NEUNTES KAPITEL
Glaktus: Gattungs-/Eigenname, männlich. Bezeichnung für einen Mann, der unter krankhafter Fettsucht leidet. Im übertragenen Sinn auch Bezeichnung für ein Individuum, das seinesgleichen schamlos ausbeutet, auf ihre Kosten also »fett« wird. Geschichtlicher Hintergrund des Wortes »Glaktus«: Der unter Adipositas leidende Glaktus sei ein Sklavenhändler auf dem Planeten Roter-Punkt gewesen. Er habe Naïa Phykit in Matana – der alten Stadt der Prougen – gefangen genommen und sie auf dem Sklavenmarkt verkauft. Doch dann sei Sri Lumpa vom Himmel herabgestiegen, habe Feuer gespien und Naïa Phykit nach einem mörderischen Kampf befreit. Während dieses als Schlacht von Rajiatha-Na in die Annalen eingegangenen Kampfes habe der fette Glaktus sein Leben verloren. Seitdem ist das Wort »Glaktus« in der Umgangssprache auf Roter-Punkt gebräuchlich. Das war am Ende des großen Ang-Reichs.
Universallexikon origineller Wörter und
Ausdrücke,
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Aphykit hatte das seltsame Gefühl, zwischen den Luftwänden des Käfigs zu schweben, in den der fette Menschenhändler sie hatte sperren lassen.
Der Luftdruck war derart reguliert, dass sie sich trotz ihrer Erschöpfung und des beginnenden Fiebers mühelos aufrecht halten konnte. Doch bewegen konnte sie sich nur im Zeitlupentempo, wie in einer zähen Masse. Ein unsichtbarer Ring um ihre Brust schnürte sie ein und behinderte ihre Atmung.
Bekleidet war sie mit einem sackartigen, bis zu den Hüften geschlitzten Hemd aus ungebleichter Baumwolle, das ihr bis zu den Knien reichte. Noch hatte sie sich nicht daran gewöhnt, ohne ihren Colancor zu leben; schon den kleinsten Lufthauch fand sie schwer erträglich.
Aphykit hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Die Luftwände ihres Käfigs waren undurchsichtig und tauchten das Innere in ein grünliches Halbdunkel. Nur wie aus weiter Ferne hörte sie ein leises Brausen. Klare, logische Gedanken konnte sie nicht mehr fassen; kaum tauchte einer auf, verlor er sich in einem ihren Geist verhüllenden Nebel. Manchmal sah sie, Blitzen gleich, klar umrissene Bilder vor ihrem inneren Auge, wie Traumfetzen, Fragmente aus einem anderen Leben …
Erst da wurde ihr der Zusammenhang zwischen ihrem merkwürdigen Zustand und der violetten Flüssigkeit klar, die ihr ein finster aussehender Mann in die linke Armbeuge injiziert hatte. Unablässig starrte sie auf den winzigen roten Punkt, wo sich die Nadel in die Vene gebohrt hatte. Diese Injektion hatte einen heftigen Abscheu in ihr ausgelöst. Ihr Körper hatte sich mit aller Kraft gegen das Eindringen dieser Kanüle, gegen das injizierte Gift gewehrt. Sie wusste es nicht, aber sie ahnte, dass man ihr Gift injizierte. Sie hatte einen langen verzweifelten Schrei ausgestoßen – und sich erinnert …
Sie hat sich in Matana verlaufen, vollständig die Orientierung verloren. Müde und gereizt sitzt sie an eine kleine Mauer gelehnt auf einer Terrasse, auf die Grünes Feuer seine letzten Strahlen wirft. Sie versucht, wieder zu Atem zu kommen und ihre Gedanken zu ordnen, denn sie muss einen Weg aus diesem immer dunkler werdenden Labyrinth der prougischen Stadt finden. Plötzlich entdeckt sie die charakteristische Wölbung eines der monumentalen Stadttore in nur geringer Entfernung. Diese Entdeckung bedeutet das Ende ihres Albtraums. Erleichtert lässt sie nur kurz in ihrer Wachsamkeit nach, versucht nicht mehr, die um sie schwirrenden Gedanken zu lesen oder einem eventuellen Angriff zuvorzukommen …
Wie aus dem Nichts taucht da eine Bande junger Prougen auf – und umzingelt Aphykit. Sie hat nicht einmal die Zeit aufzustehen, schon stürzen die Jungen sich auf sie, wie eine Horde hysterisch kreischender Affen. Ein Dutzend Hände drücken sie mit aller Wucht auf den rauen Boden, derart brutal, dass ihr Gesicht aufgeschürft wird. Ein Schlag auf den Hinterkopf raubt ihr das Bewusstsein.
Als Aphykit wieder zu sich kommt, fällt ihr Blick zuerst auf eine dreckige Decke, in deren Mitte eine Lichtkugel schwach leuchtet. Sie liegt nackt auf einer Baumwollmatratze. Sie will sich aufrichten, aber ein stechender Schmerz im Kopf hindert sie daran.
Dann sieht sie diesen dicken Kerl – einen Fettkloß, der seinen wabbeligen Körper nur unzulänglich unter einem pflaumenblauen, mit goldenen Pailletten bestickten Wallegewand verbergen kann. Aschblondes Haar klebt an seinem Schädel. Und nun fixiert er seine Gefangene aus kleinen, bösartigen, grell geschminkten Augen mit kaltem Blick, ein Blick, der sie taxiert, misst, verbrennt, zerstückelt – jeden Quadratzentimeter ihrer weißen, makellosen Haut.
Ohne auf ihren unerträglichen Kopfschmerz zu achten, richtet sich Aphykit auf und bedeckt Brust und Scham mit Armen und Händen. Diese Geste löst in dem fetten Mann unbändiges Gelächter aus. Die Fettmassen unter seinem Gewand wabbeln.
»Was soll das, meine Schöne?«, stößt er mühsam hervor. »Keuschheit ist bei mir nicht angebracht, denn jetzt bist du bei Glaktus Quemil, einem der bedeutendsten Händler des Sklavenmarkts.«
Aphykit empfindet es als besonders beleidigend, von diesem widerwärtigen Fettkloß geduzt zu werden.
»Wenn ich dich so ansehe, geschieht das rein aus finanziellen Überlegungen heraus und nicht aus dem von dir vermuteten Grund. Denn Frauen interessieren mich nur in beruflicher Hinsicht. Weibliche Rundungen finde ich persönlich überhaupt nicht attraktiv«, fährt er fort und deutet mit seiner fetten rechten Hand auf eine weiße, halb offen stehende Tür.
»Aber hinter dieser Tür warten meine Männer. Diese brutalen Kerle wären nur zu glücklich, würde ich ihnen die Gunst eines kleinen Tête-à-Tête mit dir gewähren. Ach, wie würde ihnen das gefallen, eine Syracuserin zu deflorieren … Ja, während du schliefst, hat dich eine meiner Matronen untersucht und mir versichert, dass du noch Jungfrau seist. Aber mach dir keine Sorgen, meine Schöne, ich werde über deine Tugend wachen und dafür sorgen, dass keiner meiner Männer dich anrührt. Auf dem Sklavenmarkt hat Jungfräulichkeit einen hohen Stellenwert und wird entsprechend entlohnt …«
Aphykit hat weder Kraft noch Lust zu antworten. Sie ist vom Regen in die Traufe geraten. Kaum war sie den Pritiv-Mördern entkommen, hatten die Sklavenhändler sie gefangen.
Und getötet zu werden, wäre mir lieber gewesen, als das zu ertragen, was mir dieser ekelhafte Fettkloß jetzt androht, überlegt sie.
Verzweifelt lässt sie sich wieder auf die Matratze fallen, bedeckt ihre Blöße so gut es geht und schließt die Augen, um diese obszönen Blicke nicht mehr ertragen zu müssen. Außerdem geht von diesem Monster ein Geruch nach ranzigem Fett und Fäulnis aus, der ihr Brechreiz verursacht.
»Meine kleinen Sklavenfänger haben gute Arbeit geleistet«, fährt Glaktus Quemil kichernd fort. »Ich werde sie belohnen, wie sie es verdienen: mit dem Tod. Denn ich habe keine Lust, sie dafür zu bezahlen … Aber du, du wirst jetzt gebadet. Damit du in den Augen dieser verrückten Godappis noch schöner wirst. Und sanfter. Denn ich spüre, dass du zu jenen gehörst, die den Tod der Sklaverei vorziehen. Du hast wirklich Glück: Kaum auf Roter-Punkt angekommen, avancierst du zum höchst dotierten Handelsobjekt auf dem Sklavenmarkt heute Nacht! Das ist eine große Ehre für dich, und mir bringt es einen Haufen Geld ein.«
Und wieder lacht Glaktus schallend. Dieses Lachen scheint Aphykit auch physisch zu verletzen, denn sie legt sich auf die Seite, zieht die Beine bis unters Kinn und birgt ihren Kopf in den Händen. Dann klatscht er in die Hände. Ein schwarz gekleideter, kahlköpfiger Mann, so dünn wie ein Skelett, betritt den Raum. In der Rechten trägt er einen würfelförmigen Koffer, den er abstellt und mit unendlicher Vorsicht öffnet. Er entnimmt ihm eine Spritze und eine mit einer violetten Flüssigkeit gefüllte Ampulle. Er füllt die Spritze.
Sein finsterer Blick wandert prüfend über Aphykit. Die junge Frau ist derart verzweifelt, dass sie es apathisch geschehen lässt, als er seine tentakelartigen Arme austreckt, mit seinen Knochenfingern ihren Arm betastet und nach der Vene sucht.
Das zunehmende Entsetzen vor diesen beiden Männern – der eine gleicht einer Mumie, der andere einer aufgeschwemmten Wasserleiche – und vor dieser Spritze erfüllt sie mit einem solchen Ekel, dass ihr übel wird. Sie beißt sich auf die Unterlippe, bis sie blutet, um nicht laut aufzuschreien.
Doch als die Nadel in die Vene sticht, kann sie sich nicht mehr zurückhalten und ein fürchterlicher Schrei entringt sich ihrer Kehle, dass beide Männer zurückschrecken. Glaktus fängt an zu zittern und stolpert zwei Schritte rückwärts, als hätte der Schrei ihn körperlich getroffen. Auch Aphykit zittert jetzt am ganzen Körper. Wie wahnsinnig zerkratzt sie mit ihren Nägeln das ausgezehrte Gesicht, den Hals, die Arme des schwarzen Mannes, der gerade noch die Nadel aus der Vene ziehen kann, ehe er die Flucht ergreift. Mit dem Handrücken wischt er sich die Blutstropfen vom Gesicht.
»Scheiße! Zum Glück habe ich ihre Reaktion vorhergesehen«, sagt er zu Glaktus. »Ich habe der Droge noch einen Tranquilizer beigegeben. Sie wird jetzt schlafen. Das tut ihr gut, denn sie ist offenbar mit ihren Nerven am Ende.«
»Hoffentlich hast du ihr nicht eine zu starke Dosis gegeben«, sagt der Sklavenhändler mürrisch.
»Wie denn? Ich bin Experte auf meinem Gebiet«, protestiert der Mann.
»Ach ja? Du bist ein derart ausgewiesener Experte, dass man dich mit Tritten in den Arsch aus der Ärztekammer der Konföderation gejagt und dich zum Raskatta erklärt hat …«
»Vielleicht. Aber meine Kompetenz wurde nie in Zweifel gezogen. Allein meine … meine Genmanipulationen haben gewissen Leuten nicht gefallen, und …«
Aphykit indessen gleitet schnell in einen Albtraum, in dem sich Horrorwesen nur so tummeln. Vom Fieber geschüttelt merkt sie nicht, dass sie aufgehoben, fortgetragen und gebadet wird …
Erst in diesem Käfig war sie wieder aufgewacht, unfähig, ihre Gedanken zu ordnen. In den kurzen Augenblicken geistiger Klarheit spürte sie, wie das Gift durch ihre Venen strömte, ein dumpfes Brennen sich darin ausbreitete. Dieses Virus beraubte sie jeglichen Willens und reduzierte sie zu einem Zombie. Sie war nichts mehr als eine lebende Tote, das willenlose Werkzeug ihrer Peiniger und hatte jetzt nur noch einen Wunsch: ihrem Vater in jenen anderen Welten wieder zu begegnen.
Plötzlich wich das grünliche Dämmerlicht in ihrem Käfig brutaler Helligkeit, so grell, dass sie die Augen schließen musste. Mit unendlicher Langsamkeit hob sie die Hände und beschützte ihre Augen. Lautes Geschrei bohrte sich schmerzhaft in ihre Ohren. Sie stand im Mittelpunkt einer wahrhaftigen Sintflut aus Licht und Lärm; sie war das Objekt Hunderter begehrlicher Augen und lauter Kommentare.
»Letztes Versteigerungsobjekt! Ruhe … Ruhe!«, schrie jemand.
Aphykit entdeckte oben an der rechten Wand eine durchsichtige Loge, obwohl diese im Halbschatten lag. Darin saß eine mit einer roten Toga bekleidete Gestalt vor einem Pult und sprach in ein Kugelmikrofon.
»Die Versteigerung beginnt erst, wenn Ruhe herrscht.«
Das Geschrei ebbte zu einem dumpfen Gemurmel ab, dann zu leisem Flüstern.
»Letztes Versteigerungsobjekt!«, wiederholte der Auktionator. »Eine junge Syracuserin in perfektem Zustand. Zertifizierte Jungfrau. Eigentum des Händlers Glaktus Quemil …«
Als sein Name verkündet wurde, erhob sich Glaktus, drehte sich zum Publikum um und verbeugte sich linkisch. Die Menge hinter der magnetischen Wand quittierte seine Geste mit Pfiffen.
»Reinrassige Menschenware, eine Schönheit …«
Die Anpreisungen des Auktionators gingen im allgemeinen Tumult unter. Also schwieg er und wartete geduldig, bis wieder Ruhe eingetreten war.
Allmählich hatten sich Aphykits Augen an das grelle Licht der Scheinwerfer gewöhnt. Jetzt konnte sie die Gesichter der Personen auf den ersten Rängen erkennen. Wichtige Persönlichkeiten, die bequem in Sesseln saßen und vom gemeinen Volk durch eine magnetische Wand getrennt waren. Dann entdeckte sie Glaktus. Das fette Monstrum schmorte in seinem eigenen Schweiß vor sich hin. Auf seinem Wallegewand zeichneten sich unter den Achseln dunkle Flecke ab. Sein riesiger Hintern quoll über die Sitzflächen der drei Sessel, die nötig waren, um sein Gewicht zu tragen. Eine ungeheure Zufriedenheit hatte sich auf seinem fetten Gesicht ausgebreitet. Er grinste dümmlich und spielte ständig mit der öligen Schmachtlocke, die ihm in die Stirn fiel.
Beim Anblick dieses widerwärtigen Fettsacks erinnerte sich Aphykit plötzlich an die unverschämten Blicke, mit denen er sie wie ein Stück Fleisch taxiert hatte. Und obwohl dieser Blick sie noch immer demütigte, war sie außerstande, ihm ihre Verachtung zu zeigen, denn sie war sich selbst fremd geworden, zu einem apathischen, resignierten Wesen geschrumpft. Am liebsten hätte sie ihren Körper verlassen und sich mit dem Nichts verschmolzen. Sie wollte vergessen, sie wollte sterben.
Trotzdem registrierte sie vereinzelte freundliche Impulse in dieser tausendköpfigen Meute ihr gegenüber. Diese wohlwollenden Impulse waren diffus, kaum spürbar, aber trotzdem wirklich, wie friedliche Inseln inmitten eines feindlich gesinnten Ozeans. Und weiter hinten erkannte sie einen finsteren Abgrund, die Präsenz Unheil bringender Wesen. Wahrscheinlich war einer dieser scaythischen mentalen Mörder anwesend, eine dieser verabscheuungswürdigen Kreaturen, von denen ihr Vater erzählt hatte. Die Gedanken, die dieser Scaythe aussandte, umkreisten sie und versuchten, ihre durch das Antra des Lebens errichtete Sperre der Stille zu durchdringen. Sie erinnerte sich, dass das Antra autonom war und sich jedesmal manifestierte, wenn man seiner bedurfte. Dann geschah das, was ihr Vater als stummes Murmeln bezeichnet hatte, ein nicht wahrnehmbares Rauschen der Quelle. Doch jetzt bedauerte sie es, dass dieser lebensspendende Klang sie vor den tödlichen Wellen des scaythischen Mörders schützte. Warum wollte diese Kraft ihren zur Schau gestellten Körper am Leben erhalten, ihren vom Virus zerfressenen und durch die schamlosen Blicke beschmutzten Körper?
»Ich wiederhole, es handelt sich um eine reinrassige Menschenware«, sagte der Auktionator. »Eine jungfräuliche und sehr schöne Syracuserin. Wer bietet als Erster?«
Viele Hände schnellten in die Höhe.
»Ich biete zwei Standardeinheiten!«, rief jemand mit rauer Stimme.
Im ganzen Saal brach Gelächter aus. Wie eine Woge breitete es sich aus, brach sich an den Wänden und erfasste auch Glaktus, dessen Massen von krampfartigen Zuckungen geschüttelt wurden. Sogar der Auktionator in seiner Loge hatte Mühe, ernst zu bleiben.
»Wer … wer bietet mehr?«, sagte er und verlieh seinem Gesicht einen seiner Stellung gemäßen würdevollen Ausdruck.
»Zehntausend Einheiten!«, schrie jemand anderer.
Den Auktionator schien dieses Angebot zufriedenzustellen, denn er hob seinen Hammer und stieß ein anerkennendes Brummen aus. Noch schwebte der Hammer in der Luft.
»Zwanzigtausend!«, rief ein Bürger in einer schwarzen, mit Edelsteinen besetzten Robe. Ihn hatte die Schönheit der Syracuserin offensichtlich in Ekstase versetzt.
Noch immer konnte Aphykit es nicht fassen, dass sie es war, die auf diese Weise versteigert wurde. Besonders ein ganz in Weiß gekleideter Mann fiel ihr auf. Er saß neben einem Glatzkopf mit Adlernase und vollen Lippen, der einen melierten Anzug trug. Hinter ihm stand ihre in gelbe Uniformen gezwängte Leibgarde und schirmte sie wie ein Schutzwall ab.
»Fünfzigtausend!«, rief ein Tattergreis.
»Sechzigtausend!«
Die Gebote erreichten schwindelnde Höhen, und bei jedem neuen Gebot grinste Glaktus breiter. Was für ein Glücksfall, dass diese Syracuserin ihnen ohne Schwierigkeiten in die Falle gegangen war. Natürlich würde er Kirah dem Schlauen nicht einen Kelikeli – was der kleinsten Währungseinheit der Prouger entsprach – zahlen. Um den kleinen Anführer und seine Bande würden sich schon morgen seine Leute kümmern.
In dem Moment erlangte Aphykit einen Teil ihrer Erinnerung zurück: Der junge weiß gekleidete Mann war der Reisebüroangestellte, den sie auf Zwei-Jahreszeiten beschwatzt hatte, ihr für die Reise einen Rabatt zu gewähren. Obwohl er jetzt viel gepflegter aussah, erkannte sie ihn sofort wieder. Sein kastanienbraunes Haar war gekämmt, seine Wangen rasiert, und in seinen graublauen Augen brannte ein neues Feuer. Sie war derart überrascht, ihn zu sehen, dass diese Überraschung kurz ihre Benommenheit vertrieb und sie sich fragte, welche ungewöhnlichen Umstände ihn ausgerechnet hierher – zehn Meter von ihrem Käfig entfernt – geführt haben mochten. Sandte er dieses Wohlwollen aus, das sie vorhin gespürt hatte?
Aphykit wurde bewusst, dass er sie unablässig anstarrte. Nur selten wandte er den Blick ab, um seinem Begleiter etwas zuzuflüstern oder sich beunruhigt umzusehen. Als ihre Blicke sich begegneten, lächelte er kaum merklich. Trotz dieser Diskretion war es ein verschwörerisches Lächeln.
Also sitzt er nicht rein zufällig in diesem Saal, dachte sie. Jetzt habe ich wenigstens einen Verbündeten, vielleicht auch zwei, wenn ich seinen Begleiter dazurechne. Oder zehn oder zwanzig mehr, sollten auch die Wächter in den gelben Uniformen dazugehören.
An diese Hoffnung, so verrückt sie auch sein mochte, klammerte sie sich. Dann fiel ihr ein, mit welcher Verachtung sie diesen kleinen Angestellten in seinem dreckigen Büro behandelt hatte, und sie schämte sich dafür. Nun war sie erschöpft und wurde erneut von Benommenheit ergriffen.
»Hunderttausend!«, verkündete jemand.
»Hundertzehn!«, schrie ein anderer.
Jetzt waren nur noch etwa ein Dutzend potenzieller Käufer übrig: Adelige und reiche Bürger, die einander giftige Blicke zuwarfen und sich gegenseitig abzuschätzen suchten. Die Menge hielt den Atem an. Bald würde die Versteigerung ihren Höhepunkt erreichen, und die Gaffer wollten den Verlauf nicht stören. Auch der Auktionator schien an Energie verloren zu haben. Sein vorheriges Brüllen war zu einem heiseren Kläffen geworden, während bei jedem neuen Gebot der Scheinwerfer kurz auf dem Bietenden ruhte, um gleich darauf einen Konkurrenten in grelles Licht zu tauchen.
»Zweihunderttausend!«
Trotz des hässlichen sackartigen Hemdes, das die Formen der jungen Frau nur erahnen ließ, verfiel Tixu erneut ihrem Charme und sah sie voller Bewunderung an. Die hochmütige Göttin, die eines Tages quasi vom Himmel in sein schäbiges Büro gefallen war, hatte sich in eine verletzbare junge Frau mit wunderschönem langen Haar verwandelt. So gefiel sie ihm besser: zerbrechlich, in ihrem Stolz verletzt, menschlich. Diese kleinliche und sehr egoistische Betrachtungsweise erlaubte es ihm zumindest, sich noch immer im Glauben zu wiegen, er könnte sie retten. Denn er war nichts als ein armer Sterblicher, der hoffte, sie damit dazu zu bringen, sich für ihn zu interessieren.
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass ihre Gesichtszüge keinerlei Regung zeigten. Beunruhigt wandte er sich an Maïtrelly.
»Diese Schufte haben ihr eine Spritze verpasst, nicht wahr?«
»Du hast lange gebraucht, bis du das gemerkt hast«, antwortete der Françao leise und warf dem jungen Oranger einen seitlichen Blick zu. »Die Virusinfektion befindet sich noch im Anfangsstadium, das bedeutet, dass sich bei ihr momentan Phasen totaler Erschöpfung mit Fieberschüben und kurze Momente klaren Bewusstseins abwechseln. Dieser Fettsack Glaktus hat kein Risiko eingehen wollen. Das Serum muss ständig nachgespritzt werden, sonst wird sie innerhalb einer Woche sterben. Sie wird sowieso sterben, weil es gegen dieses Zeug bisher noch kein Gegenmittel gibt. Sie hat vielleicht noch zwei oder drei Monate.«
Maïtrellys Worte wirkten wie ein Messerstich auf Tixu. Er wollte nicht wahrhaben, dass dieses wunderschöne Mädchen unwiederbringlich dem Tod entgegensah. Grenzenloser Hass überfiel ihn, Hass auf diesen fetten Menschenhändler, auf alle Händler und Käufer menschlicher Wesen, diese geldgierigen, von niedrigsten Instinkten geleiteten Aasfresser. Und sogar Hass auf seinen Landsmann, Bilo Maïtrelly, der solche Versteigerungen nicht nur unterstützte, sondern auch organisierte. Was würde von Aphykit übrig bleiben, von ihrem Geist, ihrer Schönheit, wenn das Virus sie zerfressen hatte? Und was würde von ihm bleiben, wenn sie tot war?
In seinem Zorn wäre er am liebsten aufgestanden, um auf den widerlichen Glaktus einzuprügeln … Nein, mehr noch! Er wollte einem der Wärter seinen Bauchbrenner entreißen und alle Zuschauer in der ersten Reihe eine Ladung tödlicher Strahlen verpassen und zuschauen, wie sie sich in ihrem Blut wälzten, wenn ihnen die Gedärme aus den Leibern quollen!
Doch Tixu hielt sich zurück. Erstens, weil es nicht seine Art war, einfach einer Kurzschlussreaktion nachzugeben; und zweitens, weil er dann seine winzige Chance, Aphykit zu retten, verspielen würde. Eine innere Stimme sagte ihm, dass Maïtrelly ihm helfen werde, die Syracuserin aus den Fängen Glaktus’ zu retten. Also durfte er sich den Françao jetzt nicht zum Feind machen. Außerdem wollte er nicht die Aufmerksamkeit dieses geheimnisvollen Mannes mit der lindgrünen Kapuze und der weiß maskierten Männer im Saal auf sich ziehen.
Bilo Maïtrelly beugte sich zu ihm und flüsterte: »Zorn ist ein schlechter Ratgeber, mein junger Freund. Und sieh dich nicht ständig um! Die Pritiv-Mörder können uns hier nichts anhaben. Sie würden sofort von der Menge zu Tode getrampelt werden. Sie warten, bis sie wissen, wer der Käufer des Mädchens ist. Und mehr können auch wir im Moment nicht tun.«
»Sie … Sie wissen, was ich denke?«, stammelte Tixu verblüfft.
Ein kaltes Lächeln umspielte Bilo Maïtrellys Lippen, und seine Augen funkelten ironisch, als er sagte: »Meine Informanten haben mich über die Absichten der Pritiv-Mörder in Kenntnis gesetzt. Und deine Wut, sie stand dir ins Gesicht geschrieben. Man kann so einfach darin lesen, wie in einem antiken Buch aus Papier. Der Sklavenmarkt ist für dich eine abscheuliche Einrichtung, nicht wahr? Aber was ist hier nicht abscheulich?«
»Zweihundertfünfzigtausend!«, schrie jemand.
»Dreihunderttausend!«, rief ein anderer.
»Dreihundertdreißig!«
»Ich helfe dir, diese Frau zu befreien, weil sie dir viel zu bedeuten scheint«, sprach der Françao weiter. »Übrigens helfe ich dir nicht nur deswegen. Auch die Camorre interessiert sich für sie. Ich muss nur noch die anderen Françaos davon überzeugen, dass sie über Informationen verfügt, die unser Überleben sichern. Sonst würden sie mir nie verzeihen, eine der Grundregeln der Camorre gebrochen zu haben: niemals gewaltsam einen auf dem Sklavenmarkt versteigerten Menschen zu befreien. Diese Regel habe ich bisher immer respektiert. Sonst funktioniert das Geschäft nicht. Doch bei der Gelegenheit könnten wir diesem widerwärtigen Fettsack Glaktus das Handwerk legen. Das wird nicht einfach sein. Denn seine Killer sind nichts als degenerierte wilde Bestien.«
Tixu senkte den Blick. Bilo Maïtrelly hatte recht. Was war hier nicht abscheulich? Sogar er hatte ein paar Sekunden lang den Françao töten wollen. Und jetzt hätte er ihn am liebsten vor Dankbarkeit umarmt. Er war glücklich und erleichtert, fast euphorisch, weil er mit der Unterstützung des Orangers rechnen konnte. War sein – Tixus – Verhalten nicht auch abscheulich?
»Nicht nur Glaktus’ Männer sind unsere Feinde«, sagte er schnell, um sein Unbehagen zu kaschieren, »auch diese weiß maskierten Männer und dieser grüne Kapuzenmann … Ich halte sie für sehr gefährlich, weil sie vielleicht bereits Ihre Gedanken gelesen haben und somit Ihre Pläne kennen …«
»Ach, das ist doch eine ausgezeichnete Gelegenheit, uns mit diesen Typen anzulegen, diesen Karnevalsmasken und diesem grünen Phantom«, entgegnete der Françao mit einem gewissen Fatalismus.
»Fünfhunderttausend!«, krächzte ein Mann.
Nur noch zwei Bieter waren übrig geblieben. Die anderen hatten aufgegeben, resigniert und enttäuscht. Ein stämmiger Mann mit dickem Bauch und rotem aufgedunsenem Gesicht bot noch mit. Er trug einen gefütterten Mantel, der rosa und perlgrau unter dem Licht der Scheinwerfer funkelte. Auf seinem Schädel thronte ein schwarzes, mit Gemmen verziertes Barett, dessen Eleganz seinen groben Gesichtszügen Hohn sprach. Umgeben war er von einem Dutzend riesiger breitschultriger blonder Kerle mit dichten Bärten und struppigen Haaren, die wie Büffel aussahen und seltsame braune Wämser trugen.
»Ich habe keine Ahnung, woher dieser Godappi kommt«, flüsterte Bilo Maïtrelly. »Den sehe ich zum ersten Mal. Aber seine Leibgarde, das sind Germinane aus Alemanien. Halbwilde mit der Kraft von Stieren. Es könnte sein, dass der Dicke aus Neorop stammt. Erkundigst du dich bitte, Zorthias?«
Bisher hatte der Prouge stumm hinter seinem Herrn gesessen. Jetzt sah man ihn – sein üppiges rotes Haar glich einer Wolke – durch die Menge gleiten und hinter einer Geheimtür verschwinden.
»Das Memodiskettenzentrum verfügt sicherlich über alle notwendigen Informationen, was diesen neuen Kunden betrifft. Den anderen Bieter, den kenne ich bereits …«
Eine beklemmende Stille herrschte jetzt im Saal, denn die beiden letzten Bieter lieferten sich einen gnadenlosen Kampf. Noch einmal warfen die Enttäuschten einen letzten begehrlichen Blick auf die schöne Syracuserin, so als wollten sie die junge Frau wenigstens mit ihren Augen besitzen.
»Siebenhunderttausend!«
Die armen Teufel, die Bettler und Drogenabhängigen verdrehten die Augen. Sie konnten sich nicht einmal vorstellen, dass ein Mann allein über eine derart große Summe verfügte. Trotzdem versuchten sie sich auszurechnen, welche Menge Freudenpulver sie sich dafür kaufen könnten, doch dafür reichten ihre Rechenkünste nicht aus.
»Siebenhundertfünfzig!«
Je höher die Gebote gingen, desto nervöser wurde Tixu. Bilo Maïtrellys äußere Gelassenheit brachte ihn derart zur Verzweiflung, dass er am Versprechen seines Landsmanns zu zweifeln begann. Um sich abzulenken, konzentrierte er sich auf den zweiten Bieter, einen jungen Mann.
Er stand inmitten seiner imposanten Eskorte und trug einen apfelgrünen Colancor und darüber ein Cape aus Moiré. Sein weiß geschminktes Gesicht und die schwarz umrandeten roten Augen verliehen ihm das Aussehen eines lebenden Toten.
»Das ist Abeer Mitzo, ein Adeliger vom Planeten Tchiin, der seit fünfzig Standardjahren zur Konföderation von Naflin gehört«, erklärte Maïtrelly. »Er kommt regelmäßig zu den Versteigerungen. Es heißt, er sei sagenhaft reich. Das muss wohl stimmen, denn er lässt jedes Mal ein kleines Vermögen hier. Er hat außerdem eine ganz besondere Vorliebe: Er ist nekrophil. In sexueller Hinsicht interessiert ihn nichts anderes als die noch warmen Hinterbacken Toter. Deswegen hat er schon oft auf unsere Dienste zurückgegriffen …«
»Und ihr … ihr habt ihn damit versorgt?«, fragte Tixu entsetzt.
»Mit Leichen? Natürlich! Er zahlt sehr gut. Und gleichzeitig werden wir ein paar dieser verbrecherischen Parasiten hier los. Und wenn er dieses Mädchen kaufen will, dann nur, um sich mit ihr zu vergnügen, nachdem er sie erdrosselt hat. Darauf wette ich. Die Tchiiner sind bekannt für ihre bizarren Praktiken.«
»Achthunderttausend!«
»Achthundertfünfzig!«
Alle Köpfe wandten sich zuerst dem einen, dann dem anderen Bieter zu. Der fette Glaktus triefte geradezu vor Freude. Bereits jetzt hatte er alle Rekorde des Sklavenmarkts gebrochen. Und das Limit war längst noch nicht erreicht. Und mit dem Geld aus diesem Geschäft würde er sich endlich seinen lange gehegten Traum erfüllen können: das Aufstellen einer Elite-Armee, um die Françaos zu besiegen und allein über den Planeten Roter-Punkt zu herrschen.
Der vierschrötige Mann im graurosa Mantel schien sich kurz vor der Kapitulation zu befinden. Seine Gebote kamen nur zögernd, nach langer Überlegung. Im Gegensatz zu ihm gab der Tchiiner die seinen reflexartig schnell ab. Seine Knochenhand schoss in die Höhe, und er nannte die nächsthöhere Summe, als ob es sich für ihn um eine Kleinigkeit handele, etwas ohne Bedeutung.
»Eine Million Einheiten!«
Ungläubiges Murmeln breitete sich im Saal aus. Die Menge wurde unruhig. Sogar die Françaos – außer Maïtrelly – standen auf und stellten sich auf die Zehenspitzen, um die Bieter besser sehen zu können. Ihre in der Luft hängenden Stühle rollten sich einen Meter über dem Boden zusammen.
Dicke Schweißtropfen rannen über das feiste Gesicht des Mannes im graurosa Mantel. Er hob langsam die Hand.
»Eine Million einhunderttausend«, sagte er leise.
Sofort reagierte der Tchiiner.
»Eine Million zweihunderttausend«, verkündete er mit seltsam hoher Fistelstimme.
Sein Gegner warf noch einen traurigen Blick auf die Syracuserin und schüttelte den Kopf.
»Ihr letztes Gebot, mein Herr?«, fragte der Auktionator. »Zum Ersten … Sie verzichten? Zum Zweiten … Zum Dritten … Das Objekt wird diesem Herrn zugesprochen. Die Versteigerung ist beendet.«
Und er schlug mit dem Hammer aus Optalium dreimal auf sein Pult. Der spärliche Applaus verebbte sofort wieder, und die Scheinwerfer erloschen. Wandleuchten verbreiteten ein trübes Licht. Die Zuschauer drängten zum Ausgang, dessen Flügeltür sich langsam öffnete.
Das Podium in der Mitte senkte sich und verschwand im Untergeschoss des Sklavenmarkts. Glaktus erhob sich, grüßte ein paar Françaos und watschelte aus dem Saal.
»Er wusste bereits vor der Versteigerung, wer der Käufer ist!«, sagte Maïtrelly. »Denn er hat keine der üblichen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen. Es gab weder einen Bankdatenabdruck noch die Hinterlegung der nötigen Summe. Alles war vorher abgesprochen, außer dem Endpreis. Doch wir müssen jetzt handeln. Zorthias erwartet uns unten am Personenair. Ich weiß, wo die Geldübergabe stattfindet. Dahin werden wir uns jetzt sofort begeben und diesen beiden Horrorgestalten einen hübschen Empfang bereiten. In diesem Gedränge können wir unbemerkt verschwinden.«
Von etwa zwanzig Gardisten in gelben Uniformen begleitet, schlängelten sich der Françao und Tixu durch die Menge. Niemand beachtete sie. Doch gerade als sie durch die Tür traten, durch die Zorthias vor ein paar Minuten verschwunden war, legte jemand plötzlich seine Hand auf die Schulter des Françaos. Maïtrelly drehte sich um, auf alles gefasst, seine Waffe schussbereit.
Als er von Doncq, einen seiner Françao-Freunde erkannte, entspannte er sich. Von Doncq war ein Greis von über hundertdreißig Jahren – ein ungewöhnliches Alter für einen Anführer der Camorre, da solche Männer gewöhnlich noch in jüngerem Alter einem Attentat oder inneren Machtkämpfen zum Opfer fielen. Er hatte Sif Kérouiq, Bilo Maïtrellys Mentor, noch gut gekannt.
Von Doncq trug eine klassische weinrote Toga. Sein fast kahler, mit braunen Flecken übersäter Schädel war von einem spärlichen schlohweißen Haarkranz umgeben. Die Haut seines faltigen Gesichts erinnerte an sprödes Leder. Doch seine schwarzen Augen glühten noch immer. Als er seine klauenartige Hand von Maïtrellys Schulter nahm, sah er den Oranger mit bohrendem Blick an.
»Dient dein Vorhaben wirklich den Interessen der Camorre, Bilo?«, fragte er in schneidendem Ton.
Die Frage überraschte Maïtrelly nicht, denn der alte Françao verfügte über ein ausgezeichnetes Netz an Informanten. Er hatte überall Augen und Ohren.
»Was ich plane, geschieht im eigenen Interesse, also logischerweise auch im Interesse der Camorre«, antwortete er ruhig. »Denn unsere Interessen sind immer dieselben.«
»Daran habe ich nie gezweifelt, Bilo. Aber du wirst allein dastehen. Wir können dich nicht öffentlich bei einer Operation unterstützen, die gegen unsere Gesetze ist. Solltest du diesen fetten, widerwärtigen Glaktus nicht eliminieren, wird niemand es mehr wagen, ihn anzugreifen. Dann wird er den Sklavenhandel an sich reißen, ohne uns weiter die übliche Kommissionsgebühr zu bezahlen. Und um ihn wieder in die Schranken zu weisen, wären wir verpflichtet, dich zu eliminieren.«
Von Doncq gab Maïtrelly die Hand und sah ihn liebevoll an. »Mach keinen Fehler, Bilo! Schon immer habe ich davon geträumt, seinen fetten Wanst zu durchbohren, aber ich habe es nie getan. Hüte dich vor seinen Killern! Deine Männer müssen gut zielen und sie mit dem ersten Schuss erledigen … Denn wenn sie verwundet sind, sind sie noch viel gefährlicher.«
Von Doncq verbeugte sich und verschwand in der lärmenden Menge.
Im Käfig herrschte wieder dieses grünliche Halbdunkel. Aphykit versuchte fieberhaft etwas Ordnung in ihre wirren Gedanken zu bringen, ein ständiger innerer Kampf zwischen Resignation und Hoffnung, zwischen dem Willen zu leben und der Sehnsucht nach dem Tod.
Sie wurde derart streng bewacht, dass niemand es wagen konnte, sie aus diesem Albtraum zu befreien, und die astronomische Summe, die der unbekannte Käufer investierte, dessen Gesicht sie nicht einmal gesehen hatte, verbesserte ihre Lage nicht. Sie wusste intuitiv, dass sie von diesem Mann kein Mitleid zu erwarten hatte. Ihr künftiger Käfig würde um nichts besser als ihr jetziges Gefängnis sein.
Aphykit hörte durch die undurchdringlichen Wände nichts als undeutliches Gemurmel. Ihr Gesicht und ihr Körper waren ganz verschwitzt, und ihre Wahrnehmung war derart getrübt, dass sie den Eindruck hatte, in einem Wachtraum zu leben, wo Farben, Formen und Geräusche ineinander verschwammen. Nur ein Gefühl beherrschte sie: die Präsenz dieser mikroskopisch kleinen Organismen in ihren Venen, die ihren Körper zerstörten.
Der Luftdruck ließ allmählich nach, sodass sie sich setzen und an die Wand lehnen konnte. Sie dachte an ihren Vater und zürnte ihm, weil er sie in die Inddikische Wissenschaft eingewiesen hatte. Ihr schien, dass Sri Alexu, der Großmeister, und nicht ihr eigener Vater, alle diese Schicksalsschläge vorausgesehen habe.
Noch lebe ich, dachte sie. Aber um welchen Preis? Vater, hast du das schon damals gewusst? Hast du gewusst, dass man aus deiner Tochter eine Sklavin machen wird, eine minderwertige Kreatur, die man mit Drogen vollpumpt, derer man sich bedient, oder die man wegwirft, ganz nach Belieben? Ist das das wirkliche Leben? Ist das mein Leben?
Während der Fahrt auf der Wasserschiene beruhigten sie allmählich die sanft schaukelnden Bewegungen und schließlich schlief sie erschöpft ein.
Die Kabine schoss mit hoher Geschwindigkeit durch die Tunnel. Das aufspritzende Wasser trübte die Sicht durch die Fenster. Im Untergrund von Roter-Punkt-Stadt gab es ein ausgedehntes Verkehrsnetz, so als wäre die Metropole auf einem riesigen Termitenhügel errichtet worden. Man müsse schon mit einem besonders ausgeprägten Orientierungssinn ausgestattet sein, überlegte Tixu, um sich in diesem Labyrinth zurechtzufinden, das bis ins Innerste des Planeten zu reichen schien.
Sie kamen am Parkplatz des Personenairs an – ein ovales Flugzeug mit gewölbten, transparenten Seiten, dessen Motoren bereits brummten. Im Cockpit konnten sie Zorthias’ roten Haarschopf erkennen. Bilo Maïtrelly und seine Männer sprangen aus der noch gleitenden Kabine und liefen auf die bereits ausgefahrene Einstiegstreppe zu.
»Beweg dich!«, rief der Françao Tixu zu, der es nicht eilig zu haben schien und noch in der Kabine saß. Tixu lief den anderen hinterher und verschwand im Bauch des Fluggeräts. Er setzte sich neben einen der Gardisten. Die Gangway rollte sich blitzschnell auf, die Tür schloss sich mit einem Klick, die Motoren heulten auf, und das Luftkissenfahrzeug löste sich vom Boden. Zuerst glitt es eine mit Geländern aus Metall versehene Rampe hoch, schwebte dann über dem Flughafen, auf dem Techniker in leuchtenden Overalls Fluggeräte warteten, und schoss dann steil nach oben. Zwei gigantische Flügeltüren öffneten sich und gaben den Weg in einen schwarzen, wie mit Milchzucker bestäubten Himmel frei.
Der Personenair stieg weiter hoch und überflog die verbotenen, jetzt von Lichtkugeln schwach beleuchteten Viertel der alten Prougenstadt Matana.
Maïtrelly stand im ovalen Türrahmen, der das Cockpit vom Fahrgastraum trennte. Die wechselnden bunten Lichter des Armaturenbretts spiegelten sich auf seinem kahlen Schädel und in seinem Gesicht wider.
»Abeer Mitzo hat in Rajiatha-Na, am Rand der Wüste, einen Schlupfwinkel, der als ein Sandhügel getarnt ist«, sagte er. »Weil er einer unserer Stammkunden ist, hat er sich dieses Versteck eingerichtet, um dort seine Ruhe zu haben. Und dorthin werden ihm auch die Leichen geliefert …«
»Diese Tchiinen können sich doch sowieso nur noch mit Toten amüsieren!«, sagte einer der Gardisten und lachte anzüglich.
Die anderen stimmten in das Lachen ein.
Inzwischen hatte der Personenair die Stadt weiter hinter sich gelassen und war trotz der späten Stunde vielen anderen Luftfahrzeugen begegnet. Sie brachten die Kunden des Sklavenmarkts zu ihren privaten Deremats oder zu ihren in der Nähe der Reisebüros gelegenen Hotels am Rand der Wüste.
Maïtrelly deutete auf eine Ansammlung von Lichtpunkten in der Ferne. »Siehst du das? Sif Kérouiq hat mit Hilfe der Camorre diese sogenannte ›verbotene Zone‹ installieren lassen, Aïnghaza Sana auf Altprougisch genannt. Sie bietet allen Reisenden höchste Sicherheit, damit auch weniger wohlhabende Leute an den Versteigerungen teilnehmen können. Eine kluge Investition, denn dieser Kundenkreis wurde immer größer und ist überdies zuverlässiger als die Reichen und Adeligen …«
Tixu war derart angespannt, dass er dem Oranger nicht zuhörte, denn er fürchtete, sie könnten jeden Moment mit einem der anderen Luftfahrzeuge zusammenstoßen, die urplötzlich aus allen Richtungen in der Nacht auftauchten. Jedes Mal, wenn ein Crash drohte, änderte der Personenair rechtzeitig seine Richtung, doch Tixu zuckte dann immer zusammen und hob schützend die Arme vor sein Gesicht, obwohl er wusste, dass diese Geste sinnlos war.
»Sie brauchen keine Angst zu haben, mein Junge«, beruhigte ihn sein Sitznachbar, ein altersloser Mann. »Diese Kisten sind alle mit einem Antikollisions-Radar ausgestattet. Außerdem haben die Flieger der Françaos Vorflug. Die anderen müssen ihnen ausweichen. Also gibt es keinen Grund zur Sorge.«
Tixu nickte, war aber nur halb überzeugt. Und er konnte sich nicht entspannen. Der Personenair überflog gerade eine mit Gestrüpp bewachsene und von Ruinen bedeckte Hügelkette. Dort hausten die Landstreicher, die ihn gefangen genommen hatten, arme Teufel, die er eher bemitleidete, als sie für ihr Tun verantwortlich zu machen.
Bald hatten sie den Rand der Wüste erreicht.
Die Vegetation wurde immer spärlicher. Zwischen Felsen, ockerfarbenem und rotem Sand wuchsen kümmerliche Sträucher und Kakteen in bizarren Formen. Am Horizont konnte Tixu die schroff gezackten Umrisse eines Gebirges erkennen, das diese trostlose Landschaft begrenzte. Zu seiner großen Erleichterung begegneten ihnen jetzt keine Luftfahrzeuge mehr.
»Rajiatha-Na!«, verkündete Maïtrelly. »Haltet euch bereit!«
So weit man sehen konnte, erstreckte sich das Dünenmeer, bleiche Wellen, die von einem Sandschaum gekrönt waren, den der Chounza – ein trockener kalter Wind von den Bergen – beständig weiter trug. Tixu fragte sich, wie Zorthias es anstellte, in diesen gleich aussehenden Dünen den Schlupfwinkel des Tchiins ausfindig zu machen.
»Schalte die Positionslampen aus und den Motor ab!«, befahl der Françao. »Wir haben noch genug Geschwindigkeit und können im Gleitflug landen. Abeer Mitzo ist ein argwöhnischer Mann. Er hat sicher Wachen aufgestellt. Wir müssen sie ausschalten, aber lautlos.«
Das Motorengeräusch erstarb. Der Personenair schwebte wie ein Raubvogel auf unbeweglichen Schwingen vom Firmament, glitt knapp über die mit Steinen übersäten Hügelkuppen hinweg. Tixu wurde von nervöser Anspannung ergriffen. Schlafmangel und Erschöpfung trieben ihn an den Rand einer Panikattacke. Er erschauderte und bekam eine Gänsehaut.
Sein Sitznachbar warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Ich … mir ist kalt«, verteidigte sich Tixu.
»Aber hier ist es doch ziemlich warm«, murmelte der Gardist.
Tixu wollte schon entgegnen, dass das Empfinden von Kälte relativ sei, schwieg aber, als er die spöttischen Blicke der anderen Gardisten bemerkte. Auch das Argument, er sei nur ein armer Sterblicher, würde nichts nützen, denn die Männer des Françaos waren ebenfalls arme Sterbliche.
»Wir gleiten auf die falsche Düne zu«, verkündete Zorthias.
Auf den ersten Blick unterschied sie sich nicht von den anderen. Maïtrelly nahm ein kleines Nachtsichtglas aus der Innentasche seines Jacketts und suchte damit die Wüste ab. Wie erwartet, entdeckte er vier Wachposten, die um die Düne patrouillierten.
Er drehte sich um, wählte vier Gardisten aus und reichte dem ersten das Fernglas.
»Jeder von euch nimmt sich einen der Tchiinen vor. Wenn wir über ihnen sind, lasst ihr euch durch die Bodenluke fallen und stürzt euch auf sie. Das alles muss lautlos geschehen. Nur Stichwaffen sind erlaubt. Wahrscheinlich halten sich noch andere in der Düne auf. Dann schnappt ihr euch die Uniformen der Toten und zieht sie an. Von Weitem wird man euch nicht erkennen. Wir gehen auf den Nachbardünen in Stellung. Wenn wir zu schießen beginnen, bemächtigt sich einer von euch des Mädchens, und die anderen geben ihm Feuerschutz. Sie werden es nicht wagen, auf das Mädchen zu schießen, weil sie mehr als eine Million wert ist. Wir erledigen den Rest. Die Tchiinen kämpfen mit Waffen, die Todeswellen ausstrahlen, doch die können unsere Magnetschutzwesten nicht durchdringen.«
Er schwieg kurz, sah Tixu an und fügte hinzu: »Deshalb benutzen wir noch immer die alten Bauchtöter wie unsere Großväter auf Roter-Punkt. Hat noch jemand Fragen?«
Die Bodenluke öffnete sich geräuschlos, während sich die vier Gardisten kniend daneben postierten, in den Händen ihre doppelschneidigen Dolche. Das fahle Licht des Nachtgestirns Salom ließ die Klingen aufblitzen. Tixu fing an zu zittern, sein Magen revoltierte, und seine Kehle war so trocken, dass er sich sehnlichst einen Becher Mumbë wünschte.
Der Personenair schoss über die falsche Düne hinweg. Von dem pfeifenden Geräusch aufgeschreckt, reckten die tchiinischen Wachposten die Köpfe in die Höhe. Da fielen bereits gelbe Schatten vom Himmel und stürzten sich auf sie, ohne dass ihnen Zeit blieb, ihre Waffen zu zücken. Maïtrellys Gardisten schnitten ihnen die Kehlen durch oder töteten sie mit einem gezielten Stich ins Herz. Die ganze Operation hatte nicht länger als fünf Sekunden gedauert.
Die Gardisten beseitigten schnell verräterische Blutspuren und versteckten die Leichen. Dann zogen sie deren Kleidung an: grüne Kutten mit roten Applikationen. Die Toten würden beim Aufgang von Grünem Feuer bald eine Beute der Riesengeier mit ihren kahlen Hälsen und scharfen Schnäbeln werden.
Etwa Hundert Meter entfernt war der Personenair am Fuß einer benachbarten Düne gelandet. Der Françao hatte seine übrigen Männer instruiert und Infrarotferngläser verteilen lassen. Außerdem waren jetzt alle mit den schwarzen Magnetschutzwesten ausgerüstet. Die Männer verschwanden in der Nacht. Nach und nach erstarb das Knirschen ihrer Schritte im Sand.
Maïtrelly, Zorthias, Tixu und die vier Gardisten lagen bäuchlings oben auf der Düne. Eine ideale Position zur Überwachung. Doch der Boden war gefroren. Die Kälte drang durch ihre Kleidung. Tixu presste seine Kiefer zusammen, damit seine Zähne nicht klapperten. Zorthias litt noch mehr, denn außer seinem Lendenschurz trug er nichts. Ein Schauer lief über seine Haut, und seine Fettschichten konnten ihn nicht schützen.
Die vier Gardisten spielten ihre Rollen als tchiinische Wachposten perfekt. In der Entfernung war die Täuschung nicht erkennbar. Maïtrelly verständigte sich mit ihnen dank einer infraroten Taschenlampe, deren Signale mittels eines codierten Systems nur von seinen Männern mit den Infrarotferngläsern entschlüsselt werden konnten.
Plötzlich wurde die Stille der Nacht von einem leisen Brummen durchbrochen. Drei erleuchtete Ovalibusse tauchten am Horizont auf, gefolgt von drei Personenairs.
»Haltet euch bereit!«, signalisierte Maïtrellys Taschenlampe.
Tixus Herz klopfte rasend schnell. Trotz der Kälte überlief ihn ein heißes Schaudern.
Die drei Ovalibusse setzten gleichzeitig in der Nähe der falschen Düne auf, wobei sie so viel Sand aufwirbelten, dass sich die vier verkleideten Gardisten unbemerkt aus dem Gesichtsfeld der Passagiere stehlen konnten.
Die drei Personenairs blieben etwa fünf bis sechs Meter über dem Boden in der Luft stehen. Sie sahen wie große Leuchtkörper aus, die mit unsichtbaren Ketten am Himmel befestigt waren. Ihre Motoren brummten leise. Wahrscheinlich warteten die Piloten auf die Erlaubnis, landen zu dürfen.
Die Gangways der Ovalibusse entrollten sich riesigen Echsenzungen gleich, bis zum Boden. Im Laufschritt stürmten grün gekleidete Tchiinen die Treppen hinunter und stellten sich im Kreis auf. Zu Maïtrellys großer Erleichterung schenkten sie den vier Wachposten keine Beachtung.
Jetzt erschien Abeer Mitzo. Mit der betonten Gelassenheit eines Mannes, der sich dank seines Reichtums alles erlauben kann, schritt er in die Mitte des Kreises. Die Nacht betonte sein satanisches Aussehen. Das aschfahle Gesicht mit den roten, schwarz umränderten Augen erinnerte eher an einen Vampir als an ein Wesen aus Fleisch und Blut. Er hob die Hand mit nachlässiger Geste.
Die drei Personenairs setzten in einem Wirbel aus Sand und kleinen Steinen auf. Sofort erschien die fette Visage des monströsen Glaktus in der Tür. Er trug über seinem pflaumenblauen Wallegewand ein kurzes Cape. Unter seinem Gewicht versank die Gangway einen guten Meter im Sand. Hinter ihm stolperten seine mit Kampfpulver benebelten Killer die Stufen hinunter. Mit irrsinnigen Augen starrten sie provozierend die Tchiinen an, bereit, beim kleinsten Zwischenfall zu den Waffen zu greifen.
Inmitten dieser widerwärtigen Bande ging Aphykit, taumelnd, barfüßig, frierend unter ihrem Hemd. Der kalte Wind peitschte ihr langes schimmerndes Haar. Es glänzte in der Dunkelheit: eine Flamme voller Leben, die einen seltsamen Kontrast zu ihrem bleichen, reglosen Gesicht bildete.
Maïtrellys vier Gardisten hatten inzwischen andere Positionen eingenommen, um nicht in die Schusslinie zu geraten. Jetzt näherten sie sich der Gefangenen, die nun am Fuß der Gangway stand.
»Hier ist Eure Sklavin, wie vereinbart, Sieur Mitzo!«, keuchte Glaktus atemlos von zwanzig Metern Weg, den er eben notgedrungen zurückgelegt hatte, ein gefährliches Unterfangen für einen Mann seines Übergewichts. »Sie ist in perfekter körperlicher Verfassung …«
Er entnahm einer Tasche seines Capes eine kleine Phiole.
»Und hier habe ich das Serum, das sie noch zehn Jahre oder mehr am Leben erhalten wird. Vielleicht noch länger, wenn sie bei guter Gesundheit ist. Und sie wird absolut gefügig sein … und Eure ausgefallensten Wünsche befriedigen, wie sie auch immer sein mögen!«
»Du bist ein schamloser Lügner, Glaktus Quemil!«, fauchte Abeer Mitzo mit fiesem Lächeln. Dann öffnete er leicht den Mund und ließ kleine gelbe spitze Zähne sehen. »Hältst du mich für einen Godappi? Niemand überlebt die Behandlung mit Gefügigmacher länger als ein paar Monate.«
»Aber ich versichere Euch, dass mit diesem Serum …«
»Das ist nicht wichtig. Aber es würde mich sehr wundern, wenn dieses junge Mädchen die ihr zugedachte Behandlung länger als eine Woche überlebt. O ja … Denn ich habe mir für sie wegen ihrer edlen Abstammung und Schönheit eine kleine Spezialbehandlung überlegt … Als kleiner Junge hatte ich viel Spaß daran, teuren Puppen die Arme und Beine auszureißen … Ein unschuldiges Vergnügen, findest du nicht?«, sagte er und lachte hämisch.
»Verfahrt ganz nach Eurem Belieben, Sieur Mitzo. Ihr seid der Eigentümer«, stimmte Glaktus kriecherisch zu. »Apropos, Besitzer … wenn Ihr mich bezahlt habt, dann …«
»Ihr Händler seid doch alle widerlich«, sagte Abeer Mitzo verächtlich. »Nicht nur, dass ihr lügt, ihr denkt an nichts anderes als an Geld.«
Auf eine solche Beleidigung hatten Glaktus’ Männer nur gewartet. Sie zogen ihre Waffen und richteten sie auf die Tchiinen, die sich wiederum kampfbereit machten.
Ein unheilvolles Schweigen senkte sich über die Wüste.
»Bewahrt Ruhe! Alle!«, befahl Abeer Mitzo, den dieser Einschüchterungsversuch sichtlich amüsierte. »Ich habe nicht die Absicht, auch nur einen Tropfen Blut wegen einer Million und ein paar Zerquetschten zu vergießen. Was bedeutet schon Geld? Nichts, außer, dass man sich von Zeit zu Zeit etwas Luxus gönnen kann …«
Er schnalzte mit den Fingern, und einer seiner Männer brachte ihm einen Minicomputer, um die finanzielle Transaktion zu regeln.
»Du kannst dir sicher denken, Händler, dass ich eine derartige Summe nicht cash bei mir trage. Ich gebe dir also eine zertifizierte Gutschrift, die du in jeder x-beliebigen Bank einlösen kannst.«
»Selbstverständlich, selbstverständlich«, sagte der dicke Menschenhändler unterwürfig und beugte sich vor, um mit gierigem Blick das Eintippen der Ziffern auf dem Computer zu verfolgen.
»Feuer!«, befahl Bilo Maïtrelly mit seiner Taschenlampe.
Grelle Blitze durchzuckten die Nacht, und ein Hagel leuchtender Geschosse ergoss sich über die Tchiinen und Glaktus’ Söldner. Sofort breitete sich ein übler Geruch nach verbranntem Fleisch aus – und Panik unter den Überlebenden, weil sie mit dem Angriff nicht gerechnet hatten. Die erfahrenen Kämpfer suchten schnell Schutz unter den Rümpfen der Flugzeuge. Die anderen stoben in alle Richtungen auseinander, stolperten über Leichen oder erschossen sich gegenseitig. Glaktus quetschte sich so gut es ging unter den Bauch eines Personenairs, wo bereits ein paar seiner Totschläger und Abeer Mitzo kauerten.
Maïtrellys vier Gardisten nutzten die Gelegenheit. Sie liefen zu der Syracuserin, während ihr Leibwächter versuchte, sie unter der Gangway in Sicherheit zu bringen. Eine todbringende Salve zerfetzte sein Gesicht. Er ließ die junge Frau los und stürzte zu Boden. Einer der Gardisten packte Aphykit, warf sie sich über die Schulter und rannte aus der Schusslinie. Die drei anderen deckten seinen Rückzug durch eine wilde Schießerei.
»Zorthias! Starte den Personenair! Schnell!«, rief der Françao.
Inzwischen hatten Glaktus – fast wahnsinnig vor Wut und Angst – und Abeer Mitzo – eiskalt und wohlüberlegt – die Verteidigung organisiert. Ihre Männer schossen auf die drei Gardisten, und zwei von ihnen fielen.
»Herrgott noch mal!«, brüllte der unter dem Fahrwerk eingeklemmte Glaktus. »Schießt nicht auf die junge Frau! Kapiert? Ihr darf nichts passieren!«
Schon fünfzehn verbrannte Leichen lagen im Sand. Durch den ständigen Beschuss gerieten auch die Flugzeuge in Brand. Sie bildeten keine sichere Deckung mehr.
Inzwischen hatte der Gardist, der die Syracuserin trug, die Hälfte der benachbarten Düne erklommen. In dem weichen Sand kam er nur mühsam voran. Auch der dritte Gardist war getroffen worden. Er lag am Fuß des Hügels, Hals und Nacken verbrannt. Doch er wurde weder verfolgt noch beschossen, aus Furcht, seine kostbare Last zu treffen.
»Er wird uns entkommen«, zischte Abeer Mitzo. »Worauf wartest du noch? Schieß endlich!«
Glaktus’ Killer, an den die Worte gerichtet waren, suchte verzweifelt nach seinem Chef. Aber er konnte ihn nirgendwo entdecken.
»Das darf ich nicht. Wenn ich sie treffe …«
»Idiot! Ich zahle, was auch immer passiert. Sogar wenn du das Mädchen abknallst. Los, schieß! Ich zahle.«
Der Killer stand auf, und den Metallkolben seines Bauchtöters fest gegen seine Schulter gepresst, zielte er langsam. Der Lauf spie einen weißen Blitz aus, der den Gardisten in den Rücken traf und seine Wirbelsäule zerschmetterte. Er stieß einen markerschütternden Schrei aus, ließ Aphykit fallen und sackte in sich zusammen. Die junge Frau rollte den steilen Hang hinunter und blieb vor Schreck wie betäubt liegen.
Das war zu viel für Tixu. Er entriss Maïtrelly das Nachtsichtglas und suchte damit fieberhaft die Dünen ab. Als er die Syracuserin im Visier hatte, sah er, dass sie im Gesicht blutete. Einen Moment glaubte er, sie wäre tot. Doch nein, sie lebte. Denn ihr Hemd hob und senkte sich regelmäßig beim Atmen. Sie war so nah und gleichzeitig so fern. Unerreichbar …
Er gab dem Françao sein Glas zurück und sagte, ohne nachzudenken: »Bitten Sie Ihre Männer, mir Feuerschutz zu geben. Ich hole die Frau!«
»Nein! Das ist Selbstmord!«, antwortete Maïtrelly. »Das Gelände bietet keine Deckung. Sie werden dich wie einen Hasen abknallen.«
»Deshalb bitte ich Sie ja, mir Feuerschutz zu geben. Ich habe nicht um einen Vortrag über Militärstrategie gebeten.«
Der Françao schüttelte den Kopf. Trotzdem begriff er, dass Tixus Entschluss unumstößlich war.
»Rettung des Mädchens! Feuerschutz!«, signalisierte er mit seiner Taschenlampe.
Dann gab er Tixu eine magnetische Schutzweste. »Leg die wenigstens an. Und pass auf dich auf. Es wäre ziemlich blöd, gerade an dem Tag zu sterben, an dem der Planet Orange seine zweitausendjährige Unabhängigkeit feiert.«
Tixu hatte das seltsame Gefühl, neben sich zu stehen. Es war, als würde jemand anderer an seiner Stelle handeln, als hätte ein Eroberer den richtigen Tixu gefesselt und geknebelt, jenen Tixu, der Angst vor allem hatte: der InTra, lautem Geschrei oder Zusammenstößen in der Luft. Er stand auf, legte sich die Weste an und drückte auf einen Knopf. Ein leises Summen zeigte an, dass er jetzt von einem Schutzschild umgeben war.
Dann konzentrierte er sich und lief so schnell wie möglich den steilen Abhang der Düne hinunter, umrundete sie und verschwand in der Schwärze der Nacht. Er musste schnell sein, damit ihn die feindlichen Kämpfer so spät wie möglich entdeckten.
»Worauf wartet Ihr noch? Wollt Ihr das Mädchen nicht holen?«, wimmerte Glaktus.
»Halt den Mund, Quemil! Im Moment haben wir keine Chance. Was jetzt allein zählt, ist zu überleben«, wies Abeer Mitzo ihn zurecht, denn der ständige Beschuss durch Maïtrellys Männer zwang ihn zur Vorsicht. Zwei Ausbruchsversuche waren bereits gescheitert, sie hatten in einem Blutbad geendet, und die Pilotenkanzeln ihrer Flugzeuge standen bereits in Flammen.
Der eiskalte Wind peitschte Tixu Sand in Gesicht und Augen. Er kam nur mühsam voran, weil sein Körper vom jahrelangen Nichtstun auf Zwei-Jahreszeiten nicht trainiert war.
Endlich hatte er die Hügelkuppe erreicht. Aphykit lag am Fuß des gegenüberliegenden Abhangs. Tixu gönnte sich eine kleine Pause und machte sich an den Abstieg. Geröll, Sand und Steine lösten sich unter seinen Tritten, er taumelte, stürzte, und rutschte auf der Seite liegend den ganzen Abhang hinunter, wobei er sich den linken Knöchel verstauchte.
Aphykit wimmerte leise. Wie elektrisiert vergaß er all seine Qualen und stürzte die paar Schritte auf sie zu. Er packte sie unter den Armen und versuchte, sie hinter die Düne zu schleifen.
Glaktus hatte alles beobachtet. Außer sich vor Wut, weil er sah, wie sein Traum zu zerplatzen drohte, und die Gefahr wuchs, dass er nicht mehr bezahlt werden würde, schrie er: »Verdammte Scheiße! Greift euch diesen Schweinehund! Er klaut mir meinen kostbarsten Besitz.«
Wie ein verwöhntes Kind strampelte er mit den Beinen und wand sich wie eine eingeklemmte fette Schnecke unter dem Flugzeugrumpf. Trotz der Kälte der Nacht war sein Gesicht von Schweiß bedeckt.
Zwei seiner Killer krochen aus der Deckung und liefen auf Tixu zu.
»Ihr dürft nicht schießen!«, rief der dicke Menschenhändler. »Ihr könntet das Mädchen verletzen.«
»Du bist nicht nur ein widerlicher alter Fettsack, Quemil, du bist auch so dämlich wie ein Haufen Scheiße!«, zischte Abeer Mitzo. »Ich habe dir doch gesagt, ich zahle auf jeden Fall, ganz gleich, was passiert.«
»Das glaube ich Euch nicht. Ihr Tchiinen seid doch alle verrückt. Aber jetzt liegen hier ja jede Menge Leichen herum. Bedient Euch! Ihr habt nur noch die Qual der Wahl.«
Der eine Killer wurde schnell getroffen und dahingerafft, doch der andere war Tixu gefährlich nahe gekommen, weil der junge Mann mit seiner Last nur langsam vorankam.
Der Killer gab ein paar Schüsse zur Einschüchterung ab. Er hoffte wohl, der Oranger würde die junge Frau fallen lassen. Doch der ließ sich nicht beirren, obwohl er nahezu am Ende seiner Kräfte war. Nie hätte er gedacht, dass ein derart zierliches Wesen so schwer sein könnte. Der wahre, der ängstliche, der feige Tixu drohte die Oberhand zurückzugewinnen.
Glaktus’ Handlanger warf sich vor die Beine der Syracuserin und packte einen ihrer Füße. Mit der anderen Hand schoss er.
»Hört mit dem Beschuss auf!«, signalisierte Maïtrelly mit seiner Taschenlampe.
Tixus Hände versagten den Dienst. Er schwankte, seine Kräfte verließen ihn.
In diesem Augenblick hörte er klar und deutlich die Stimme Kacho Marums, des Imas des Tiefen Waldes: »Die Kraft des Echsengottes ist in dir. Du bist unbesiegbar …«
Sofort wurde der wahre Tixu, der arme Sterbliche, aufs Neue zum Schweigen gebracht.
Er ließ die Syracuserin los, worauf der Killer das Gleichgewicht verlor. Noch ehe der Mann reagieren konnte, attackierte Tixu ihn, maßlose Wut im Bauch. Überrascht ließ der Kerl seine Waffe fallen. Als er wieder nach ihr greifen wollte, trat ihm Tixu mit voller Wucht in den Unterleib. Ohne die geringste Wirkung, denn der Killer war mit Drogen vollgepumpt, die ihn gegen jeden Schmerz unempfindlich machten.
Der Oranger schlug wieder zu. Die Kraft des Echsengottes. Direkt auf die gepanzerte Brust seines Gegners. Der Panzer zerplatzte wie eine Eierschale. Tixus Faust zermalmte die Rippen und grub sich tief in das weiche, warme Fleisch des Feindes ein. Blut spritzte ihm ins Gesicht. Der Killer bäumte sich auf, ein Röcheln drang aus seiner Kehle, Arme und Beine wurden schlaff.
Tixu ließ von dem leblosen Körper ab, hob die junge Frau auf und trug sie hinter die Düne.
»Verdammte Scheiße! Verdammte Scheiße! Holt diesen Kerl und massakriert ihn!«
»Gebt ihm Feuerschutz!«, signalisierte Maïtrelly mit seiner Taschenlampe.
Und wieder wurde aus allen Rohren geschossen.
Bilo Maïtrellys Personenair war startklar. Tixu kletterte an Bord. Die Gangway rollte sich hinter den beiden Gardisten ein, die ihm zu Hilfe geeilt waren. Die Tür schloss sich.
»Abflug!«, sagte Maïtrelly. »Meine Leute halten die Stellung noch eine Stunde, bis wir das Mädchen in Sicherheit gebracht haben. Dann holen wir sie.«
Zorthias gab Gas. Die Motoren heulten auf, und das Flugzeug hob in einer riesigen Staubwolke ab. Es gewann schnell an Höhe.
Außer sich vor Wut kroch Glaktus mühsam aus seinem Versteck hervor und lief wie ein Idiot hinter dem am nächtlichen Himmel entschwindenden Personenair her, in dem Bemühen, seinen Traum vom großen Geld doch noch verwirklichen zu können. Dabei ließ er nicht die geringste Vorsicht walten und wurde von einem strahlenden Blitz zwischen den Schulterblättern getroffen. Ein hässliches schwarzes rauchendes Loch tat sich in seinem Rücken auf, und sein unförmiger Körper geriet ins Wanken, stürzte und breitete sich wie eine gallertartige Masse am Boden aus. Sein vom Wind gepeitschtes silbernes Cape umflatterte ihn wie ein Todesbanner.
»Da seht, die widerwärtige Fettkugel!«, höhnte Abeer Mitzo. »Wie kann man nur so blöd sein, sich allein wegen des Geldes erschießen zu lassen!«
Denn er, er dachte im Moment nur ans Überleben und lauerte darauf, ohne Gefahr den Öffnungsmechanismus der falschen Düne betätigen zu können.
Maïtrellys Personenair überflog die Wüste. Tixu hatte die Syracuserin behutsam auf eine der Sitzbänke gelegt und sie mit dem Jackett des Françao zugedeckt, weil sie vor Kälte zitterte. Maïtrelly saß jetzt in Hemdsärmeln auf dem Platz des Copiloten.
Er drehte sich um und sah den blutbeschmierten Tixu an. »Du hast mit einem Faustschlag seinen Panzer zertrümmert!«, sagte er, mit Bewunderung in der Stimme. »Du bist ein Geheimniskrämer, mein junger Freund. Von dieser Fähigkeit hast du kein Wort erwähnt.«
»Wie hätte ich davon erzählen können?«, entgegnete Tixu. »Ich wusste nicht einmal, dass ich sie besitze.« Er schwieg kurz und fuhr dann fort: »Was ich Ihnen jetzt erzähle, wird Ihnen völlig absurd erscheinen … Nicht ich habe zugeschlagen, aber die … die Echse durch mich.«
»Was redest du da? Eine Echse? Was ist das für ein Unsinn?«
»Das ist zu kompliziert, um es Ihnen jetzt zu erklären«, murmelte Tixu.
Die junge Frau wimmerte leise. Manchmal verzerrte sich ihr Gesicht wie vor Entsetzen und plötzliche Krämpfe schüttelten ihren Körper, als wollte sie einen unsichtbaren Eindringling loswerden.
»Das Virus … Anfangs verursacht es heftige Fieberattacken. Deliriumartige Zustände, die von Phasen extremer Hellsichtigkeit abgelöst werden. Doch dann – und vorausgesetzt, das Serum wird täglich gespritzt – paralysiert das Gift den eigenen Willen … Und die Kranke vegetiert nur noch dahin …«
»Und es gibt wirklich kein Gegenmittel?«, fragte Tixu, der die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte.
Doch die wurde brutal zerstört, als der Françao antwortete: »Bis zum heutigen Tag ist jedenfalls keins bekannt. Ich dachte, dass ich dir das bereits gesagt habe.«
Sie überflogen jetzt erste, weit verstreute Geländekomplexe inmitten ausgedörrter Parkanlagen. Um diese Stunde waren auch die verbotenen Viertel wie ausgestorben. Eine rußige Schwärze umgab sie, weil nicht einmal die Lichtkugeln brannten; es schien, als hätte die Finsternis sie besiegt.
Sie ahnten nicht, dass sie verfolgt wurden. Nur ein paar Meter über ihnen flog eine Taxikugel, schnell und unsichtbar in der tintenschwarzen Nacht. Und deren Fahrgäste hatten den erbarmungslosen Kampf in den Dünen von Rajiatha-Na bis in alle Einzelheiten verfolgt.