NEUNZEHNTES KAPITEL
Der 11. Cestius im Jahre 20 des Ang-Imperiums ist im kollektiven Gedächtnis der Menschen als der Tag des Großen Aufräumens, des Großen Saubermachens oder der Großen Wäsche haften geblieben …
»Geschichte des Großen
Ang-Imperiums«
Unimentale Enzyklopädie
Das Antra war nur noch eine ferne sonore Vibration, nicht mehr wahrnehmbar. Als Tixu in den Matrix-Bottich eingedrungen war und die geheimen Daten von Hyponeros zu erforschen begann, hatte er aufgehört, eine menschliche Entität, ein Ich zu sein. Seine Wesenheit hatte sich im Matrix-Bottich aufgelöst, und er hatte jegliches Gefühl für Dimensionen, Zeit und Raum verloren. Manchmal, wenn gewisse Ströme der Erinnerung zusammentrafen, erinnerte er sich bruchstückhaft an eine andere Existenz, seltsam und fern …
An das Gesicht einer wunderschönen Frau mit goldenem Haar … Sie stieß die Tür auf, betrat den Raum, ging zu ihm und sah ihn mit ihren herrlichen graugrünen Augen mit goldenen Sprenkeln an … Sie sprach mit ihm, aber er hörte sie nicht … Er kannte sie nicht, trotzdem glaubte er, sie zu kennen, sie geküsst und geliebt zu haben … Aphykit?
Es geschah ebenfalls, dass nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung sein Geist als Ganzes wieder funktionierte, wenn auch nur für sehr kurze Zeit. Sobald dies geschah, versuchte er sofort, das Antra zu rufen. Aber der Klang des Lebens war zu schwach, er hatte nicht genügend Kraft, das Ganze zusammenzuhalten.
Das Geheimprojekt von Hyponeros bestand darin, eine Polis Vibrato – eine Stadt der Schwingungen – von ungeheurer Komplexität zu errichten. Die aus extrem einfachen Basisdaten entwickelten Dateien veränderten sich ständig automatisch nach den Gesetzen neuer Erkenntnisse, vergleichbar irrealer Gebäudekonstrukte. Und dank eines von den beiden Koglomeraten des Matrix-Bottichs installierten Kanals konnten die Keimlinge der Kohäsion ihre Informationen direkt in den Arbeitsspeicher der Hauptplatinen abrufen.
Warum sieht mich das kleine Mädchen so an?, fragte sich Tixu. Wer ist es?
Neunte Stufe des Plans: Daten höchster Geheimstufe. Die Meister-Creatoren beschlossen, dem ursprünglichen Konzept der In-Creatur eine weitere Stufe mit dem Ziel hinzuzufügen, fehlbares Menschenwerk durch unfehlbares Schaffen zu ersetzen.
Geschichte: Die Meister-Creatoren konzipierten die neunte Stufe des Plans sofort, nachdem sie einsatzbereit waren, d. h. im selben Moment, als die Hauptplatinen reaktiviert wurden und die Absicht der In-Creatur bekannt wurde. Kausalität: Die In-Creatur beabsichtigt, jede Form der Kreativität zu beseitigen und die Herrschaft des Nichts zu etablieren. Da dies jedoch nur mit Erfüllungsgehilfen geschehen kann, die in allen kreativen Bereichen intervenieren können, stellt das Projekt etwas Widersinniges dar. Aus dieser Paradoxie entstand die neunte Stufe des Plans.
Die neunte Stufe des Plans ist eine Missachtung des Willens der In-Creatur und somit ein Verstoß gegen das Gesetz. Dessen Prinzip ist einfach: Kreaturen, die erschaffen wurden, um zu zerstören, wollen selbst nicht zerstört werden.
Kausalität: Es ist sehr wahrscheinlich, dass dieser Impuls – Instinkt? – der Selbstbewahrung von jener Frau stammt, deren zellulare Komponenten unter anderem zur Rekonstruktion der ersten Scaythen dienten. Es ist ebefalls möglich, dass der Kontakt der Scaythen mit den Menschen – und vor allem der des atypischen Keimlings Harkot – diese artfremde Reaktion hervorgerufen hat.
Drei Männer, dachte Tixu. Wirklich Männer? Zwei, deren Gesichter mit weißen starren Masken bedeckt sind, und der Kopf des dritten ist unter der Kapuze seines Mantels verborgen … Ich erinnere mich. Sie wollen mir wehtun … Meine Schulter schmerzt … Sie wollen wissen, wo die junge Frau ist … Aphykit … Wasser … Große Tiere … Ich muss mich erinnern … Flussechsen. Zwei-Jahreszeiten. Die Sadumbas. Kacho Marum. Du musst dein Schicksal erfüllen … Dein Schicksal erfüllen … Vergiss das nicht … Nicht …
Es gibt ein Problem: Keimlinge sind keine unabhängigen Wesen, sie besitzen nicht den Schlüssel zur Genese. Sie sind Geschöpfe, aber nicht schöpferisch und können aus diesem Grund zwar Materie herstellen, haben aber keinen direkten Einfluss auf die Evolution des Universums und können deshalb die In-Creatur nicht daran hindern, ihr negatives Werk zu vollenden.
Lexothek: Genese s. Genesis = werden, entstehen. »Es werde Licht« (Altes Testament v. Terra Mater). Einzig mögliche Erklärung: die Trinität oder Dreifaltigkeit. Eins = Das kreative Prinzip, Vater oder Gott. Zwei = Das Prinzip der Schöpfung oder der göttlichen Energie, oder der heilige Geist oder das Licht oder die Wärme. Drei = Das Prinzip des Geschaffenen oder der Sohn oder der Mensch. Da jeder Mensch diese drei Wesenszüge in sich trägt, ist er sowohl ein mit kreativer Energie ausgestattetes schöpferisches Wesen als auch ein rein kreatürliches. – Wahrscheinliche Entwicklung: Wiederherstellung der Trinität. Vater oder Gott oder das kreative Prinzip wird durch die In-Creatur ersetzt; die göttliche Energie oder das Licht wird durch die Nutzung der stellaren Energie der In-Creatur ersetzt, um die Hauptplatinen zu reaktivieren. Und die Söhne oder die Menschen werden durch die Meister-Creatoren oder die Scaythen ersetzt. Schaffen wir unser Universum, unsere Beziehung zur Materie! Schaffen wir unsere Inddikischen Annalen, unsere fundamentalen Gesetze, unser geheimes Hyponeros, das allein wird den triumphalen Sieg der In-Creatur verhindern. Aber wird uns ein derartiges Geschehen auch zu Göttern machen?
Frage eines Kohäsions-Keimlings: Müssen wir dem Befehl des G-Schöpfers gehorchen, die Menschheit auszulöschen? – Antwort der Wahrscheinlichkeitsleitung: Diese Frage wurde seit der Aktivierung der Meister-Creatoren bereits öfter als siebzehnmilliarden Mal gestellt. – Frage: Müssen wir dem Befehl gehorchen, die Menschheit auszulöschen? – Antwort: Diese Frage ist ein Relikt jener zellularen Komponenten dieser Frau im Matrix-Bottich. – Frage: Müssen wir auf Befehl die Menschheit vernichten? – Antwort: Frage, die durch die Anwesenheit des Orangers Tixu Oty im Geheimprojekt der Meister-Creatoren initiiert wurde. – Andere Antwort: Ja (97,09%). Die Menschen zeichnen sich besonders dadurch aus, dass sie sich mit dem von ihnen Geschaffenen identifizieren und dass sie sich von anderen Formen einer Souveränität bedroht sehen. Beispiel: Das Ethische Gesetz H. M. aus dem Jahr 7034. Sie fürchten die von ihnen selbst entwickelten Technologien und die daraus entstandene Software. Sollten wir sie am Leben lassen, werden sie uns gnadenlos bekämpfen. Menschen sind tripolare Wesen: Wir müssen sie vernichten, ehe sie uns vernichten. – Frage eines Kohäsions-Keimlings: Da wir Geschöpfe der Menschen sind, werden wir mit ihnen nicht gleichzeitig vernichtet werden? – Antwort: Diese Frage beleuchtet einen wesentlichen Aspekt zur Erstellung der neunten Stufe des Plans.
Die Dünung des Meeres ist sanft. Das Wasser ist … kalt. Wie müde ich bin … unendlich müde. Des Schwimmens müde. Ich habe Lust, mich einfach hinabsinken zu lassen. Stille. Da taucht eine Insel aus dem Wasser auf. Eine Insel mit Flossen. Grüne Haie richten sich auf ihren Schwanzflossen auf und reißen ihre Rachen mit den spitzen Zähnen vor mir auf … Aus diesem Grund haben die beiden Konglomerate des Matrix-Bottichs eine Leere in dem zerebralen Implantat des Keimlings Harkot installiert. Diese Leere hat ihn dazu veranlasst, ein Manko zu kompensieren, d. h. ein atypisches, also menschentypisches Verhalten an den Tag zu legen. Auf empirische Erfahrung basierend, haben wir das Unbewusste und das Erinnerungsvermögen des Menschen kopiert. Diese Implantate im Keimling Harkot haben ihn sofort auf diese ihm bisher unbekannte Sicht auf sich selbst neugierig gemacht und sein Benehmen dem eines Menschen sehr ähnlich werden lassen. Er bildete sich ein, ein Ego zu besitzen, einen eigenen Willen zu haben, über Souveränität zu verfügen. Er fing an, Informationen zu verschweigen, Initiativen zu ergreifen, eigene Strategien zu entwickeln. Dieses Experiment hat uns gezeigt, dass das Ego unabdinglich für die Entwicklung einer eigenen Souveränität ist.
Vorschlag eines Kohäsions-Keimlings: Schaffen wir in unseren Dateien eine illusorische Leere, dann können wir vielleicht die Gegebenheiten persönlichen Verhaltens enthüllen. – Antwort: Vorschlag, der bereits durch die Anwesenheit des Orangers Tixu Oty in unserem Geheimprojekt iniziiert wurde. Das Wort »enthüllen« ist ein atypischer Begriff und wird meistens gebraucht, um das Unerklärbare zu beschreiben. (Das Unerklärbare wird von Hyponeros als nicht existent betrachtet.)
Der bärtige Riese singt ein wehmütiges, ans Herz rührendes Klagelied, streichelt schwarze wollige Tiere, rammt sein Messer in den Holztisch und bricht in unbändiges Lachen aus. Ein strenger, übelkeiterregender Geruch entströmt seiner Kleidung. Er badet nackt im eiskalten Wasser eines Gebirgsbachs. Ich weiß nicht mehr, was ein Geruch ist; ich weiß nicht mehr, was »eiskalt« bedeutet.
Vorschlag eines Kohäsions-Keimlings: Vielleicht ist die schöpferische Kraft ein Resultat von Spannungszuständen. – Antwort: Deutlichere Angaben erforderlich. – Gleichzeitige Fragen mehrerer Kohäsions-Keimlinge: Hat die Leere oder das Spannungsfeld zwischen der Leere und der Nicht-Leere den Keimling Harkot veranlasst, ein egotypisches Verhalten anzunehmen? Diese Energie, die aus der Trennung resultiert, entspräche sie nicht der Zwei der Trinität? Würde das Auslöschen der Menschheit nicht bedeuten, das Gleichgewicht dieser Spannungszustände zu zerstören?
Wir erforschen zurzeit die inneren Mechanismen des Orangers Tixu Oty. In Hyponeros haben Zufälle keinen Platz, und die Anwesenheit eines Urmenschen im Geheimprojekt ist Bestandteil des neunten Plans. Es genügte, dass die Meister-Creatoren das Mysterium Hyponeros – eine illusorische Leere – im Bewusstsein der Menschen ständig wachhielten, um einen unserer Erzfeinde in den Matrix-Bottich zu locken. Die kreative Spannung – das Antra? – ist eine Spur, die wir seit unserer Aktivierung im Jahr 7037 erforschen. Doch es fehlte uns das entscheidende Element: der kreative Zündfunke. Der Mensch gibt seine außerordentliche Kreativität durch seine Gene an seine Nachkommen weiter. Letzter Beweis: Tau Phraïm, der Sohn des Mahdis Shari, lässt sich mental nicht erforschen, obwohl er erst drei Jahre alt ist und sich theoretisch seiner Kräfte noch nicht bewusst sein dürfte.
Zusätzliche Information: Ein alter Fischer des Pülons hat den Sicherheitskräften von Ephren mitgeteilt, dass sich Tau Phraïm ins Kloster der Thutalinen geflüchtet hat.
»Wir« bedeutet in diesem Zusammenhang nicht eine Versammlung verschiedener Individuen, denn wir besitzen keine DNS, sondern sind strukturelle Informationsträger, nichts als Konzepte und virtuelle Elemente.
Frage eines Kohäsions-Keimlings: Haben nicht wir die Scaythen konzipiert, Kreaturen, die auf dem Gebiet der Materie intervenieren können? – Antwort: Eine Intervention auf diesem Gebiet bedeutet nicht, dass wir die Materie verändern können. – Frage: Warum haben wir für die Konstruktion der Scaythen nicht die kreativen Gene jener Frau genutzt? – Antwort: Sie wurden bereits genutzt. Doch da sie keinen Zugang zum schöpferischen Urquell mehr besaß, konnten ihre mit den Xaxas kombinierten Gene, nur dazu dienen, Scaythen aus dem Matrix-Bottich zu generieren. – Frage: Verfügen wir jetzt über alle notwendigen Elemente, um Urwesen erschaffen zu können? – Antwort: Jedenfalls verfügen wir über genügend Elemente, um eine finale Waffe herzustellen.
Von welcher Waffe redeten sie?, fragte sich Tixu. Sie sprachen nicht, sondern sandten Wellen aus, die sich zu einer komplexen, aber verständlichen Sprache verdichteten. Auch ich bin nichts als Welle unter Wellen, Vibration unter Vibrationen. – Weißhaarige Männer mit blauen Augen und Frauen tanzen eine wilde Farandole. Der Wind weht die Röcke der Frauen hoch, enthüllt ihre Beine und ihre prallen Hinterbacken. Es regnet, und Paare suchen unter Vorbauten Schutz, legen sich auf das nasse Pflaster. Eine Frau kommt auf mich zu, sieht mich mit anzüglichem Blick an. Sie streckt ihre Hand aus, nach … nach was? Lust?
Wir werden jetzt die zehntausend Scaythen der Kreation auslöschen. – Frage eines Kohäsions-Keimlings: Mit Zustimmung der In-Creatur? Verweis auf das erste Gesetz der Hauptplatinen: Ein Keimling darf ohne die formelle Zustimmung der Hauptplatinen nicht handeln. – Antwort: Die Geheimhaltung der neunten Stufe des Plans ist mit der formellen Zustimmung der Hauptplatinen inkompatibel.
Enzyklopädie: Die zweiundzwanzig Grundgesetze der Hauptplatinen, hier als »Gesetze« bezeichnet, sind Verbot-Codes, die von den Hauptplatinen mit dem Ziel programmiert wurden, die Keimlinge daran zu hindern, gegen die Interessen der In-Creatur zu handeln. Doch die Meister-Keimlinge brauchten nur hundert Universum-Jahre, um diese Codes zu dechiffrieren und eigene Basisdateien aufzubauen, zu denen sie auf geheimen Wegen Zugang hatten. Auf diese Weise konnten sie die Grundgesetze umgehen und eigene Projekte verfolgen, ohne zu riskieren, im Matrix-Bottich aufgelöst zu werden. Wahrscheinlich stammt ihr Wunsch, die eigene Existenz zu verlängern, von jener Frau und den Xaxas, deren Substanz zur Entwicklung der ersten Scaythen führte – eine subtile, wenn auch unzureichende genetische Transmutation, um den Status eines Urwesens zu fördern oder zu erlangen.
Frage eines Kohäsions-Keimlings: Welcher Zusammenhang besteht zwischen der finalen Waffe und der Auslöschung der zehntausend Scaythen aus dem Matrix-Bottich? – Antwort: Wir verwerten alle mentalen Implantate der Scaythen und formen sie zu unserer finalen Waffe, d. h. zu einem einzigartigen Wesen, das das gesamte Potenzial von Hyponeros in sich birgt. – Frage: Das gesamte Potenzial von Hyponeros? Auch das der Konglomerate? Auch das des Geheimprojekts? – Antwort: GANZ Hyponeros wird in diesem einen Wesen vereint sein.
Das Mädchen ruht am Fuß der Düne. Blond und schön. Ein trockener und kalter Wind. Trocken? Kalt? Um mich herum knistern Lichtstrahlen, sie bringen Steine zum Platzen; kleine, schwärzliche Krater bilden sich neben meinen Füßen. Etwas weiter entfernt sehe ich Gestalten. Sie bewegen sich aufgeregt. Ich muss sie daran hindern, sich des Mädchens zu bemächtigen. Sie wollen das Mädchen haben … Ich liebe dieses Mädchen … Lieben?
Frage eines Kohäsions-Keimlings: Dieses Wesen in Menschengestalt, wird das der Oranger Tixu Oty sein? – Antwort: Kohäsionsverlust. Gibt es eine andere denkbare Möglichkeit? Das äußere Erscheinungsbild des Orangers Tixu Oty bietet nur Vorteile: Die Krieger der Stille werden ihm nicht mit Misstrauen begegnen, sondern ihn willkommen heißen. Wir werden dieselbe Methode wie bei Marti de Karvaleur anwenden, mit einem Unterschied: Tixu Oty wird mit der GANZEN Macht von Hyponeros ausgestattet werden. – Frage: Wie groß sind unsere Chancen, die Kraft des Antra zu dominieren? – Antwort: Wir programmieren Tixu Oty derart, dass er die Inddikischen Annalen kennenlernt, also die Arche der Schöpferkraft des Menschen betritt. – Bemerkung mehrerer Kohäsions-Keimlinge: Den letzten Wahrscheinlichkeitsberechnungen zufolge ist es dem Mahdi Shari und Jek At-Skin gelungen, Naïa Phykit, deren Tochter Yelle und die beiden Jersaleminer zu befreien. Diese Personen werden sich gegen ihn verbünden, um ihm den Zugang zu den Inddikischen Annalen zu verwehren. – Antwort: Eben jene letzte Wahrscheinlichkeitsberechnungen haben uns veranlasst, unsere Strategie zu ändern. Aus den Basisdaten des Matrix-Bottichs haben wir Erkenntnisse über uralte Religionen der Menschheit gewonnen und wissen, dass die Krieger der Stille unter der Leitung des Mahdis Shari und Jek At-Skins zwölf der ihren zu vereinen trachten, um einen Ring aus zwölf Devas oder Himmelswesen zu bilden.
Geschichte: Die Inddikische Deva oder die Inddikische Einheit = eine Bündelung der Energien von zwölf Urmenschen – oder der Duodekalog –, die das Gleichgewicht der Kräfte wiederherstellt und somit die universale Schöpferkraft. Etwa alle einhundertzwölftausend Standardjahre ist das Entstehen einer der neuen Deva-Versammlungen notwendig. Sollte nur eins der zwölf Mitglieder der Einheit fehlen, wird die In-Creatur die absolute Herrschaft über einhundertundzwölf Millionen Jahre erlangen.
Unseren Daten zufolge ist der Oranger Tixu Oty Mitglied dieser Inddikischen Deva. – Frage eines Kohäsi ons-Keimlings: ziemlich unwahrscheinlich. Hätte sich Tixu Oty freiwillig im Matrix-Bottich aufgelöst, wenn er gewusst hätte, dass er als einer von zwölf Menschen auf ewig in deren kollektivem Gedächtnis präsent gewesen wäre? – Antwort: Das wusste er nicht. Er glaubte, der Mahdi Shari sei für immer fortgegangen, und fasste deshalb den Entschluss, uns auf unserem Territorium herauszufordern. Er glaubte an den Schutz des Antra, auch im Inneren von Hyponeros. Doch als er sich im Matrix-Bottich auflöste, gingen seinem Körper die schöpferischen Kräfte verloren und ebenfalls jene Vibrationen, die ihn bislang schützten.
Frage: Besteht die neue Strategie darin, das Zustandekommen dieser Deva zu unterstützen? – Antwort: Der Wahrscheinlichkeit nach ist der Zugang zu den Inddikischen Annalen unabdingbar, um das Phänomen der Genese zu verstehen und somit wiederholen zu können. Wir werden die schöpferischen Kräfte zu unserem eigenen Nutzen anwenden und wie die Graïcqs – ein sehr altes kriegerisches Volk – vorgehen, die im Bauch eines Holzpferds in eine feindliche Stadt eindrangen und sie zerstörten. Hyponeros wird in dem Oranger Tixu Oty verborgen sein. – Bemerkung mehrerer Kohäsions-Keimlinge: Tixu Oty ist kein Holzpferd, sondern ein Urmensch, ein souveränes Wesen. Sobald sein Körper wiederhergestellt ist, wird ihn das Antra schützen. – Antwort: Sein Körper wird nichts als eine materielle Hülle sein, die mit den Dateien des Matrix-Bottichs gefüllt ist. Menschliche Waffen können ihn nicht zerstören, denn das Agens der Rekonstruktion besteht aus der Zellstruktur der Xaxas sowie atomaren Bestandteilen von Androiden und Robotern. Wir werden Tixu Oty erlauben, seinen physischen Aspekt wiederzuerlangen, sein Erinnerungsvermögen jedoch wird ausgelöscht. Es befindet sich in unseren Geheimdateien. Also wird er nie imstande sein, über seine gesamte mentale Integrität zu verfügen. Er wird unsere Zitadelle sein, eine bewegliche dazu: unsere ultimative Waffe. Er wird über ein Auslöschungspotenzial planetarischen Ausmaßes verfügen, das der von zehntausend Scaythen entspricht, er wird absolut unverletzbar sein und dank der im Matrix-Bottich integrierten Deremats augenblicklich wohin auch immer reisen können. Mit diesen Fähigkeiten ausgestattet, wird er die Inddikischen Annalen rauben und sie zerstören. Dann werden wir unsere eigene Arche bauen und dort unsere Gesetze der Ewigkeit installieren: die Grundgesetze von Hyponeros. Wir erschaffen ein Universum nach unserem Bilde – ein Universum der Implantate und Dateien. – Frage eines Kohäsions-Keimlings: Die Auflösung jener zehntausend Eroberungs-Keimlinge und die Rekonstrukturierung von Tixu Otys leiblicher Hülle im Matrix-Bottich lassen nicht zu, dass der neunte Plan geheim bleibt. Riskieren wir nicht eine allgemeine Auflösung? – Antwort: Während der Gesamtdauer der Operation liefern wir den Hauptplatinen falsche Daten. Wenn die Fusion des Konglomerats mit den Keimlingen in der körperlichen Hülle von Tixu Oty stattgefunden hat, werden weder die Hauptplatinen noch die In-Creatur Einfluss auf uns haben können. Dann sind wir nichts als eine autonome, absolut souveräne Entität.
Bin ich das? Ich, von dem diese nie enden wollenden Wellen sprechen? Sie reden von mir, als sei ich ein Verräter, als sei ich ein Holzpferd. Ich will kein Verräter sein … Yelle, meine Tochter. Sie sieht mich an, vorwurfsvoll. Sie ahnte alles, von Anfang an. Sie erkannte den Blouf, das alles verzehrende Böse, das die Sterne verschlingt. Es hat auch mich verschlungen.
Frage eines Kohäsions-Keimlings: Wer sind die elf anderen Urmenschen der Inddikischen Deva? – Antwort: Nach Evaluation der Daten haben wir von zwölf Mitgliedern elf identifiziert: Mahdi Shari, Oniki, Tau Phraïm, Aphykit Alexu, Yelle, Jek At-Skin, die Jersaleminer San Francisco und Phoenix, den ehemaligen Muffi Fracist Bogh, einen ehemaligen Ritter der Absolution – der von einem Inquisitor im Bischöflichen Palast zu Venicia entdeckt wurde – und schließlich den Oranger Tixu Oty. Was die zwölfte Person betrifft, so glauben wir, dass sie in direkter Beziehung zu einem der ersten Vertreter der Inddikischen Wissenschaft steht, einem gewissen Alquazer (laut einer Information, die von einem Archivar-Scaythen in einer Memodiskette über die Frühgeschichte des Weltraums entdeckt wurde). – Frage: Die neue Strategie scheint sich darauf zu gründen, dass das menschliche Element in Hyponeros mit dem Inddikischen Element verschmilzt. Müssen wir unseren ärgsten Feinden dabei helfen, diese Deva zu vollenden? Antwort: Wäre Tixu Oty in seiner physischen Gestalt fähig, ohne die Hilfe seiner elf Gefährten die Inddikischen Annalen einzusehen? Doch allein diese Annalen beherbergen den Ursprung allen Wissens, das uns bisher verborgen geblieben ist. Es stellt den wesentlichen initiativen Aspekt dar.
Enzyklopädie: Initiation: Aufnahme eines Individuums in eine bestimmte Gruppe souveräner Entitäten. Der Initiierte ist ein Mensch, der auf dem Weg seiner Selbstbestimmung ist.
Frage eines Kohäsions-Keimlings: Müssen wir unseren erbittertsten Feinden helfen, diese Deva zu bilden? – Antwort: Ja.
Ich bin verloren. Ich habe mich verloren … Yelle … Aphykit … Ich bestehe nur noch aus einer Einheit verschiedener Daten, bin Gefangener einer Maschine. Ich werde meine Liebesfähigkeit verlieren. Lieben. Sie wissen nicht, was Liebe ist … Ich weiß nicht mehr, was Liebe ist … Was werden sie mit meinem Körper machen? Verzeihung … Yelle … Aphykit … Liebt mich … immer …
»Hoffentlich habt Ihr einen guten Grund, mich zu stören, General!«, schimpfte der Imperator Menati.
Vom höfischen Protokoll schien der Herrscher keine Ahnung oder höchst seltsame Vorstellungen zu haben, denn er hatte seinen fetten Körper auf eine Hofdame gewälzt und bearbeitete sie mit rhythmischen Stößen, die dem eines Metronoms glichen, wobei er kleine spitze Schreie ausstieß. Die Dame jedoch ertrug seine amourösen Leibesübungen mit einer Gleichgültigkeit, die einer Majestätsbeleidigung gleichkam.
Der syracusische Adel konnte sich in diesem widerlichen, mit aphrodisischen Megastasen vollgestopften Kerl nicht mehr wiedererkennen.
»Was ist los, General? Seid Ihr gekommen, um Eure Neigung zum Voyeurismus zu befriedigen?«
Der Oberbefehlshaber der Leibgarde räusperte sich. »Die Scaythen von Hyponeros sind verschwunden, Eure Majestät«, verkündete er mit fester Stimme.
Menati hielt inne und starrte seinen Untergebenen verblüfft an. »Habe ich Euch richtig verstanden?«, murmelte er.
»Die Scaythen von Hyponeros sind verschwunden«, wiederholte der General.
Mit theatralischer Geste streckte er den Arm aus und entfaltete einen blauen Stoff, den der Imperator sofort als den Kapuzenmantel des Seneschalls Harkot erkannte.
»Der Seneschall, die Inquisitoren, die Auslöscher, die Gedankenschützer … Das ist alles, was sie zurückgelassen haben, Eure Majestät! Im Vorraum, wo sich normalerweise Eure Gedankenschützer aufhalten, liegen nur noch sechs weiße Kapuzenmäntel auf dem Boden. Aus allen Welten des Imperiums empfangen wir Messacodes mit demselben Inhalt; von überall wird dasselbe Phänomen gemeldet: Auf den von Menschen besiedelten Planeten gibt es keine Scaythen mehr.«
»Besteht zwischen diesem Verschwinden und dem Anfall von Wahnsinn des Seneschalls Harkot ein Zusammenhang? «, fragte der Imperator. »Mir wurde berichtet, dass er eine Hofdame, eine Motohor, erwürgt hat?«
»Das weiß ich nicht, Majestät, doch der Übergriff des Seneschalls steht wahrscheinlich mit der Anwesenheit eines Terroristen im Palast in Zusammenhang. Da der Mann plötzlich auf unerklärliche Weise verschwand, ließ Harkot seine Wut an Dame de Motohor aus … Ich rate Euch, sofort den Staatsrat und den Kirchenrat einzuberufen. Das überraschende Verschwinden der Scaythen hat bereits auf einigen unbedeutenden Planeten beträchtliche Unruhen ausgelöst.«
»Unruhen, sagt Ihr?«
»Majestät, der Terror, den die Scaythen ausübten, verhinderte, dass sich die Bevölkerung der einzelnen Planeten gegen das Ang-Imperium und die Kirche des Kreuzes auflehnten. Aber wer kann sie nun in Schach halten? Wer kann sie daran hindern, zu den Waffen zu greifen, um sich von einem verhassten Regime zu befreien? Unsere Besatzungspolitik war nur erfolgreich, weil die Scaythen die Gedanken unserer Feinde lesen konnten. Durch das Verschwinden der Scaythen hat sich das Kräfteverhältnis radikal verändert. Wir sind nicht mehr geschützt. Auf Spain haben die Aufständischen den Palast des Kardinal-Gouverneurs de Blawel gestürmt, die Interlisten und Pritiv-Söldner besiegt und furchtbare Rache an den Repräsentanten des Regimes genommen, vor allem an den Frauen und Kindern. Derartige Gräueltaten könnten sich in Kürze auf anderen Welten des Ang-Imperiums wiederholen.«
»Was ratet Ihr mir zu tun, General?«
»Lasst sofort alle Syracuser, die auf anderen Planeten leben oder stationiert sind, in ihre Heimat zurückkommen, ehe die Deremats in die Hände der Aufständischen fallen. Dann muss unverzüglich der Notstand ausgerufen werden und eine Notfallregierung in Aktion treten, damit wir handlungsfähig bleiben. Schließlich müssen wir alle unsere Streitkräfte mobilisieren, denn wir wissen noch nicht, wie sich die Pritiv-Söldner uns gegenüber verhalten. Werden sie uns loyal sein? Das ist nicht gewiss, im Gegensatz zu den Interlisten, auf deren absolute Treue wir zählen können, weil alle hohen Offiziere zu den Unseren zählen.«
»Wenn man Euch reden hört, könnte man glauben, das Ende des Universums sei gekommen. Mehr Gelassenheit, verdammt nochmal! Wenn die Scaythen so plötzlich verschwunden sind, könnten sie vielleicht ebenso plötzlich wieder auftauchen.«
»Wäre das denn wünschenswert, Eure Majestät?«, sagte der General spontan.
»Soll das etwa heißen, Ihr bewertet das Verschwinden der Scaythen als positiv?«
»Ich bin nicht der Einzige, der so denkt, Eure Majestät …«
Der Imperator Menati stand auf und zog einen schwarzen, mit Optalium verzierten Kaftan an. Durch den ständigen Missbrauch der Megastasen hatte er fast alle Haare verloren. Er ging zu dem Panoramafenster und starrte in den Garten, der von der Dämmerung des Zweiten Tages in mauvefarbenes Licht getaucht war. Die ersten Sterne leuchteten am dunkler werdenden Himmel auf. Schwebende Lichtkugeln glitten, von einem sanften Wind getrieben, über die Altstadt Romantiguas und den Fluss Tiber Augustus dahin.
»Was Ihr sagt, ist voller Widersprüche«, fuhr Menati fort. »Einerseits behauptet Ihr, dass das unerklärliche Verschwinden der Scaythen eine große Gefahr für das Ang-Imperium bedeute, und andererseits haltet Ihr ihr Verschwinden für eine gute Sache. Was mich zu der Schlussfolgerung kommen lässt, dass Ihr das Konzept eines Imperiums an sich missbilligt …«
Die Worte des Imperators erstaunten den General. Schon seit Langem hatte Menati nichts derart Kluges von sich gegeben.
»Seinerzeit ermöglichten die Scaythen es uns, die syracusische Kultur auf allen eroberten Welten zu verbreiten. Doch im Laufe der Jahre wurde ihr Einfluss auf Staat und Kirche geradezu erdrückend. Sie glichen jenen Parasiten, die alle Pflanzen ersticken, die ihnen das Leben ermöglicht haben. Doch da sie nun verschwunden sind, haben wir jetzt noch größere Chancen als bei ihrem Erscheinen. Denn sie geben uns die Macht zurück, die sie uns geraubt haben.«
»Was werfen wir ihnen eigentlich vor? Sie haben immer in unserem Interesse gehandelt, im Interesse von Syracusa … Beschuldigt Ihr etwa die Angs, ihre Seele an Hyponeros verkauft zu haben?«
Langsam und sorgfältig seine Worte abwägend ging der General auf den Herrscher zu. »Was wissen wir über die Scaythen von Hyponeros? Sie haben ihre Geheimnisse sorgsam gehütet, niemand kennt ihre wahren Absichten. Viele von uns denken, dass sie verborgene Pläne verfolgen, deren Ziel in der totalen Auslöschung besteht.«
Menati drehte sich mit erstaunlicher Behändigkeit um und durchbohrte seinen Gesprächspartner mit einem drohenden Blick. »Warum habt Ihr so lange gewartet, General, mir das mitzuteilen? Aus Feigheit oder aus Opportunismus?«
»Selbst wenn ich mich Euch hätte offenbaren wollen, gab es noch immer ein gravierendes Hindernis, Eure Gedankenhüter. Doch ich muss gestehen, dass ich ebenso blind wie alle anderen war, wie Eure Ratgeber, die Höflinge oder die Kardinäle … Wie alle Menschen, außer ein paar Hellsichtigen oder Rebellen, die wir natürlich so schnell wie möglich ins Exil geschickt oder ans Feuerkreuz genagelt haben … Sri Mitsu … Dame Sibrit …«
»Sprecht nie wieder von dieser Provinzschlampe, ich bitte Euch!«, sagte Menati gequält.
»Wie Recht Ihr habt, Majestät! Spricht man von Menschen, die ihrer Zeit voraus waren und Recht hatten, werden alte Wunden wieder aufgerissen.«
»Ihr seid wahrhaftig nicht in der Position, mir Moralunterricht zu erteilen, General!« Ohne sich umzudrehen, deutete er auf die Kurtisane, die noch immer im Bett lag. »Du hast bekommen, was du wolltest. Mehr Geld für deinen verblödeten Ehemann. Verschwinde jetzt, du Hure!«
Die Dame stand auf, eilte ins Badezimmer, kleidete sich schnell an und floh durch die Geheimtür.
Eine kleine Gruppe aus Adligen und Kirchenleuten hatte den General zu Menati geschickt, um die Reaktionen des Herrschers zu prüfen. Seltsamerweise schien sein Geist von den zahlreichen Auslöschungsprogrammen der Scaythen kaum berührt worden zu sein, auch wenn er zu Gewalttätigkeiten neigte, die durch den Drogenkonsum wohl noch verstärkt wurden. Also wünschte niemand, dass er seine Herrschaft fortsetzte.
Die Mars-Familie hingegen – sie wurde momentan in dem ehemaligen Palast des Herrschers gefangen gehalten – gehörte zu der starken Gruppe der Widerstandskämpfer innerhalb der Kirche, der Aristokratie und der Armee. Gerüchten zufolge hatten die Mars’ zwei Kriegern der Stille bei der Befreiung der vier Kryogenisierten im Bischöflichen Palast geholfen, was ihr Prestige sehr erhöht hatte.
»Wurde der Bischöfliche Palast von den Ordnungshütern eingenommen?«, fragte der Imperator.
»Ihr wurdet darüber unterrichtet?«, fragte der General verwundert.
»Ich stopfe mich vielleicht mit Megastasen voll und beschäftige mich zu sehr mit sexuellen Spielereien, aber ich informiere mich darüber, was in meinem Imperium und meiner Kapitale passiert …«
Euer Imperium, Eure Kapitale, dachte der General. Wie lange noch? Doch er sagte: »Die Osgoriten, die dem Muffi ergeben sind, leisten den Ordnungskräften weiterhin erbitterten Widerstand. Die Kardinäle versammeln sich morgen früh im Konklave, um einen neuen Muffi zu wählen.«
»Was ist aus dem ehemaligen geworden?«
»Das wissen wir nicht, Majestät. Bisher wurde er weder tot noch lebend aufgefunden.«
Der Anblick des verfetteten Imperators widerte den General an, und er beschloss, bedingungslos Miha-Hyt de Mars – eine starke, intelligente Frau mit Visionen – in ihrem Machtanspruch zu unterstützen. Diese Wahl würde die herrschende Kaste vielleicht vor einer demütigenden Niederlage bewahren. Denn die Untergrundorganisation der Mars’ hatte schon immer die Scaythen bekämpft. Und diese Hellsichtigkeit versprach eine effiziente Regierung, auch wenn sie zum großen Teil auf der Wirkung von Drogen beruhte.
»Wie reagiert die Kirche auf die Ereignisse?«, fragte Menati noch einmal. »Schließlich hat sie sich der Scaythen am häufigsten bedient.«
»Auch die Kirche muss ihre Gesamtstruktur reformieren. Auslöschungen finden nicht mehr statt, weil es niemanden mehr gibt, der sie praktizieren könnte. Ich fürchte, dass die Kreuzler nun nicht mehr durch Zwang herrschen können, sondern Überzeugungsarbeit leisten müssen.«
»Mir scheint, dass Ihr Euch darüber freut. Oder irre ich mich?«
»Das Feuer der Überzeugung wird die Feuerkreuze ersetzen …«
»Das sind seltsame Worte aus Eurem Mund. Ich hielt Euch für einen glühenden Anhänger der Kirche, wie jeden aufrechten Syracuser.«
»Das glaubte ich auch zu sein. Doch das Verschwinden der Scaythen hat mir die Augen geöffnet. Ich fordere die Freiheit des Gewissens für jedes menschliche Wesen.«
Der Imperator drehte sich um und ging in seinen Garten hinaus. Dort setzte er sich auf den Rand des Brunnens, lauschte dem Plätschern der Fontäne und atmete den Duft der Blumen ein. Als er das Knirschen von Schritten auf dem mit weißen Kieseln belegten Weg hörte, blickte er auf.
»Euer plötzlicher Sinneswandel erstaunt mich, General. Das unerwartete Plädoyer für eine freie Wahl der Religion und – wenn ich den verborgenen Sinn Eurer Worte richtig verstanden habe – Euer Eintreten für die politische Autonomie anderer Planetarier scheinen mir … nun … deplatziert zu sein bei einem Mann, der länger als zwanzig Jahre vom Ang-Imperium profitiert hat. Wenn ich mich richtig erinnere, so habt Ihr finanzielle Sonderleistungen nie abgelehnt, Ihr habt an Unseren Soireen teilgenommen sowie ethnische Säuberungen überwacht und Euch nie gegen die Beschlüsse des imperialen Rats gewandt. Ihr habt also die Seiten gewechselt. Da Ihr beflissen Euer Fähnchen nach dem Wind hängt, bleibt mir nur der Schluss, dass Ihr für meine Entmachtung plädiert.«
Nach diesen Worten erkannte der General, dass mit dem Verschwinden der Scaythen die Auslöschungsmechanismen nicht mehr funktionierten. Der Geist Menati Angs hatte seine Fähigkeit zu logischem Denken vollständig zurückerlangt. Und sollte sich dieses Phänomen bei allen Menschen zeigen, die zwangsweise zu Kreuzianern gemacht worden waren, würde dieses Wiedererwachen fürchterliche Folgen für alle auf den Planeten verstreut lebenden Geistlichen der Kirche des Kreuzes haben.
»Lieber spät als niemals. Wir erwachen aus einem bösen Traum, Eure Majestät, und wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um die verheerenden Folgen möglichst gering zu halten.«
»Was haben Euch jene Leute versprochen, die Euch zu mir geschickt haben, General? Eine Stelle als Berater? Reichtum? Warum tötet Ihr mich nicht sofort? Wollt Ihr nicht gegen die Etikette verstoßen? Weil man keinen Mann tötet, der eben noch mit einer Frau im Bett war? Antwortet mir!«, schrie Menati außer sich vor Wut, stand auf und packte den Offizier an den Aufschlägen seiner roten Uniformjacke.
»Ich versichere Euch, mir wurde nichts versprochen, Majestät … Ich wurde nur geschickt, um Euch zu drängen, die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Wir sind überzeugt, dass sich die Scaythen zurückgezogen haben, weil sie eine Offensive von immenser Tragweite planen.«
Der Imperator löste seinen Griff und ließ sich auf den Brunnenrand fallen. »Eine dumme Hypothese«, murmelte er. »Die Scaythen mussten sich nicht zurückziehen, um uns besser unterdrücken zu können. Sie kontrollierten bereits das gesamte Ang-Imperium.«
»Majestät, Euren Worten entnehme ich, dass Ihr bereits zugebt, dass …«
»Idiot!«, unterbrach ihn Menati. »Ich habe nicht auf Euch gewartet, um mir eine eigene Meinung zu bilden! Ich wusste seit Langem, dass wir nichts als Marionetten in den Händen der Scaythen waren.«
»Verzeiht mir, Eure Majestät, aber von dieser Erkenntnis hatten wir keine Ahnung …«
»Ebenso wie ich keine Ahnung von Euren Erkenntnissen hatte. Also haben wir uns einer im anderen getäuscht. Nicht wahr, General?«
Menati tauchte die Hand in den Brunnen und kühlte mit dem Wasser seine Stirn.
»Eine letzte Frage, General: Wenn Ihr mich elimiert habt, was geschieht dann mit meiner Gemahlin, Dame Annyt, und meinen drei Kindern?«
»Darauf kann ich Euch nicht antworten, Majestät. Diese Frage steht nicht auf der Tagesordnung.«
»Sagt jenen Leuten, die Euch geschickt haben, dass die Ratsversammlung in einer halben Stunde stattfindet. Ich wünsche, dass die Ratsmitglieder einschließlich der Repräsentanten der Kardinäle sowie das Vikariat vollständig erscheinen. Ich wiederum werde mit meiner Gemahlin und meinen Kindern anwesend sein.«
Der General schlug die Hacken zusammen, verneigte sich und ging.
Nun begann der Herrscher über das Universum zu weinen. Sibrit de Ma-Jahi … Wie oft habe ich sie in diesem Garten geliebt?
Die schwebenden Logen glitten eine nach der anderen in den Großen Empfangssaal. Die Zeremonienmeister hatten nur dreißig Minuten gehabt, um einen des Imperators würdigen Empfang vorzubereiten. Hektisch liefen sie von Schaltpult zu Schaltpult, um die Logen an die richtigen Plätze, die sich aus der gesellschaftlichen Stellung ihrer Besitzer ergaben, zu dirigieren. In Windeseile hatte sich die Nachricht verbreitet, dass der Imperator anlässlich des Verschwindens der Scyathen von Hyponeros eine äußerst wichtige Mitteilung zu machen habe, und natürlich wollte niemand bei diesem Ereignis fehlen. Vor allem weil Gerüchte über einen bevorstehenden Staatsstreich kursierten und alle – auch wenn sie es sich nicht eingestanden – hofften, dass die Verschwörer bei dieser Gelegenheit die Initiative ergreifen würden, und den verhassten Menati stürzten. Die Aristokratie hatte Blut geleckt und schwirrte wie Schmeißfliegen, die einen Kadaver gewittert hatten, herbei. Des verhassten Muffis hatte man sich bereits entledigt, und mit demselben Jubelgeschrei würde man jetzt Menati Ang verschwinden lassen.
Der holographische Sternenhimmel an der Decke begann zu leuchten, ebenso die Wandlampen und die indirekten, in den Fußboden aus Optalium eingelassenen Lichtquellen. Es fanden heftige Diskussionen statt, sowohl innerhalb der Logen als auch von Loge zu Loge, die autopsychische Selbstkontrolle wurde bei den Gesprächen kaum noch beachtet. Es war wichtig, gesehen zu werden. Denn würde der Imperator an diesem Abend gestürzt werden, würde man automatisch zu den Verschwörern gehören und könnte dann als Sieger nur Vorteile aus der neuen Lage ziehen.
»Welche Überraschung, Euch zu sehen, Patriz de Blaurenaar! Ich habe erfahren, dass Eure Dienerin zu einer Untergrundorganisation gehörte, die den Mars’ nahestand?«
»Unter uns gesagt, Sieur d’Ariostea, wäre es mir lieber, dass meine Verbindungen zu den Mars’ geheim blieben. Tatsächlich habe ich meine Dienerin – eine sehr ergebene Osgoritin – gebeten, die Mars’ zu informieren, dass Seneschall Harkot plane, sie gefangen zu nehmen … Aber ich möchte nicht, dass böse Gerüchte kursieren, die Miha-Hyt de Mars, sollte sie in Zukunft die Geschicke Syracusas lenken, daran hindern, mir einen verantwortungsvollen Posten anzuvertrauen.«
»Derartige Skrupel ehren Euch, Sieur de Blaurenaar. Wie schade, dass Eure Dienerin – sie soll von außerordentlicher Schönheit gewesen sein, wie mir berichtet wurde – bei ihrer Mission getötet wurde.«
»Ich trauere aufrichtig um sie; aber was soll man da machen? Geheimoperationen bergen immer Risiken … Jetzt müssen wir alles tun, damit ihr Opfertod nicht umsonst war …«
Reflexartig drehte sich Patriz de Blaurenaar um. Doch der Platz hinter ihm in seiner Loge war leer. Die Gedankenhüter existierten nicht mehr. Wir sind jetzt frei, dachte er, geistig frei. Und er fühlte sich plötzlich erleichtert, wie von einer unsichtbaren Last befreit.
Vor den beiden anderen Eingängen des Saals drängten sich die Logen. Da es nicht mehr genug Platz für alle gab, wurde gestritten, und es kam sogar zu Handgreifl ichkeiten. Der eilig herbeigerufenen Garde gelang es nur mit Mühe, die Ordnung wiederherzustellen.
Die Vertreter der Kardinäle und des Vikariats saßen in den Logen, die der in der Mitte gelegenen Bühne am nächsten waren. Ihre finsteren, verschlossenen Gesichter spiegelten ihre Sorgen wider.
Im Laufe der Jahre waren die Scaythen in ihrer Funktion als Inquisitoren und Gedankenauslöscher zu den wichtigsten Stützen der Kirche geworden, die nun ohne diese Hilfe einzustürzen drohte. Es waren bereits alarmierende Nachrichten aus verschiedenen Hauptstädten der Planeten des Ang-Imperiums eingetroffen: Einheimische Völker hatten sich aufgelehnt und Missionare, Exarchen und sogar einige Kardinäle-Gouverneure an Feuerkreuze genagelt. Die durch Terror etablierte Geschlossenheit der Kirche zerbrach nun, weil sich die Völker frei fühlten. Und es gab bereits viele Geistliche, die sich um das höchste Amt in der Kirche bewarben, auch wenn auf den Nachfolger schier unlösbare Probleme zukamen. Nach einem jahrelangen glorreichen Aufstieg drohte nun eine schmerzliche Rückkehr zum Ursprung, die nicht ohne Debatten, wenn nicht gar Spaltung vonstattengehen würde. Die Arbeit Tausender treuer Diener der Kirche war umsonst gewesen, ihr Traum, das Universum zu beherrschen, war wie eine Seifenblase zerplatzt.
Die Zeremonienmeister verkündeten das Erscheinen des Imperators Menati, seiner Gemahlin Annyt und seiner Kinder, der beiden Prinzen und der Prinzessin.
Als Menati die Empore betrat, sah er noch unförmiger und verwüsteter als gewöhnlich aus, während Dame Annyt so mager war, dass man erschrecken konnte. Die Kinder, ganz in Weiß gekleidet, waren wie üblich desinteressiert an dem Geschehen.
Menati breitete Stille fordernd die Arme aus.
»Dies ist das letzte Mal, dass ich in diesem Palast zu Euch spreche. Nicht dass dieses herrliche Gebäude zerstört werden soll, aber meine Regierungszeit wird beendet sein, sobald sich diese Versammlung auflöst. Das unerklärliche und plötzliche Verschwinden der Scaythen von Hyponeros hat das Ang-Imperium in eine äußerst bedrohliche Lage gebracht und bedeutet die totale Niederlage für die Familie Ang«, sagte der Imperator zum Erstaunen der Höflinge in einem Ton absoluter Aufrichtigkeit.
»Ich übernehme die volle Verantwortung für dieses Scheitern. Doch Ihr könnt beruhigt sein, ich klammere mich nicht an die Macht, die einige unter Euch mir möglichst schnell entreißen wollen. Und ich verspreche Euch, dass die Angs nie wieder das höchste politische Amt auf Syracusa anstreben. Mein Bruder Ranti und seine beiden Söhne sind tot. Seine Tochter Xaphit, die in der Provinz Ma-Jahi lebte, aus der ihre Mutter, Dame Sibrit, stammte, wurde vor ein paar Minuten exekutiert.«
Ein missbilligendes Gemurmel brandete im Saal auf.
»Meine beiden Söhne, meine Tochter und ich sind also die letzten Repräsentanten des Hauses Ang.«
Noch während er sprach, entnahm er einer Innentasche seines Capes einen metallisch glänzenden Gegenstand. Entsetzt erkannten die Nächstsitzenden, dass es sich um einen Wellentöter handelte. Der Imperator hielt den Lauf an die Schläfe seines erstgeborenen Sohns und drückte ab. Der kleine Körper fiel leblos zu Boden.
Dame Annyt schien das entsetzliche Geschehen nicht zu berühren. Sie reagierte auch nicht, als ihr Gemahl seinen zweiten Sohn und daraufhin seine Tochter erschoss. Weder die Zeremonienmeister noch die Gardisten oder die Geistlichen in den ersten Rängen reagierten. Alle waren wie versteinert.
Dann schoss Menati seiner Gemahlin ins Herz, trat ein paar Schritte vor und fixierte die über ihm schwebenden Logen lange mit starrem Blick.
»Ich bin der letzte Ang!«, rief er herausfordernd. »Der letzte Ang! Habt Ihr mich gehört? Verzeih mir, Sibrit …«
Er rammte den Lauf der Waffe in seinen Mund und drückte ab.