicht der Vater eines einzigen Kindes der Bawaloaner, denn die Tropikalen kannten sich mit Verhütungsmitteln bestens aus und wollten ihn nicht mit einer ungewollten Vaterschaft belasten.

Da die Exarchen sich nun immer mehr empörten, wusste der Missionar, dass die Sitten in Daukar nicht so freizügig wie hier waren. Sie stießen die Hände der Frauen rüde von sich und schienen derart angeekelt, als hätten sie Reptilien berührt.

»Das sind Tiere«, sagte Kardinal Kill, außer sich. »Hier ist wohl ein totales Auslöschen angezeigt.«

»Was bezeichnet Ihr als ›totales Auslöschen‹, Eure Eminenz?«, fragte Hectus Bar.

»Das Unvermögen, sich an strukturelle und kulturelle Traditonen zu erinnern. Nach diesem Prozedere werden sie sich weder an ihre primitive Kultur noch an ihre ausschweifende Sexualität oder an ihre angeborene Faulheit erinnern können. Diese Eingeborenen werden zu jungfräulicher Erde, in die die Kirche den Samen des Wahren Glaubens wird pflanzen können. Sie werden sich kleiden, Pater Hectus, ihre Avens von diesem Unkraut befreien und Häuser aus Stein mit Fenstern und Türen bauen. Sie werden von ihrer Hände Arbeit leben und nach ethisch-moralischen Gesetzen heiraten und die Ehe heilig halten. Und sollten Unverbesserliche diese Gesetze brechen, werden sie an den Feuerkreuzen eines langsamen Todes sterben.«

»Und das konföderale Dekret, die allen Menschen geschuldete Achtung betreffend …«

»Da muss ich Sie sofort korrigieren, Pater Hectus! Alle Dekrete der Konföderation wurden bei der Ausrufung des Ang-Imperiums annulliert. Auch wenn Sie in einem kleinen Dorf in den Tropen Platonias hausen, sollten Sie über Kirchen- sowie Staatspolitik informiert sein!«

Brutal stieß er die Hand einer Frau zurück, die seine Wange streicheln wollte. Die Geste war so heftig, dass sie nach hinten fiel und im Fallen mehrere Dorfbewohner mit sich riss. Die Menschen stürzten in einen Boug-Boug-Strauch, wobei die schweren Blüten bitter riechende Staubwolken ausstießen. Als sie aufstanden, warfen sie Rot-Violett zornige Blicke zu, als wäre er ein gefährliches Tier. Sie wandten sich von dem Kardinal ab, und die Freudenrufe der Eingeborenen verwandelten sich in Schmährufe. Rot-Violetts Aggressivität, der doch ein Bruder von Weiß-Gelb war, verwirrte sie. Und diese Verwirrung machte dem Missionar Sorgen, denn dieses Volk war unvorstellbarer Grausamkeiten fähig, wenn es sich bedroht fühlte.

»Ich hätte Ihren Rat nicht befolgen sollen, Pater Hectus!«, plusterte sich der Kardinal auf. »Man muss diesen Eingeborenen nur Grenzen setzen, dann wird man von ihnen nicht mehr belästigt. So einfach ist das!«

»Freut Euch nicht zu früh, Eure Eminenz«, entgegnete Hectus Bar. »Ihr habt diese Menschen zutiefst gekränkt.«

»Sollten sie ihren Unmut auf irgendeine Weise äußern, befehle ich den Interlisten, auf sie zu schießen!«, schrie der Würdenträger wütend. Die feindlichen Blicke der Einheimischen und die Worte des Missonars hatten ihn verunsichert. »Haben Sie mich verstanden, Pater Hectus?«

»Nur zu gut, Eure Eminenz.«

Sie gingen weiter, auf die Bucht von Niger Grande zu. Die Strahlen Soäcras verliehen der Wasseroberfläche einen goldenen Schimmer. Zwischen Wasserpflanzen und Felsgestein tummelten sich gefleckte Fische mit durchsichtigen Flossen. Phanerophyten mit knorrigen Stämmen und großen Blättern wuchsen am Rand der Bucht und spendeten Schatten. Aus der Ferne war das Rauschen eines unterirdischen Gebirgsbachs zu hören.

Zwischen üppig wachsenden Boug-Boug-Büschen mit scharlachroten Blüten tauchte jetzt die höhere und größere, mit Stroh gedeckte Hütte der Mission auf.

Hectus Bar blieb stehen und drehte sich zu dem Kardinal um. »Da ich Euren Besuch nicht erwartete, konnte ich nicht die nötigen Vorkehrungen treffen, Eure Eminenz. Gestattet mir ein paar Minuten, damit ich etwas Ordnung machen kann.«

»Leben Sie etwa in einem Stall?«, fragte der Kardinal spöttisch.

»Unsere Örtlichkeiten sollten in einem angemessenen Zustand sein, den Gouverneur von Platonia zu empfangen.«

»Lassen Sie diese niederen Arbeiten nicht von Ihren Schäfchen erledigen? Das wäre doch eine gute Gelegenheit, ihnen die Grundelemente der Sauberkeit beizubringen …«

Um das laute Rauschen des unterirdischen Bachs zu übertönen, musste man laut sprechen. Die Einheimischen umringten die Delegation inzwischen in einer Entfernung von zehn Metern am Rand der Bucht. Sie konnten ihre Blicke nicht von den Scaythen, den vier Gedankenschützern und den drei Inquisitoren abwenden, diesen geheimnisvollen Gestalten in ihren weißen, schwarzen oder purpurroten Kapuzenmänteln.

»Manchmal helfen sie mir, wenn die Alten es für nötig halten …«

»Die Alten?«, sagte der Kardinal und lachte höhnisch. »Soll das etwa heißen, dass Sie in Ihrer Mission nicht die geistliche Obrigkeit vertreten und somit Autorität besitzen?«

»Hätte ich ihre Lebensweise nicht respektiert, hätten sie mich schon längst den Fischen zum Fraß vorgeworfen«, entgegnete Hectus Bar.

»Vorsicht, Pater Hectus! Sie neigen bereits in bedrohlicher Weise zur Häresie, wenn nicht gar zum Heidentum. Auch darüber müssen wir reden. Haben Sie das Bedürfnis, sich dem Prozedere der Auslöschung zu unterziehen?«

»Schon vor langer Zeit habe ich mich sehr zurückgenommen, quasi ausgelöscht«, sagte der Missionar leise und ging mit entschlossenen Schritten zur Mission, weil er das Gespräch beenden wollte.

»Beeilen Sie sich! Ich habe noch mehr zu tun!«, rief der Kardinal hinter ihm her.

Mit klopfendem Herzen schob der Missionar die wuchernden Zweige der Boug-Boug-Büsche, die ihm den Weg versperrten, beiseite und ging, tief gebückt, durch die runde Tür. Oft schon hatte er sich vorgenommen, sie zu vergrößeren, aber die Jahre vergingen und mit ihnen verflüchtigten sich seine guten Vorsätze im schwülen Klima des Avens Bawalo.

Er durchquerte den Gebetsraum – den Boden hatte er eigenhändig mit Steinen aus dem Niger Grande ausgelegt –, dann das Sprechzimmer, das nur mit einem großen Schilfteppich und einigen Kissen aus geflochtenen Blättern ausgestattet war, das Büro, in dem es einen Tisch und einen Stuhl gab, außerdem einen Messacode, einen Messacodeur, einen Memodisk, einen holographischen Projektor und ein Ladegerät für magnetische Energie. Im Krankenzimmer lagen nur sechs aus Fasern geflochtene Matratzen auf dem Boden. Von dort aus ging er nicht in sein auf der linken Seite gelegenes Zimmer, sondern bis ans Ende des Raums zu dem großen Stahlschrank (dem einzigen Möbel, das diesen Namen verdiente und das ihm sein Vorgänger hinterlassen hatte), in dem er seine Kleidung, seine Medikamente, seine Film-Bücher, seine Dateien und seine Messacodes aufbewahrte. Er stemmte die Füße auf den Boden, packte die schmale Seite des Schranks und versetzte ihn ein Stück nach vorn. Dann kroch er auf allen vieren durch den schmalen Spalt in den winzigen schuppenartigen Anbau, wo die Deremats standen.

Lichtstrahlen fielen durch das Blätterdach, zeichneten unregelmäßige Muster auf den Boden aus gestampftem Lehm und spiegelten sich auf den beiden länglichen Maschinen wider. Durch eine flüchtige Bewegung aufmerksam geworden, kroch der Missionar zwischen den beiden Geräten hindurch und entdeckte die vier von Maltus Haktar angekündigten Reisenden. Am liebsten hätte er sie zur Hölle geschickt. Das war wahrhaftig nicht der Augenblick, sich in seiner Mission zu rematerialisieren!

Dort saßen eine Frau und ein kleines Mädchen, beide mit blondem Haar und blaugrauen Augen, wahrscheinlich Mutter und Tochter; und etwas weiter entfernt ein eng umschlungenes dunkelhäutiges Paar mit schwarzem glatten Haar und braunen Augen. Die Reisenden trugen syracusische Kleidung, aber keine Colancors. Beide Frauen waren außerordentlich schön.

»Hat Sie mein Mitplanetarier Maltus Haktar geschickt?«, flüsterte Hectus Bar.

»Wir kommen aus dem Bischöflichen Palast Venicias«, antwortete die blonde Frau leise.

Der Missionar hatte den flüchtigen Eindruck, mit einem Engel zu sprechen. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Die drückende Schwüle Platonias war noch schwerer zu ertragen als die Gluthitze seines Heimatplaneten Osgor.

»Ich bin Hectus Bar, der Leiter der Mission in Bawalo. Wie viel Zeit ist vergangen, seit Sie sich rematerialisiert haben?«

»Ungefähr eine Stunde. Erst vor Kurzem wurden wir aus einer Kryogenisierung reanimiert und nun erholen wir uns von den Nebenwirkungen des Transfers. Meine Tochter«, ihre Stimme fing an zu zittern, »meine Tochter ist gelähmt, nachdem ihr das Agens zur Wiederbelebung injiziert wurde. Und ich fürchte, dass der Transfer ihren Zustand verschlimmert hat.«

»Wir können sie leider nicht sofort behandeln«, sagte der Missionar. »Der Gouverneur von Platonia hat mir unerwartet einen Besuch abgestattet, und er wartet vor der Mission. Außerdem begleiten ihn drei Scaythen der Inquisition und zwanzig Interlisten. Es gibt nur einen Ausweg: Sie müssen in die Deremat steigen und sich auf einem anderen Planeten rematerialisieren. Ich habe nach Maltus’ Instruktionen die Magnetbatterien wieder aufgeladen.«

»Meine Tochter würde einen neuen Transfer nicht überleben«, sagte die blonde Frau bestimmt.

»Sie dürfen diese Hütte nicht verlassen. Sollte Kardinal Kill von der Existenz dieser illegalen Deremats erfahren, wäre er imstande, das ganze Dorf zum Tod am Feuerkreuz zu verdammen.«

»Wir warten, bis er wieder fort ist …«

»Das könnte lange dauern. Denn er hat beschlossen, die Bevölkerung einem Auslöschungsprozedere zu unterziehen.«

Hectus Bar erkannte an der entschlossenen Miene seiner Gesprächspartnerin, dass er sie nicht überzeugen konnte. Er ging in seine kleine Küche neben seinem Zimmer, füllte einen Krug mit Wasser, kehrte in die Hütte zurück und reichte den Krug der blonden Frau. Sie benetzte sofort Stirn und Mund ihrer Tochter mit dem kühlen Nass.

»Ich muss Sie jetzt allein lassen«, sagte Hectus Bar und seufzte. »Kardinal Kill dürfte schon sehr ungeduldig sein. Ich komme wieder, sobald der Weg frei ist.«

Er rückte den Schrank wieder sorgfältig an seinen alten Platz, machte hastig Ordnung in allen Räumen und trat vor die Tür.

»Es wird aber auch Zeit!«, schimpfte der Kardinal, als er zwischen den rotblühenden Sträuchern die gelb gekleidete Gestalt des Missionars erblickte. »Wann haben Sie denn zum letzten Mal geputzt?«

»Verzeiht mir, Eure Eminenz. Bitte tretet ein.«

»Hoffentlich ist es da drinnen kühler …«

»Leider bin ich nicht im Besitz einer atomaren Kühl-Kugel, Eure Eminenz.«

Die gesamte Delegation folgte den beiden Geistlichen ins Innere der Mission. Nachdem der Kardinal die Örtlichkeiten flüchtig inspiziert hatte, verzog er das gepuderte Gesicht zu einer Grimasse des Ekels.

»Verzeihen Sie mir, Pater Hectus, aber ich habe mich geirrt, als ich von einem Stall sprach. Ich hätte von der Hölle sprechen sollen. Wie können Sie nur an einem solchen Ort leben? Dieser Gestank! Sie sollen diese Wilden zivilisieren, aber das Gegenteil ist geschehen. Sprechen sie wenigstens das Angianisch des Imperiums?«

»Nein, Eure Eminenz. Ihr Idiom weist mit der offiziellen Sprache kaum Gemeinsamkeiten auf.«

»Wie können sie dann die Schönheit des Wahren Wortes begreifen? Soviel ich weiß, hat sich die Lehre des Kreuzes nie eines Dialekts bedient, der nur von irgendwelchen rückständigen Platoniern gesprochen wird!«

»Es ist nicht einfach, Eure Eminenz …«

»Ich möchte Ihnen eine Frage stellen, Pater Hectus«, unterbrach der Kardinal den Missionar ungeduldig. »Nur eine einzige: Was haben Sie hier eigentlich gemacht?«

Während des Gesprächs hatte der Missonar seine Gäste in das Sprechzimmer gedrängt. Als der Kardinal und der Großinquisitor sich dem Schrank näherten, bekam er Angst und bat sie, sich zu setzen. Was sie jedoch ablehnten.

»Ich kann Euch nur Wasser anbieten«, sagte Hectus Bar.

»Wohl das faulige Wasser dieses Teichs?«, giftete der Kardinal.

»Dieses faulige Wasser, wie Ihr es nennt, stammt aus einem der unzähligen Seen, die den Ozean Niger Grande bilden, den Spender allen Lebens auf diesem Planeten.«

»Zum Teufel! Sie sprechen vom Niger Grande, als handele es sich um die Kirche des Kreuzes!«

»Ich rede von ihm mit dem Respekt, der allen Wundern der Natur gebührt, Eure Eminenz.«

Der Kardinal starrte eine Weile auf einen Lichtfleck auf dem Schilfteppich. Von dem Efeu, das die Wände emporwucherte, ging ein bitterer Geruch aus. Das ständige Summen der vielen Insekten wirkte nervtötend. Die Scaythen hingegen standen völlig reglos in der Nähe des Eingangs. Die beiden in Blau und Grün gekleideten Exarchen fächelten sich Luft zu, während ihnen der Schweiß über die geschminkten Gesichter lief. Sie boten einen lächerlichen Anblick auf einem Planeten wie Platonia.

»Da haben Sie ein Problem, Pater Hectus: Ihre Faszination für die Natur«, fuhr Kardinal Kill fort. »Ihre Faszination für animalische Instinkte. Wenn ich Sie recht verstehe, so sind Sie der Meinung, dass die Kreuzianer auf Platonia nichts zu suchen haben.«

»Ich bin der Ansicht, dass man geben und nehmen muss …«

Ein Funkeln trat in die braunen Augen des Kardinals. »Was können Sie uns denn geben, Ihre Tropikalen? Ihre Faulheit? Ihre Sündhaftigkeit?«

»Ihre Toleranz«, antwortete der Missionar in vollem Bewusstsein, vermintes Gelände betreten zu haben.

»Toleranz?«, rief der Kardinal, als würde er daran ersticken. »Wir schenken ihnen das Wahre Wort, die Erlösung durch das Kreuz, die Möglichkeit, in den Himmel zu gelangen. Wir sind die Soldaten des Glaubens, im ständigen Kampf gegen die Häretiker, die Apostaten und die Heiden. Und unser Krieg ist ein gerechter Krieg! Es würde von Intoleranz zeugen, diese Wesen im Zustand einer prähistorischen Unwissenheit zu lassen. Sie brauchten nur fünf- oder sechstausend Standardjahre, um zu einem primitiven Volk zu degenerieren. Besteht Mitgefühl nicht darin, anderen dabei zu helfen, sich zu entwickeln?«

»Diese Menschen wurden von ihrer Umwelt geformt; sie sind das Spiegelbild ihres Universums, gleichzeitig träge und großzügig. Warum sollen wir ihnen Werte aufzwingen, die keine Bedeutung für sie haben? Sie beten das Kreuz auf ihre Weise an. Und auch wenn sie ihren Glauben nicht auf orthodoxe Weise praktizieren, sollten wir sie doch auf diesem Weg bestärken.«

»Das Dogma kann nicht beliebig interpretiert werden, Pater Hectus! Das Dogma ist in Fels gemeißelt. Verfügen Sie denn nicht über ein Minimum an autopsychischer Selbstkontrolle? Ich wünsche, dass Ihre Schäfchen sofort hier erscheinen, damit wir aus dem Geist dieser Eingeborenen jegliche Animalität löschen und ihnen den Wunsch nach Veränderung einpflanzen können. Alle, die sich weigern, an diesem Prozedere teilzunehmen, werden erschossen.«

 

Als Hectus Bar vor die Mission trat, bekam er einen Schock: die Interlisten und die Dorfbewohner waren verschwunden. Zuerst glaubte er, die Tropikalen hätten die Soldaten in ihre Hütten eingeladen, damit die Männer die intimsten Seiten ihrer Gastgeber kennenlernen konnten, doch als er zu den Unterkünften ging, waren sie leer. Alles war leer, die Wege, die Pfade, die Buchten.

Die gesamte Bevölkerung von Bawalo hatte sich scheinbar in Luft aufgelöst. Soäcra schien nicht in den Aven, das Licht hatte einen kupfernen Ton angenommen. Die Dämmerung war angebrochen. Der Missionar fragte sich, ob er nicht den Kardinal benachrichtigen solle, doch er fürchtete den Zorn seines Vorgesetzten und machte sich allein auf die Suche nach den Dorfbewohnern.

Zuerst suchte er in den Grotten am Rand des Avens, dort, wo die Einheimischen ihre heidnischen Feste zu feiern pflegten – an denen er – auch völlig nackt, nur zu gerne teilnahm –, doch sie waren außer den immer spärlicher wachsenden Pflanzen leer. Das eindringende Wasser hatte fantastische Skulpturen an Decken und Wänden geformt. Die Tropfsteine hatten bizarre Formen gebildet, sie sahen wie eine Armee erstarrter Geister aus. Hier herrschten eine ungewohnte Stille und eine angenehme Kühle.

Hectus Bar durchquerte eine sehr große Höhle, die er sofort wiedererkannte, weil er sich dort öfter mit verschiedenen Frauen vergnügt hatte. Ihm schien, als höre er in der Ferne Lärm. Er klang wie ein barbarischer Kriegsgesang, etwas, das er noch nie gehört hatte. Zwar hatte er nicht daran gedacht, eine Harzfackel mitzunehmen, konnte sich aber an dem Gesang, der immer lauter wurde, orientieren.

Ein paar hundert Meter weiter bot sich ihm ein seltsamer Anblick.

 

Verzweifelt sah Aphykit, wie das Leben aus Yelle wich. Die Augen des kleinen Mädchens hatten jeden Glanz verloren. Ein trüber Schleier deutete darauf hin, dass sie gleich das Bewusstsein verlieren würde. Trotz der Hitze war ihr Körper kalt. Bald würde sie in ein Koma gleiten, aus dem es kein Erwachen mehr gäbe.

Phoenix hatte einen Streifen von ihrem Mantel abgerissen, ihn in Wasser getaucht, und auf die blutleeren Lippen Yelles gelegt.

Aphykits Bitte an die beiden Jersaleminer, sich sofort auf Terra Mater transferieren zu lassen, hatten die zwei kategorisch abgelehnt.

»Unsere Herzen würden uns ein Leben lang Vorwürfe machen, Sie mit Ihrer kranken Tochter allein gelassen zu haben, Naïa Phykit«, hatte San Francisco erklärt.

»Nur unseretwegen werden Sie hier aufgehalten. Woanders wären Sie viel nützlicher …«

»Das Schicksal hat uns im Tiefschlaf drei Jahre vereint, und es vereint uns weiterhin in diesen Welten. Mein Kopf fragt sich, was aus dem Muffi und aus Maltus Haktar geworden ist. Sie hätten sich schon längst hier rematerialisieren müssen … Er fragt sich auch, warum wir noch nicht jenen Mann gesehen haben, der vor allen anderen abgereist ist, den Freund des Muffis …«

»Vielleicht hat er sich auf einen anderen Planeten transferieren lassen«, sagte Aphykit und deutete auf die Deremats.

Da Phoenix bisher nur im kalten Klima Jer Salems gelebt hatte, schwitzte sie und zog ihren Mantel aus.

Die Nebenwirkungen des Transfers – Übelkeit, Schwindelgefühle und Schwäche – waren inzwischen vergangen. Die Erwachsenen mussten dringend etwas essen und trinken.

»Beschütze unser kleines Mädchen«, hatte Tixu vor seinem Weggehen gesagt. Jetzt liegt Yelle im Sterben und unüberbrückbare Welten trennen ihn von seiner Tochter, dachte Aphykit. Wo mag er in diesem Moment sein? Warum hat er uns verlassen?

Ein Geräusch durchbrach die Stille. Aphykit schöpfte Hoffnung: Der Missionar kommt zurück. Vielleicht bringt er jemanden mit, der Yelle helfen kann.

Doch nicht der Missionar trat in den Anbau, sondern ein anderer Geistlicher, ein Exarch, in einen grünen Colancor und ein nachtblaues Chorhemd gekleidet.

»Kommt schnell, Eure Eminenz! Der Großinquisitor hatte Recht!«

»Ich betrete dieses Rattenloch nicht! Sagt diesen Leuten, sie sollen rauskommen!«

Der Exarch sah die vier Personen überrascht an. »Haben Sie verstanden?«, sagte er unsicher. »Kardinal Kill, der Gouverneur von Platonia und als solcher Repräsentant des Muffis der Kirche des Kreuzes befiehlt Ihnen, diesen Raum zu verlassen.«

San Francisco warf Aphykit einen fragenden Blick zu. Sie senkte zustimmend die Lider. Sie hatten keine andere Wahl. Sie mussten sich mit den Kreuzianern arrangieren. Kardinal Kill musterte die vier Illegalen. Was für interessante Entdeckungen man doch in den entlegensten Missionen Platonias machte, dachte er und beglückwünschte sich, dass seine Wahl auf Bawalo gefallen war.

Alle vier wiesen die klassischen Merkmale der Raskattas auf – der geächteten, verfolgten und auf dem Index stehenden Menschen –, die ein schlechtes Gewissen haben: nachlässige Kleidung, wirres Haar, verstörte Blicke. Die Frau und das kleine Mädchen mussten aus einer der Welten des Zentrums stammen, wahrscheinlich sogar vom Planeten Syracusa. Die Frau hatte sehr feine Züge, sie musste eine Aristokratin sein. Die Kleine lag auf einer hölzernen Trage aus dem Krankenzimmer und schien eher tot als lebendig zu sein. Seltsamerweise trug sie einen Ring an der rechten Hand, den der Kardinal als den Julischen Korund zu erkennen glaubte. Die andere Frau und der Mann ähnelten sich: braune Haut, schmale Augen, hohe Wangenknochen, glattes schwarzes Haar. Doch obwohl sich der Kardinal rühmte, gründliche Kenntnisse auf dem Gebiet der interstellaren Anthropomorphologie – also der Wissenschaft vom Menschen unter seinen biologischen Aspekten – zu haben glaubte, konnte er ihren Herkunftsplaneten nicht bestimmen.

»Naïa Phykit«, sagte der Scaythe Wyroph plötzlich.

Der Kardinal schrak zusammen, sah den Großinquisitor an und bat ihn mit einer Handbewegung weiterzusprechen.

»Diese Frau ist Naïa Phykit, oder, wenn Ihr wollt, Aphykit Alexu, Eure Eminenz.«

»Das ist unmöglich! Sie wurde vor drei Jahren kryogenisiert.«

»Wir stehen in diesem Augenblick vor den vier Kryogenisierten des Bischöflichen Palastes, Eure Eminenz. Sie wurden von Mahdi Shari und einem Jungen namens Jek At-Skin wiederbelebt. Dieser Junge entkam auf unerklärliche Weise den Ordnungskräften in Anjor, der Hauptstadt des Planeten Ut-Gen. Es gelang ihnen, während der Erstürmung durch die imperialen Streitkräfte aus dem Bischöflichen Palast zu entkommen. Der Muffi Barrofill XXV. und ein Osgorite, Anführer einer Widerstandsbewegung, begleiteten sie. Doch durch einen bisher nicht geklärten Zwischenfall konnten sich diese beiden nicht nach Bawalo transferieren lassen. Merkwürdigerweise hat der Muffi Jek At-Skin den Julianischen Korund geschenkt, der ihn wiederum diesem kleinen Mädchen gab.«

»Woher wisst Ihr das alles, Großinquisitor?«, fragte der Kardinal erstaunt. »Wir haben seit fünf Tagen keine Nachrichten mehr von Syracusa erhalten …«

Der Scaythe deutete auf das dunkelhäutige Paar. »Auf dieselbe Weise, wie ich die Identität dieser beiden aufdeckte. Ich musste nur ihre Gehirne ausforschen. Sie verfügen nicht über dieselben Schutzmechanismen, die Aphykit Alexu besitzt. Sie sind Jersaleminer.«

»Jer Salem wurde durch eine Explosion zerstört …«

»Sie konnten ihren Planeten vorher verlassen und reisten im Bauch der himmlischen Zugvögel, der Xaxas, zur Terra Mater. Dort wurden sie kryogenisiert.«

»Es fällt mir schwer, Euch Glauben zu schenken, Großinquisitor.«

»Hier geht es nicht um Glaubensfragen, Eure Eminenz, sondern um Fakten.«

Der Kardinal rieb sich nachdenklich die Wange. Sollte Wyroph nicht lügen – doch welches Interesse hätte er zu lügen? –, erwies sich sein spontaner Besuch Bawalos noch lohnender als vorhergesehen. Das zunehmende Entsetzen auf den Gesichtern der beiden Jersaleminer während er Erklärungen Wyrophs fegten seine letzten Zweifel hinweg.

Eigentlich bin ich nur gekommen, um einen ins Wanken geratenen Missionar auf den rechten Weg zu führen, dachte er, doch nun sind mir zwei Häretiker, die legendäre Naïa Phykit und ihre Tochter, und ein Verräter ins Netz gegangen. Nicht zu vergessen den Julischen Korund, das Siegel des Kreuzes, der Garant der Nachfolge des Muffis …Wenn ich es geschickt anstelle und meine Verdienste ins rechte Licht rücke, kann ich zu Ruhm und Reichtum gelangen, vielleicht sogar auf Platonia eine neue Hauptstadt bauen, die mit Venicia konkurrieren kann, wo ich Alleinherrscher bin. Eine Stadt, die meiner würdig ist.

»Meine Tochter ist sehr krank«, sagte Aphykit leise. »Ist jemand unter Ihnen, der sie behandeln könnte?«

Der Kardinal durchbohrte die Frau mit einem eiskalten Blick aus seinen Schlangenaugen. Sie verkörperte alles, was er bei Menschen hasste: natürliche Schönheit, Adel und einen unbezähmbaren Stolz.

»Ich habe Ihnen noch nicht das Wort erteilt, meine Dame!«, wies er sie zurecht. »Die Kirche bestraft Ihre Tochter für deren Arroganz. Sie hat nicht das Recht, den Julischen Korund zu tragen! Bekennen Sie sich zum Wahren Wort, geben Sie der Kirche den Ring des Muffis zurück, dann wird Ihnen Ihre Tochter vielleicht im Jenseits zurückgegeben.«

Als er Tränen über die blassen Wangen Aphykits rinnen sah, konnte er kaum ein triumphierendes Lächeln verbergen. Ein Schauder lief ihm über den Rücken, nicht weil er sie begehrte, sondern weil er seine Macht auskostete.

»Ich appelliere an Eure Menschlichkeit, Eure Eminenz«, bat Aphykit. »Solltet Ihr so hartherzig sein, mein Kind sterben zu lassen, ohne wenigstens den Versuch unternommen zu haben, es zu retten?«

Der Kardinal betrachtete eine Weile den reglosen Körper des kleinen Mädchens. Ohne Mitgefühl, ohne Erbarmen. Dann starrte er den Ring an. Er hatte seine Strahlkraft verloren und schimmerte jetzt in tiefem Blau, fast schwarz.

»Es tut mir leid, meine Dame, aber in diesem Dorf gibt es keinen Arzt. Und was die Heilkünste der Eingeborenen betrifft, die eher Hexerei sind, so werden sie in einer Stunde ausgelöscht. Ihre Tochter kann nicht gerettet werden. Vielleicht sollten Sie sich um ihre Seele kümmern? Das Kreuz in seiner Güte wird sie in seinen Schoß aufnehmen, sollte sie vorher von ihren Sünden befreit worden sein. Doch wenn ich Ihrer beider Kleidung betrachte …«

»Und welches Urteil wird das Kreuz sprechen, wenn einst Ihr vor Ihm stehen werdet, Eure Eminenz?«, zischte Aphykit, außer sich vor Zorn.

»Du wagst es, mich zu kritisieren, Hexe?«, brüllte der Kardinal. Seine autopsychische Selbstkontrolle hatte er vollständig vergessen. »Du solltest mir dankbar sein. Denn der Tod deiner Tochter wird sehr sanft im Vergleich zu deinem sein. Sie wird nie die Schmerzen des Feuerkreuzes erfahren …«

Bei diesen Worten stürzte sich San Francisco auf den Kardinal, legte die Hände um seinen Hals und begann ihn zu würgen. Die Augen des Kirchenmanns traten aus seinem Kopf, er atmete pfeifend. Er öffnete den Mund, ein Gurgeln drang aus seiner Kehle. Die Exarchen standen wie versteinert da und dachten nicht einmal daran, ihrem Vorgesetzten zu Hilfe zu kommen.

Doch San Francisco spürte, wie ein eisiger Strom in sein Gehirn glitt. Sofort verlor er jegliche Kontrolle über seinen Körper, ließ – wenn auch gegen seinen Willen – den Kardinal los, und seine Arme fielen kraftlos herab.

Der Kardinal war leichenblass. Er hustete, spuckte aus und schöpfte mühsam in langen Zügen Atem. Dann stieß er die Exarchen rüde beiseite, die ihm nun endlich helfen wollten.

Vergeblich versuchte San Francisco wieder die Kontrolle über seine Arme zu bekommen. Sie gehorchten ihm nicht mehr.

»Ihre Bemühungen sind vergeblich«, sagte der Großinquisitor. »Wir haben vorübergehend das zerebrale Zentrum, das für Ihre motorischen Reflexe verantwortlich ist, gelähmt.«

Phoenix eilte auf San Francisco zu, umarmte ihn und zog ihn nach hinten, wie um ihn vor dem Scaythen zu schützen, dessen widerwärtiges grünliches Gesicht mit den pupillenlosen gelben Augen nicht ganz von der Kapuze verhüllt wurde.

San Francisco konnte noch gehen, auch wenn er das seltsame Gefühl hatte, sich im Nichts zu befinden. In ihm verbreitete sich die Leere auf dieselbe Weise, wie sich die Eiseskälte damals im Zirkus der Tränen ausgebreitet hatte.

Mit zitterndem Zeigefinger deutete der Kardinal auf den Jersaleminer. »Das wirst du bereuen!«, rief er hasserfüllt.

Der Schweiß hatte sein weiß gepudertes Gesicht in eine Maske verwandelt. Die Exarchen gaben sich servil. Einer tupfte ihm die Stirn mit einem parfümierten Taschentuch ab, der andere glättete die Falten seines Chorhemds.

»Tausend Dank, Großinquisitor«, sagte der Kardinal, jetzt mit mehr Selbstsicherheit in der Stimme. »Ohne Euer Einschreiten hätte mich dieses Indiviuum erdrosselt. Wie lange wird das Auslöschen dauern?«

»Nur ein paar Minuten«, antwortete Wyroph. »Wir können es verlängern, sollte sich der Mann weiterhin aggressiv zeigen.«

»Sehr gut, sehr gut. Was Sie betrifft, meine Herren Exarchen, glauben Sie nicht, sich damit so einfach aus der Affäre ziehen zu können. Ich werde mich zu gegebener Zeit an Ihr feiges Benehmen erinnern. Wo steckt eigentlich Pater Hectus? Braucht er wirklich so lange, um seine mickrige Herde zu versammeln?«

Als Antwort ertönte ein mächtiges Geschrei.

 

Aus allen Richtungen stürmten lärmend Bawaloaner und Interlisten auf die Mission zu. Pater Hectus führte die Einheimischen an. Auch die Interlisten waren nun völlig nackt. Das untergehende Sonnengestirn Soäcra verlieh ihrer Haut einen bronzefarbenen Ton und spiegelte sich in den Läufen ihrer gen Himmel gerichteten Waffen. Die Tornados, die Schwingen des Feuerdrachens, hoben sich dunkelbraun vor dem goldbraunen Firmament ab.

»Die Interlisten haben den Kopf verloren«, schimpfte der Kardinal.

Die Mitglieder der Delegation und die vier Illegalen – Aphykit trug ihre Tochter – sahen mit Beunruhigung, wie sich die schreiende Menge auf sie zubewegte. Die Interlisten hatten Schaum vorm Mund, und in ihren glänzenden Augen spiegelte sich mörderischer Wahn. Auch wenn der Missionar noch seine Kleidung trug, so zeigte sein Benehmen dieselben Symptome ungebändigter Wut.

»Was macht Pater Hectus da?«, fragte der Kardinal. »Er müsste doch verhindern, dass sie uns …«

»Von einem Mann, dessen Gehirn man nicht erforschen kann, ist nichts Gutes zu erwarten«, schnitt Wyroph ihm das Wort ab. »Vergesst nicht, dass er in seiner Mission Deremats versteckt hat und dass er Mitglied einer Untergrundbewegung ist.«

»Löscht sie alle aus, im Namen des Kreuzes!«, flehte der Kardinal und hatte große Mühe, nicht Hals über Kopf davonzulaufen. Dasselbe Gefühl überkam die beiden Exarchen.

»Seht Ihr denn nicht, dass wir ein ernsthaftes Problem haben, Inquisitor?«, drängte der Gouverneur Platonias, denn sein Traum von Ruhm begann sich gerade in der Abenddämmerung des Avens von Bawalo aufzulösen.

»Ihr irrt, Eure Eminenz. Dieses Problem geht meine Matrix-Brüder und mich nichts mehr an«, antwortete Wyroph gelassen. »Das könnt Ihr ganz nach Belieben lösen.«

Und nach diesen Worten fielen die leeren Kapuzenmäntel der Scaythen zu Boden. Zuerst ein purpurroter, dann die schwarzen der beiden Inquisitoren und die weißen der Gedankenschützer.