ACHTZEHNTES KAPITEL

Monager: legendäres Säugetier des Planeten Selp Dik. Zoologen ist es nie gelungen, eine einzige Spur – Fossilien, Skelette, Zeichnungen oder Videoholos  – dieser Tiere zu entdecken, daher wird angenommen, dass der Ursprung dieser Legenden auf die äußerst reiche Vorstellungskraft der einheimischen Fischer zurückzuführen ist, umso mehr, weil sie mit einer Sage verwoben ist, die von einem Aufenthalt Sri Lumpas auf Selp Dik berichtet. Bemerkenswert ist außerdem, dass das Wort »Monager« zu Beginn der Shari-Ära in die Umgangssprache aufgenommen wurde. Es bezeichnet ein Lebewesen, das seine Kraft und seine Energie zum Wohle der Allgemeinheit einsetzt.

 

Universallexikon pittoresker Wörter und Redewendungen
Akademie der lebenden Sprachen

 

Als Tixu das Bewusstsein wiedererlangte, war er nackt und befand sich unter Wasser – einem eisigen, salzigen Wasser. Trotz rasender Kopfschmerzen und dem Gefühl, außerhalb seines Körpers zu sein – dieser berüchtigte Gloson-Effekt –, strampelte er reflexartig mit Armen und Beinen, um an die Wasseroberfläche zu gelangen, weil er zu ersticken drohte.

Vor seinen Augen breitete sich ein roter Schleier aus. Er hatte das Gefühl, seine Lungen würden gleich platzen und er glaubte, ertrinken zu müssen. Er hatte Angst, dass dieses Meer zu seinem Grab werden würde. Doch dann – schon halb bewusstlos – schnellte er an die Oberfläche empor und atmete gierig, während er heftig auf die brandenden Wogen einschlug, um nicht wieder unterzugehen.

Geofo Anidolls alter Deremat hatte ihn inmitten des selpdikischen Ozeans abgesetzt, der mehr als neun Zehntel der Oberfläche des Planeten bedeckte. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wo er sich befand, denn es gab keinen Orientierungspunkt in diesem wogenden grauen Meer, das mit einem ebenso grauen Himmel verschmolz. Er konnte ganz in der Nähe des Kontinents Albar sein, doch ebenso Tausende Kilometer von ihm entfernt.

Also schwamm er auf gut Glück in irgendeine Richtung. Er brauchte Bewegung, allein um seinen Kreislauf wieder in Schwung zu bringen, und musste dauernd Salzwasser ausspucken, das die hohen Wellen ihm in den Mund peitschten. Zeit, um Ordnung in seine Gedanken zu bringen, hatte er nicht, denn der Kampf ums Überleben kostete ihn seine ganze Kraft. Zusätzlich machten widrige Strömungen alle seine Bemühungen, in welche Richtung auch immer voranzukommen, zunichte.

So kämpfte er bis zum Einbruch der Nacht und durchlebte Phasen tiefster Niedergeschlagenheit, in denen er mehr als einmal der Versuchung nachgeben wollte, einfach aufzugeben. Dieser ungleiche Kampf gegen das Meer war absurd. Sein schmerzender Körper war völlig erschöpft. Die Tiefe des Ozeans rief ihn, der Wind versprach ihm Erlösung wie der verzaubernde Gesang der Sirenen. Aber sein Überlebenswille gebot ihm weiterzukämpfen. Er glaubte die Stimme des Hirten Stanislav Nolustrist zu hören: Sie müssen Ihren starken Überlebenswillen unter Beweis stellen … einen sehr starken Überlebenswillen …

Jede Arm- oder Beinbewegung war eine Qual, aber das Bild Aphykits vor Augen half ihm, nicht aufzugeben.

Langsam sank die Nacht herab und hüllte alles in Dunkelheit. Dann erhob sich ein starker pfeifender Wind, dessen Böen das Meer aufwühlten.

Tixu war am Ende seiner Kräfte. Er glaubte, sein letztes Stündlein sei gekommen. Mit einer verzweifelten Anstrengung erlangte er einen Moment der Klarheit und flehte sein Antra um Beistand an. Erst da merkte er, dass der machtvolle Klang des Lebens ihm jedes Mal in den Perioden völliger Erschöpfung wieder die nötige Kraft verliehen hatte und dass er, der arme Sterbliche und miserable Schwimmer, bisher nicht an Unterkühlung gestorben oder ertrunken war. Dessen war er sich noch nicht bewusst geworden, und die Erkenntnis, nicht durch die eigene Kraft, sondern durch das Antra überlebt zu haben, entmutigte ihn zutiefst.

Also beschloss er aufzugeben. Unendlich erleichtert hörte er auf, seine taub gewordenen Gliedmaßen zu bewegen und ließ sich langsam in die stillen dunklen Tiefen des Ozeans gleiten. Nie wieder würde er Aphykit sehen, sie würde ohne ihn leben … Das Wasser ist ruhig wie eine liebende Mutter … wie ein Versprechen auf Wohlbefinden … Wie lange schon sinkt er wie ein Stein in ihren unendlich großen Leib? Er weiß es nicht. Die Zeit ist bedeutungslos geworden … Alles ist bedeutungslos geworden …

 

Plötzlich wurde er von einem riesigen Wirbel erfasst. Seine Füße stießen an etwas Hartes und Bewegliches. Und noch ehe Tixu realisieren konnte, wie ihm geschah, wurde er an die Oberfläche geschleudert. Einer Ohnmacht nahe spürte er etwas Weiches an seiner Schulter, streckte blindlings die Hand danach aus und konnte sich an einem knorpelartigen Vorsprung festhalten. Die Strömung war so stark, dass er loslassen musste, aber er konnte sich an einer anderen Wucherung anklammern. Er hatte das flüchtige Gefühl, sich auf schwankendem Grund zu befinden, und das Atmen fiel ihm durch die reißenden Strudel immer schwerer.

Doch ganz plötzlich bekam er wieder Luft. Der schwankende Boden unter ihm wurde stabil. Noch immer klammerte er sich wie ein Ertrinkender an diese Wucherung. Er hustete, spuckte Wasser aus und versuchte, wieder etwas Kraft zu gewinnen.

Tixu kauerte nicht auf der Erde, sondern auf dem schwarzen Rückgrat eines großen Meeresungeheuers. Aus runden Löchern seiner dicken Haut schossen Wasserfontänen empor. Auf der Stirn trug es eine Reihe immer kleiner werdender weißer spitz zulaufender Hörner, die sich kraftvoll durch die Wassermassen pflügten. Sein Kopf war flach. Durchsichtige Bauchflossen an seinem gewölbten Leib peitschten den Ozean mit unvorstellbarer Kraft, wobei sie von den kräftigen Schlägen seines gegabelten Schwanzes unterstützt wurden.

Das Ungeheuer schwamm jetzt an die Oberfläche, zog ruhig seine Bahnen in dem aufgewühlten Meer, so als wollte es die Naturgewalten herausfordern. Tixu lag ausgestreckt auf dem Rücken des Tiers und hielt sich noch immer an dem weichen und doch robusten Knorpel fest. Zwischen zwei Wellen, die ihn vollständig überspülten, kam er langsam wieder zu Kräften. Sein Körper war mit einer salzigen Eisschicht bedeckt, und er fror erbärmlich. Das Meeresungeheuer ließ die stürmische Region hinter sich und schwamm in ruhigere Gewässer, wo der Wind nach und nach abflaute und zu einer leichten Brise wurde und kleine Wellen Tixu sanft umplätscherten.

Doch Tixu war derart erschöpft und durchgefroren, dass er sich nicht einmal die Frage stellte, wie oder warum dieses Ungeheuer ihn gerettet hatte. Er legte sich auf dessen rauen, geschmeidigen Rücken und schlief ein. Mehrmals schreckte er aus dem Schlaf hoch und stellte jedes Mal beruhigt fest, dass das Tier ruhig weiterschwamm. Seine Hörner teilte das glatte Meer wie der Bug eines Schiffes.

Lange schwebte Tixu in einem Zustand zwischen Traum und Wachsein, zwischen Himmel und Wasser, dann schlief er wieder ein.

Die beißende Kälte der Nacht weckte ihn erneut. Er kauerte sich zusammen, doch sein Hals, seine Schultern, sein Rücken und seine Beine waren noch immer der eisigen Luft ausgesetzt, und das Salz auf seinem jetzt trockenen Körper juckte, biss, quälte ihn mit Tausenden kleinen Stichen.

Als hätte das Ungeheuer gewusst, welche Qualen der Mann litt, den es trug, spie es plötzlich aus den runden Löchern neben seiner Wirbelsäule eine heiße Flüssigkeit aus. Diese warme, zähflüssige Flüssigkeit hüllte Tixu bald wie eine zweite schützende Haut ein, sodass er nicht mehr fror.

 

Die Morgendämmerung stimmte ihr erstes Lichtspiel am Horizont an. Ein ohrenbetäubender Lärm weckte den Oranger. Große grüne aggressive Haie richteten sich im Wasser auf und sprangen mit erstaunlicher Leichtigkeit auf den Rücken des Seeungeheuers, wobei sie rau klingende Töne ausstießen. Tixu begriff, dass er das Ziel ihrer Angriffe war. Mit klopfendem Herzen stand er auf und presste sich gegen den vorstehenden Knorpel. Die Raubfische wurden immer kühner. Ihre grünen Rückenflossen streiften die schwarzen Flanken und die schwarze Schwanzflosse des Meeresungeheuers. Ein Hai schnellte plötzlich aus den Fluten direkt auf ihn zu. Er sah den weißen Bauch und das weit aufgerissene Maul, mit drei Reihen spitzer Zähne bewehrt. Instinktiv duckte er sich sofort und hörte in der Nähe seines Kopfes ein Knirschen, dann einen dumpfen Aufprall und einen seltsamen Schrei … Er drehte den Kopf und sah eine dichte Reihe spitzer, etwa zwei Meter langer Stacheln, die aus dem Rückgrat des Monsters herausragten und den Hai aufgespießt hatten. Der Raubfisch blutete aus vielen Wunden und versuchte, sich mit heftigen Kopfbewegungen und Schwanzschlägen zu befreien. Vergebens. Bald rührte er sich nicht mehr, und das Ungeheuer zog seine Stacheln wieder ein. Der Körper des Hais glitt ins Wasser, wo sich sofort seine Artgenossen auf ihn stürzten und ihn zerfleischten.

 

Tixu bewunderte den wunderschönen Sonnenaufgang über dem Ozean der Feen von Albar. Die Strahlen des aufsteigenden Gestirns schienen zart über das Wellenmeer zu streichen. Das Antra hatte sich in das Herz seiner Festung der Stille zurückgezogen. Er spürte sehr stark – fast körperlich – Aphykits Nähe; jetzt hielten sie sich auf demselben Planeten auf, und das dank dieses seltsamen im Wasser lebenden Geschöpfes, von dem er nichts anderes als den Rücken sah. Er lebte … Er hatte Hunger, war todmüde, aber er lebte!

Das Bild der Syracuserin vor Augen tröstete ihn über die langen monotonen Stunden hinweg, während das Ungeheuer, das ihm das Leben gerettet hatte, unermüdlich geradeaus schwamm. Tixu fragte sich, wohin ihn sein Retter bringen wollte. Eine müßige Frage, denn er hatte keine andere Wahl als ihm zu vertrauen. Und er nahm an, dass das Tier ihn nicht im Stich lassen werde, denn sonst hätte es sich kaum die Mühe gemacht, ihn zu retten. Dieses Tier schien zu wissen, was es tat. Nach und nach bildeten sich dunkle regenschwere Wolken am Himmel, und auf dem kaum bewegten Meer herrschte eine majestätische Stille, die nur vom leisen Auf klatschen der Flossenbewegungen seines Retters unterbrochen wurde.

Plötzlich hörte Tixu das schrille Kreischen eines Möwenschwarms. Sie spähten nach fliegenden Fischen aus, die die schaumgekrönten Kämme der Wellen streiften, und es gelang ihnen mit ihrer anmutigen Flugkunst, geschickt einige Fische zu erbeuten. Vergebens suchte Tixu den Horizont nach der Küste des Kontinents Albar ab. Es gab keinen Horizont, er verschmolz, Grau in Grau, mit dem Ozean. Also lehnte er sich an den Knorpel und schlief wieder ein.

Plötzlich tauchte das Seeungeheuer ganz sanft ab, ohne das Meer aufzuwühlen. Doch das kalte Wasser versetzte Tixu einen Schock; er verlor den Kontakt zu seinem Retter, schwamm ziellos umher und fragte sich, warum sich der große Meeressäuger auf diese Weise von ihm befreit habe. Wohin er auch blickte, kein Land war in Sicht. Gewiss, er schwamm, doch ohne Hoffnung und ohne den zähen Überlebenswillen, der ihn noch vor ein paar Stunden bis zur Erschöpfung gegen das Ertrinken hatte ankämpfen lassen. Das Salz brannte in jeder Pore seiner Haut, und die Kälte drang ihm bis in die Knochen. Über ihm kreiste ein Schwarm safrangelber Seemöwen.

Da entdeckte er den runden und transparenten Rumpf einer Fischer-Aquakugel. Am Ruder stand ein Mann. Tixu wollte um Hilfe schreien, aber als er den Mund öffnete, verschluckte er eine Menge salzigen Wassers. Er wedelte mit den Armen. Umsonst! Diese vergeblichen Mühen kosteten ihn viel Kraft, und er brauchte noch etwas davon, um nicht zu ertrinken. Die Aquakugel kam auf ihn zu, von dem sanften Brummen des Motors begleitet. Er glaubte schon, dass dieses große Wassergefährt, das von einem schützenden Magnetschild umgeben war, der gleichzeitig für das Gleichgewicht sorgte, an ihm vorbeifahren würde, als es etwa zehn Meter vor ihm stoppte.

Eine runde Luke öffnete sich am Rumpf, und eine ferngesteuerte Boje wurde zu Wasser gelassen. Als sie neben ihm war, umschlangen ihn blitzschnell sich selbst öffnende und wieder schließende Rettungsringe. Dann wurde er zur Aquakugel gehievt. Tixu hing wie ein nasser Hampelmann in den Ringen, bis er ziemlich rüde auf dem mobilen Fußboden im Inneren des Wasserfahrzeugs abgesetzt wurde.

Der Fischer warf eine Heißwasserdecke über Tixu.

»Stehen Sie nicht auf!«, sagte er mit näselnder Stimme in einem melodischen Naflinisch. »Ruhen Sie sich aus. Die Decke wird Ihnen wieder zu Kräften verhelfen. In ihr sind Essenzen regenerierender Pflanzen enthalten, ein unschätzbares Geschenk der Feen …«

Vor Kälte und Erschöpfung zitternd, blickte Tixu den Mann an. Der Fischer war groß und hatte breite Schultern. Er trug einen roten Overal, und seine Beine steckten in gelben hohen Gummistiefeln. Seine blasslila schräg gestellten Augen in seinem gebräunten Gesicht blitzten, und er hatte einen kurz gestutzten weißen Vollbart.

Zweifellos erkannte er die unausgesprochene Frage in Tixus Blick, denn er sagte: »Ich bin Kwen Daël, ein selpdikischer Fischer, und heiße Sie an Bord meiner Ozeankugel willkommen, in die Sie es dank der Hilfe der Feen geschafft haben.«

Als er diese Worte sprach, tauchte der riesige Meeressäuger in etwa dreißig Metern Entfernung von dem dümpelnden Wasserfahrzeug auf. Er richtete sich zu seiner ganzen Größe auf und schien einen Tanz aufzuführen, während er eine Art rauen Gesang anstimmte.

Der Fischer war unter seine Bräune blass geworden und murmelte entsetzt: »Bei der Fee Iradielle! Das kann nur ein … ein Monager sein! Ein Monager … Ein Riesen-meeressäuger! Und so nah an der Küste!«

Tixu vergaß seine Müdigkeit, warf die Wasserdecke von sich, stand auf und beobachtete seinen Retter. Sein langes, mit spitzen Zähnen bewehrtes Maul schien zu lächeln, und seine sechs runden weißen Augen, direkt unter den Hörnern, blitzten fluoreszierend auf.

»Er hat uns gesehen!«, schrie der Fischer. »Wenn er uns jagt, enden wir auf den Schwarzen Inseln der Ager.«

»Beruhigen Sie sich«, sagte Tixu. »Er wird uns nicht jagen.«

Und wie um das Gesagte zu bestätigen, legte sich das große Säugetier auf den Bauch und schwamm mit kräftigen Bewegungen seiner Flossen aufs weite Meer hinaus. Jetzt begriff Tixu, dass sein Retter in der Nähe geblieben war, um sicherzugehen, dass der Fischer ihn rettete.

Als der Monager verschwunden war, hob Kwen Daël die Decke auf und legte sie Tixu um die Schultern.

»Sie sind ja völlig durchgefroren«, murmelte er verwirrt. »Aber … aber wie kommen Sie überhaupt hierher? Noch nie hat sich jemand außer mir so weit aufs Meer hinaus gewagt.«

»Der Deremat, mit dem ich auf Selp Dik gereist bin, war schlecht programmiert. Normalerweise hätte die Rematerialisation in Houhatte stattfinden sollen …«

»Davon sind Sie ziemlich weit entfernt, so viel ist sicher.«

Kwen Daël hatte einen kupfernen Becher unter den Hahn einer an der Rumpfwand befestigten Korbflasche gestellt. Als der Becher mit einer heißen grünen Flüssigkeit gefüllt war, reichte er ihn Tixu.

»Trinken Sie! Das dürfte Sie besser kräftigen als der Kuss eines Feechens.«

Der Oranger trank schlückchenweise, vorsichtig. Das Getränk schmeckte nach Anis.

»Alle halten mich für verrückt, weil ich mit meiner Aquakugel so weit hinausfahre«, sagte der Fischer. »Aber dieses Mal hat uns das Glück gelacht: Ihnen, weil ich Sie vor dem Ertrinken gerettet habe. Und mir, weil ich mit eigenen Augen einen Monager gesehen habe. Und nicht einen kleinen, sondern einen richtig großen! Einen schönen! Einen, der wenigstens achtzig Schritte lang und fünfzehn Schritte breit ist! He, aber woher wussten Sie, dass er uns nichts antun würde? Der Legende nach attackiert ein Monager sofort ein Meeresfahrzeug und bringt es zum Sinken. Denn diese Aufgabe wurde ihnen von den Magiern und den Feen übertragen.«

»Ohne ihn wäre ich schon längst ertrunken«, antwortete Tixu. »Ich geriet in einen Sturm. Als ich unterging, hat er mich gerettet und auf seinem Rücken getragen. Bis zu der Stelle, wo Sie mich fanden … Er hätte mich doch nicht gerettet, um mich dann zu töten.«

Kwen Daëls schmale blasslila Augen wurden vor Erstaunen rund. »Ein Monager soll so etwas getan haben? Einen Menschen vor dem Ertrinken aus dem Meer der Tränen der Feen von Albar gerettet haben? Aber die Monager sind seit Urzeiten die eingeschworenen Feinde der Menschen! Sie bewachen die Insel, wo einst die Armee ihrer Vorfahren ertrank, die Ager der Grenzen … Das ist eine Insel, die kein Menschenfuß je betreten hat … Und dieser Monager soll Sie gerettet haben?«

Doch Tixu war von dem Getränk und der wohligen aromatischen Wärme der Decke schläfrig geworden. Also zuckte er als Antwort nur mit den Schultern.

Kwan Daël merkte, wie erschöpft er war. »Ich gehe Ihnen mit meinen Fragen auf die Nerven. Schlafen Sie jetzt. Wir reden später noch einmal darüber. Mein Fischzug ist ohnehin beendet, und es ist Zeit, nach Houhatte zurückzukehren, wenn die Feen uns denn dorthin geleiten wollen. Schon morgen beginnen in der Stadt die Feierlichkeiten zum Gedenken an die heilsamen Tränen der Feen von Albar. Da müssen wir ausgeruht sein … Wie heißen Sie?«

Babsée Obraillènes Verrat auf dem Marquisat mahnte Tixu, doppelt vorsichtig zu sein. »Bilo Maïtrelly«, antwortete er deshalb. »Ich komme vom Planeten Roter-Punkt.«

»Schlafen Sie, Bilo. Nach diesem langen Aufenthalt im Ozean der Feen müssen Sie wieder zu Kräften kommen.«

 

Trotz des Gewichts des im Steven verstauten Fangs, der aus Fischen und Krustentieren bestand, glitt die Aquakugel leicht über die Wellen dahin. Bei Anbruch der Dämmerung kam bereits das Land in Sicht.

Der Fischer Kwen Daël – ein einzelgängerischer Mensch – wohnte mehrere Meilen von Houhatte entfernt. Sein von einem wunderlichen Onkel (wie Kwen sagte) aus schwarzem Stein erbautes, bizarres Haus thronte auf einem steilen Felsvorsprung über einer kleinen, geschützt gelegenen Bucht. Er lenkte seine Kugel durch eine schmale natürliche Fahrrinne und machte neben einem hölzernen Anlegesteg fest. An dem etwas weiter entfernten Strand aus Kieselsteinen lag der umgedrehte Rumpf eines antiken Schiffs, der dem Fischer als Depot für seine Materialien diente. Der alte Schiffsrumpf inmitten dieser wilden, naturbelassenen Landschaft bot ein pittoreskes Bild.

Kwen Daël kniete auf dem schwankenden Steg und warf den Stutzen samt passendem Rohr ins Wasser. Dann griff er hinein und schraubte ihn an die Schleusenkammer des Containers. Sofort wurde sein gesamter Fang – bunt schillernde Fische, große graue Taschenkrebse, bläuliche Hummer und schwarze Rochen – in das Rohr gesogen, und von dort gelangten sie in das Frischwasserbecken, wie Tixu durch das gewölbte transparente Dach darüber beobachten konnte.

»Von da aus befördere ich sie mit einer Pumpe in das Bassin in meiner Lagerhalle«, erklärte Kwen Daël und fügte hinzu, dass dieses geniale System sein Onkel erfunden habe.

»Er war so faul, dass er nie in die kleine Bucht hinuntergehen wollte … Aber das System ist perfekt, weil die Fischgroßhändler frische Ware schätzen …«

Als der Fischer diese Arbeit erledigt hatte, ging er mit Tixu zu der in den Fels gehauenen Treppe. Trotz Kwens Hilfe hatte der Oranger die größte Mühe, die Stufen zu bewältigen. Seine Beine und die Decke schienen Tonnen zu wiegen. Ihr langsamer Aufstieg störte die in den Nischen der rauen Wand nistenden Gelbmöwen und Silberkammtölpel auf. Sie kreischten empört.

Oben mussten sie noch ein Stück ödes, vom Wind gepeitschtes Heideland überqueren, auf dem struppiger Ginster wuchs, ehe sie das Haus betraten. Dessen einziger Schmuck an den Wänden bestand aus antiken Fischernetzen und präparierten Fischen.

Tixu war so müde, dass er sofort um ein Bett bat.

»Wollen Sie nicht zuerst etwas essen?«, fragte Kwen Daël.

»Später … Ich bin einfach zu erschöpft und brächte keinen Bissen runter.«

»Wie Sie wollen. Morgen früh bin ich in Houhatte, um das Fest vorzubereiten. Wahrscheinlich sind Sie dann beim Aufwachen allein. Aber tun Sie ganz so, als wären Sie bei sich zu Hause.«

Der Selpdiker brachte ihn in ein kleines Zimmer, dessen Wände mit Muscheln beklebt waren und das nach Schimmel roch. Die Möbel waren staubbedeckt. Aber das war Tixu egal. Wie ein Schlafwandler ging er auf das Bett in der Ecke zu – ein Bett mit einem alten Sprungfederrahmen und einer Matratze – das hätte bei einem Antiquitätenhändler auf Orange ein Vermögen gekostet, dachte er – und ließ sich darauffallen. Er schlief sofort ein und hörte nicht mehr, was sein Gastgeber sagte.

»Schon lange hat niemand mehr hier geschlafen. Aber wenigstens haben Sie in dem Zimmer Ihre Ruhe … Ich mache die Läden auf und lüfte etwas …«

In der Nacht wurde Tixu von Albträumen heimgesucht. Bedrohliche und groteske Meeresungeheuer umgaben ihn. Er wollte ihnen entfliehen und lief über ein glitschiges Meer, das immer mehr unter ihm nachgab, je weiter er lief. Der Kreis der Ungeheuer schloss sich um ihn, ihre spitzen Hörner waren so scharf wie Dolche. Plötzlich tauchte eine Insel unter seinen Füßen auf, wuchs aus dem Meer empor und hielt ihn zwischen hohen Felswänden gefangen. Er warf sich in den heißen Sand. Die Ungeheuer tauchten rund um die Insel auf und bewachten sie, sodass es ihm unmöglich war, auf das Schiff in der Ferne zu gelangen. Plötzlich öffnete sich der Sand und enthüllte den Körper einer jungen Frau, deren Gesicht er nicht erkennen konnte. Sie flehte ihn an, sie aus diesem schrecklichen Gefängnis zu befreien. Ihre Tränen, so salzig wie das Meer, liefen in ihren Mund, und er trank sie mit in höchster Verzückung. Er versprach ihr unter der Bedingung zu helfen, dass sie ihm ihr Gesicht zeige. Also wandte sie sich ihm zu. Ihr Gesicht war das einer alten zahnlosen Frau, ihre Augen waren trübe. Sie befahl ihm, sein Versprechen zu halten. Trotz seines Ekels reichte er ihr die Hand und wollte sie aus dem Sand ziehen. Doch seine Bemühungen waren umsonst … Der Sand verschlang sie alle beide, drang in ihre Münder, ihre Augen … Er merkte, dass der Kampf vergebens war und schrie die Frau an, sie solle ihn loslassen. Da lächelte sie ihn an, und ihr Gesicht verwandelte sich in das einer strahlend schönen jungen Frau.

Tixu öffnete die Augen. Es war ruhig und hell im Haus des Fischers. Nur leise hörte er vom Meer her die Schreie der Möwen und Tölpel. Er fragte sich, wie lange er geschlafen hatte und streckte sich voller Genuss, um seine malträtierten Muskeln zu entspannen. Dann stand er auf und ging äußerst vorsichtig – niemals hätte er sich vorstellen können, dass die Tatsache, festen Boden unter den Füßen zu haben, zu solchen Gleichgewichtsstörungen führen konnte – zu dem weit offen stehenden Fenster. Er beschattete seine Augen mit den Händen, bis sie sich an das seinem Empfinden nach grelle Tageslicht gewöhnt hatten, denn sie waren wegen des Salzes noch immer gereizt und empfindlich.

Nebelschwaden hüllten Felsen und Ginstersträucher ein. Die kleine Bucht unter ihm lag im Dunst, der über der Meeresoberfläche immer dichter wurde. Er hörte, wie die Brandungswellen an die Küste schlugen. Um das Haus wuchs eine Mischung aus gelben Kräutern und kleinen blauen Blumen. Als er genug gesehen hatte, ging er aus seinem Zimmer. Er fror, weil er nackt war. Er kam in ein großes, rundes, einfach möbliertes Zimmer, wahrscheinlich das Wohnzimmer. Auf einem Regal stand ein altes viereckiges Holofernsehgerät, das Bilder aus Venicia, der Hauptstadt des Kaiserreichs, übertrug. Das Fenster daneben gab den Blick auf einen gepflasterten kleinen Innenhof frei. Auf einem runden, einbeinigen Tischchen aus Holz (eine Kostbarkeit auf den Flohmärkten des Planeten Orange!) lagen ein roter Overall und ein Paar gelbe Stiefel sowie ein Zettel mit einer handschriftlichen Nachricht.

»Ziehen Sie diese Kleidung an. Sie ist sauber. Ich komme bald zurück. Zur Stärkung finden Sie etwas in der Küche. Mögen die Feen Sie beschützen. K.D.«

Tixu schlüpfte in den Overall. Er war ihm etwas zu groß, aber er hielt ihn warm und war sehr bequem. Dann zog er die Stiefel an, deren Rand sich automatisch hermetisch um seine Oberschenkel schloss. Lange hatte er die Bedürfnisse seines Magens ignoriert. Doch der meldete sich jetzt mit einem lauten Knurren. Als er an einem alten rissigen Spiegel vorbeiging, sah er, dass seine Haare teilweise vom Salz gebleicht waren, blonde, fast weiße Strähnen durchzogen es. Sein Bart kratzte ihn. Auch seine Haut juckte, aber das konnte er ertragen.

Der Fischer hatte gut vorgesorgt und auf dem Küchentisch bergeweise Essen aufgetürmt: in braune, grüne oder schwarze Algen eingewickelte Fische, Schalen- und Krustentiere. Tixu setzte sich auf einen Schemel und begann ausgehungert mit dem Festmahl. Er verzehrte mehrere Krabbenpasteten, Langusten und in einer Kräutersoße marinierte Fischfilets. Eine Flügeltür in der Küche ging auf einen zweiten kleinen Hof am Rand der Steilküste hinaus. Auf einer Leine hingen mehrere rote Overalls, wie er einen trug, und trockneten im Wind. Auf schwarzen flachen Steinen verschiedener Größe lagen Geräte zum Fischen: Meeressonden, magnetische Köder, sich selbst aufblähende Netze …

Die Stille, die im Haus Kwen Daëls herrschte, kam Tixu plötzlich verdächtig vor, so als wäre sie die Vorbotin eines verheerenden Sturms …

Lange stand er da und schaute auf den Hof. Als er nichts Anomales entdecken konnte, zuckte er mit den Schultern und kehrte zu seinem üppigen Mahl zurück.

In diesem Moment erschien der Inspobot der InTra. Die Küchentür zerbarst, Glas klirrte. Tixu, eine Hummerschere in der Hand, hatte keine Zeit zu reagieren. Vor ihm stand eine Art zwei Meter fünfzig großer schwarzer Pilz, dessen runder Hut mit Blinklichtern versehen war. In dem zylindrischen Leib steckte ein Mini-Deremat, dazu bestimmt, den Robotor und den Deserteur zum Hauptsitz der Gesellschaft zu transferieren. Wie versteinert saß Tixu auf seinem Schemel und starrte auf die Leuchtschrift auf dem winzigen Bildschirm unter dem Hut: InTra IP THU (InTra, Ins-Pobot, Modell Thu).

Da der Robotor zu groß für die Tür war, hatte er einfach die gesamte Öffnung demoliert. Schon traten aus den kurzen Rohren diese weichen, glitschigen Tentakel hervor, bereit, sich um den Körper und die Glieder seiner Beute zu schlagen. Doch ehe sich diese ekelhaften Blutegel an ihm festsaugen konnten, stieß Tixu den Küchentisch mit aller Kraft gegen den Inspobot. Die Tentakel minderten ihren Griff kaum, doch genug, damit der Oranger sich aus ihnen herauswinden konnte. Sofort sprang er über den umgeworfenen Tisch und rannte wie ein Verrückter in den kleinen Innenhof. Die Tentakel peitschten die Luft hinter ihm wie wütend zischende Schlangen, aber sie stießen ins Leere.

Tixu umrundete das Haus und lief, so schnell er konnte, vom dumpfen Brummen des Antriebswerks des mechanischen Spürhundes verfolgt. Fast wäre er in den vom Nebel verhüllten Abgrund gestürzt. Der Inspobot jedoch besaß alle seine Koordinaten und war ihm vom Planeten Zwei-Jahreszeiten bis hierher gefolgt. Er würde nie aufgeben. Das Modell Thu war unfehlbar.

Tixu stolperte über einen im Gestrüpp verborgenen Stein und fiel der Länge nach hin. Er stand sofort wieder auf, hatte sich aber Knie und Ellbogen aufgeschlagen, und seine Beine waren wie aus Watte und drohten, ihm den Dienst zu versagen. Er warf einen Blick über die Schulter zurück: Der schwarzen Riesenchampignon war nur ein paar Meter hinter ihm. Dann merkte er, dass er einen schmalen Pfad entlanglief, der auf einer Felsspitze endete, die wie der Schiffsbug einer antiken Galeere aussah.

Er fluchte, denn er war in eine Sackgasse gerannt. Über ihm kreischte aufgeregt ein Schwarm Gelbmöwen. Noch ein paar Schritte, und er würde in den Abgrund stürzen. Von Panik ergriffen blieb er stehen, lehnte sich an einen Felsvorsprung, versuchte, wieder zu Atem zu kommen und gleichzeitig seine Gedanken zu ordnen.

Der erbarmungslose Robotor vom Modell Thu stürzte sich auf ihn. Er war darauf programmiert, Deserteure einzufangen. Zum Denken taugte er nicht. Nur eine nukleare Waffe konnte ihn außer Gefecht setzen, wenn überhaupt … Die widerlichen Saugtentakel kamen immer näher. Alles war verloren.

Verzweifelt ließ sich Tixu zu Boden fallen. Die Tentakel umschlangen gierig seine Arme. Diese weiche, warme und glitschige Berührung verursachte ihm Übelkeit. Der Hut des Robotors drehte sich – schneller und schneller werdend – um die eigene Achse und sandte dabei ein grellbuntes Licht aus. Die Gelbmöwen schrien immer lauter.

Andere Tentakel glitten zwischen Tixus Beine und hielten sie fest. Er fühlte sich wie ein in einem Spinnennetz gefangenes Insekt, das seinen Todfeind ständig näher kommen sieht. Jetzt schossen Arme aus dem Zylinder, die metallenen Hände umklammerten mehrere Gegenstände: eine Spritze mit einer gelben Flüssigkeit – ein Narkotikum  –, ein vibrierendes, gezacktes Rädchen unbekannten Zwecks und schließlich eine Pinzette zur Entnahme einer Gewebeprobe.

Diese Situation war so absurd, dass Tixu Tränen aus bitterer Enttäuschung vergoss: Er war wieder da, wo er begonnen hatte.

Wegen Aphykit hatte er der InTra den Rücken gekehrt (eigentlich nicht ihretwegen; sie war nur das auslösende Moment, der Antrieb seines Handelns gewesen), und er kehrte in dem Augenblick zur InTra zurück, als er glaubte, die Syracuserin wiedergefunden zu haben. Doch jetzt meldete sich das Antra wieder. Es verscheuchte die finsteren Gedanken des Orangers und stellte jene absolute Stille her, in deren Herz nichts Böses geschehen konnte.

Trotzdem konnte Tixu den Blick nicht von dem Inspobot lösen, noch leistete er dem Ruf der Stille heftigen Widerstand. Denn eine panische Angst vor dem Robotor lies ihn an der Oberfläche seines Wesens verharren und er konnte nicht die heitere Gelassenheit innerhalb der Festung der Stille betreten. Zwar riet ihm seine innere Stimme, sich nicht dem Antra zu widersetzen, sondern loszulassen, nicht auf den trügerischen Schein hereinzufallen und die gefährliche Nabelschnur zum Verstand zu kappen. Noch lehnte sich Tixu auf, er kämpfte wie ein wildes Tier, das sich nicht fangen lassen will. Seine Panik wurde zu blankem Entsetzen, als sich die Pinzette seinem Hals näherte, während der Inspobot sein Programm abspulte, die zellulare Identifikation des Individuums nach Code Thu-BX 12-A, ehe die Programmierung zum Hauptsitz der Gesellschaft stattfand.

Angst und Verzweiflung trieben Tixu an seine physischen und mentalen Grenzen. Ihm blieb nur noch eins: die Augen zu schließen und sich den Schwingungen des Antras hinzugeben – dieser Akt glich einem Sprung ins Leere. Der Klang des Lebens erreichte die Festung der Stille, dort, wo Angst und andere Empfindungen ohne Bedeutung sind.

Die Pinzette drang in Tixus Hals ein und entnahm ihm eine Gewebeprobe. Dann verschwand der Arm in seinem stählernen Tresor durch ein kleines Loch, das sich mit einem Klick schloss. Und der Hut fing wieder mit seinen rasenden Drehungen an.

In der Festung der Stille versunken, öffnete Tixu wieder die Augen und beobachtete den schwarzen Robotor emotionslos, als neutraler Zeuge. Er hatte das Gefühl, sein Körper gehöre ihm nicht mehr. Ein unendlicher Friede lag über der Landschaft. Der morgendliche Dunst ließ die scharf gezackten Felsen der Küste weicher erscheinen; die Möwen und die Tölpel malten im Flug kunstvolle gelbe und graue Arabesken an den silbernen Himmel. Die Blüten des blauen Ginsters raschelten leise im leichten Wind, und die Wellen schlugen rhythmisch ans Ufer. Auch die Natur sang das Lied der Stille, vibrierte in ihr. Das ganze Leben war vom Licht der Stille durchtränkt.

Der Inspobot stieß ein seltsames Stöhnen aus. Der Hut hörte auf sich zu drehen, die Lichter blinkten nicht mehr, die Tentakel lockerten ihren Griff. Die Stromkreise des Roboters schalteten sich einer nach dem anderen ab. Es schien, als hätte es einen Kurzschluss gegeben.

Ermutigt durch das plötzliche Erstarren des schwarzen Riesenpilzes flogen ein paar kühne Möwen näher heran und inspizierten das seltsame Objekt.

Eine Schutzklappe glitt zur Seite und gab einen weißrötlichen Bildschirm frei, auf dem folgender Text zu lesen war:

»Code Thu IPW 4 C: Irrtum. Ihre zellulären Daten stimmen nicht mit denen der gesuchten Person überein. Unsere Memodisk muss eine falsche Information gespeichert haben. Beschwerden richten Sie bitte an den Hauptsitz der Intergalaktischen Transportgesellschaft, Rabanan, Gebäude El Boukr. Unter dem Code: InTra IR 22 IPW 4 C.«

Diese unerwartete Wendung der Dinge, die Tixu früher nicht für möglich gehalten hätte, wunderte ihn jetzt nicht mehr. Das Modell Thu konnte sich nicht geirrt haben. Also gab es eine einzige Erklärung: Seine DNA hatte sich während seines Versinkens in die Stille verändert und stimmte nicht mehr mit den Angaben des Inspobots überein.

Die Tentakel lösten sich sanft von ihm, so als wäre der Roboter peinlich berührt. Sie verschwanden samt ihren Röhren unter dem Hut. Die Klappe glitt wieder über den Bildschirm. Der Inspobot programmierte seinen Autotransfer auf Rabanan, wo er akribischen Untersuchungen auf seine Funktion unterzogen werden würde. Nach kurzem Rauschen verschwand er in einer dichten Nebelbank. Jetzt hatte er die Spur des desertierten Angestellten der InTra T.O.O.-Code Thu-BX 12-A für immer verloren.

Tixu verließ langsam die Festung der Stille. Er war entspannt, heiter und gelassen. Seine Erschöpfung war wie durch einen Zauber verflogen. Verschwunden waren seine Schmerzen, die juckende Haut, sein Muskelkater. Eine neue Kraft strömte in seinen Körper, in jedes Glied, in jedes Organ. Dieses Gefühl des Wiedergeborenseins hatte er schon in der Hütte des sadumbischen Ima Kacho Marum verspürt, nachdem er vom Wasser der großen Flussechse getrunken hatte. Jetzt war er überzeugt, diese ewige Erneuerung ständig erfahren zu können und nicht nur episodisch, wie vorher geschehen. Und er nahm sich vor, mit Hilfe des Antras diese verborgenen Geheimnisse seiner Physiologie systematisch zu erforschen. Wenn der Klang seine DNA verändern konnte, war er sicherlich ebenfalls imstande, in andere Bereiche vorzustoßen. Also atmete er frohen Mutes die jodreiche Luft ein und ging langsam in Kwen Daëls Haus zurück.

 

Als der Fischer zwei Stunden später dorthin zurückkehrte, sah sich Tixu geistesabwesend eine Aufzeichnung über das Leben des Kaisers an. Kwen Daël war zu Fuß von Houhatte querfeldein marschiert. Heute trug er seine Festtagskleidung: eine weiße knielange Jacke über einem bunt gemusterten Hemd mit weitem Kragen, schwarze mit einer grünen glänzenden Tresse bestickte Pluderhosen und dazu blank geputzte Schuhe aus Querwallïenhaut gefertigt  – der Haut einer Seeschlange mit schmackhaftem Fleisch, deren Schuppenhaut wegen ihrer Qualität überall sehr geschätzt wurde. Sein weißes volles Haar, das normalerweise von einem Band zusammengehalten wurde, hatte er auf dem Kopf zu einem Knoten gebunden.

»Ah! Sie haben meinen Rat befolgt, Reisender des Meeres!«, begrüßte er seinen Gast herzlich. »Die Feen von Albar sind Ihnen wohlgesonnen. Es gibt nicht viele Schiffbrüchige, die lebend der Bitterkeit ihrer Tränen entronnen sind. Vielleicht gewährten sie Ihnen diese Gunst, weil heute die Festlichkeiten ihnen zu Ehren beginnen. Ich habe heute Morgen in der Stadt von Ihrer Rettung erzählt. Alle Welt betrachtet Sie bereits als Held der Gedenkfeier. Ein Überlebender der Tränen am Festtag der Feen, das ist einmal ein gutes Vorzeichen! Das verspricht ein reiches, fruchtbares Jahr zu werden! Schalten Sie doch dieses Gerät aus, es übermittelt uns nur schreckliche Nachrichten. Mir gefällt nicht, was zurzeit gesendet wird …«

Tixu stand auf, schaltete das Gerät aus und ging zu seinem Gastgeber. »Haben Sie Ihren Freunden auch erzählt, dass Sie mich gerettet haben?«, fragte er lächelnd. »Hätten Sie es nicht getan, würde das Jahr vielleicht nicht so fruchtbar werden.«

»Pah, ich bin nichts als das unwissende Instrument der weisen Magier«, protestierte der Fischer, ohne das geringste Anzeichen falscher Bescheidenheit in der Stimme. »Allein sie sind es, die mich zu Ihnen geführt haben. Dafür habe ich … ich habe niemandem etwas von dieser unglaublichen Geschichte mit dem Monager erzählt … Sie hätten mich schon als Lügner bezeichnet, wenn ich ihnen nur gesagt hätte, dass ich mit eigenen Augen einen Monager gesehen habe. Deswegen ist es schwer vorstellbar, ihnen zu erklären, dass er Sie aus dem Meer der Tränen von Albar gerettet hat und dass er meine Ozeankugel nicht angegriffen hat … Obwohl genau das geschehen ist! Dieser zu einem Monager gewordene Ager, der an den Gestaden der schwarzen Inseln lebt, hat uns beiden nichts angetan. Ich gestehe, dass mich diese Tatsache fast die ganze Nacht beschäftigt hat. Ich habe mich gefragt, ob ich nicht in einem Albtraum lebe, wie einst das Feechen Étincelle, als der Ager sie im Traum besuchte und ihr böse Gedanken eingab … Die meisten Selpdiker sind überzeugt, bei den Monagern handele es sich um Fabelwesen, die nur in der Fantasie von Kindern und Menschen einfachen Gemüts existieren. Gütige Feen! Hätte ich meinen Freunden erzählt, dass ich einen leibhaftigen Monager, hundert Schritte lang und dreißig Schritte breit, gesehen habe, sie hätten mich für geisteskrank erklärt, so sicher, wie ich Kwen Daël heiße. Kwen Daël, ein Nachkomme Abertausender Generationen von Fischern und Lügnern!«

»Vielleicht ist es besser so«, entgegnete Tixu, den die Geschwätzigkeit seines Gastgebers amüsierte.

»Da muss ich Ihnen Recht geben … Sie haben doch genug gegessen?«

»O ja. Es hat köstlich geschmeckt. Aber … hm … Bitte, kommen Sie. Ich zeige es Ihnen.«

Tixu ging in die Küche voran und deutete auf die zerstörte Tür. »Während Ihrer Abwesenheit hat mich ein Inspobot einer Transportgesellschaft angegriffen. Es war ein Irrtum. Nachdem er mich überprüft hatte, ist er wieder verschwunden … Aber er hat Ihre Tür demoliert.«

Ein seltsames Licht glänzte in den blasslila geschlitzten Augen Kwen Daëls, als er Tixu jetzt ansah.

»Also, Sie sind mir einer! Sie sind kein gewöhnlicher Mensch!«, murmelte er. »Erst werden Sie von einem Monager gerettet, und dann irrt sich eine dieser Inspektionsmaschinen! Das sind schon sehr ungewöhnliche Abenteuer, die Ihnen da innerhalb weniger Stunden widerfahren! Schier unglaubliche Geschichten sind das, so unwahrscheinlich, dass man sie nicht einmal erzählen kann! Und sie klingen noch unglaublicher, wenn sie aus meinem Mund kommen … Meine Familie hat nun mal diesen schlechten Ruf, das müssen Sie verstehen …«

»Das tut mir leid, wirklich. Wenn Sie den Schaden von der Transportgesellschaft ersetzen lassen wollen, ich habe alle nötigen Daten.«

»Ach, zerbrechen Sie sich nicht den Kopf wegen dieser Tür. Ich repariere sie bei Gelegenheit. Fühlen Sie sich schon stark genug, mich nach Houhatte zu begleiten?«

»Ich bin topfit.«

Dieser Vorschlag kam Tixu wie gerufen. Denn in der Stadt wollte er sich informieren, ob es eine Möglichkeit gebe, ins Kloster des Ordens der Absolution zu gelangen. Seinen Gastgeber wollte er nicht fragen, weil er fürchtete, der Fischer könne dann in große Schwierigkeiten geraten. Noch immer konnte er sich nicht verzeihen, die Töchter Geofo Anidolls auf Marquisat in eine so prekäre Lage gebracht zu haben, denn er wusste, dass die mentalen Inquisitoren und die Pritiv-Mörder sie nicht in Ruhe gelassen hatten. Diesen Fehler wollte er bei Kwen Daël nicht wiederholen: Je weniger der Fischer wusste, umso mehr war er in Sicherheit.

»Ausgezeichnet!«, sagte der Selpdiker. »Sie sind so kräftig wie ein junger Zauberer. Wir nehmen den Weg übers Meer, er ist kürzer und weniger ermüdend.«

»Aber … der Nebel?«

»Der wird sich bald lichten … Die Möwen und die Tölpel tauchen schon vom Felsen herab …«

Nach ein paar Vorbereitungen gingen die beiden über die glitschige Steintreppe hinunter zum Bootssteg, wo die Aquakugel vertäut lag. Der Nebel löste sich schnell auf, wie der Fischer gesagt hatte. Ein kräftiger, von der See her wehender Wind trieb dunkle Wolken auf die Küste zu.

»Wir müssen uns beeilen, wenn wir Houhatte vor dem Sturm erreichen wollen«, sagte Kwen Daël mit einem prüfenden Blick zum Himmel. »Aber der Sturm ist ein gutes Omen für das Fest der Tränen. Denn er bedeutet, dass die Götter selbst daran teilnehmen. Als Zeichen dafür schicken sie uns ihre Tränen.«

Der Steg ächzte und knarrte unter den Windböen und dem aufschlagenden Wasser. Die Möwen und Tölpel stürzten kopfüber hinab in die von Gischt gekrönten Wellen. Dann tauchten sie mit zappelnden kleinen Fischen in den Schnäbeln wieder auf, die sie auf den Klippen, fern von ihren räuberischen Artgenossen, in aller Ruhe verzehrten.

Kwen Daël dirigierte sein Fahrzeug geschickt durch die schmale Fahrrinne und nahm Kurs entlang der Felsküste. Die jetzt leere Aquakugel gewann schnell an Fahrt. Ihr Kiel schien die Wellen nur flüchtig zu berühren, und das mobile Deck blieb immer in der Horizontalen. So hatte Tixu das angenehme Empfinden, ruhig dahinzugleiten.

Bald kam ein großes, von vier runden Türmen flankiertes Gebäude in Sicht, in dessen Mitte sich ein viereckiger, weißer Bergfried erhob. Es war von einer hohen, aus grob behauenen gelben Steinen bestehenden Festungsmauer umgeben, in die Schießscharten eingelassen waren und an deren Fuße sich die Wellen des Meeres brachen. Sie stellte ein eindrucksvolles Bollwerk gegen alle Feinde dar. Tixu brauchte den Fischer nicht zu fragen. Intuitiv wusste er, dass diese imposante Anlage der Sitz der Ritter der Absolution war – gleichsam als eine Herausforderung gegenüber dem Meer der Feen von Albar errichtet.

Als hätte Kwen Daël Tixus Gedanken gelesen, erklärte er: »Das Kloster des Ordens! Leider haben wir jetzt Flut, deshalb können Sie die Ritter nicht trainieren sehen.«

Unterschwelliger Stolz schwang in der Stimme des Fischers mit, denn er war wie alle Bewohner dieses Planeten von einem naiven, fast kindlichen Stolz auf den Orden erfüllt.

Je näher die beiden der äußeren Festungsmauer kamen, umso höher schien sie in den Himmel zu ragen – in fast schwindelerregende Höhen.

»Man könnte glauben, dass die Feen selbst dieses Kloster errichtet haben«, fügte Kwen Daël hinzu. »Diese Mauern sind mehr als dreihundert Meter hoch und wurden aus tonnenschweren Felsblöcken errichtet. Weder ich noch irgendein anderer Selpdiker hat jemals das Innere dieser Anlage betreten. Aber ich habe gehört, es soll eine richtige Stadt dort geben.« Jetzt senkte der Fischer die Stimme und sprach so leise, dass Tixu ihn kaum noch verstehen konnte. »Wie es scheint, soll es zum Kampf zwischen den Armeen des neuen Kaiserreichs und den Rittern des Ordens kommen. Jedenfalls erzählen das die Handelsreisenden, die Houhatte besuchen. Mögen uns die Feen und die Zauberer vor einem solchen Krieg bewahren! Denn wir haben noch nie unter einer fremden Besatzungsmacht gelitten …«

Tixu hütete sich, dem armen Mann das Geheimnis der schrecklichen mentalen Terminatoren zu enthüllen. Er starrte die Festungsmauer an, an der sie nun schon seit geraumer Zeit vorbeifuhren. Irgendwo hinter dieser Mauer war Aphykit. Nur diese mächtigen Steine trennten ihn noch von ihr, von ihrer Schönheit, ihrem Licht. Er hätte sich am liebsten gewünscht, der Fischer würde hier für einen Moment ankern, damit er seine momentane Euphorie voll auskosten könnte.

Doch schon wurde er wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, denn ihm wurde klar, dass es in dem Labyrinth hinter diesen Mauern sehr schwer werden würde, die junge Frau ausfindig zu machen. Intuitiv schloss er die Augen. Nachdem das Antra wieder Leere in seinem Kopf geschaffen hatte, zog er sich in die Stille der Festung zurück.

Wie schon Babsées Reisebüro auf dem Planeten Marquisat, sah er nun die Klosteranlage vor sich – oder vielmehr, er spazierte im Geist darin umher, während er physisch auf der Aquakugel blieb.

Als Erstes entdeckte er eine große Esplanade, auf der in bronzefarbene Gewänder gekleidete junge Männer geschäftig umhergingen, und Lebensmittel oder verschiedene Gerätschaften transportieren. Dann sah er ein Gewirr steiler, ineinander verflochtener Treppen mit ausgetretenen Stufen, die alle in den Rundweg um den Platz mündeten. Er drang ins Zentrum dieses Ameisenhaufens vor, in die Gebäude, mit ihren unzähligen spartanisch eingerichteten Zellen; den Refektorien, mit ihren langen Tischen und Bänken aus massivem Holz; den dunklen und feuchten Sälen, in denen junge Männer im Schneidersitz auf dem Boden saßen und mit fast religiöser Hingabe den Worten alter weiß gekleideter Männer lauschten; in Innenhöfe, in denen Männer in grauen Kutten – eine solche hatte der Ritter Long-Shu Pae getragen – Schreie ausstießen, die aufgehäufte runde Steine zum Explodieren brachten … Er besuchte noch andere Räume, Gänge, Flure, Galerien, Türme, Mansarden, Bibliotheken, Videoholotheken, Mentalotheken; dunkle, hermetisch abgeschlossene Kellerräume, die Geheimnisse bargen; Behandlungszimmer und Laboratorien, in denen Männer in roten Gewändern arbeiteten; Säle für die Wachmannschaft …

Die Klosteranlage war derart weitläufig und komplex, dass sich selbst ein mit den Örtlichkeiten vertrauter Mann in diesem Labyrinth verirrt hätte. Und genau dieses Ziel schienen die Erbauer auch verfolgt zu haben: dass sich ein ungebetener Besucher darin verirrte.

Tixus Geist durchdrang die Materie so leicht wie ein fester Körper die Luft durchdringt. Er wagte sich weiter in eine Reihe halb verfallener unterirdischer Tunnel vor, die sich sowohl unter der Erde entlangzogen als auch in den Felsen gehauen waren. Er gelangte in eine unter dem Schutzwall liegende, feuchte, dunkle Krypta voller antiker Buchfilme aus längst vergangenen Zeiten und angeschimmelten Videoholos. Das Videoholo-Lesegerät lag auf einem großen flachen Stein, einer nackten verrußten Wand gegenüber. Ein umgestürzter Schrank lag mit offen stehenden Türen auf dem Boden. Sein Inhalt – elektronische Wanzen, Drähte, Spulen, Schrauben, Nägel, Tuben mit Klebstoff – lag verstreut in einer Lache Brackwasser. Auf einer Treppe lag das zerbrochene Gitter des Kellerfensters. Tixu inspizierte die Treppe näher, betrachtete die ausgetretenen Stufen, auf denen an einigen Stellen Felsbrocken lagen. Er näherte sich dem Tageslicht, trübe und dunstig, und entdeckte, dass man diese Treppe nur bei Flut erreichen konnte. Ein Mauervorsprung verbarg sie vor neugierigen Blicken.

Sein Geist stieg wieder in die Krypta hinunter und verließ sie dann durch einen anderen Ausgang, über verschlungene unterirdische Treppen und durch Gänge. Er ging durch Räume, in denen ein diffuses Licht herrschte und in denen sich Männer in blauen Kitteln anscheinend mit Forschungsarbeiten beschäftigten. Ein alter Mann mit einem abstoßend hässlichen Gesicht ging von einer Gruppe zur anderen und schimpfte sie in harschem Ton aus.

Plötzlich gelangte Tixu in eine mit einer abgenutzten Wassertapete ausgekleidete Zelle, die in gedämpftes Licht getaucht war. Ein Meter über dem gefliesten Boden schwebte ein Bett. Und darauf lag unter einer dunkelgrünen Decke Aphykit. Nur ihr golden funkelndes Haar, ihr Gesicht und ihr Hals waren zu sehen. Sie schlief nicht. Denn unruhigen Blick ins Nichts gerichtet, wurde sie von fiebrigen Träumen heimgesucht. Und wieder musste Tixu die kristallene Reinheit ihrer Gesichtszüge bewundern. Selbst die Krankheit hatte ihrer fast überirdischen Schönheit nichts anhaben können. Er versuchte, mit dem Geist der jungen Frau in Kontakt zu treten, aber der ihre befand sich auf einem zu oberflächlichen Niveau, um den Ruf der Stille zu vernehmen. Doch Tixu ließ sich nicht entmutigen: Er suchte nach einem Weg, um sie von seiner unsichtbaren Anwesenheit in Kenntnis zu setzen. Dann musste er Schlimmes erfahren. Aphykits Gedanken beschäftigten sich ausschließlich mit dem Krieger, der sie vom Planeten Roter-Punkt entführt hatte. Ausgerechnet dieser Mann, dessen Arroganz Tixu unerträglich gewesen war – wahrscheinlich, weil er während ihres kurzen Zusammentreffens bereits geahnt hatte, dass sie Rivalen waren – beherrschte Aphykits Gedanken.

Tixu war derart schockiert, dass er sofort den Kontakt mit der Stille verlor und brutal in die Realität zurückgeworfen wurde. Er lag auf dem Boden der Aquakugel, und ein besorgter Kwen Daël beugte sich über ihn.

»Ich hielt Sie schon für tot. Ihre Augen schlossen sich, und Sie sind wie ein nasser Sack zu Boden gefallen. Aber wahrscheinlich haben Sie nur einen Ohnmachtsanfall erlitten, weil Sie zu lange im Meer der Tränen der Feen gebadet haben …«

»Das muss es wohl gewesen sein«, murmelte Tixu.

Am liebsten hätte er den Fischer und dessen Feen zum Teufel geschickt. Finstere Gedanken türmten sich in seinem Schädel auf, so finster und drohend wie die Wolken am Himmel. Plötzlich kam ihm die Situation völlig absurd vor.

Er sah sich, wie er vor ein paar Tagen noch, in seinem heruntergekommenen Reisebüro auf Zwei-Jahreszeiten gesessen hatte, aufgeschwemmt, träge und vom Leben angeekelt. Und allein die Sehnsucht, das Begehren nach Aphykit hatte ihn dazu bewogen, ihr zu folgen. Doch jetzt, wo diese Sehnsucht sehr wahrscheinlich vergeblich sein würde, gab es keinen Grund mehr weiterzukämpfen. Er bedauerte, dass der Monager ihn gerettet hatte. Er bedauerte, dass der Inspobot ihn nicht erkannt hatte. Er bedauerte, dass er noch am Leben war. Also überhörte er absichtlich die innere Stimme des Lebens und gab sich dem Selbstmitleid hin. Dieser emotionale Schock beraubte ihn jeglicher subtiler Wahrnehmung in demselben Maße, wie Aphykit durch ihre Gefühle für den Krieger dieser Fähigkeit beraubt worden war.

In einem selbstkritischen Moment tadelte er sich, dass er seinen verletzten Gefühlen so nachgab und sich in ihnen wand, und er ermahnte sich, dass es besser wäre, den Ort der Stille wieder aufzusuchen, um zur Normalität zurückzufinden. Hatte er denn nicht auf diese Weise den Inspobot besiegt?

Trotzdem beschloss er, seine Verzweiflung noch ein wenig auszukosten. Masochistisch gab er sich dem Gefühl hin, besiegt worden zu sein; so als wäre ihm das lange Verweilen im grenzenlosen Frieden der Tiefe unerträglich geworden und er müsse sich nun zum Ausgleich einer stürmischen, obsessiven Leidenschaft hingeben.

Diese Leidenschaft, das war die besitzergreifende Liebe zu Aphykit, die Abhängigkeit, in die er sie zwingen wollte; und die tiefe Kränkung, sie einem anderen Mann überlassen zu müssen. Was bedeutete, dass Aphykit ein anderes Gefängnis gewählt hatte als jenes, das er für sie vorgesehen hatte.

Da begriff Tixu, dass dieses maßlose, ihn beherrschende Begehren etwas sehr Kindliches in sich barg, dass es das Begehren von früher war und dass er diese Art des Begehrens für immer vergessen müsse, um dann endlich die Nabelschnur, die ihn noch immer mit seiner Vergangenheit verband, durchtrennen zu können.

»Wir sind gleich da«, verkündete Kwen Daël schüchtern, denn er spürte, dass sein Gast eine wichtige Rolle in der Erfüllung der Prophezeiungen der Feen von Albar spielen würde. Auch das Auftauchen des Monagers hatte einen großen Eindruck in ihm hinterlassen.

Und während er in der vergangenen Nacht schlaflos dagelegen hatte, war ihm der Gedanke gekommen, ob dieser Fremde nicht ein Magier aus alten Zeiten sei, der von den wundervollen grünen Inseln gekommen war, um auf dem Planeten Selp Dik den Grundstein für eine neue Zivilisation zu legen.

 

Ganz langsam tauchten im Nebel die Umrisse der hohen weißen mit roten Ziegeln gedeckten Dächer der Häuser von Houhatte auf. An der Mole im Hafen lagen vertäut die Aquakugeln der Fischer. Die einige Tausend Einwohner zählende Stadt nahm nicht viel Raum ein. Die Bevölkerung lebte fast ausschließlich vom Fischfang und der Ausbeutung der Ressourcen des Meeres. Sie waren friedliche Menschen, aber sehr auf ihre Unabhängigkeit bedacht und wurden von einem alle drei Jahre zu wählenden Rektoraktsrat regiert. Sie waren auf ihr friedliches Zusammenleben mit dem Orden der Absolution stolz. Doch dessen Existenz auf ihrem Planeten bot ihnen den unschätzbaren Vorteil, dass das Risiko einer Invasion praktisch nicht existierte. Deshalb besaßen sie weder Verteidigungskräfte noch Verteidigungsanlagen. Und die Ritter des Ordens mischten sich nie in ihre lokalen Angelegenheiten. Sie lebten – von seltenen Ausnahmen abgesehen – innerhalb ihrer Klostermauern. Allein junge Aspiranten, die den Rittern als Laufburschen dienten, kamen nach Houhatte, um dort große Mengen Fisch und Krustentiere zu bestellen.

Hinter der Vorstadt, hinter den letzten weißen Fassaden mit ihren kleinen runden oder ovalen Fenstern und den Balkonen aus schwarzem Schmiedeeisen, hinter den engen, gewundenen, steilen Gassen wuchsen ein paar Hektar Wald, richtige Bäume, die sonst auf dem steinigen Boden von Albar nirgendwo gediehen.

Kwen Daël deutete mit einer weit ausholenden Geste auf das Grün des Hügels. »Der Wald der Zauberer, der Magische Wald. Dort wird später das heilige Spiel der Legende stattfinden.«

Der aufkommende scharfe Wind peitschte das Meer auf und schaumgekrönte Wellen schlugen auf den Rumpf der Aquakugel. Das Boot schaukelte jetzt so stark, dass der mobile Boden nicht in der Lage war, die Stöße auszugleichen. Tixu konnte kaum noch sein Gleichgewicht halten. Er klammerte sich an den »Nicht-Stolper-Griffen« fest, die der Fischer mit einem Lachen per Knopfdruck aus dem gewölbten Dach seines Wasserfahrzeugs hervorgeholt hatte. Trotz der bewegten See konnte Tixu erkennen, dass sich die Stadt festlich geschmückt hatte: Kränze aus getrockneten Blumen waren an den Haustüren angebracht, über den Straßen hingen Girlanden aus bunten Seesternen, auf den Plätzen brannten grüne und gelbe Feuer. Die Einheimischen hatten sich untergehakt und sangen aus vollem Hals alte Abzählreime. Die Männer waren wie Kwen Daël gekleidet, und die Frauen trugen weite Röcke und weiß oder schwarz bestickte Blusen, die mit Perlmutt verziert waren. Außerdem trugen sie Silberketten mit kleinen Glöckchen um die Fesseln, die bei jeder Bewegung klingelten. Ihr offenes Haar hatten sie mit bunten Bändern geschmückt, die fröhlich im Wind flatterten. Ihr Gesang, das Dröhnen der Brandung, das Geschrei der Seevögel und das Klingeln der Glöckchen bildeten eine unvergleichliche und trotz des aufziehenden Unwetters heitere Geräuschkulisse.

Als Kwen Daël endlich an der Mole anlegte und seine Aquakugel festmachte, fielen die ersten Regentropfen.

»Die Tränen der Feen! Die Tränen der Feen! Das wird ein gutes Jahr. Die Feen sind mit uns.«

Und der Regen wurde immer heftiger, so als würde er an dem Fest teilnehmen. Er trommelte laut auf die glänzenden Dächer und das Pflaster, und begleitete mit seinem rhythmischen Trommeln die tanzenden Menschen. Tixu wurde von den Feiernden mitgerissen, und bald waren alle bis auf die Haut durchnässt. Die dünnen Blusen klebten regennass an den Brüsten der Frauen. Der Wind blähte ihre Röcke und entblößte ihre Beine bis zu den Hüften. Darunter trugen sie nichts.

»Heute ist unser Festtag!«, sagte Kwen Daël zu Tixu. »Heute sind alle Frauen Feen und alle Männer Zauberer. Heute gibt es weder Ehemänner noch Ehefrauen …«

Dann rief er den Leuten zu: »Hier ist der Mann, von dem ich euch heute Morgen erzählt habe. Das ist Bilo. Er ist den Gefahren des Ozeans der Tränen entkommen …«

Und die Frauen gingen zu Tixu, sie streichelten ihn. Die Regentropfen glitzerten wie Perlen auf ihren Lippen, und in ihren Haaren. Flaschen mit einem süßsauren Getränk machten die Runde. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit schien die Menschen noch fröhlicher zu stimmen. Sie lachten, tanzten immer schneller, neckten sich mit zweideutigen Bemerkungen. Sogar die Kinder taumelten wie berauscht durch die Straßen. Sie hatten Fackeln in der Hand, die weiße Sterne sprühten.

Tixu fand sich auf einem viereckigen Platz inmitten einer Gruppe Frauen wieder, die ihm die ersten Schritte des Mazakawen – des Tanzes der Zauberer, mit dem sie die Feechen umwarben – beibringen wollten. Er war völlig durchnässt und das Haar klebte ihm am Schädel.

Das bernsteinfarbene Gebräu, das er praktisch gegen seinen Willen hatte trinken müssen, stieg ihm langsam zu Kopf. Einen Moment lang glaubte er, dass er träume, dass er noch immer in der Taverne der Drei Brüder auf Zwei-Jahreszeiten sei und die alten Prostituierten ihm Avancen machten. Eine Frau küsste ihn, ihre flinken Hände glitten über seinen Oberkörper, dann tiefer. Sie umfasste sein Glied, und es wurde steif. Die Frau hob ihren Rock und presste sich an ihn. Sie stöhnte. Tixu glaubte, dass alle sie anstarrten, aber dann merkte er, dass die anderen nur mit sich selbst beschäftigt waren, dass sich überall auf dem Platz Paare gebildet hatten … Sie liebten sich, wo sie gerade standen oder lagen, auf dem Straßenpflaster, auf Bänken, unter Torbögen …

Und die Kinder schienen das alles völlig normal zu finden. Die Spiele der Erwachsenen interessierten sie nicht. Sie liefen weiter fröhlich über die Straßen und stießen schrille Schreie aus.

Ohne Tixus Geschlecht loszulassen, knöpfte die Frau mit der anderen Hand hastig ihre Bluse auf, streifte ihren Rock ab, zog am Reißverschluss von Tixus Overall und streifte ihm das Kleidungsstück über die Schultern. Der Regen schien sie überhaupt nicht zu stören. Tixu atmete den Duft ihrer Haut ein, und ihn überfiel ein heftiges Verlangen. Er packte sie am Nacken und küsste sie so wild, dass ihrer beider Zähne aufeinanderschlugen. Ihre Brüste wurden von seinem Oberkörper platt gedrückt, während ihre Hand noch immer seinen Penis umfangen hielt, der gleich zu explodieren drohte. Mit einer heftigen Bewegung streifte Tixu seinen Overall ganz ab. Die Regentropfen und der Wind auf seiner nackten Haut steigerten seine Begierde noch. Die Frau legte sich aufs Pflaster und spreizte die Beine. Er kniete sich hin und betrachtete ihr Geschlecht unter den schwarzen Locken ihres Schamhaars  – und ohne zu wissen warum, traten plötzlich Tränen in seine Augen, vermischten sich mit den Tropfen des Regens. Dann legte er sich auf sie und drang mit verzweifelter Wut in sie ein.

Der Ozean der Feen von Albar gab sich ungezügelt seinem Zorn hin. Gigantische, schaumgekrönte Wellen bestürmten die Hafenmole, und schwarze Wolken verfinsterten den Tag vor der Zeit.

 

Über Houhatte war der lang gezogene Ton eines Tritonshorns zu hören.

Kwen Daël ging zu Tixu, der gerade nachdenklich seine Kleidung wieder ordnete. Die Frau war verschwunden, nachdem sie ihn noch einmal leidenschaftlich geküsst hatte. Noch nackt hatte sie ihre Kleider zusammengerafft, und war in einer auf den Platz mündenden Gasse verschwunden.

»Wie ich sehe, hat der Magier seine Fee gefunden«, sagte Kwen Daël. »Die Stunde ist gekommen, wo das heilige Spiel der Legende aufgeführt wird. Danach feiern wir weiter.«

Aus allen Straßen Houhattes strömten jetzt die Menschen herbei, bildeten einen bunten schweigenden Festzug und strebten dem Wald zu. Alle Gesichter, auch die der Kinder, waren nun ernst. Die Prozession erreichte bald den Saum des Waldes. Tixu war durch und durch nass, als er das Unterholz betrat. Dort fielen die Tropfen spärlicher. Die heftige erotische Begegnung hatte Spuren an ihm hinterlassen. Sein Mund und sein aufgekratzter Rücken schmerzten. Er versuchte, nicht an Aphykit zu denken, weil er das Gefühl hatte, sie verraten zu haben. So marschierte er etwa einen Kilometer zwischen nassen Farnen und unter dem Blätterdach knorriger Eichen dahin. Von Zeit zu Zeit warf er dem neben ihm gehenden Fischer einen fragenden Blick zu, doch Kwen Daël beantwortete die unausgesprochenen Fragen Tixus nur mit einem Lächeln oder Schulterzucken.

Der Pfad mündete schließlich in eine weite, runde Lichtung, die Wind und Regen preisgegeben war. Ohne sich um das Wetter zu kümmern, verteilten sich die Selpdiker am Rand. In der Mitte dieser Lichtung gab es eine mit einem gelben Vorhang versehene Bühne. Davor standen zwei alte Männer, die aufmerksam beobachteten, wie sich die Menge verteilte. Ihre langen weißen Bärte bildeten einen starken Kontrast zu ihren schwarzen Tuniken.

Als alle ihre Plätze eingenommen hatten, blies einer der Greise zweimal in das Tritonshorn, das an seinem Gürtel gehangen hatte. Die Menschen um Tixu schienen in einem jahrtausendalten Zauber gefangen. Ihre Augen glänzten.

Dann zogen die beiden Alten den Vorhang auf und traten an den Rand der Bühne. Die Szene stellte das magische Königreich dar: das antike Selp Dik. Ein kleiner Springbrunnen, der zwischen zwei Kristallfelsen, auf denen winzige weiße Kugeln lagen, das Wasser des langen Lebens spendete.

Kwen Daël erklärte Tixu, dass dieser Kristallfelsen noch lebe und außergewöhnlich nahrhafte Früchte mit aphrodisiakischer Wirkung hervorbringe, und dass die Majiken – die Priester der Magie – dem Felsen die größtmögliche Pflege angedeihen ließen, damit er während der alljährlich stattfindenden Feierlichkeiten das Band zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen dem Untergang und der Wiedergeburt des Königreichs der Magie erneuere und festige.

Rechts und links vom Brunnen sitzen zwei junge Frauen, die die Rollen von Flammèche und Étincelle spielen, die Töchter der Fee Iradielle und des Magiers Gudevure. Sie tragen leichte Gewänder aus Seide, die ihre Körper kaum verbergen, umso mehr, da der Regen die Seide durchsichtig macht. Etwas weiter entfernt liegt ein angepflocktes Reh auf der Bühne. Es kaut friedlich Gräser, die man ihm hingeschüttet hat.

Plötzlich erscheinen die Zauberer, zehn junge, feurige, in schwarze Pumphosen gekleidete Männer mit nackten Oberkörpern, die mit den Schriftzeichen der alten selpdikischen Sprache bemalt sind. Sie tanzen den Tanz der Verführung, den Mazakawen, aber Flammèche und Étincelle wenden sich voller Verachtung von ihnen ab, worauf sie gedemütigt von der Bühne stürzen. Dann kommen die eifersüchtigen Ager, wieder zehn junge Männer, deren nackte Körper schwarz bemalt sind und die furchterregende Masken tragen. Doch während ihres Tanzes halten sie sich in respektvoller Entfernung von den Feechen, denn der mächtige Zauberer Gudevure hindert sie am Betreten des Königreichs von Albar …

Tixu sah, dass die Selpdiken im wahrsten Sinn des Wortes von der Darbietung unter strömendem Regen verzaubert waren. Nichts entging ihnen bei diesem heiligen Schauspiel. Sie verfolgten das Geschehen mit dem Enthusiasmus kleiner Kinder.

Dann löst sich der listenreiche Ager Mon aus der Gruppe seiner Komplizen und tanzt den Tanz der Träume um die am Fuße des Brunnens schlafende Étincelle. Er lenkt ihre Gedanken auf das Reh – das Symbol der Unschuld und der Hilfe der Engel und der Gottheiten. Nachdem Mon der Ager seine schändliche Tat vollbracht hat, verlässt er in Begleitung der Seinen auf Zehenspitzen die Bühne. Die Zauberer treten wieder auf. Étincelle erwacht und befiehlt ihnen, ihr das Herz des Rehs zu bringen. Sie ziehen lange Messer hervor und stürzen sich auf das verängstigte Tier. Es stößt einen Todesschrei aus, ehe ihm der Kopf vom Rumpf getrennt wird und zu Boden rollt. Das sprudelnde Blut benetzt die Oberkörper und die Arme der Tänzer. Eine scharfe Messerschneide dringt in seinen Körper ein, damit ihm das Herz herausgerissen werden kann. Währenddessen feiern die Ager den Untergang des magischen Königreichs, weil es nicht mehr unter dem Schutz der Engel und der Gottheiten steht. Die Zauberer werfen das blutende Herz Étincelle vor die Füße. Sie weicht erschrocken zurück …

In dem Moment versiegte der Springbrunnen, der Kristallfelsen nahm eine dunkle trübe Farbe an, die Früchte fielen ab und rollten auf den Boden.

Wie Kwen Daël erklärte, wiederhole sich dieses übernatürliche Phänomen alljährlich bei der Aufführung des heiligen Spiels. Indessen war es bis heute noch niemandem gelungen, Wahrheit und Fiktion in den Erzählungen der Fischer auseinanderzuhalten, vor allem bei jenen vom Stamm der Daëls.

Die Ager stoßen ein Triumphgeschrei aus und stürmen das magische Land. Sie brüllen und umtanzen die beiden zusammengebrochenen Feechen und die Zauberer, die sich mit dem unschuldigen Blut des Rehs befleckt haben …

Da wurde Tixu Zeuge eines außerordentlichen Ereignisses: Ausnahmslos alle Frauen weinten bittere Tränen. Wahre Sturzbäche strömten aus ihren Augen und vermischten sich mit den Regentropfen. Ein Konzert bitterer Wehklagen hub an. Die Männer reckten die Arme gen Himmel und flehten die Götter um Verzeihung an, währen die Frauen mit gesenkten Köpfen weiter schluchzten.

Nach zwanzig Minuten tiefster, aufrichtigster Trauer fing der Brunnen so plötzlich wieder an zu fließen wie er aufgehört hatte. Das Kristall des Felsens wurde sichtbar heller, bis es seine ursprüngliche Transparenz wieder erlangt hatte. Und das Wehklagen der Frauen wandelte sich in Freudenrufe, der Schmerz der Menge in Entzücken. Die Ager, von Entsetzen ergriffen, flohen voller Scham. Die Feechen standen lächelnd auf, und die Zauberer tanzten den Tanz des wiedergewonnenen Glücks.

»Wieder einmal haben uns die Tränen der Feen gerettet«, flüsterte Kwen Daël Tixu ins Ohr. »Das Leben geht weiter, weil wir von unserem Vergehen reingewaschen wurden. Die Quelle des langen Lebens ist nicht versiegt, und das Kristall wird uns aufs Neue Früchte spenden …«

Der Sturm der Begeisterung war so groß, dass er bei Weitem das Trommeln des Regens und das Heulen des Windes übertönte. Eine unendliche Erleichterung zeichnete sich auf allen Gesichtern ab, denn ihre, tief in ihrem Bewusstsein verankerte, abergläubische Furcht, von den Engeln und den Gottheiten verlassen worden zu sein, war nun ausgelöscht.

»Jetzt feiern wir die ganze Nacht!«, rief der Fischer. »Aber erst, wenn die Rektoren ihre traditionelle Rede gehalten haben.«

Also warteten die Selpdiker mit wachsender Ungeduld auf das Erscheinen der Rektoren, damit sie das Zeichen zum Feiern gäben. Schon warfen sich Männer und Frauen verheißungsvolle Blicke zu. Auch der eingefleischte Junggeselle Kwen Daël riskierte abschätzende Blicke in die Runde. Wie alle anderen würde er nach Stunden trunkener Lust irgendwo auf einer Straße oder einer Bank erschöpft und befriedigt einschlafen.

Endlich erschienen die zehn Rektoren des Rats auf der Bühne. Ungläubiges Erstaunen ergriff die Menge, denn die Rektoren waren nicht allein. Sie wurden von weiß maskierten Männern in grauen Uniformen begleitet. Hinter ihnen tauchten drei bizarre Gestalten auf, deren Gesichter unter weit geschnittenen Kapuzen verborgen waren. Die Kapuzenmäntel hatten die Farben blau, rot und schwarz.

Tixu gefror das Blut in den Adern, und sein Herz raste.

»Kennen Sie diese Leute?«, fragte Kwen Daël. Ihm war die Reaktion des Orangers nicht entgangen.

Die Pritiv-Söldner stießen die Tänzer, die Ager, die Feechen, die beiden Majiken und die Zauberpriester brutal zur Seite. Der Sprecher des Ältestenrats, ein weißhaariger Greis, trat vor und hielt eine Rede.

»Selpdiker und Selpdikerinnen, an unserem heutigen Festtag zu Ehren der Feen von Albar, hat man mich beauftragt, euch Folgendes zu sagen: Die Armeen des neuen Kaiserreichs, deren erste Abordnung ihr hier seht«, er deutete auf die Gestalten hinter sich, ohne den Blick von der Menge zu wenden, »werden sich heute Nacht in unserer Stadt Houhatte materialisieren, um morgen früh gegen die Ritter der Absolution zu kämpfen. Deshalb herrscht ab sofort Sperrstunde, und die Feierlichkeiten finden logischerweise nicht statt. Folglich fordere ich alle auf, nach Hause zu gehen und das Haus nicht vor morgen früh zu verlassen. Jeder, der sich nach Einbruch der Dunkelheit noch auf der Straße aufhält, wird sofort hingerichtet. Wir, die Rektoren des selpdikischen Rates, werden nach eingehender öffentlicher Beratung nach der Schlacht beschließen, welche Politik wir in Zukunft verfolgen. Jetzt bitte ich euch, ohne Protest so schnell wie möglich in eure Häuser zurückzukehren. Bürger und Bürgerinnen von Selp Dik, mögen die Feen euch beschützen!«

Trotz dieser Worte wurden über dem allgemeinen Gemurmel der Enttäuschung, vehemente Proteste laut. Inzwischen hatte das Antra wieder von Tixus Geist Besitz genommen und seinen Schutzschild der Stille gegen die mentalen Ausforschungen der Scaythen errichtet, die sofort mit ihrer hinterhältigen Arbeit begonnen hatten.

»Die Rektoren bestehen darauf, dass ihr ohne Widerstand zu leisten, den Wald verlasst!«, befahl der Sprecher des Rats mit flammenden Augen. »Für Verhandlungen ist später noch Zeit!«

Da erstarrte die Menge. Eine tödliche Stille senkte sich über die Lichtung. Erneut hörte das Wassers des Brunnens auf zu fließen, und das Kristall des Felsens wurde zu einem trüben Dunkel.

»Dieses Mal wenden sich die Engel und die Gottheiten endgültig von uns ab«, flüsterte ein leichenblasser Kwen Daël.

 

Eine Stunde später stand Tixu im Bug der Aquakugel und starrte auf das kaum bewegte Meer. Sie fuhren zum Haus Kwen Daëls.

»Morgen brauche ich Ihr Boot zu sehr früher Stunde, noch vor Tagesanbruch. Können Sie es mir leihen?«, fragte er den Fischer.

»Vor Tagesanbruch?«, entgegnete Kwen Daël erstaunt. »Sie haben doch gehört, was der Rektor gesagt hat.«

»Ich bitte Sie nicht, Ihr Leben zu riskieren, sondern nur, mir Ihre Aquakugel zu leihen«, bat Tixu. »Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen, denn diese drei Kapuzenmänner, die Sie vorhin gesehen haben, sind Scaythen vom Planeten Hyponeros, und sie verfügen über gefährliche mentale Kräfte …«

Kwen Daël schwieg eine Weile und starrte mit schmalen Augen aufs Meer. Schließlich sagte er: »Also Sie, Sie sind wirklich kein gewöhnlicher Mann. Ich begleite Sie. Denn der Ozean der Feen von Albar kann für einen Unkundigen tückisch sein. Mir ist egal, was Sie vorhaben, denn mir genügt der Beweis, dass ein Monager Ihnen das Leben gerettet hat.«

Das waren die einzigen Worte, die der Fischer sagte. Während des Abends und der Nacht sprach er nicht mehr.