VIERTES KAPITEL
Eines Tages stattete der Wassergott Mehom dem Göttervater Aum Tinam einen Besuch ab. Der freute sich, seinen geliebten Sohn zu sehen, so wie sich ein Vater eben freut, wenn ihn seine Kinder besuchen.
»Was willst du von mir, mein Sohn?«
»O Vater, ich bin voller Zorn über die Menschen. Sie machen nichts anderes, als sich meiner zu bedienen und Böses zu tun. Sie bauen Schiffe, fahren mit ihnen über meine Ströme, und bringen den Tod. In meinen Flüssen und Teichen ertränken sie ihre Kinder oder Vorfahren, ihre Freunde oder Feinde. Sie fangen meine Fische. Sie respektieren nichts.«
»Dann hindere sie, das zu tun, o mein Sohn.«
»O Vater, das kann ich nicht. Ich habe zu viel zu tun. Ich überwache Ebbe und Flut meiner Ozeane und die Stärke meiner Wasserfälle. Ich sammele das Wasser der Wolken. Ich speise meine Grundwasservorräte. Deshalb kann ich meine Zeit nicht damit verschwenden, den Zerstörungen der Menschen Einhalt zu gebieten. Und deshalb bitte ich dich um Hilfe.«
Aum Tinam blies in seine Hände, und sie füllten sich mit Kaulquappen.
»Die sind für dich, mein Sohn.«
»O Vater, sie sind so klein.«
»Ich habe sie klein gemacht, damit sie dich während deiner Reise nicht behindern. Adieu, geliebter Sohn.«
Und Aum Tinam schenkte Mehom die Kaulquappen und kehrte in seinen Palast aus Licht zurück. Der Wassergott jedoch reiste auf dem Regen in sein Reich und trug die Kaulquappen in den Fluss Agripam. Dort wuchsen sie zu Riesenechsen heran. Seit jenem Tag wachen sie als gerechte, aber erbarmungslose Hüter des göttlichen Gesetzes über die Gewässer Mehoms.
Mündlich überlieferte Legende der Imas aus dem Volk der Sadumbas auf dem Planeten Zwei-Jahreszeiten.
Essen, Oranger! Du musst essen! Nahrung auf dem Teller übrig lassen ist nicht gut. Du brauchst Kraft, und deine Traurigkeit bringt dich nicht weiter.«
Moao Ambas raue Stimme übertönte das dumpfe Trommeln des Regens auf dem Dach der Kaschemme. Der sadumbische Küchenchef machte sich vor den Kochplatten zu schaffen, auf denen Töpfe mit Cuivralü brodelten. Während des Redens griff er mit der Virtuosität eines Jongleurs nach bunten Gewürzgläschen, nahm sie ohne Hinzusehen von den schmalen Regalen an der Holzwand und stellte sie anschließend wieder hin.
Moao Amba war eine lokale Berühmtheit – die Ausnahme, die die Regel bestätigt –, weil er im Gegensatz zu den anderen Sadumbas jovial und heiterer Natur war. Sein mächtiger weißer Bauch hing über einer fleckigen Schürze – sein einziges Kleidungsstück. Ansonsten war er nackt. Sein öliges schwarzes Haar hatte er zu kleinen Knoten gewickelt, die sich wie eine Art Rosenkranz entlang seines Scheitels türmten.
»Essen! Essen! Was Moao Amba kocht, ist immer gut. Findest du nicht?«
Mit seiner riesigen Hand schob er den Teller vor Tixu Oty, der auf einem rustikalen Hocker an der Theke saß.
»Das hat nichts mit deinen Kochkünsten zu tun, Moao«, sagte Tixu träge. »Ich habe heute einfach keinen Hunger.«
Wie jeden Tag nahm er sein Mittagessen in dem Restaurant Einheimische Köstlichkeiten ein, einem einfachen Schuppen aus unbehauenen Brettern, der auf Pfählen am Rande des Urwalds stand. Man durfte sich glücklich schätzen, zum kleinen Kreis von Moao Ambas Gästen zu zählen, denn dafür musste man den Fluss Agripam auf einer Hängebrücke an seiner breitesten Stelle überqueren. Und diese Hängebrücke war derartig unsicher und glitschig, dass sich die Liebhaber lokaler Spezialitäten nur extrem vorsichtig und langsam darauf fortbewegen konnten und infolgedessen stets bis auf die Haut durchnässt wurden. Aber alles in allem war es immer noch besser nass, aber lebendig in dem Lokal anzukommen, als bei den Echsen zu landen, die unten in der sanften Strömung unbeweglich wie Baumstämme auf ihre Opfer lauerten.
»Moao weiß, was du hast! Mumbë, wie? Viel zu viel Alkohol, das ist schlecht für den Schädel. Es sei denn … hast dich verliebt in die alte Hure aus der Taverne«, sagte der Koch und lachte.
Sein Lachen hörte sich wie ein Donnergrollen an. Sehr zufrieden mit sich, schlug er klatschend auf seine fetten Schenkel.
Die anderen Gäste, Stammgäste, die Tixu fast alle vom Sehen kannte – aber konnte es überhaupt Stammgäste in dieser Kneipe geben? –, hoben den Kopf und hielten mit Kauen inne. Ein lachender Sadumba war ein so seltener Anblick, dass sich niemand dieses Spektakel entgehen lassen wollte, und das, obwohl Moao für seinen Humor bekannt war.
Auf einem Transportband standen leerte Tabletts. Das Band blieb in der Nähe der Kochstellen stehen. Moao Amba füllte die Teller mit dampfenden Speisen, füllte die Becher mit billigem Wein und legte Messer und Gabeln dazu, ehe er auf die Tasten einer archaischen Fernbedienung drückte. Dann schwebten die Teller davon, schwebten durch die feuchte Luft und stellten sich auf die Tische im Speisesaal oder auf die unter der überdachten Terrasse – wenn man sie denn überdacht nennen konnte, weil sie ebenso viel Schutz vor dem Regen bot wie ein kahler Baum. Waren die Teller und Becher leer, kehrten sie auf dieselbe Weise zurück, entweder mit einer neuen Bestellung oder der Zahlkarte versehen. Um diesen Kreislauf zu koordinieren oder zu überwachen, brauchte der Wirt keine Hilfe. Seinen mannigfachen Aufgaben kam er mit der Souveränität und der Effizienz eines Dirigenten nach, der ein 3-D-Symphonieorchester aus dem Land Organ leitet.
Um dem Koch eine Freude zu machen, zwang sich Tixu, ein paar Bissen zu essen. Sein Filet von Grünem Lachs kam ihm heute trotz des pikant-bitteren Cardian-Gewürzes – einem Import vom Planeten Roter-Punkt – unerträglich fade vor.
Seine seltsame Besucherin von heute Morgen ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er versuchte, sie aus seinen Gedanken zu vertreiben, so wie man eine lästige Fliege verjagt, weil sie einem durch ihr ständiges Summen auf die Nerven geht. Aber die Syracuserin blieb ihm im Kopf. Jeder Winkel seiner inneren Wüste wurde vom Bild dieses schönen, rätselhaften Gesichts und den unergründlichen blau-grün-goldenen Augen beherrscht, die sowohl Sensibilität als auch Verachtung widerspiegelten … Und dann dieser sinnlich geschwungene Mund mit den bläulich schimmernden Perlmuttzähnen, der doch so verletzende Worte sagen konnte … Und diese zartgliedrigen Hände, deren spitze silberne Fingernägel sich in gefährliche Krallen verwandeln konnten.
Diese anmutige und arrogante junge Frau hatte in Tixu Gefühle geweckt, die er für immer in sich begraben geglaubt hatte. Sie, eine ihm völlig Fremde, hatte den Schlüssel zu jener Tür gefunden, deren Schloss vom Rost schon ganz zerfressen war. Tixus Verstand – oder das, was davon noch übrig war – sagte ihm, dass er sie nie wieder sehen werde und dass es völlig idiotisch sei, das Gegenteil zu hoffen. Er konnte sich einfach nicht von ihr lösen; es war, als hätten ihre Gesten, ihre Stimme, ihr Duft ihn verzaubert, betört.
Er stellte sich eine Unmenge Fragen und fand nicht eine einzige Antwort. Und diese unbeantworteten Fragen führten zu weiteren unbeantworteten Fragen, und schließlich wirbelten sie alle in teuflischem Tanz in seinem übermüdeten Gehirn herum. Um diesem Durcheinander zu entkommen und seinem Denken Einhalt zu gebieten, hatte er versucht, in den gewohnt apathischen Zustand zu flüchten. Vergebens.
Was hatte diese wunderschöne Syracuserin auf dem Planeten Roter-Punkt zu suchen? Dem Planeten der Raskattas, der Müllhalde der Konföderation, der Drehscheibe aller Arten des Schmuggels, des Drogen- und Menschenhandels, dem Treffpunkt allen Abschaums, dem Hauptquartier aller Kriminellen, Gesetzlosen und Abenteurer der bekannten Welten. Das war eine gefährliche und anrüchige Welt, wo selbst die Präsenz der konföderierten Polizei nur symbolischen Charakter hatte, und die von Adeligen und reichen Spießern von den Planeten des Zentrums nur besucht wurde, um sich dort bizarren Vergnügungen hinzugeben. Vor allem in Matana, der alten Stadt und Hochburg der einheimischen Prougen, in deren Labyrinth sich kein Fremder ohne eine Eskorte wagen konnte.
Der Inspobot war noch nicht gekommen. Obwohl Tixu wusste, dass man kurzen Prozess mit ihm machen würde, kostete er seine letzten Stunden in Freiheit – war er jemals frei gewesen? – nicht aus, denn die quälenden Gedanken in seinem Kopf ließen ihm keine Ruhe.
»Du weigerst dich also zu essen!«, schimpfte Moao Amba. »Und wenn du mein Essen ablehnst, behältst du auch dein Geld!«
»Du kannst nichts dafür, Moao«, murmelte Tixu geistesabwesend. »Warum sollte ich dich dann also nicht bezahlen?«
»Wirklich! Du machst mir Kummer«, seufzte der Sadumba. Er schnitt solche Grimassen und rollte mit den Augen, dass der Oranger wider Willen lächeln musste.
»Endlich!«, jubelte Moao Amba. »Endlich ein Lächeln auf deinem Gesicht zu sehen, macht mir große Freude. Das ist das erste Mal, seit du heute bei mir bist.«
»Moao Amba, warum glaubst du, laufe ich jeden Tag durch den Regen und werde klatschnass und krank von deinem Fraß?«, sagte Tixu und ging auf das Spiel des Wirts ein. »Meinst du etwa, ich würde deine Launen ertragen, wenn ich dich nicht gut leiden könnte?«
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, überkam ihn eine Vorahnung: Nie im Leben würde er Moao Amba, diesen elenden und nackten König einer miserablen Kaschemme wieder sehen. Das flüchtige Bild einer Gestalt, die in dem Reisebüro auf ihn wartete, tauchte vor seinem inneren Augen auf. Wahrscheinlich der Inspobot.
»Ich muss jetzt gehen. Adieu, Moao.«
Tixus Stimme brach, seine grauen Augen füllten sich mit Tränen. Dieses Gefühl erschien ihm deplatziert, seit Ewigkeiten hatte er nicht mehr geweint.
»Adieu? Adieu? Das sagt man doch, wenn man die Freunde nicht wiedersieht«, protestierte der Koch. »Also denkst du, mich nicht wiederzusehen. Also heißt das … was ich koche, das magst du nicht mehr essen.«
»Ich habe dein Essen noch nie gemocht!«, zwang sich Tixu zu scherzen. »Aber du weißt schon, es genügt, dass ich von dieser verfluchten Hängebrücke falle und hopp! Adieu, Tixu Oty! Die Echsen werden nicht viel von mir übrig lassen.«
»Nein! Nichts riskierst du! Weil du, du auch nicht gut schmeckst!«
Moaos ohrenbetäubendes Lachen breitete sich im Raum aus. Zuerst fing sein fetter Körper zu wabbeln an, dann erzitterten die dünnen Wände seiner Küche und schließlich begannen die Stühle, Tische und Tabletts mit ihren Gedecken im Restaurant und auf der Terrasse zu beben und zu schwanken. Es war ein Lachen, über das noch tagelang gesprochen wurde.
Tixu schenkte dem fröhlichen Sadumba einen letzten liebevollen Blick, stand auf, ging durch die Gaststube und grüßte im Vorbeigehen einige Gäste.
Der mit dicken glitschigen Tauen versehene Steg schwankte bedenklich unter seinem Gewicht. Unter ihm tummelten sich fünf oder sechs Echsen. Sie peitschten das träge dahinfließende Wasser mit ihren kräftigen Schwänzen, dass es aufschäumte. Da das Restaurant Einheimische Köstlichkeiten weitab von jeder Wohngegend gelegen war, konnte man hier häufig die größten Monster dieser Spezies sehen. Erwachsene Tiere erreichten manchmal eine Länge von fünfzehn Metern.
Tixu richtete sich innerlich mit der Resignation eines zum Tode Verurteilten auf sein unentrinnbares Schicksal ein. Als er den magnetischen Rollladen des Reisebüros hochließ, wurde seine Vorahnung zur Gewissheit.
Er wurde tatsächlich bereits erwartet. Hinter seinem Schreibtisch erkannte er im Halbdunkel drei Gestalten, doch es waren keine Inspobots. Allmählich verbreiteten die Wasserlampen helles Licht.
Dort standen zwei Männer in grauen Overalls, mit drei ineinander verschlungenen silbern glänzenden Dreiecken auf der Brust. Ihre Gesichter waren von hautartigen weißen Masken mit schmalen Augenschlitzen bedeckt. Die dritte Gestalt saß auf Tixus Sessel. Ihr Gesicht war ganz und gar von einer tief sitzenden hellgrünen Kapuze verborgen, sodass Tixu nur ein bräunliches fliehendes Kinn und einen rasiermesserscharfen Mund mit schwarzen Rändern erkennen konnte.
»Hm … meine Herren …«, stammelte Tixu. »Sie hätten warten können, bis das Reisebüro geöffnet ist … Wer hat Ihnen erlaubt, hier einzutreten?«
Die drei Eindringlinge antworteten nicht und rührten sich auch nicht. Tixu wurde von ohnmächtiger Angst ergriffen und hatte plötzlich eine dunkle Ahnung, dass ihr Erscheinen etwas mit seiner Kundin vom Vormittag zu tun haben müsse. Er bedauerte, nicht vor einem Inspobot zu stehen.
Er ging auf seinen Schreibtisch zu und versuchte, seiner Stimme einen festen Klang zu geben.
»Wer sind Sie, und was wollen Sie?«
Entsetzen stieg in ihm auf, denn diese Gespenster verbreiteten den Geruch des Todes. Sein in Panik geratenes Gehirn war außerstande, einen einzigen vernünftigen Gedanken zu fassen. Das dumpfe Schlagen seines Herzens dröhnte ihm in den Ohren.
Er trat direkt vor seinen Schreibtisch.
»Ich bitte Sie, sofort …«
Der Arm des Mannes zu seiner Linken schnellte wie eine Sprungfeder hervor und schlug den Oranger mit der Wucht eines Wurfgeschosses gegen die Schulter.
Tixu fiel auf die Knie. Er war völlig kraftlos und spürte den Geschmack von Blut in seinem Mund. Ein Tritt traf ihn im Unterleib und raubte ihm den Atem. Er sackte in sich zusammen und krümmte sich auf den kalten, feuchten Fliesen wie ein Fetus. Er hatte jedes Körpergefühl verloren und spürte nur noch Schmerz, einen unerträglichen Schmerz, der ihn durchbohrte. Er fühlte sich wie ein aufgespießtes Insekt. Mit Galle vermischter Speichel rann aus seinem Mundwinkel und tropfte auf sein Kinn. Aus der Entfernung von Lichtjahren drangen Sprachfetzen zu ihm durch.
»Reicht das?«, fragte einer der Männer. Seine Stimme unter der Maske klang verzerrt.
»Es müsste reichen. Ihr habt mir versprochen, mir meine mentale Inquisition zu erleichtern, nicht wahr? Hättet ihr härter zugeschlagen, wäre er nicht mehr in der Lage gewesen zu denken, was uns überhaupt nicht genützt hätte«, sagte die zweite Stimme. Sie hatte einen gutturalen, metallisch vibrierenden Ton.
»Ja, aber die junge Frau hat Euch eine Niederlage bereitet«, sagte die erste Stimme. »Unsere Methoden sind vielleicht gröber als die Euren, aber sie sind immer wirksam.«
»Ich habe keine Zeit, über die Vor- oder Nachteile unserer respektiven Methoden zu diskutieren.«
»Jedenfalls hat sie sich mit der Deremat-Maschine aus dem Staub gemacht. Und das hat sie nur von hier aus tun können. Auf diesem scheußlichen Planeten gibt es nur noch ein Reisebüro, und dessen Deremat funktioniert seit drei Wochen nicht mehr. Das normale Raumschiff hat schon vor zwei Tagen abgelegt …«
»Wir überprüfen das sofort.«
Der scaythische Gedankenleser stand auf und kniete neben Tixu nieder. Trotz des unerträglichen Schmerzes stellte der Oranger mit Entsetzen fest, dass sich in sein Gehirn etwas nicht Greifbares, Kaltes gleich einem sich schlängelnden Tentakel vortastete und, gierig nach Informationen, unter seiner Schädeldecke herumschnüffelte. Instinktiv und reflexartig lehnte er sich gegen das abscheuliche Eindringen in seine Intimsphäre auf. Er versuchte, seine Muskeln anzuspannen und aufzustehen – aber vergebens. Sein Versuch, sich zu wehren, löste nur noch größere Schmerzen aus. Eine weiß glühende Nadel drang in seinen Körper ein. Er wimmerte und blieb zusammengekrümmt auf den Fliesen liegen, ein wehrloser Zeuge der Schändung seines eigenen Schweigens. Er ahnte, dass der unsichtbare Eindringling nach Informationen über seine Besucherin am Morgen forschte, und er hatte das Gefühl, sie gegen seinen Willen zu verraten. Aber seine Wahrnehmungen waren derart vage, dass er nicht mehr Traum und Wirklichkeit voneinander unterscheiden konnte. Fern von ihm öffnete sich ein dunkler, von blauem Licht umgebener Mund und summte ein Wiegenlied.
Der scaythische Gedankenleser erhob sich.
»Die Lage wird komplizierter. Die junge Frau ist heute Morgen auf den Planeten Roter-Punkt gereist. Zwar hatte sie nicht genug Geld, die Reise zu bezahlen, aber dieser Dummkopf hat ihr nicht widerstehen können – wohl weil sie sich gewisser Techniken der Inddikischen Wissenschaft bedient hat – und ihr einen Rabatt gewährt.«
»Verdammte Scheiße, sie ist uns nur knapp entwischt! Aber unsere Brüder auf Roter-Punkt wurden bereits benachrichtigt. Sie werden sich um die junge Frau kümmern.«
»Darüber müssen wir uns Gewissheit verschaffen«, sagte die metallische Stimme leicht verärgert. »Es genügt, ihre Reisekoordinaten in diese Deremat-Maschine einzugeben.«
»Wenn Ihr das für nötig haltet … Und was machen wir mit diesem Jammerlappen?«
»Wir beseitigen ihn. Er weiß zu viel, auch wenn es nur wenig ist. Doch selbst das Wenige könnte unsere Pläne gefährden. Aber zuerst muss ich das Codewort für diese Maschine erfahren.«
Um jegliche Piraterie unmöglich zu machen, kannte nur der jeweilige Reisebüroangestellte den Geheimcode. Der kalte, nicht greifbare Tentakel tastete sich wieder in Tixus Gehirn. Er lag noch immer fast ohnmächtig vor Schmerzen auf dem Boden vor seinem Schreibtisch und spürte, wie seine Schultern, seine Arme und sein Rücken langsam taub wurden.
»Gut! Ich habe den Code«, verkündete die metallische Stimme.
»Wie soll ich ihn töten? Soll ich ihn erwürgen oder ihm den Hals brechen?«
»Weder noch. Es muss aussehen, als sei er eines natürlichen Todes gestorben. Solange wir unser PROJEKT noch nicht vollständig realisiert haben, müssen wir vermeiden, dass sich irgendjemand Fragen stellt. Das ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber trotzdem in Betracht zu ziehen. Einer von euch beiden wirft ihn in den Fluss Agripam. Da der Mann säuft, wird man glauben, er sei betrunken gewesen und habe das Gleichgewicht verloren. Die Reptilien erledigen den Rest. Solche Unfälle passieren hier häufig.«
»Woher wisst Ihr das alles?«, fragte die gedämpft klingende Stimme des einen Maskierten voller Bewunderung.
»Das habe ich alles in ihm gelesen. Sie sehen also, dass unsere Methoden auch ihr Gutes haben«, antwortete der Scaythe, zufrieden über diese kleine Revanche. »Gehen wir!«
»Wollen wir nicht auf denjenigen von uns beiden warten, der …«
»Dazu haben wir keine Zeit. Halten Sie sich an meine Instruktionen.«
Tixu spürte Hände unter seinen Achseln, die ihm halfen aufzustehen. Das Gehörte hatte Panik in ihm ausgelöst, aber er war unfähig sich zu wehren. Der Schlag auf seine Schulter hatte sowohl seinen Willen als auch seine Bewegungsfähigkeit gelähmt. Er musste sterben – und das bei vollem Bewusstsein.
Er konnte noch das charakteristische Zuschlagen der Schleuse hören, als der scaythische Gedankenleser und der zweite Söldner in den Deremat-Raum gingen.
Der Regen und die frische Luft draußen belebten ihn etwas, aber nicht genug, um sich wehren zu können. Er wollte rufen, schreien, doch kein Laut kam aus seiner Kehle. Der Maskierte drängte ihn unbarmherzig vorwärts. In seinem vernebelten Gehirn tauchte das Bild der schönen Syracuserin auf. Ihm schien, als würde ihr Mund Worte des Vorwurfs murmeln. Und er hatte nicht einmal die Kraft, sich zu rechtfertigen.
Dann sah er wie in einem Albtraum die hohen Baumwipfel des Waldes und begriff, dass sie auf eine der Hängebrücken zugingen. Als er nach dem obersten Seil griff, rammte ihm der Söldner brutal ein Knie in die Nieren, er sackte ein und ließ das Seil los.
Die gelb geschuppten Leiber und die roten Augen der Echsen tauchten im schlammtrüben Wasser des Flusses auf. Der Söldner blieb mitten auf dem Steg stehen und lockerte seinen Griff. Obwohl Tixu wusste, dass es zwecklos war, stemmte er sich gegen das schlingernde Seil. Zusammenhangslose Bilder der Erinnerung spielten sich vor seinem inneren Auge ab: die Syracuserin, ein Inspobot, eine graue Uniform, eine grüne Kapuze, ein grausamer Mund, Wolken am Himmel seines Heimatplaneten Orange, der Sägebaum im Garten seines Onkels, seine Mutter … Noch nie hatte er so deutlich das schmerzverzerrte Gesicht seiner Mutter wieder gesehen … Sie ist gegangen, er bleibt, ein trauriges Kind. Sie hatten keine Zeit, sich kennenzulernen.
Der Söldner packte Tixu an der Taille und zerrte ihn hoch. Geistesgegenwärtig hielt sich der Oranger mit beiden Händen an dem Seil fest und hing zwischen Himmel und Wasser, wobei er sich mit einem Knacken die Schulter verrenkte. Der Maskierte verlor das Gleichgewicht auf dem schwankenden Steg, der unter der plötzlichen heftigen Bewegung Schlagseite bekam. Er fiel mit voller Wucht auf Tixu, und beide stürzten hinab. Der Söldner stieß einen verzweifelten Schrei aus.
Ehe Tixu ins eiskalte Wasser fiel, hatte er ein letztes Bild vor Augen: gelbe Schuppen, rote Augen und aufgerissene Rachen, bewehrt mit Dreierreihen spitzer Zähne.
Er tauchte in die dunklen Tiefen des Flusses ein und schoss dann wie eine Holzkugel an die Oberfläche. Er war kurz vor dem Ersticken und versuchte verzweifelt, wieder zu Atem zu kommen und über Wasser zu bleiben. Aber Arme und Beine verweigerten ihm den Dienst. Ein paar Meter von ihm entfernt schwamm die weiße Maske. Und er sah die gekrümmten zackigen Schwänze und die riesigen Rachen der Echsen, die sich aus allen Richtungen auf ihre Beute, den Söldner, stürzten. Mit dem ersten Biss wurde ihm ein Bein ausgerissen, mit dem zweiten ein Arm. Der dritte zermalmte seinen Kopf. Die anderen Amphibien stritten sich um seinen Torso. Eine purpurrote Blütenkrone breitete sich auf dem schlammig-trüben Wasser aus.
Erschöpft, besiegt gab Tixu auf und ließ sich auf den Grund des Flusses sinken.
Mutter, warum bist du gestorben? Auch ich werde sterben … Aber ich möchte leben … Leben … Nicht sterben. Dich habe ich nicht gekannt, aber sie, sie hätte ich so gerne kennengelernt …
Jetzt lehnte er sich nicht mehr auf, er war bloß traurig und resigniert und von Bedauern erfüllt. Er hatte das Gefühl, alles im Leben vergeudet zu haben. Sein Dasein kam ihm absurd vor.
Über ihm führten die fahlweißen Bäuche der Echsen ein seltsames Wasserballett auf. Dann wurde er von einem mächtigen Strudel erfasst, und zwei scharlachrote Flecken breiteten sich im trüben Fluss aus.
Er glaubte, eine riesige Echse würde ihm zu Hilfe kommen. Das war ein idiotischer Gedanke. Ein unerfüllbarer Wunsch, ein letzter Traum vom Leben …
Er verlor das Bewusstsein und glitt in einen Abgrund, dessen Wände aus Wasser bestanden. Seine Mutter erschien ihm. Er flehte sie um Hilfe an, aber sie musterte ihren Sohn nur betrübt und bot ihm etwas zu trinken an. Er wollte nichts trinken, denn seine Lunge und sein aufgeblähter Bauch waren bereits voll Wasser. Eine nackte Frau erwartete ihn am Boden des Abgrunds. Er erkannte die Syracuserin, und sein Herz machte einen Freudensprung. Doch jedes Mal, wenn er sich ihr näherte, wenn er sie berühren wollte, wich sie mit entsetzlichem Hohngelächter zurück. Nie würde er zu ihr gelangen können. Dieser Gedanke machte ihn traurig. Am liebsten hätte er wie ein Kind geweint. Dann erbarmte sich die Syracuserin seiner und verwandelte sich in eine Sadumba-Frau, deren üppige Brüste über die Speckfalten ihres mächtigen Bauchs hingen. Ihre kleinen schwarzen und schlitzförmigen Augen waren voller Liebe. Ihre starken molligen Arme hoben ihn hoch als wäre er ein dürrer Ast. Sie drückte ihn an ihren Busen, streichelte ihn und summte ein Kinderlied. Aber der Geruch ihrer Haut war widerlich, unerträglich. Er strampelte wild, um sich aus ihrem schraubstockartigen Griff zu befreien. Da ihm das nicht gelang, trommelte er mit Füßen und Fäusten auf sie ein und stieß empörte Schreie aus.
Er öffnete die Augen. Sein ganzer Körper war mit eiskaltem Schweiß bedeckt. Seine Umgebung wirkte friedlich und war in ein angenehmes Halbdunkel getaucht. Er merkte, dass er lag und versuchte aufzustehen. Doch ein brennender Schmerz durchfuhr seine Schulter, und er gab auf. Wirre Bilder schwirrten durch seinen schmerzenden Kopf: der schwankende Steg, seine um das Seil gekrallten Hände, die Echsen, der blutige Torso des Maskierten, der Abgrund, das Wasser … das Wasser. Wasser! Atmen! Er musste atmen! Von Panik ergriffen, fing er an zu keuchen und bekam keine Luft mehr. Als er aber begriffen hatte, dass es wieder Luft zum Atmen gab, beruhigte er sich, und wurde von einer großen Müdigkeit erfasst, die in jede einzelne seiner Körperzellen drang, dass er sich flüchtig fragte, ob er überhaupt noch am Leben sei.
Eine unermesslich lange Zeit lag er so da: In tiefem Schlaf, von Fieberträumen heimgesucht, aus denen er, oft schreiend, emporschreckte. Doch nach und nach erlangte er sein Bewusstsein wieder, und seine Augen gewöhnten sich an das Halbdunkel. Er befand sich in einer Art Hütte, die aus weißen runden Bohlen gezimmert war, und deren Zwischenwände aus einem ihm unbekannten Material bestanden. Er lag auf einer porösen, schwammartigen Matratze, die gleichzeitig hart und bequem war. Eine schuppige Lederhaut diente ihm als Zudecke. Im Raum herrschte ein übler Geruch, der ihm zwar bekannt vorkam, den er aber nicht einordnen konnte. Ein einfallender Lichtstreifen verriet, dass es an der gegenüberliegenden Wand eine Tür gab.
Wieder wollte er sich aufrichten, doch der Schmerz warf ihn erneut auf sein Lager zurück. Mit zitternder Hand fuhr er über sein Gesicht, über Stirn, Nase, Lippen und stellte fest, dass seine Haut jetzt warm war.
Die Tür wurde geöffnet, und eine Sadumba-Frau trat ein. In einer Hand hielt sie eine altmodische Nyctronlampe, die flackerndes Licht verbreitete, in der anderen eine Schale mit dampfendem Inhalt. Ihr glattes Haar fiel ihr wie schwarzer Regen über die Schultern und ihre breiten Hüften – das war ihr einziges Kleidungsstück. Ihr dichtes Schamhaar und ihre braunen Brustwarzen bildeten dunkle Punkte auf ihrem milchweißen Körper. Als sie sah, dass Tixu das Bewusstsein wiedererlangt hatte, erleuchtete ein strahlendes Lächeln ihr rundes Gesicht.
Sie beugte sich über ihn und bedeutete ihm, die Schale leer zu trinken. Sie strömte einen Geruch aus, der Tixus Nase beleidigte. Einen herben Geruch nach ranzigem Fett, wie er überall in der Hütte herrschte, nur sehr viel stärker. Fast hätte er sich übergeben.
»Da, da, da … gut für dich«, summte sie in gebrochenem Naflin. »Da, da, da … gibt dir Leben zurück. Da, da, da, Kräfte wiedergewinnen …«
Gebieterisch presste sie den Rand des Gefäßes zwischen Tixus Lippen. Das kochend heiße Getränk lief in seinen Mund und seine Kehle. Es trieb ihm Tränen in die Augen. Seine Speiseröhre brannte, und die brennende Flüssigkeit erreichte seinen Magen. Er schluckte, wandte den Kopf ab und spuckte alles aus.
Die Frau stellte die Lampe auf den Boden, kauerte sich zu ihm hin und zwang ihn, alles zu trinken.
»Da, da, sehr heiß trinken. Da, da, am besten für Gesundheit. Da, da, ganze Kraft von Echse darin. Da, da, trinken Kraft von Echse. Da, da, trinken ihre Unbesiegbarkeit …«
Als Tixu das Wort »Echse« hörte, stellte er sofort den Zusammenhang zwischen dem Körpergeruch der Frau und den großen Reptilien her. Denn eines Tages hatte Moao Amba ihm am Ufer des Flusses Agripam unter überhängenden Zweigen versteckt eine junge Echse gezeigt. Und was ihn damals – außer seiner Angst – am meisten beeindruckt hatte, war dieser penetrante Gestank nach ranzigem Fett, derselbe, der diesen Raum erfüllte.
Nachdem er die Schale leer getrunken hatte – seltsamerweise war die kochend heiße Flüssigkeit nahezu geschmacklos –, nahm die Frau von einem niedrigen Regal einen Flakon, aus dem sie vorsichtig den Stöpsel zog. Das Regal, die Schale und der Stöpsel waren aus demselben Material gefertigt, den Knorpeln oder Knochen der Riesenechsen. Sie tauchte ihre Fingerspitzen in das Gefäß und begann, mit dem nach Ambra duftenden Öl seine Schulter zu massieren. Sofort breitete sich an dieser Stelle eine wohltuende Wärme aus. Wie durch Magie schwanden Schmerzen und Müdigkeit, und Tixu wurde von einer sanften Euphorie ergriffen.
»Da, da, sehr gut für Verletzungen. Da, da, kommt von Großer Echse. Da, da, jetzt heilen …«
Während sie massierte, berührte sie mit ihren Brüsten ganz zart seinen Oberkörper und seinen Bauch.
»Arm können bewegen. Wie vorher. Gebrochene Schulter jetzt repariert …«
Eine Tür wurde geschlossen. Sie hielt inne und lauschte kurz. Ein breites Lächeln entblößte ihre weißen regelmäßigen Zähne.
»Kacho Marum!«, rief sie. »Ima Sadumba des Tiefen Waldes. Ich Malinoë. Er Kacho Marum, Ehemann. Vater meiner Kinder. Er tauchen in Fluss, dich retten …«
Kacho Marum betrat den Raum. Er ähnelte nicht den Sadumbas, die Tixu kannte. Er war größer und nicht fettleibig, sondern muskulös. Und er strahlte eine unglaubliche Würde aus, trotz seiner Nacktheit. Er war Respekt einflößend. Er hatte einen klaren, stolzen Blick. Das Haar trug er wie alle sadumbischen Imas: nach hinten gekämmt und auf dem Kopf zu einem Kegel aufgetürmt, dem mittels eines Knochens Halt verliehen wurde.
Er wechselte mit Malinoë ein paar Worte auf Sadumbisch, während durch den Türspalt ein Kind spähte. Seine runden Augen musterten Tixu mit unverhohlener Neugier.
Kacho Marum begrüßte den Oranger mit der traditionellen Geste der nach außen gewandten Handflächen. Das taten die Sadumbas, die am Rand der Stadt lebten, ebenfalls. Doch bei ihnen war diese Art der Begrüßung zu einer bloßen Formalität verkommen, während sie für Kacho Marum noch die traditionelle Lebensweise des Waldvolks verkörperte.
»Wie fühlst du dich, junger Gast?«, fragte er in ernstem und gleichzeitig liebenswürdigem Ton.
»Hm … es geht …«, sagte Tixu.
Seine eigene Stimme kam ihm fremd vor, so als würde er sich über ein Holofon hören. Noch konnte er die Wirklichkeit nicht ganz begreifen, weder die Dinge, die ihn umgaben, noch dieses beeindruckende Paar in seiner paradiesischen Nacktheit.
»Wo … wo bin ich?«
Der Sadumba schlug sich mit der Hand klatschend auf die Brust.
»Bei Kacho Marum, dem Ima des Tiefen Waldes.«
»Und … Sie haben mich aus … aus dem Fluss gezogen?«
Kacho Marum lachte wie ein Kind, so als ob ihn Tixus Frage außerordentlich erheitern würde.
»Ja. Ja, das habe ich. Aber nicht allein.«
»Das ist unmöglich«, wandte Tixu ein. »Unmöglich … Niemand kann den Echsen entkommen.«
»Die Echsen sind Kacho Marums Freunde«, antwortete der Sadumba einfach.
Malinoë stellte den kostbaren Flakon ins Regal zurück und ging aus dem Raum. Zur großen Enttäuschung des Kindes schloss sie sorgfältig die Tür hinter sich.
Kacho Marum setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden. Ehe er eine bequeme Position eingenommen hatte, nahm er sein Glied zwischen Daumen und Zeigefinger und legte es vorsichtig zwischen beide Hoden. Diese Geste, die bei jedem anderen Mann schamlos ausgesehen hätte, wirkte bei ihm völlig natürlich. Noch rannen Regentropfen über seine weiße und glatte Haut, die an manchen Stellen mit kleinen geometrischen Tätowierungen verziert war. Seine volle und tiefe Stimme wirkte gütig und gelassen.
»Danken wir Aum Tinam für die Segnungen des Lebens«, sagte er, nun in eindringlichem Tonfall. »Wie jeden Tag wollte ich meine Freundschaft mit den Flussechsen – den Inkarnationen der Götter bei uns – pflegen. Als ich zum Agripam kam, sah ich, dass sich zwei Männer aus anderen Welten auf einer Hängebrücke prügelten. Die beiden Männer fielen in den Fluss, in die Wasser des Gottes Mehom. Da kam mir ein Gedanke: Diese Leute verdienen das Geschenk Aum Tinams nicht; und meine Freunde, die Echsen, werden die ihnen anvertraute Aufgabe erfüllen. Sie werden den Männern das unschätzbare Gut des Lebens nehmen.«
Er schwieg und beugte sich vor, wie um Tixu ein kostbares Geheimnis anzuvertrauen. Auch er roch wie die Riesenechsen.
»Dieses kostbare Geschenk wurde dem einen Mann sofort genommen. Aber dann geschah etwas ganz Außergewöhnliches! Die Große Echse, deren Kräfte für uns Wesen auf zwei Beinen unvorstellbar ist, warf sich auf ihre Brüder und Schwestern und untersagte ihnen, den zweiten Mann anzurühren. Mit ihrem Körper formte sie einen unüberwindbaren Wall, damit der Mann aus den anderen Welten gerettet wurde. Gegen ihre Brüder und Schwestern der Wasser! Es ist das erste Mal, dass so etwas je geschah!«, sagte Kacho Marum voller Erstaunen und Bewunderung.
»Aus Legenden wissen wir«, fuhr er mit sonorer Stimme fort, »dass derjenige, der dem Zorn der Echsen entkommt, einem außergewöhnlichen Schicksal entgegengeht. Dass die Götter ihm Unsterblichkeit verleihen. Ja, Unsterblichkeit! Und deshalb habe ich nicht gezögert. Ich bin in Mehoms Reich gesprungen und habe der Großen Echse geholfen, den zweiten Mann zu retten. Der war schon halb ertrunken, halb bewusstlos und beinahe tot …«
Kacho Marum schwieg und wartete auf Tixus Reaktion.
Die Worte des Imas erschienen ihm wie ein Traum, und er zweifelte plötzlich an seinem Verstand, an der Wirklichkeit und an seiner und an seines Gastgebers geistigen Gesundheit.
»Das ist unmöglich! Das sind doch prähistorische Monster! Sie greifen alles an, was sich bewegt. Sie haben mich nicht aus dem Wasser retten können, sonst wären Sie zerfleischt worden …«
»Wie hätten sie es wagen können, Kacho Marum anzugreifen, während er einen Mann aus dem Fluss fischte, der unter dem Schutz der Großen Echse stand?«, antwortete der sadumbische Schamane ruhig. »Glaube mir, junger Gast, es ist ein außergewöhnliches Zeichen, eine Begegnung mit den Echsen zu überleben. Du musst ein großer Mann sein oder ein großer Mann werden … Während meines Lebens als Diener der Götter habe ich nie jemanden aus den anderen Welten gesehen, der diese Prüfung bestanden hätte. Die Echsen sind die gerechten Wächter des Gottes Mehom: Jene, die von ihren Zähnen zermalmt wurden, verdienten das kostbare Gut des Lebens nicht. Aber du, du musst leben und deine Gaben kultivieren. Leben und deine Bestimmung vollenden …«
»Was soll ich vollenden, gütiger Himmel?«
Die Bedeutung dieses Sermons entging Tixu. Bislang war er der Meinung gewesen, ein Nichts zu sein, ein von seinen sinnlichen Wahrnehmungen getäuschtes Subjekt mit beschränktem Intellekt, das Ziele verfolgte, die nirgendwohin führten. Allein die Tatsache, noch am Leben zu sein und mit einem nackten Mann über die Göttlichkeit widerlicher Bestien zu reden, kam ihm völlig absurd vor.
»Du sollst dein Schicksal vollenden«, sprach Kacho Marum ungerührt weiter. »Denn dein Schicksal ist größer als dein Begriffsvermögen. Du hast das innere Wasser der Echsen getrunken, du bist mit ihrem Fett gesalbt: Sie haben die Zauberkraft unseres Freundes, des Todes, gebrochen. Trotz der Wasser Mehoms in deiner Lunge, trotz deiner schweren Verletzung an Kopf und Schulter. Danke den Echsen! Denn allein sie haben dir geholfen, das kostbare Geschenk des Lebens zu bewahren! Nur wenige Wesen auf zwei Beinen wurde diese Gunst zuteil.«
»Warum haben sie mich erwählt? Wer entscheidet so etwas?«, fragte Tixu. Langsam begriff er, warum hier alles nach den riesigen Reptilien stank.
»Allein ein Ima des Tiefen Waldes vom Volk der Sadumbas wie Kacho Marum, der heilige Hüter und Freund der Echsen, das letzte Glied einer langen Kette Imas, auch sie Freunde der Echsen, kann entscheiden, ob er die Medizin der Echsen verabreichen darf. Du, junger Gast, bist der einzige Mensch der anderen Welten, den ich mit Erlaubnis der Götter heilen durfte. Das geschah nach dem Willen der Großen Echse!«
Traurigkeit verdunkelte die Gesichtszüge des Sadumbas.
»Nur wenige verdienen das. Die allermeisten Männer aus den anderen Welten, die Schatzgräber, leiden unter einer unheilbaren Krankheit: dem Optalium-Fieber. Viele meines Volkes trinken Alkohol; er macht aus der Seele eine leere Wüste. Sie ehren die Götter nicht mehr und werden bestraft, wenn sie in den Fluss Agripam fallen. Obwohl, junger Gast, das Fett und das Wasser der Echsen allmächtig gegen Krankheiten sind! Sie heilen sogar die Zenoïba, das tückische Fieber, gegen die alle Mittel der Mediziner-Menschen machtlos sind.«
»Wie … wie stellen Sie es an, das Fett der Echsen und ihr … inneres Wasser zu gewinnen? Fangen Sie die Tiere?«
Kacho Marum bekam einen Lachanfall und schlug sich zwischen zwei Heiterkeitsausbrüchen kräftig auf die Schenkel.
»Die Echsen fangen? Niemand hat jemals einen Gott gefangen. Es würde auch niemandem gelingen. Sie sind viel zu stark und viel zu klug … Vor langer Zeit, Kacho Marum war damals noch ein Kind, sind Jäger aus den anderen Welten gekommen, weil sie stehlen und die Häute der Echsen verkaufen wollten. Doch alle haben das kostbare Gut des Lebens verloren. Die Echsen vertrauen ihre Geheimnisse nur ihren treu ergebenen Dienern an, den Imas des Tiefen Waldes. Wenn sie ihre Aufgaben erfüllt haben und kurz davor sind, die Welt Mehoms zu verlassen, begeben sie sich an einen Ort, der nur den Imas bekannt ist. Dann verschenken sie ihre Körper, noch ehe das Leben sie verlassen hat. Sie gehen ans Ufer, legen sich auf den Rücken und lassen sich öffnen, damit wir ihnen ihr inneres Wasser und ihr Körperfett entnehmen können. Schmuggler haben versucht, den geheimen Echsenfriedhof aufzuspüren. Sie alle haben ihr Leben verloren. Kacho Marum wird dieses Geheimnis nur seinem ältesten Sohn mitteilen, der wiederum sadumbischer Ima und Heiler wird. Deine Lebenskräfte sind zurückgekehrt. Du hast keine Schmerzen mehr, nicht wahr?«
Tixu hob seinen Arm und bewegte ihn kreisend.
»Ich spüre nichts mehr … Das ist seltsam … Es kommt mir vor, als wäre ich nie verletzt worden …«
»Sehr gut. Jetzt weißt du, wie stark die Medizin der Götter ist. Das darfst du nie vergessen.«
»Ich muss noch einmal fragen: Warum ich?«
»Das musst du selbst herausfinden, junger Gast. Die Große Echse irrt sich nie. Da du das Geschenk des Lebens verdient hast, musst du es nun für einen guten Zweck einsetzen. Kannst du aufstehen?«
»Ich weiß nicht … Ich glaube, ja …«
Tixu richtete sich vorsichtig auf. Nichts tat ihm mehr weh. Ermutigt stand er auf und machte ein paar zögernde Schritte. Seine nackten Füße gingen über große plattgeschliffene Knochen, die mit Bändern zusammengehalten wurden. Er hatte das Gefühl, über eine weiche und warme Erdschicht zu gehen.
»Wie schön! Wie schön!«, freute sich Kacho Marum. »Du bist wieder in Form. Die Echsen haben dir viel Gutes getan!«
Allmählich hatte sich Tixu an den strengen Geruch gewöhnt. Er störte ihn nicht mehr. Auf den einfachen Regalen an den Wänden standen Gefäße unterschiedlicher Größe, die bernsteinfarbene Flüssigkeiten in den verschiedensten Stadien der Mazeration enthielten. Mit einem dieser Öle hatte Malinoë ihn behandelt.
»Siehst du: Die Mauern meines Hauses, der Boden meines Hauses, das Dach meines Hauses, das alles wurde aus den Körpern der Echsen gebaut«, sagte der Ima voller Stolz. »So leben Malinoë, meine Kinder und ich ständig im Leib der Echsen, und sie beschützen uns Tag und Nacht, sowohl während der Regenzeit als auch während der Trockenzeit. Die Matratze, auf der du gelegen hast, ist aus der Blase der Echse gefertigt, die Zudecke aus ihrer Haut. Was können uns die Dämonen des Waldes und die Dämonen anderer Welten da noch anhaben?«
Tixu lächelte, ein zugleich ungläubiges wie zustimmendes Lächeln. Neue Energie pulsierte durch seine Venen und breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Eine Energie, so frisch und klar wie eine sprudelnde Quelle aus Felsengestein. Das Leben nahm wieder von ihm Besitz. Jetzt wollte er endlich ein Land erobern, das lange brachgelegen hatte. Der Tod hatte ihn berührt; und er schuldete dem Schamanen sein Überleben, einem Mann, den der Zufall gerade in diesem Moment an den Fluss geführt hatte. Ein Zufall? Oder die Vorsehung? War das wichtig?
Zum ersten Mal seit Tixu in dieser seltsamen Behausung die Augen geöffnet hatte, war er sich bewusst, dass er lebte und dass das Leben ihm wundervolle, einzigartige Chancen bot. Und ein Geschenk war, wie Kacho Marum gesagt hatte.
»Und jetzt gehen wir essen! Du wirst sehen, wie schön der Wald von meinem Haus aus gesehen ist.«
Die Freude des Imas war wohl damit verbunden, dass er an Tixus Wiedergeburt teilnahm. Er stand mit einer geschmeidigen Bewegung auf und verließ den Raum, der Oranger folgte ihm. In dem anderen Zimmer rührte Malinoë in einem großen elfenbeinfarbenen Topf, der über einer offenen Feuerstelle hing.
Drei Kinder spielten in der Nähe. Jetzt liefen sie zu Tixu, berührten und kitzelten ihn. Ihr Vater rief sie zur Ordnung. Der Älteste, ein etwa zehnjähriger Junge, und seine Geschwister setzten sich brav in eine Ecke, doch in ihren Augen war alles andere als Gehorsam zu lesen.
Malinoë drehte sich um, schob ihr dichtes schwarzes Haar beiseite und sagte lächelnd zu Tixu: »Du geheilt? Gut, gut!«.
»Ja … ehm … ich möchte mich bedanken für …«, entgegnete der Oranger, ebenfalls lächelnd.
»Kein Dank!«, unterbrach Kacho Marum ihn. »Malinoë und ich haben nur unsere heilige Pflicht erfüllt, die darin besteht, den Göttern zu gehorchen. Und einer heiligen Pflicht gebührt kein Dank.«
Das Zimmer war ähnlich wie der Raum ausgestattet, in dem Tixu gelegen hatte. Dieselben Materialien, dieselbe Einfachheit. Mit einem Unterschied: anstelle der Matratze lagen braune Kissen auf dem Boden – Sitzgelegenheiten? Sie waren um ein Viereck aus durchsichtigem Material gruppiert. Aus einer schmalen Öffnung im Dach fiel Licht in den Raum, und die belaubten Zweige eines Asts ragten ins Innere.
Kacho Marum öffnete die Tür. Durch sie gelangte man auf eine Terrasse ohne Geländer. Der Boden war so uneben, dass sich an manchen Stellen Pfützen gebildet hatten. Als Tixu dort stand, Wind und Regen ausgesetzt, wurde ihm zum ersten Mal bewusst, dass er, genau wie seine Gastgeber, völlig nackt war. Bis jetzt hatte er diesen Zustand nicht einmal wahrgenommen, vielleicht weil die Nacktheit bei den Sadumbas ein gesunder natürlicher Zustand ohne jede Zweideutigkeit war. Ihn fröstelte und er verschränkte die Arme vor der Brust, um sich etwas zu wärmen.
Kacho Marum hatte seine Hütte mitten im Wald auf den Ästen eines Riesenbaums errichtet. Sie war von allen Seiten von dichtem Laubwerk umgeben, das ein verworrenes grünbraunes Geflecht bildete. Von der Terrasse aus konnte man über eine Hängebrücke zum nächsten, etwa dreißig Meter entfernten Riesenbaum gelangen. Dann verlor sich die Brücke im dichten Grün. Die mächtigen Baumstämme unter ihm standen im Wasser, das sich, so weit er auch blickte, in alle Richtungen ausdehnte. Auf dem Wasser fuhren kleine Boote und Einbäume und auch aus Knochen und Häuten der Echsen gefertigte Kajaks. Zwischen ihnen schwammen die Reptilien ruhig dahin, ohne sich um die Sadumbas in ihren zerbrechlichen Nussschalen zu kümmern.
Tixu deutete auf die Echsen. »Sie … sie greifen nicht an?«
»Du hast nichts begriffen!«, antwortete Kacho Marum. »Die Hüter des Flusses greifen nur jene an, die es nicht verdient haben zu leben. Wenn jemand aus meinem Volk ins Wasser fällt, weiß er, dass allein die Echsen darüber entscheiden, ob er das kostbare Gut des Lebens behält. – Der Wald ist schön, nicht wahr?«
»Wunderschön!«, stimmte Tixu aufrichtig zu.
Die mächtigen, gerade gewachsenen Baumstämme spiegelten sich auf dem glatten grauen Wasser wider, wie majestätische Säulen eines Tempels im Glanz eines Marmorbodens. Und unter dem gewölbten grünen Laubdach mit seinen viel verzweigten Hängebrücken herrschte eine geradezu magische Atmosphäre.
Tixus Seele verschmolz mit diesem himmlischen Licht, einem Licht, das das harmonische Gleichgewicht uralter Zeiten ausstrahlte. Und so ließ er sich rückhaltlos von der betörenden, friedlichen Stille des Tiefen Waldes verzaubern.
In diesem Moment erschien ihm das Gesicht der Syracuserin. Ganz deutlich konnte er ihr Antlitz sehen, wie von innen erleuchtet. Kein Laut kam über ihre weiß umrandeten sinnlichen Lippen, aber er wusste, dass sie ihn rief. Sie sprach direkt zu seiner Seele. Und er spürte, dass sie verzweifelt war und ihn anflehte. Er vernahm ihre Hilferufe, dann Rufe und Schreie von anderen. Und bald hatte er das Gefühl, dass die ganzen Schreie seinen Körper wie ein hohles Gefäß erfüllten. Er versteifte sich und wollte diesem Ansturm Einhalt gebieten. Er schüttelte den Kopf und presste seine Hände auf die Ohren, um diesen unerträglichen Lärm zum Schweigen zu bringen. Völlig umsonst. Das ganze Universum schien sich gegen ihn verschworen zu haben. Und das wütende Geschrei verwandelte sich in verletzende Beleidigungen, die ebenso schmerzten, wie die Stiche blutsaugender Insekten.
Dann hörte er über dem ganzen Stimmenwirrwarr eine tiefe Stimme, die in einem monotonen Sprechgesang ständig wiederholte: »Dein Schicksal … Du musst dein Schicksal erfüllen … Dein Schicksal … Du musst dein Schicksal erfüllen … Dein Schicksal …«
Ganz plötzlich trat wieder Stille ein. Und wieder herrschte nichts als Frieden in dem wie verzauberten Wald. Tixu drehte sich nach Kacho Marum um, der seinen Gast mit unverhohlener Neugier betrachtete.
»Ich muss euch verlassen«, sagte der Oranger ruhig, aber bestimmt. »Ich muss euch sofort verlassen.«
»Der Wald hat dir eine Botschaft geschickt«, erklärte der Ima. »Luhaïm, der Gott des Waldes, wird dir helfen. Die Welten da draußen stehen am Rand des Abgrunds. Wenn du dein Schicksal nicht erfüllst, wird bald nie wieder ein zweibeiniges Geschöpf das Geschenk des Lebens erhalten.«
»Kann ich meine Kleidung haben?«
»Sie liegt für dich bereit. Aber vorher musst du noch vom inneren Wasser der Echse trinken, um deine Gesundheit zu stärken. Du bist doppelt gesegnet, junger Gast. Denn du stehst nicht nur unter dem Schutz der Großen Echse, sondern auch unter dem des Waldgottes.«
»Wie … wie kann ich euch nur eines Tages danken?«, stotterte Tixu, denn in diesem Augenblick war ihm bewusst geworden, welche Würde und Seelengröße sein Gastgeber besaß. Und er liebte und achtete ihn dafür rückhaltlos.
»Schon wieder? Du scheinst einfach nicht zu verstehen!«, sagte Kacho Marum. »Aber wenn du mir schon danken willst, dann tue, was du tun musst; und ich weiß es zu schätzen. Doch diesen Dank reiche ich an jene weiter, denen er gebührt. An meine Freunde, die Echsen des Flusses Agripam.«
Dann ging der sadumbische Ima in sein Baumhaus zurück, wo er von seinen Kindern mit einem fröhlichen Lachen begrüßt wurde. Tixu folgte ihm schnell. Er hatte es eilig. Denn die Syracuserin schwebte in Lebensgefahr auf dem Planeten Roter-Punkt. Sie war die letzte Hoffnung eines Universums, das dem Untergang geweiht war. Er durfte keine Zeit verlieren und hoffte inständig, nicht zu spät zu kommen.
Vorausgesetzt natürlich, dass die Deremat-Maschine in seinem Reisebüro noch funktionierte und dass der Inspobot-Schnüffler noch nicht hinter ihm her war.