SIEBTES KAPITEL

DIE FRANÇAOS DER CAMORRE

Die auf den Planeten Roter-Punkt verbannten Raskattas waren bald so zahlreich, dass allein ihnen vorbehaltene Stadtviertel entstanden. Um sich gegen die einheimischen Prougen zu verteidigen – die Herrscher Matanas, der Stadt mit den siebzehn monumentalen Toren –, schlossen sie sich zu Banden zusammen.

Die Anführer dieser Banden wurden Françaos genannt, nach dem berüchtigten Françao Spilaggi, dem ersten Raskatta, der einen Aufstand gegen die Prougen organisiert hatte.

Nachdem die mörderischen Kämpfe mehrere Hundert Jahre angedauert hatten, beschlossen die Françaos, Frieden zu schließen. Sie reorganisierten sich und nannten sich fortan Camorre1.

Seitdem mutierte die Camorre zu einer Art Schattenregierung mit eigenen Gesetzen, eigener Rechtsprechung und eigenen Sitten und Gebräuchen. Françao wurde man entweder durch Nomination oder wenn man als Sieger in einem dieser »Nachfolgekriege« genannten Kämpfe hervorging.

Durch ihre straffe Organisation gelang es der Camorre, Roter-Punkt zur Drehscheibe der Kriminalität zu machen: Drogenhandel, Sklavenhandel, Organhandel, Waffenhandel, Prostitution, Deremat-Handel …

Sif Kérouiq, der vom Planeten Selp Dik stammte, war einer der berühmtesten Françaos der Camorre. Der Legende nach schlief er aus Vorsicht nie. Weiterhin heißt es, dass sein Nachfolger, Bilo Métarelly, den Tod fand, als er Sri Lumpa (den Herrn der Echsen, wie ihn die Sadumbas nennen) dabei half, Naïa Phykit aus den Klauen der Sklavenhändler zu befreien.

Die Vormachtstellung der Françaos ging zur selben Zeit wie die Konföderation von Naflin zu Ende, weil es der Kirche des Kreuzes mit der Unterstützung der Scaythen der heiligen Inquisition und den Pritiv-Mördern gelang, sie einen nach dem anderen festzunehmen und sie zu verbrennen.

 

Geschichte des Großen Ang-Reichs, Unimentale Enzyklopädie

 

Tixu Oty öffnete langsam die Augen.

Er lag völlig nackt auf dem Boden, und dieser Boden war so kühl, dass ihn fröstelte. Sein Kopf schmerzte höllisch, eine unangenehme Nebenwirkung des Deremat-Transfers. Noch nahm er die Umrisse der Häuserruinen nur verschwommen wahr, aber der Himmel leuchtete grün. Am Horizont versank Grünes Feuer – eine große runde Scheibe – in einer Symphonie aus Grüntönen, von Aquamarin über Smaragdgrün bis Olivgrün. Das Himmelslicht schickte seine letzten, immer schwächer werdenden Strahlen auf den Planeten, die die Wände der zerstörten Häuser noch kurze Zeit in schwaches Grün tauchten.

In Tixus wirrem Kopf tauchten traumgleich Bilder jener Ereignisse auf, die ihn in diese erbärmliche Lage gebracht hatten. Wie im Delirium sah er die Gesichter der Syracuserin und Kacho Marums vor sich.

Auch die aufkommende leichte Brise konnte nicht den Gestank vertreiben, der schwer wie Blei in dem Raum lag. Die ätzende Kälte des Bodens und die feuchte Schwüle der Luft ließen ihn gleichzeitig frieren und schwitzen.

Mühsam richtete er sich in eine sitzende Position auf, verschränkte die Beine und versuchte, Klarheit über seine Lage zu gewinnen. Allein von dieser Anstrengung wurde ihm so übel, dass er sich am liebsten übergeben hätte. Die planetarische Zeitverschiebung und das damit verbundene Gefühl, noch nicht wieder völlig in seinen Körper zurückgekehrt zu sein, schränkte sein Denkvermögen ein. Er schätzte, dass er noch eine gute Stunde brauchen würde, um geistig und körperlich wieder völlig hergestellt zu sein.

Da hörte Tixu ein Lachen, vielmehr Krächzen, hinter seinem Rücken. Vorsichtig drehte er sich um. Ein paar Schritte von ihm entfernt saß an einen großen Stein gelehnt eine alterslose Frau mit zerzaustem Haar. Ihr fahles Gesicht wirkte verwüstet; ihre kleinen, tief in den Höhlen liegenden Augen waren von bläulichen Schatten umgeben. Zwischen ihren rissigen Lippen steckte der abgekaute Stiel einer Pfeife. Sie sog gierig daran und stieß durch ihre Nasenlöcher dicke Rauchwolken aus, die sie durch das spärliche Licht der Dritten Dämmerung wie grünliche Nebelschwaden umwallten. Ihre Kleidung bestand aus Fetzen, die vage an ein Kleid erinnerten und kaum ihren schlaffen und schmutzigen Körper verhüllten.

»Sieh mal an! Was für’n schöner Mann, der da gerade für mich vom Himmel gefallen ist!«, sagte sie, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. Als sie einen Strahl braunen Speichel ausspie, konnte Tixu ihre paar gelben Zahnstummel sehen.

»Du bist ja ganz nackt, mein Süßer! Da brauch ich dich nich mal ausziehen. Komm her, mein Schöner! Komm, schau dir die schöne Isabusa genau an. Du wirst auf deine Kosten kommen … Isabusa hat es schon lange nicht mehr getrieben. Es ist ewig her, seit sie einen schönen Mann ganz für sich allein gehabt hat …«, sagte sie und lachte hysterisch, wobei ihr Gesicht noch abstoßender wurde.

»Was ist denn? Gefalle ich dir nicht, oder bist du schüchtern? Willst du nicht reden? Das ist aber nicht nett. Wenn Isabusa dir nicht gefällt, sagt sie es dem großen Haschuitt … Der wird dir schon klarmachen, dass du Isa zu antworten hast. Vielleicht musst du ihn dann auch besteigen. Du weißt gar nicht, wozu der fähig ist, der große Haschuitt!«

Sie hatte kaum diesen Namen ausgesprochen, als hinter einem Haufen Schutt eine verschlafene, tiefe Stimme zu hören war.

»Was redest du da, Isa? Du weckst uns, wir können nicht mehr schlafen. Oder streunt da etwa ein Godappi rum, der dir was antun will?«

Die Frau antwortete nicht. Sie starrte nur Tixu mit dem glasigen Blick einer Verrückten an und sog noch heftiger an ihrer Pfeife, bis die rot aufglühte.

Jetzt erst wurde Tixu bewusst, dass diese Ruinen sich in eine tödliche Falle verwandeln konnten. Diese Frau war offensichtlich drogenabhängig, sie konsumierte wohl das euphorisierende Freudenpulver und hatte jetzt alle Symptome, die auf einen Entzug hinwiesen. Außerdem war der Mann, der mit ihr geredet hatte, sicher nicht der einzige hier.

Die hereinbrechende Nacht wurde immer bedrohlicher, und es schien, dass sich in ihren Schatten eine Menge unsichtbarer Gefahren verborgen hielten.

Doch der Oranger war noch nicht in der Lage, auf diese Bedrohung adäquat zu reagieren. Seine mühsamen Versuche aufzustehen, scheiterten kläglich. Panik ergriff ihn, und wieder wurde ihm übel.

»He, Isa! Rede ich mit dir, oder was?«, ließ sich die männliche Stimme wieder vernehmen. Dieses Mal klang sie deutlich verärgert. »Vielleicht willst du mir nicht antworten, aber ich will eine Antwort, wenn ich mit jemandem rede. He, der große Haschuitt redet mit dir! Also, wenn du weiter nichts sagst, verprügele ich dich. Ich werde dir so den Arsch versohlen, dass du nicht mehr sitzen kannst, meine Schöne. Dann wirst du es dir zweimal überlegen, ehe du mich noch mal ohne Grund weckst.«

Über dem Trümmerhaufen tauchte das bärtige Gesicht eines Mannes mit zotteligen Haaren auf. Inmitten des abstoßenden Gesichts dieses Trinkers prangte ein schwarzes Auge. Das andere war mit einem auf die Haut genähten Monokel bedeckt.

Der große Haschuitt starrte Tixu böse an und deutete mit ausgestrecktem Arm auf ihn.

»Wer ist das? Wo kommt der Kerl her?«

Die Frau hockte regungslos in sich zusammengesunken da und spie weiterhin Rauchwolken aus. Aber sie antwortete nicht. Andere missgestaltete Köpfe erschienen plötzlich in Fensteröffnungen, hinter Mauervorsprüngen und Schuttbergen. Die Männer und Frauen schwiegen.

Mit einem Mal war Tixu von einer Grimassen schneidenden Horde Dämonen umgeben, die geradewegs aus der Hölle zu kommen schienen. Eine eisige Hand umklammerte seine Brust und schnitt ihm die Luft ab. Sein Blut gefror, sein Magen zog sich zusammen. Trotzdem nahm er seine ganze Kraft zusammen und versuchte sich aufzurichten. Vergebens. Seine Beine und Arme waren wie aus Watte, unfähig, der Schwerkraft auf Roter-Punkt zu trotzen.

Ein paar dieser hexenähnlichen Frauen kicherten, pfiffen, stießen sich mit den Ellbogen an und warfen ihm anzügliche Blicke zu.

»He, Godappi, ich blas dir einen, und dann besteige ich dich.«

»Nein, nimm mich! Schau mich an, mein Süßer! Sieh mal, wie schön ich bin!«

»Habt ihr beiden euch schon mal im Spiegel betrachtet? Ihr würdet selbst den letzten Penner in die Flucht schlagen.«

»Haltet die Schnauze, ihr blöden Weiber!«, dröhnte der große Haschuitt. »Der Typ da darf uns nicht entwischen. Sieht ganz so aus, als hätte er ein kleines Problem mit der planetarischen Zeitverschiebung. Aber sonst scheint er gut in Form zu sein … Der bringt uns eine Menge Kohle auf dem Sklavenmarkt ein. Das Mädchen heute früh hätte uns noch mehr eingebracht, aber mit dem da machen wir auch kein schlechtes Geschäft.«

Die in dreckige Lumpen gehüllten Männer kletterten über Mauern und Steinhaufen und bildeten schnell einen Kreis um Tixu. Von Angst getrieben, gelang es ihm endlich aufzustehen und ein paar unsichere Schritte zu machen. Ihm kam ein flüchtiger Gedanke: Dieses Mädchen, von dem der Einäugige gesprochen hatte, musste die Syracuserin sein, seine letzte Kundin.

Krachend rollten Steine zu Boden, als der große Haschuitt sie mit seinen Stiefeln lostrat und wie ein wild gewordener Stier auf seine Leute zustürmte.

»Worauf wartet ihr noch, ihr kastrierten Affen?«, schimpfte der Einäugige. »Greift ihn euch!«

Ein Mann packte Tixus Knöchel und brachte ihn damit aus dem Gleichgewicht. Der Oranger fiel auf den Rücken und rang nach Atem. Die anderen stürzten sich wie Heuschrecken auf ihn und hielten ihn an Armen und Beinen fest. Ihre verwahrlosten Körper stanken derart, dass ihm schlecht wurde.

»Gut gemacht, Jungs! Den da, den lassen wir nicht entkommen!«, triumphierte der große Haschuitt. »Ihr scheint Fortschritte zu machen, meine kleinen Affen. Fesselt ihn! Nachher verkaufen wir ihn an einen Françao der Camorre.«

Tixu wurde an Händen und Füßen zusammengebunden und dann brutal auf den Bauch gedreht. Mit dem Gesicht lag er auf einem verdorrten Grasbüschel, sodass er nur mühsam atmen konnte. Wegen der Fesseln konnte er sich kaum rühren und seine angespannten Muskeln verkrampften sich schmerzhaft.

In der plötzlichen Stille um ihn herum ertönte Isabusas krächzende Stimme: »He, Godappi, hätte ich dir erzählt, dass du deine Angebetete hier hättest treffen können, wärst du trotzdem zu spät gekommen. Die war heute morgen so scharf, dass sie kaum auf dich gewartet hätte. Wenn du gesehen hättest, wie schnell die abgehauen ist, würdest du nicht mehr hinter ihr her sein.«

»Hey, Isa, reiß dein großes Maul nicht so weit auf«, murrte der große Haschuitt. »Du gehst uns auf die Nerven.«

Isabusa schwieg, presste ihren Rücken gegen den großen Stein und paffte ihre Pfeife. Jetzt näherten sich die anderen heruntergekommenen Weiber Tixu. Gierig starrten sie ihn an und begannen, ihn mit ihren verdreckten Händen zu betasten, wobei sie ein kehliges Lachen ausstießen. Unter der Berührung ihrer schwieligen, rissigen Hände überliefen Tixu eisige Schauder. Es war die Hölle.

Isabusa warf ihren Rivalinnen böse Blicke zu.

»He, großer Haschuitt. Warum dürfen sich diese Schlampen mit dem Godappi vergnügen, und ich nicht? Ich hab doch diesen Süßen gefunden, oder nicht?«

Und ohne auf eine Antwort zu warten, legte sie ihre Pfeife auf einen flachen Stein und stürzte sich mit ausgestreckten Krallen wie ein Raubtier auf ihre Konkurrentinnen. Die verteidigten sich wie die Furien, und sofort entbrannte ein wilder Kampf: Die Weiber kratzten, bissen, spuckten, rissen sich gegenseitig die Haare aus und bluteten aus unzähligen Wunden.

»Hört sofort damit auf, oder ihr bekommt es mit mir zu tun!«, rief der große Haschuitt inmitten des Tumults.

Sie gehorchten sofort und starrten ihren Anführer an.

»Niemand rührt den Godappi an! Sonst ruiniert ihr ihn. Und wenn ihr schon so scharf auf einen Mann seid, hier gibt es doch genug, oder nicht?«

Unisono stimmten die zerlumpten Kerle dem großen Haschuitt zu. Seine Kumpane waren immer seiner Meinung, schließlich überragte er sie um Haupteslänge, und da seine Schultern doppelt so breit und seine Fäuste doppelt so groß wie die ihren waren, blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihn als ihren Führer anzuerkennen. Hätte sich ihm jemand widersetzt, er hätte wahrscheinlich seine letzten Zahnstummel oder einen Finger oder Zeh verloren. Oder auch einen Arm.

»Ja, ja, ich hab’s kapiert. Aber der da, er hat so ne schöne weiche Haut«, seufzte eine Megäre mit zerkratztem Gesicht.

»Ganz anders als ihr mit eurer dreckigen Krokodilshaut«, murmelte eine andere mit aufgeplatzten Lippen.

Nur widerstrebend ließen die Frauen von Tixu ab. Doch es war immer noch besser, auf ein bisschen Spaß zu verzichten, als sich einer der Prügelorgien des großen Haschuitt auszusetzen.

 

Die Bande wartete, bis die Nacht anbrach, ehe sie sich auf den Weg machte. Vorher hatten sie ein armseliges Mahl hinuntergeschlungen, das aus in Tüten verpackter Trockennahrung bestand, die sie gestohlen hatten.

Nachdem sie Tixu von seinen Fesseln befreit hatten, brauchte er lange, bis er sich aus seiner Erstarrung lösen und wieder einigermaßen normal bewegen konnte. Dann wurde ihm ein magnetisches Halsband angelegt, eine altertümliche Fessel, die wahrscheinlich von einem Müllhaufen stammte. Die Überwachung des Gefangenen vertraute der große Haschuitt seinem Leutnant Carnegill an, einem zahnlosen Einarmigen.

»Mit der Kohle für diesen Godappi können wir uns mit Freudenpulver für drei Monate eindecken. Das wird ein einziges Fest, hört ihr mich?«, verkündete der große Haschuitt.

Seine Rede wurde mit beifälligen Rufen belohnt. Danach brachen sie auf und nahmen einen schmalen Pfad, der sich zwischen den mit Gestrüpp bewachsenen Hügeln und den Ruinen bis in die Vororte von Roter-Punkt-Stadt schlängelte. Auch das fahle Licht des Nachtgestirns Traumauge sorgte kaum für Helligkeit. Nur in der Ferne konnte man die runden Kuppen der Sanddünen erkennen, die den Beginn der Wüste anzeigten. Die Schwüle der Nacht machte allmählich einer prickelnden Kälte Platz.

Die Bande marschierte schweigend. Sie fürchtete wohl, von einer rivalisierenden Gang überfallen und ihres Schatzes beraubt zu werden.

Tixu zitterte vor Kälte. Gleichzeitig musste er aufpassen, mit seinen nackten Füßen nicht in Disteln und Dornen zu treten. Er hatte auch entsetzlichen Hunger, denn sie hatten ihm nichts zu essen gegeben. Sofort, wenn er stolperte oder etwas langsamer ging, lachte Carnegill hämisch, drückte auf einen Knopf der Fernbedienung und schnürte das Halsband enger. Die eisernen Zähne gruben sich immer tiefer in das Fleisch des Gefangenen ein.

Trotz seiner misslichen Lage hatte Tixu inzwischen den planetarischen Zeitunterschied überwunden und war im Wesentlichen wieder Herr über seine geistigen und körperlichen Funktionen geworden. Doch innerlich war er außer sich vor Wut, weil er sich wie ein Idiot von diesen Drogenabhängigen hatte übertölpeln lassen. Jetzt lauerte er auf einen günstigen Moment der Flucht, einen Augenblick, wo Carnegills Wachsamkeit nachließ, damit er sich außer Reichweite der magnetischen Wellen begeben könnte. Aber der Einarmige war auf der Hut. Er überwachte ihn so aufmerksam wie eine Katze, die eine Maus im Visier hat.

Sie waren vor einem mit Dornengestrüpp bewachsenen großen Hügel angekommen.

»Gehen wir drum herum?«, fragte Carnegill.

»Kommt nicht infrage«, antwortete der große Haschuitt. »Wir haben keine Zeit mehr. Wir müssen da durch.«

Also drangen sie in das Dickicht ein und machten sich an den Aufstieg. Mit Dornen bewehrte Äste peitschten auf Tixu ein. Bald war sein ganzer Körper von brennenden Wunden übersät.

»Wir hätten ihm lieber was anziehen sollen«, murrte Carnegill. »Wenn er so zerkratzt ist, kriegen wir nicht mehr viel für ihn. Gute Menschenware, das heißt noch immer, intakte geschmeidige Haut. Jedenfalls ist das meine Überzeugung, und davon lasse ich mich auch jetzt nicht abbringen …«

»Halt’s Maul!«

Auf der Kuppe des Hügels konnte sie die Lichter von Roter-Punkt-Stadt sehen. Sie liefen den Hügel hinunter, bis sie an dessen Fuß, schon nahe der ersten, von Raskattas bewohnten Häuser, auf eine Allee stießen. In diesem Vorort herrschte kein einheitlicher Baustil: Es gab runde Dächer, spitze Dächer, flache Dächer. Die Fassaden der Häuser waren ebenso bunt und zusammengewürfelt wie deren Architektur, denn jeder Verbannte legte Wert darauf, im Exil seiner bescheidenen Behausung die Kultur seines Heimatplaneten aufzuprägen. Die einheimischen Prougen hingegen hatten nur eine verächtliche Bezeichnung für diese Siedlungen, die ihre ganz in Ocker und Weiß gehaltene Stadt Matana umgaben: die verbotenen Viertel.

Ein paar Lufttaxis flogen geräuschlos über die kleine Gruppe hinweg und verschwanden alsbald in der Dunkelheit.

Wenig später tauchten sie in den hell erleuchteten Straßen im Gewühl der Massen unter. Zu Tixus großer Enttäuschung schenkte niemand einem nackten und mit Blut besudelten Mann Beachtung. Nicht einmal die Polizisten in ihren marineblauen Uniformen, die zu viert inmitten dieser bunt zusammengewürfelten Menge auf Streife gingen. Nur ein paar Bettler musterten ihn flüchtig im Vorbeigehen, wenn sie den großen Haschuitt und seine Kumpane grüßten.

»Lass ihn nicht aus den Augen, Carnegill!«, befahl der einäugige Riese seinem Leutnant. »Wir dürfen ihn jetzt nicht entwischen lassen. Er ist drei Monate Freudenpulver wert. Pass gut auf. Ich sehe hier überall Neider.«

Je weiter sie ins Zentrum der verbotenen Vorstadt eindrangen, umso schwieriger wurde ihr Fortkommen. Überall boten fliegende Händler ihre Waren an, Falschspieler hatten Klapptische aufgestellt und warben mit lauter Stimme um Kunden, ebenso die Türsteher vor den Bordellen.

Der arme Carnegill wusste kaum, wohin er zuerst glotzen sollte, die Augen quollen ihm vor Gier fast aus seiner hässlichen Visage. Die vor den Häusern stehenden Huren vergrößerten seine Qualen, indem sie ihn provozierten: Sie entblößten eine Brust oder streckten ihm verführerisch ein Bein entgegen; sie warfen ihm anzügliche Bemerkungen zu und lachten höhnisch. Und so fiel der Leutnant des großen Haschuitt immer weiter hinter der kleinen Gruppe zurück. Inzwischen war er krank vor Verlangen nach einer dieser grell geschminkten Prostituierten. Auch der Einäugige und Tixu, der wie ein Stück Vieh zur Schlachtbank geführt wurde, entgingen nicht ihren schamlosen Bemerkungen.

»He, großer Haschuitt! Willst du heute abkassieren? Wo hast du den da aufgegabelt?«

»Der ist aber süß, dein Sklave! Aber du bist gemein, du hättest ihn wenigstens vorher waschen können. Komm, mein Schöner! Ich bade dich. Und wenn du willst, besorge ich es dir danach umsonst.«

»Du träumst wohl! Glaubst du etwa, du kannst dir ein bisschen was leisten, wenn du einen dieser Ratten-Godappis verkaufst? Das lassen die Françaos niemals zu.«

»Verdammt noch mal, Carnegill! Geh weiter!«, befahl Haschuitt. »Du kannst zu den Nutten gehen, wenn du die Kohle hast. Hast du mich verstanden, du kastrierter Affe? Los komm, sonst reiße ich dir auch noch den anderen Arm ab.«

Tixu hatte das Gefühl, einen nicht enden wollenden Albtraum zu erleben. Er fragte sich, was er in diesem desolaten Zustand – nackt, blutend und halb erdrosselt – in dieser gewalttätigen und verkommenen Welt zu schaffen habe. Die grellen Lichtkegel der nuklearen Straßenlaternen betonten noch das bedrohende Aussehen dieser Vorstadtbewohner; die Beleuchtung unterstrich ihre brutalen Gesichtszüge, das fiebrige Glänzen ihrer Augen, ihre verkniffenen Münder, und ließ nur zu deutlich die Griffe ihrer Waffen erkennen … Hingegen schien das wunderschöne Gesicht der unbekannten Syracuserin, deretwegen er diese verrückte Reise unternommen hatte – und deren Koordinaten er sorgfältig gelöscht hatte, um keine Spuren zu hinterlassen – langsam zu verblassen. Ihr Bild verschwamm allmählich, so als hätte sie nie existiert und wäre nichts als ein Hirngespinst gewesen, eine Sternschnuppe am dunklen Himmel seines Lebens. Ihm schien, als sei er in einem Grenzland zwischen Traum und Wirklichkeit angekommen und könnte nur noch als Zuschauer diesem absurden Theaterstück beiwohnen, in dem er eigentlich die Hauptrolle spielen sollte. Allein der Schmerz durch das zu enge Halsband brachte ihn von Zeit zu Zeit in die Wirklichkeit zurück.

Prächtig gekleidete und von Leibgarden geschützte Bürger schritten erhobenen Hauptes durch diesen Pöbel, der sie mit neidischen und hasserfüllten Blicken anstarrte. Niemand interessierte sich für die Bande des großen Haschuitt, und wenn jemand einmal Tixu einen Blick gönnte, dann nur, um schnell abzuschätzen, wie viel er auf dem Sklavenmarkt wert sei.

Schließlich kamen sie zu einem rechteckigen, leicht erhöhten Platz, dessen Überdachung aus schwarzem Beton so rissig wie die Haut eines Reptils war. Schnurgerade, von Lichtkegeln gesäumte Alleen strebten auf das Zentrum der Esplanade zu. Sie waren mit phosphoreszierenden Glasplatten gepflastert.

»Na endlich! Das Dach des Fleischmarkts!«, rief eine der Frauen mit dem schönen Namen Kampfhenne. »Ich hab es satt, mir auf den Füßen rumlatschen zu lassen.«

»Du hast es doch gern, wenn du im Gedränge rumgestupst wirst«, lachte Carnegill.

Die Kampfhenne zuckte nur mit den Schultern und fing mit rauer Stimme an zu singen:

Hallo! Gute Menschenware für ’ne Menge Zaster.
Hallo! ’Ne Menge Zaster für mein Laster.
Hallo! Freudenpulver für rauschende Nächte,
Und ich verwöhne dein Gemächte!

Seit der große Haschuitt seinen Leutnant zurechtgewiesen hatte, war Carnegills noch nervöser geworden. Unablässig spielte er mit der Fernbedienung, sodass sich die Zähne des Magnethalsbands ständig tiefer in Tixus Fleisch eingruben. Der Oranger konnte kaum noch atmen.

Sie gingen jetzt auf die Mitte des Platzes zu. Unter den Glasplatten sah der Oranger einen riesengroßen Raum. In dessen Mitte befand sich eine runde Bühne, auf der leere Käfige standen, die von oben mit Scheinwerfern in ein grelles Licht getaucht waren.

Am Scheitelpunkt der Alleen führte eine Treppe in den Untergrund zum Sklavenmarkt. Haschuitt stieg ohne Zögern hinab, doch seine Kumpane schienen ihm nicht in diese dunklen Gefilde folgen zu wollen. Der Einäugige drehte sich um und sah sie böse an.

»Auf was wartet ihr noch, ihr kastrierten Affen? Habt ihr vielleicht Angst?«

»Du meinst doch wohl nicht uns?«, giftete die Kampfhenne. »Wie können wir kastriert sein? Wir sind doch Frauen!«

»Wo gehen wir denn hin?«, fragte Carnegill.

»Zu dem Françao Métarelly«, antwortete der Einäugige. »Er zahlt am besten für diese Godappis.«

»Das gefällt mir gar nicht!«, protestierte Carnegill wütend. »Ich habe gehört, dass er vor allem damit bezahlt, dass er einem die Gedärme verbrennt. Ein Bauchbrenner, das ist er.«

»Du willst dich also meinen Befehlen widersetzen?«, sagte der große Haschuitt und drohte seinem Leutnant mit erhobenen Fäusten. Seine blutunterlaufenen Augen blitzten hasserfüllt auf, sogar seine Barthaare sträubten sich.

Die Männer und die Frauen wichen instinktiv zurück, sodass Carnegill plötzlich allein in einer Art Arena dastand. Die Strafen ihres Anführers waren oft spektakulär. Und jetzt warteten sie auf die Bestrafung des Rebellen, die vielleicht sogar mit seinem Tod enden würde.

Carnegill war bleich geworden. Er hatte begriffen, dass er seine letzten Zähne, seinen Arm, eventuell sein Leben verlieren könnte.

»Ich wollte dich nicht verärgern, Haschuitt«, sagte er besänftigend. »Es war dumm von mir …«

Die Umstehenden seufzten erleichtert und waren gleichzeitig enttäuscht. Nur die Kampfhenne stimmte mit kreischender Stimme erneut ihr Lied an:

Hallo! Gute Menschenware für ’ne Menge Zaster.
Hallo! ’Ne Menge Zaster für mein Laster …

Am Fuß der Treppe erreichte die kleine Gruppe einen sechseckigen Treppenabsatz, der schwach von an den Wänden hängenden Wasserlampen beleuchtet war. In jede Wand war eine gepanzerte Tür eingelassen, über der ein Leuchtschild angebracht war, eine Holografie, in Prougisch und Interplanetarischem Naflinisch beschriftet. Jede dieser Türen wurde von drei oder vier Gestalten bewacht, die etwa so harmlos wie die tödlichen Skorpione der inneren Wüste auf Roter-Punkt wirkten. Die unter der gewölbten Decke umherschwirrenden atomaren Heizkugeln wärmten den völlig durchgefrorenen Tixu etwas.

Als Chef der Bande stand es Haschuitt zu, sich an einen der gelb uniformierten Wächter zu wenden, der unter einem ebenfalls gelben Leuchtschild stand. Er packte den Arm seines Gefangenen und schob ihn vor sich her. Die Selbstsicherheit des einäugigen Riesen schmolz wie Butter in der Sonne. Seine dröhnende Stimme verwandelte sich in ein kaum hörbares Flüstern.

»Hmm … ist der Françao Métarelly zu sprechen?«

»Was willst du von ihm, du Drecksack?«, entgegnete der Wächter. »Glaubst du etwa, dass sich ein Françao der Camorre mit einem Penner wie dir abgibt?«

Haschuitt verneigte sich unbeholfen. »Ich möchte ihm ein Geschäft vorschlagen. Sehen Sie mal! Gutes Männerfleisch.«

»Wem hast du diesen Sklaven gestohlen?«

»Ich habe ihn nicht gestohlen, sondern gefangen genommen«, antwortete der große Haschuitt, richtete sich auf und verschränkte stolz die Arme vor der Brust. »Der gehört mir und meiner Bande. Heute Abend ist Versteigerung. Fassen Sie ihn mal an. Was für eine schöne Haut, und stramme Muskeln. Der ist kräftig. Die Reichen werden sich um ihn reißen.«

»Rühr dich nicht vom Fleck. Ich sehe mal nach. Du kannst dich glücklich schätzen, wenn der Françao Métarelly heute guter Laune ist. Drecksack. Normalerweise kümmert er sich nicht um so kleine Geschäfte.«

Haschuitts schmieriges Lächeln verzerrte sich zu einem frechen Grinsen, als er entgegnete: »Aber wenn er den hier sieht, wird er nicht bedauern, dass ich ihn gestört habe …«

Der Wächter tippte einen Code auf die in der Betonwand eingelassene Tastatur ein. Sofort öffnete sich ein kleines Fenster in der gepanzerten Tür.

Das feindselige Benehmen hatte den Enthusiasmus der Bande inzwischen merklich gedämpft. Mit gesenktem Kopf standen sie da, die glorreichen Gefährten des großen Haschuitt, und hätten am liebsten auf der Stelle kehrtgemacht.

In dem Fenster erschien ein Gesicht: dunkelbrauner Teint, dichte rötliche Haarlocken und kleine, stechende schwarze Augen, die fast unter den schweren Lidern verschwanden. Ein altersloser Prouge.

»Was gibt’s?«, fragte er mit rauer Stimme.

»Ein paar Junkies, die dem Françao ein Geschäft vorschlagen. Sie wollen ihm einen Sklaven verkaufen«, flüsterte der Wächter.

Der Blick des Prougen wanderte über den Treppenabsatz und musterte Tixu.

»Lass diesen jämmerlichen Haufen rein!«

Der Oranger saß in der Falle. Er hatte keine Hoffnung mehr, unbeschadet aus diesem unterirdischen Gefängnis entkommen zu können, es sei denn, es geschähe ein Wunder. In der Taverne der Drei Brüder auf Zwei-Jahreszeiten hatte er gehört, dass die Camorre ihre Gefangenen, die für den Sklavenmarkt bestimmt waren, mit einem Virus, einem sogenannten »Gefügigmacher«, impfte, und dass dieses Serum, regelmäßig verabreicht, das Gedächtnis des Geimpften auslösche und seinen Willen breche.

Um sich etwas Mut zu machen, rief er sich die Worte Kacho Marums ins Gedächtnis zurück: »Du hast vom inneren Wasser der Echsen getrunken, ihre Kraft wird dich beschützen, von nun an wirst du für immer vom Gott der Unbesiegbarkeit begleitet werden …«

Doch so plausibel diese Worte im Wald auf Zwei-Jahreszeiten geklungen hatten, so hohl erschienen sie ihm hier vor dieser Tür mit den brutalen Wächtern. Sie waren nichts als eine törichte Anrufung nicht existierender Götter, die ihn weder Hunger noch Kälte noch das unerträgliche Halsband vergessen ließen und vor allem nicht seine zunehmende Verzweiflung, die ihm langsam den Verstand raubte. Er sehnte sich nach einem Becher Mumbë, nach dem Gefühl, wie der Alkohol in seinem Mund brannte und wie er sich langsam in seinem Körper ausbreitete und ihn wärmte.

Der kleine fette Prouge, dessen dicker Bauch über seinem weißen Lendenschurz hing, führte Haschuitt und seine Bande durch ein Labyrinth gewundener und schlecht beleuchteter Gänge, bis sie endlich einen großen Raum betraten, der in grelles Licht getaucht war.

Ganz hinten, vor einer graugrünen Wasserwand stand ein Schreibtisch, den Tixu sofort an dem gelben Holz, den geschnitzten Verzierungen und der ovalen Form als ein Möbelstück aus seiner Heimat – genauer gesagt, aus der Provinz Vieulinn auf Orange – erkannte. Der Anblick dieses barocken Schreibtischs, der so gar nicht in den ansonsten unmöblierten Raum passte, weckte sofort alte Erinnerungen in ihm, denn er sah genau wie der seines Onkels auf Orange aus.

Jetzt betraten gelb uniformierte Wächter, die Garde Métarellys, den Raum und durchsuchten die Mitglieder der Bande mit peinlicher Genauigkeit. Vor allem die Frauen tasteten sie auch an den intimsten Körperstellen ab, was denen aber zu gefallen schien, denn sie kicherten und stießen kleine lustvolle Schreie aus.

»Zorthias, du weißt doch, dass in ein paar Minuten die Konferenz der Camorre beginnt!«, sagte ein Mann mit schneidendem Unterton in der Stimme. Er sprach perfekt Naflinisch, hatte aber einen starken Akzent, der ihn als gebürtigen Oranger auswies. »Ich hoffe, dass du mich nicht wegen einer Bagatelle belästigst.«

Der mittelgroße Mann drehte der kleinen Gruppe den Rücken zu. Er stand vor einer seitlichen, bernsteinfarbenen Wasserwand und verfolgte aufmerksam die Flucht eines Topasfisches vor einem Schwarm rotschwänziger Zitteraale, deren schlanke leuchtende Körper im Wasser flüchtige Arabesken vollführten. Zu seinem zweireihigen dunkelblauen Jackett trug er weiße Puffhosen: den klassischen Anzug der Bewohner der Provinz Vieulinn. Sein großer nackter Schädel glänzte im Schein der Lichtkugel, die über ihm schwebte.

»Diese Penner hier wollen Ihnen etwas verkaufen, Françao Métarelly«, erklärte der Prouge.

»Mal sehen.«

Der Françao drehte sich um und musterte Tixu mit seinen hellblauen Augen. Sein etwas fleischiges Gesicht wurde von einer Adlernase dominiert, und sein Mund war voll und sinnlich. Nachdem er schließlich aufgehört hatte, ihn zu mustern, ließ er keinerlei Gemütsregung erkennen.

»Wo habt ihr diesen Mann gefangen genommen?«

»Hm … da, wo wir wohnen, Françao. In den Ruinen, am Rand der Wüste«, stammelte der große Haschuitt unterwürfig.

»Wo kommt er her?«

»Das weiß ich nicht, Françao. Er ist vor den Augen der alten Isabusa einfach vom Himmel gefallen. Wahrscheinlich hat er eine Deremat-Reise gemacht.«

»Der Mann ist in einem jämmerlichen Zustand!«, rügte der Françao. »Seine Haut ist völlig zerkratzt. Habt ihr Drecksäcke noch nicht kapiert, dass man Sklaven mit äußerster Sorgfalt behandelt?«

Der Einäugige und seine Kumpane wurden immer unsicherer. Sie grinsten dümmlich vor sich hin. Carnegill bedauerte, dass das Halsband nicht den Hals seines Chefs schmückte. Dann hätte er es so fest wie möglich angezogen, um den großen Haschuitt für seine Dummheit zu bestrafen.

Métarelly ging zu Tixu und starrte ihn mit eiskaltem Blick an. Der Oranger musste seine Augen zusammenkneifen, damit er die blendende Helligkeit der Leuchtkugel über dem Françao, die jeden seiner Schritte begleitete, ertragen konnte.

»Da diese Idioten mir keine Auskunft geben können, wende ich mich an dich. Wo kommst du her?«

»Ich stamme vom … Planeten Orange.«

»Orange? Aus welcher Region?«

»Aus einer Provinz auf der südlichen Halbkugel … Vieulinn …«

»Vieulinn!«

Den Namen hatte Métarelly wie einen Seufzer ausgestoßen. Eine Weile schwieg er gedankenversunken. Diese Zeitspanne kam dem großen Haschuitt und seiner Bande wie eine Ewigkeit vor, und sie fühlten sich immer unwohler.

»Mein Gott, wie lange das her ist, das grüne Vieulinn«, murmelte der Françao schließlich. »Wie heißt du?«

»Tixu … Tixu Oty.«

Carnegill war so nervös, dass er, ohne es zu merken, auf den Knopf der Fernbedienung drückte, woraufhin die letzten Worte des Gefangenen nur noch als pfeifendes Keuchen herauskamen.

Métarelly drehte sich um und ging wieder zu der bernsteinfarbenen Wasserwand, wo der Topasfisch noch immer seinen Feinden zu entkommen versuchte.

»Einäugiger, du bist doch der Chef dieser Bande, nicht wahr?«

»Hm … ja«, gab der große Haschuitt zu und fragte sich, worauf der Françao hinauswollte.

»Also solltest du wissen, dass Oranger auf dem Sklavenmarkt nicht sonderlich begehrt sind. Ihr Verkaufswert wird vor der Versteigerung nicht einmal geschätzt. Und in seinem jetzigen Zustand ist dein Gefangener nur ungefähr einen Fingerhut voll Puder wert.«

»Aber, Françao, der Mann ist jung! Und fit«, antwortete Haschuitt bitter enttäuscht. »Man muss ihn nur mit Öl einreiben, dann glänzt seine Haut wieder wie die eines Babys …«

»Halt’s Maul, Drecksack!«, sagte Métarelly mit schneidender Stimme. »Wenn du schon die Unverschämtheit besessen hast, zu mir zu kommen, rate ich dir, meine Bedingungen zu akzeptieren. Hier treffe allein ich die Entscheidungen. Und weil ich dich eigentlich ganz gern mag, habe ich beschlossen, dir für diesen Oranger einen Fingerhut voll Pulver anzubieten. Sollte dir das nicht gefallen, verbrenne ich dir deine Gedärme! In diesem Fall bin ich sehr großzügig mit der Bezahlung.«

Der große Haschuitt wollte gerade den Mund aufreißen und protestieren, doch er wurde noch rechtzeitig von der Kampfhenne mit einem kräftigen Stoß in die Rippen daran gehindert. Sie hatte begriffen, dass sie sich nicht mit dem Françao anlegen durften, wenn ihnen ihr Leben lieb war.

»Nehmt dem Einarmigen die Fernbedienung ab!«, befahl Métarelly den Gardisten.

Carnegill wartete nicht, bis sie den Befehl ausführten, sondern schleuderte das Gerät in den Raum, drehte sich um und floh.

»Zorthias, gib diesen Jammerlappen einen Fingerhut voll Pulver und schmeiß sie raus! Sie stinken!«

Die Bande des großen Haschuitt trat den ungeordneten Rückzug an. Sie waren heilfroh, noch einmal der Bestrafung entkommen zu sein. Doch ein Fingerhut voll Pulver würde gerade einmal für fünf oder sechs Leute reichen, also würden sie sich darum prügeln müssen. Der große Haschuitt kochte vor Wut: Er war in der Öffentlichkeit gedemütigt worden und musste schnellstens seine abhanden gekommene Autorität wiederherstellen. Vielleicht würde er dem Großmaul Carnegill den Arm ausreißen, und wenn das nicht reichte, konnte er noch immer den Kopf seines Leutnants an die Tür ihres Unterschlupfs nageln. Eine solche Geste würde auch seine ärgsten Widersacher überzeugen.

»Sie haben Glück gehabt, dass ich heute gute Laune habe«, sagte der Françao, nachdem die Bande verschwunden war. »Hätte ich die Gesetze der Camorre befolgt, hätte ich sie töten müssen. Denn es ist im öffentlichen Interesse, solche Parasiten so schnell wie möglich zu eliminieren. Wenn sie zu zahlreich werden, organisieren sie sich und machen uns nichts als Ärger. Dieser Gestank ist bestialisch! Schaltet die Airfresher ein. Und nehmt dem Mann das Magnethalsband ab!«

Das Halsband wurde gelockert und fiel schließlich zu Boden. Endlich konnte Tixu wieder frei atmen. Die eisernen Stacheln hatten an seinem Hals bläuliche Hämatome hinterlassen. Da sein Gehirn wieder ausreichend mit Sauerstoff versorgt wurde, überkam ihn eine angenehme Euphorie, die ihn Hunger, Kälte, Schmerzen und Verzweiflung vergessen ließ.

Der Topasfisch hatte den Kampf verloren. Sein transparenter Schwanz zuckte, als sich die spitzen Zähne der rotgeschwänzten Zitteraale in sein Fleisch bohrten.

Ein paar Minuten später kam Zorthias zurück, ein breites Grinsen im Gesicht.

»Gab’s Probleme, Zorthias?«

»Nein, Françao. Die Penner haben sich draußen sofort geprügelt.«

»Umso besser. Vielleicht bringen sie sich ja gegenseitig um, das würde uns eine Menge Arbeit ersparen. Ich muss jetzt zur Konferenz. Und du kümmerst dich um diesen Mann. Bring ihn in meine Residenz Sar Bilo. Er soll dort baden, und bitte die Mädchen des Rings, seine Wunden zu behandeln. Gib ihm etwas zum Anziehen, und warte, bis ich zurück bin.«

»Soll ich ihm das Magnetband wieder anlegen, Françao?«

»Man fesselt keine Gäste! Selbst die Prougen tun das nicht.«

Zorthias’ schwarze Augen wurden groß vor Verwunderung. Er schüttelte dreimal den Kopf, als wollte er sich vergewissern, richtig gehört zu haben.

»Dieser Sklave ist Ihr … Gast, Françao?«, sagte er mit rauer, gutturaler Stimme, die einen seltsamen Kontrast zu seinen verschwommenen Gesichtszügen und seinen rundlichen Körperformen bildete.

Métarelly antwortete nicht. Er wandte den Blick von dem betrüblichen Spektakel im Wasser ab, wo die Reste des Topasfisches langsam zu Boden sanken, und ging zu seinem Schreibtisch. Dort fuhr er mit der Hand über einen Fingerabdruckdetektor. Die Wasserwand schwang leise knirschend herum und gab den Blick auf eine Gravitationsplattform frei, die den rohrförmigen Eingang in die Tiefe bildete.

Der Françao und seine Garde stellten sich auf die Plattform.

Ehe die Wasserwand sich wieder hinter ihnen schloss, sagte Métarelly: »Du bist für das Leben dieses Mannes verantwortlich, Zorthias!«

Das war ein Befehl, der kein Versagen duldete.

 

Drei Stunden später tauchte Métarelly – noch immer in Begleitung seiner Garde – wie durch Zauber in dem großen Salon seiner Residenz Sar Bilo auf. Er hatte sich umgezogen und trug jetzt ein Cape und einen Anzug aus Jaunille-Chiné, der Provinz des Planeten Orange, die für ihre feinen Stoffe berühmt war. Er wirkte geistesabwesend, besorgt. Die Augen unter seinen dichten Brauen waren halb geschlossen, und seine Stirn war von tiefen Furchen gezeichnet.

Er beriet sich mit Zorthias, und Tixu konnte von dem bequemen Sofa aus, auf dem er saß, sehen, dass der Prouge wütend die Augen verdrehte und wie ein Verrückter herumfuchtelte.

Nachdem sich der Françao auf den Weg zur Konferenz gemacht hatte, war Tixu von Zorthias durch ein schier endloses Labyrinth aus Gängen, Steintreppen, Eisenbrücken und dunklen Stollengängen geführt worden. Der Oranger hatte große Mühe, nicht den weißen Lendenschurz des vor ihm Dahineilenden aus den Augen zu verlieren.

Schließlich hatten sie eine Kreuzung erreicht, in deren Mitte sich eine Fahrgastkabine auf einem Wasserstrahl befand. Zorthias hatte sofort die Reiseroute einprogrammiert, und unmittelbar nachdem sie die Kabine bestiegen hatten, hatte diese sich rasend schnell in Bewegung gesetzt. Bei jeder Richtungsänderung spritzten Wasserfontänen gegen die Kabinenfenster. Während der ganzen Fahrt war Zorthias äußerst nervös gewesen und hatte ständig die Hand an den Gürtel seines Lendenschurzes gelegt, an dem der Bauchbrenner befestigt war. Der Françao hatte ihm für das Leben dieses Gefangenen die Verantwortung übertragen, und diesem Befehl gehorchte er mit der absoluten Ergebenheit eines gezähmten Wolfs: jederzeit bereit, für seinen Herrn zu töten.

Die Kabine hatte endlich ihre Fahrt verlangsamt und war dann vollends zum Stillstand gekommen. Das dumpfe Rauschen des Wassers hatte der tiefen Stille im Innern der Erde Platz gemacht. Tixus Augen hatten sich schnell an das Halbdunkel gewöhnt. Sie befanden sich in einem großen Raum, in dem mächtige Stahlzylinder emporragten. Der Prouge hatte in einem bestimmten Rhythmus in die Hände geklatscht, worauf sich die Aufzugstür einer der Stahlzylinder öffnete.

»Schnell! Steig ein!«, hatte Zorthias befohlen und sich nervös nach allen Seiten umgesehen, als würde er fürchten, aus jeder Ecke von Feinden bestürmt zu werden.

Tixu hatte sich gefragt, warum sein Schutzengel derart besorgt war, denn er hätte im Zustand seiner Erschöpfung nicht im Traum an eine Flucht gedacht. Doch Zorthias musste seine Gründe gehabt haben, und auf Roter-Punkt war Vorsicht eine der Kardinalstugenden.

Der Fahrstuhl hatte sie zum Erdgeschoss von Métarellys Residenz, Sar Bilo, gebracht, ein Gebäude, das im reinen Oranger-Stil erbaut war. In den nach außen gewölbten honig- und bernsteinfarbenen Wasserwänden tummelten sich Fische aller Größe und Farben, die ein funkelndes exotisches Ballett aus komplizierten Arabesken vollführten. Dicke Teppiche aus Moiré von Jaunille bedeckten den Marmorboden, und indirektes Licht hinter den Vorhängen malte bizarre Schattenfiguren in den Raum.

Inmitten des großen, von einer Kuppel gekrönten Salons erstrahlten und verloschen in sich verschlungene phosphoreszierende Lichtringe in ruhig dahinfließendem, sich wiederholenden Rhythmus. Tixu kannte diese Ringe; sie erstrahlten auf den Piazzas aller Großstädte in seiner Heimat. Sie symbolisierten den Zyklus des menschlichen Lebens und machten dem Betrachter die Flüchtigkeit seines hiesigen Daseins bewusst.

In den Gängen eilten Bedienstete und Sklaven geschäftig umher. Sie waren nichts als stumme Schatten auf der anderen Seite der Wasserwände.

Zorthias hatte etwas in das Holofon vor dem Kristallinschirm gesagt. Daraufhin waren zwei Frauen die monumentale Treppe, die vom zentralen Mezzanin ins Erdgeschoss führte, hinabgestiegen. Die beiden waren Schwestern und stammten vom Dritten Sbarao-Ring. Sie trugen langes blauschwarzes Haar, hatten große braune Augen, hervorstehende Wangenknochen, schmale gerade Nasen, üppige Mündern und Zähne, die wie rosa Perlmutt schimmerten. Beide waren in eine Art kurze Toga aus Rohseide gekleidet, die nur wenig von ihren schlanken braunen Körpern verhüllte.

»Der Françao wünscht, dass ihr euch um diesen Mann kümmert. Ein Bad und eine Massage mit Kiprite-Öl, damit seine Wunden heilen«, hatte Zorthias sichtlich erleichtert angeordnet, weil er seinen Schützling ohne Zwischenfall nach Sar Bilo eskortiert hatte. »Ich hole ihn in zwei Stunden wieder ab.«

Die beiden Frauen hatten Tixu in einen hellen Raum im zweiten Stock gebracht, dessen transparente Decke mit Sternenstaub bedeckt war. Sie hatten ihn in sehr heißem Wasser gebadet und ihn am ganzen Körper mit rauen Schwämmen gebürstet – was sehr schmerzhaft war. Während dieser Prozedur hatten sie ständig gelacht und in ihrer melodischen Sprache mit ihm geredet.

So hatte er erfahren, dass sie von Sklavenhändlern gefangen genommen und dann an einen reichen Juwelier auf Roter-Punkt verkauft worden waren, einen widerwärtigen, perversen alten Kerl, der sie zwang, ihm sexuell zu Diensten zu sein. Doch da der Juwelier sich geweigert hatte, den jährlichen Beitrag an die Camorre zu zahlen, hatte er Besuch von deren Schergen bekommen und Hals über Kopf fliehen müssen, ohne seine Reichtümer mitnehmen zu können, einschließlich der Sklaven. Auf diese Weise sei nun Bilo Métarelly ihr neuer Herr geworden, ein viel besserer, wie sie versicherten, denn er behandele sie gut, außer, wenn er schlechter Laune sei. Aber dann würden sie sich unsichtbar machen. Unter Gelächter hatten die beiden hinzugefügt, dass sie alle seine sexuellen Wünsche erfüllen könnten, was bei ihm nicht zu schwierig sei. Ziemlich wehmütig hatten sie auch über den Dritten Ring – ihren Heimatplaneten – gesprochen.

Dann hatten sie Tixu mit einem wohlriechenden Öl eingerieben und lange massiert. Dank ihrer Hände, die so leicht wie Federn über seinen Körper strichen, war er eingeschlafen. Um ihn zu wecken, hatten sie ihn am Ohr gekitzelt, und laut gelacht, als sie sein verstörtes Gesicht beim Aufwachen sahen.

Tixu merkte sofort, dass die Behandlung Wunder gewirkt hatte: Seine Haut war so glatt und geschmeidig wie früher, die Abschürfungen waren verschwunden. Sogar die Risse und Hämatome an seinem Hals waren nur noch als zarte Rötung erkennbar. Auch seine Erschöpfung war gewichen und er hatte das wundervolle Gefühl, neue Kraft gewonnen zu haben. Das erinnerte ihn an die Wirkung der Echsen-Emulsion, mit der Malinoë, die Frau Kacho Marums, seine verletzte Schulter eingerieben hatte.

Die beiden Frauen hatten ihm beim Ankleiden geholfen. Er trug eine Hose, die um die Knöchel eng anlag, und darüber eine Tunika aus gebleichtem Leinen. Dann hatte Zorthias ihn abgeholt und in den großen Salon gebracht, wo er ihm befohlen hatte, sich zu setzen und zu warten.

Tixu hatte allmählich jedes Zeitgefühl verloren und seinen Geist schweifen lassen. Und bei dem Versuch, die Ereignisse zu entwirren, war er in eine Art Schwebezustand geraten, in dem er kaum noch Traum und Wirklichkeit unterscheiden konnte. Er war sogar so weit, dass er an der Existenz der Syracuserin zweifelte. Trotzdem glaubte er sich zu erinnern, dass sie es war, die ihn in dieses wahnwitzige Abenteuer getrieben hatte. Ihr Gesicht konnte er sich nicht mehr ins Gedächtnis rufen, dafür waren die anderen umso präsenter: diese mysteriöse Gestalt in dem weit geschnittenen grünen Kapuzenmantel, und die Handlanger dieses Mannes mit ihren weißen Masken. Kacho Marum, seinen Lebensretter, hatte er auch nicht vergessen.

Ein lautes Knurren seines ausgehungerten Magens brachte Tixu in die Wirklichkeit zurück.

Zorthias diskutierte noch immer gestikulierend mit dem Françao. Seine schwarzen Augen funkelten erbost.

»Jetzt siehst du aber viel besser aus!«, wurde Tixu durch die laute Stimme Métarellys aus seinen Gedanken gerissen.

Und noch ehe der Oranger antworten konnte, ließ sich der Françao schwer auf das Sofa neben ihn fallen. Die Sorgenfalten in seinem Gesicht waren nahezu verschwunden, trotzdem wirkten seine Gesten unruhig.

»Natürlich hast du das Recht, dir Fragen zu stellen«, fuhr er in betont heiterem Ton fort. »Sicher willst du wissen, warum du hier bist, wo du doch heute Abend einer der Stars auf dem Sklavenmarkt hättest sein sollen.«

Zorthias setzte sich im Schneidersitz auf einen Teppich und spitzte die Ohren. Auch er brannte darauf zu erfahren, warum dieser Gefangene derart zuvorkommend behandelt wurde. Seine wilde rote Mähne verlieh ihm das Aussehen eines Raubtiers, das jetzt aber friedfertig war.

»Wie dir sicher aufgefallen ist, stammt alles hier vom Planeten Orange«, sagte der Françao. »Die Teppiche, die Möbel … absolut alles. Sogar die Steine, die weißen Dachziegel und auch das Bauholz. Aus einem einfachen Grund: Ich bin Oranger. Und mehr noch, ich stamme aus der Provinz Vieulinn, aus dem schönen und grünen Vieulinn. Mein eigentlicher Name ist Bilo Maïtrelly, aber weil die Leute hier ihn nicht richtig aussprechen können, haben sie ihn in Métarelly geändert. Seit einer Ewigkeit bin ich nicht mehr in Vieulinn gewesen, und ich glaube auch nicht, dass ich unser Land jemals wiedersehen werde. Trotzdem bin ich über alles, was in unserer Heimat geschieht, auf dem Laufenden. So weiß ich, dass in dieser Woche die Oranger ihre zweitausendjährige Unabhängigkeit feiern. Seit zwanzig Jahrhunderten ist unser Planet Orange ein Mitglied der Konföderation von Naflin. Wusstest du das?«

Haschuitt hatte Tixu ausgerechnet an einen Françao vom Planeten Orange, der zudem noch aus der Provinz Vieulinn stammte, verkaufen wollen. Ein erstaunlicher Zufall. War dieser Umstand vielleicht dem Gott der Echsen zu verdanken?

»Hmm … nein«, antwortete Tixu. Geschichte hatte ihn nie interessiert.

»Obwohl ich aus unserer Welt für immer verbannt wurde, wollte ich auf meine Weise weiterhin an ihrer Kultur teilhaben und sie genießen. Das nennt man wohl Nostalgie. Seither betrachte ich Orange immer mit ausgesprochen wohlwollenden, ja liebevollen Augen. Dieser Planet war der meine, und ich wollte ihn nicht verlassen. Aber das Schicksal hat anders entschieden. Wie auch immer, es nützt nichts, der Vergangenheit nachzutrauern. Und deshalb freue ich mich, dieses Unabhängigkeitsfest mit einem Landsmann feiern zu können. Also, mein lieber Ti …«

»Tixu Oty.«

»Mein lieber Tixu, aus diesem Grund bist du jetzt frei. Hätten diese Drecksäcke dich an jemanden anders verkaufen wollen, säßest du jetzt in einem Käfig auf dem Sklavenmarkt. Als Krönung hätte man dir noch irgendein Scheißzeug gespritzt, das dein Hirn zerfressen hätte … Ich habe eine typisch vieulinnische Mahlzeit zubereiten lassen, damit wir gebührend unseren Unabhängigkeitstag feiern können. Und dann, wenn Salom am Himmel aufgeht, besuchen wir den Sklavenmarkt. Ich muss dort noch ein paar Dinge erledigen. Dann wirst du sehen, dass dieses Spektakel außerhalb der Käfige wesentlich amüsanter als innerhalb ist, mein junger Freund.«

So wie der Anblick des Schreibtischs im Domizil des Françao weckte auch die köstliche Mahlzeit Erinnerungen in Tixu. Mit jedem Bissen tauchten neue Bilder aus der Vergangenheit in ihm auf, die er vergessen geglaubt hatte, so wie das vage Bild seiner Mutter, die früher an Festtagen gerne aufwändige Gerichte zubereitet hatte.

Bilo Maïtrelly redete pausenlos, und in so liebevollem Ton wie ein Vater mit seinem Sohn. Er war glücklich, in Tixu einen Gefährten gefunden zu haben, dem er sich anvertrauen konnte. Allein durch seine Anwesenheit war es Tixu gelungen, die Mauer des Schweigens, des Misstrauens und der Einsamkeit, die sein Gastgeber in den langen Jahren seines Exils um sich herum errichtet hatte, zu brechen.

Während dieser Mahlzeit flüchteten sich beide Männer in die warme Geborgenheit Oranges, schwelgten in Erinnerungen und tranken dabei Unmengen des fruchtigen Weins aus Vieulinn.

Zorthias, der ausnahmsweise an der Tafel seines Herrn hatte speisen dürfen, zog sich – noch immer verärgert und griesgrämig – in eine Ecke zurück.

Noch nie hatte der Prouge den Françao so viel reden gehört. Der Herr von Sar Bilo erzählte in allen Einzelheiten, wie er wegen eines Verbrechens aus Leidenschaft zum Raskatta erklärt und von Orange verbannt worden war. Er schilderte seine Ankunft in Roter-Punkt-Stadt und seinen langsamen Aufstieg in der Camorre. Dass er als Handlanger angefangen habe und mit Drecksarbeiten wie der Liquidation von Verrätern betraut worden und dann zum Vertrauten und Leibwächter des alten Françao Sif Kérouiq, eines Ureinwohners vom Planeten Selp Dik aufgestiegen sei. Sif Kérouiq habe ihn zu seinem Nachfolger bestimmt, aber da diese Nachfolge von anderen Aspiranten infrage gestellt worden sei, habe er sie einen nach dem anderen eliminieren müssen. Vor allem die ehemaligen Leutnants von Sif Kérouiq, harte Burschen, die nur durch List und Verrat in diese Positionen gekommen waren.

»So etwas nennt man hier einen Nachfolgekrieg«, erklärte er mit einem ironischen Lachen. »Und nun zu dir. Was machst du hier auf Roter-Punkt?«

»Hm … ich reise«, antwortete Tixu vorsichtig.

»Ach, du reist? Ohne Geld und nackt?«, fragte der Françao lächelnd.

»Na ja, ich habe gegen die Regeln der InTra verstoßen, dieser Transportgesellschaft … Sie kennen sie ja, sie ist für intergalaktische Reisen zuständig, diese Zelltransformationen«, rechtfertigte sich Tixu, weil ihm die Zweifel seines Gastgebers nicht entgangen waren. »Die Gesellschaft hat nur veraltete Deremat-Geräte, also solche, die nur menschliche Zellen transferieren können. Und … hm … weil ich darüber nicht richtig informiert wurde, habe ich während des Transfers alles verloren: mein Gepäck, meine Kleidung und mein Geld. Als ich auf Roter-Punkt rematerialisiert wurde, war ich nicht imstande, mich gegen diese Bande zu wehren. Ich litt unter der Reisekrankheit und konnte mich erst nach einer Stunde wieder richtig bewegen.«

»Na schön. Aber es ist doch seltsam, dass der Reisebüroangestellte deine Rematerialisation in diese Ruinen am Rand der Wüste programmiert hat. Das ist wohl kaum ein attraktiver Ort für Touristen, oder? Und was hast du jetzt vor?«

»Ich. Ich weiß es nicht. Ich will versuchen, etwas Geld aufzutreiben, damit ich die Rückreise antreten kann …«

»Etwas Geld? Reisen kostet viel Geld«, entgegnete Maïtrelly. »Und Reisen per Deremat kostet ein kleines Vermögen. Du würdest zehn Jahre brauchen, um die nötige Summe zusammenzukratzen. Aber vielleicht kann ich dein Problem lösen. Du wurdest doch hoffentlich nicht zum Raskatta erklärt, wie?«

»Hm … nein. Noch nicht«, antwortete Tixu. Er wusste nicht, ob die InTra ihm bereits auf die Schliche gekommen war und ihn wegen seines Fehlverhaltens auf den Index des Raskattas hatte setzen lassen.

»Das ist gut. Im gegenteiligen Fall hätte ich dir angeboten, für mich zu arbeiten, aber das wäre sowieso im Moment nicht die optimale Lösung gewesen. Denn das Fortbestehen der Camorre ist äußerst ungewiss. Niemand kann vorhersagen, ob sie in ein paar Wochen oder auch nur in ein paar Tagen noch besteht …«

Zorthias hob den Kopf. Etwas Soße lief über sein Kinn, denn er hatte es nie gelernt, das automatische Besteck richtig zu bedienen. Er hörte zu kauen auf und blieb mit offenem Mund wie versteinert sitzen, ohne daran zu denken, sich mit der Serviette, die er ohne Nachzudenken ergriffen hatte, das Gesicht abzuwischen.

»Warum sagen Sie das?«, fragte Tixu. »Ich habe immer gehört, dass auf Roter-Punkt niemand etwas gegen die Camorre unternehmen könne.«

Maïtrelly stoppte das automatische Besteck vor seinem Mund. Es verharrte ein paar Zentimeter davor in der Luft, und er verschränkte die Hände unter dem Kinn. Vier, in durchsichtige Gewänder gekleidete Issigorinnen bedienten sie an der ovalen Tafel. Sie waren leicht an ihrer durchscheinenden Haut und ihrem aschefarbenen Haar zu erkennen. Mit harmonischen Gesten trugen sie die auf weißen Optalium angerichteten Speisen herbei. Und obwohl der Françao ihnen die Freiheit geschenkt hatte, waren sie weiter in seinen Diensten geblieben.

»Die Zeiten ändern sich«, murmelte Maïtrelly mit finsterer Miene. »Darüber haben wir heute Abend diskutiert.«

Wieder hatten sich Sorgenfalten in seiner Stirn eingegraben, und seine kurze Unbeschwertheit während seiner Jugenderinnerungen war tiefer Bedrückung gewichen.

»Die Camorre sieht sich einer Bedrohung ausgesetzt, deren Gefahr ihr bislang nicht bewusst war«, fuhr er mit müder Stimme fort. »Vor einer Woche haben wir eine Delegation in geheimer Mission vom Planeten Syracusa empfangen. Sie bestand aus einem Scaythen, einem Kardinal der Kirche des Kreuzes und einer Mitglied des Ang-Clans, der Herrscherfamilie. Und diese aufgeblasenen Modeäffchen haben uns Strafen angedroht, sollten wir nicht ihre abstrusen Bedingungen erfüllen.«

Offensichtlich hatte der reichliche Genuss des Weins Maïtrellys Zunge gelöst, denn er hatte das unwiderstehliche Bedürfnis, sich alles von der Seele zu reden.

»Diese Lackaffen wollen die totale Kontrolle über all unsere Aktivitäten: das Glücksspiel, die Prostitution, den Sklavenhandel und den Schwarzhandel mit allem Übrigen: Waffen, Drogen, Alkohol, Organe … Außerdem wollen sie unsere privaten Deremats konfiszieren und stellen die Bedingung, dass wir uns zeitlich begrenzte Zellularpässe ausstellen lassen müssen, wenn wir reisen wollen. Und sie verlangen, dass wir ihren dreckigen Missionaren dabei helfen, die Prougen in Matana und die Wüstenstämme zu konvertieren. Als Krönung des Ganzen sollen wir in jede unserer Truppen einen ihrer Gedankenleser-Scaythen integrieren. Das ist unerhört!«

»Sollen sie doch kommen, dann schlitzen wir ihnen sofort die Kehle auf!«, murrte Zorthias. Rote Soße tropfte von seinen Lippen. Sein Mund sah wie die blutbeschmierte Schnauze eines Raubtiers aus.

»Langsam, Zorthias! Wenn diese Lackaffen die Unverschämtheit hatten, uns derart zu provozieren, müssen sie Unterstützung haben, mächtige Verbündete. Also gibt es für die Camorre nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir akzeptieren ihre Bedingungen, dann können wir unseren Laden dicht machen. Oder wir akzeptieren sie nicht. Dann gibt es Krieg. Und das wird ein Krieg, von dem wir nicht wissen, ob wir ihn gewinnen können. Deshalb sollten wir ihn lieber vermeiden … Am meisten fürchte ich die Kirche des Kreuzes und deren Fanatiker. Was soll das alles? Warum wollen sie ihre Nase in unsere Angelegenheiten stecken? Ich habe keine Ahnung. Und wenn wir innerhalb der nächsten Tage nicht herausfinden, aus welchem Grund sie uns derart unter Druck setzen …«

Tixus Herz klopfte wild. Sein Puls raste. Maïtrellys Worte hatten wie ein Elektroschock auf ihn gewirkt und ihn brutal an das kürzlich Geschehene erinnert. Eine unglaubliche Energie breitete sich in ihm aus und beendete alle seine Zweifel, sein Zögern und seine Unentschlossenheit. Sein durch den schweren Wein seiner Heimat benebelte Kopf wurde schlagartig wieder klar. Er konnte wieder klar denken. Ohne es zu wollen hatte ihm sein Gastgeber den Zusammenhang, der zwischen der Syracuserin und den Mördern, die sie verfolgten, bestand, erklärt. Er begriff, dass es sich um eine gegen die Konföderation gerichtete Verschwörung handelte. Und er begriff, dass die Tage der Françaos der Camorre gezählt waren, dass sie von nun an nichts anderes als Tote auf Abruf waren.

»Ihr dürft diese Bedingungen weder akzeptieren noch verweigern«, sagte er, fast gegen seinen Willen. »Euch bleibt nur eins: die Flucht. Und zwar so schnell wie möglich.«

Bilo Maïtrelly schlug so heftig mit der Faust auf den Tisch, dass ein Kristallglas umfiel, auf einen Tellerrand prallte und zerbrach. Seine hellblauen Augen funkelten vor Zorn.

»Was redest du da? Fliehen? Vor diesen lächerlichen Gestalten? Vor diesen weibischen Typen in ihren Trikots? Was ist nur in dich gefahren? Und was weißt du über diese Dinge?«

»Ich habe Sie vorhin belogen«, antwortete Tixu gelassen. »Ich war Angestellter bei der InTra auf Zwei-Jahreszeiten. Und diese Typen haben mich töten wollen, weil ich eine Person, die zu viel wusste, umsonst transferiert habe.«

Der Françao starrte Tixu verblüfft an.

»Gegen diese Leute – jedenfalls nehme ich an, dass es sich um dieselben handelt – können Ihre Truppen nicht viel ausrichten«, sagte Tixu eindringlich. »Sie können Gedanken lesen. Sie wissen alles. Was man plant, hofft, wünscht. Auf Zwei-Jahreszeiten sind sie in mein Gehirn eingedrungen und haben sich auf diese Weise alle notwendigen Informationen verschafft. Ich hatte das Gefühl, mein Schädel würde explodieren, und gleichzeitig fühlte ich mich so ohnmächtig und verletzlich … Und ich bin nach Roter-Punkt gekommen, um der jungen Frau, die sie verfolgt haben, zu helfen. Und weil ich glaube, dass sie die Einzige ist, die noch etwas gegen diese Verschwörung unternehmen kann.«

»Warum haben sie dich nicht getötet?«, fragte Maïtrelly, ohne die leiseste Spur von Ironie in der Stimme.

»Das haben sie versucht, aber der Tod wollte noch nichts von mir wissen …«

Daraufhin herrschte bedrücktes Schweigen im Salon. Der Françao zweifelte nicht an Tixus Worten. Er kannte die Menschen und wusste, wann sie die Wahrheit sagten oder logen.

Die Dienerinnen standen wie angewurzelt neben der Schiebetür, die in die Küche führte. Sie konnten dieses plötzliche Schweigen nicht deuten und wagten sich nicht in die Nähe des Tischs.

»Lieber junger Freund«, nahm Maïtrelly schließlich nach einer Weile das Gespräch wieder auf. »Darüber müssen wir uns eingehender unterhalten. Aber jetzt geht Salom auf, und der Sklavenmarkt erwartet uns. Vielleicht ist das das letzte Mal, wer weiß? Ich möchte nicht den Verkauf der Hauptattraktion heute Abend versäumen. Ein sehr schönes Mädchen, wie es heißt. Ein Edelstein in Fleisch und Blut … Eine Syracuserin …«

Tixu zitterte und wurde blass. Bilo Maïtrelly hatte inzwischen die Kontrolle über seine Gefühle wiedererlangt. Die Reaktion seines Gastes überraschte ihn nicht.

»Sie wurde in der zweiten Dämmerung in Matana gefangen genommen. Von einer Bande junger Prougen, die für den dicken Glaktus arbeiten, einen widerlichen Fettsack, der sie natürlich sofort zum Verkauf angeboten hat. Ich frage mich, was diese Syracuserin in einem Höllenloch wie Matana zu schaffen hat? Die Versteigerung wird heute sicher alle Grenzen sprengen.«

Er tupfte sich den Mund ab, schob seinen Stuhl zurück und stand auf.

Natürlich hatte der Françao sofort erkannt, dass es sich bei der Gefangenen und Tixus Kundin um ein und dieselbe Person handelte. Doch davon ließ er nichts durchblicken, denn er agierte noch immer nach der Devise seines Mentors Sif Kérouiq: nie eine Entscheidung vorzeitig preiszugeben, damit man seine volle Handlungsfähigkeit behalten konnte.

»Geh schon voraus, Zorthias! Und lass meine Sklaven zum Sklavenmarkt eskortieren!«

Schon im ersten Moment, als der arme geschundene Tixu zu ihm gebracht worden war, hatte Bilo Maïtrelly Sympathie für ihn empfunden. Und das, ehe er wusste, dass der Gefangene Oranger war. Jetzt wusste er auch, warum. Denn sein junger Gast war von demselben Gefühl beseelt, das auch ihn vor zweiundvierzig Standardjahren dazu getrieben hatte, in der grünen Provinz Vieulinn einen Mord zu begehen.

Und dieses Gefühl, das war Liebe.