SECHZEHNTES KAPITEL
Glaube nicht, dass die
Lyra-Schlange, die
Um dich zu bezaubern,
In schönsten Farben schillert,
Deshalb ihr tödliches Gift verloren hat:
Gerade dann ist sie am gefährlichsten.
Maxime des Zweiten Sbaraïkischen Rings
In guten wie in bösen
Stunden
Sind wahre Freunde miteinander tief
verbunden:
Doch wird das klare Wasser der Intuition
Trübe durch wirre Konfusion,
Fällt die Entscheidung oft sehr schwer.
Denn welcher Mann – auch groß und hehr
–
Kann ohne sich selbst zu verstricken
In die Seele seines Freundes blicken?
Platonischer Vers
Obwohl Tixu sehr früh an diesem Morgen erwachte – drei Stunden vor seinem Gastgeber – fühlte er sich frisch und munter.
Schon vier Tage saß er untätig auf dem Planeten Marquisat herum. Aphykits erneuter Hilferuf machte ihm Sorgen. Er legte eine dicke Wolldecke um seine Schultern und trat vor die Tür der Hütte. Dort setzte er sich auf einen großen Stein. Die Kühle der Nacht prickelte auf seiner Haut. Die schmale goldbraune Sichel des Sandmondes, des letzten Nachtgestirns des Marquisats, durchzog den indigoblauen, mit Sternen übersäten Himmel mit orangefarbenen Streifen.
Eine friedliche Stille umgab das imposante Massiv der Échine de la Marquise. Unter ihm, im fernen Abgrund der Hauptstadt, waren nur vereinzelte Lichter zu sehen.
Das Antra machte sich in ihm bemerkbar. Tixus Geist nahm es gierig auf, so als wäre es ihm inzwischen unentbehrlich geworden. Eigentlich gefiel ihm diese Abhängigkeit nicht, doch gleichzeitig wusste er intuitiv, wie wichtig es war, dass der Klang ihn innerlich rein machte.
Er sah Bilder aus seiner frühen Kindheit. Wieder hörte er die etwas heisere Stimme seiner Mutter, wie sie ihm von seinem nie gekannten Vater erzählte. Sie nahm ihn zärtlich in die Arme, drückte ihn an ihre Brust. Ihr langes bernsteinfarbenes Haar kitzelte seine Wangen. Er lief mit ihr durch die Straßen von Phaucille, und er entdeckte voller Entzücken buntes Spielzeug in den Schaufenstern der Geschäfte. Sie kaufte ihm ein altes elektronisches Geduldsspiel, mit dem er sich eine ganze Weile beschäftigte, während sie beide auf einer der Parkbänke inmitten blühender Bäume saßen. Er zappelte nervös mit seinen nackten Beinen, und sie gab ihm zur Beruhigung einen kleinen Klaps auf den Oberschenkel. Er musterte sie von unten und aß dabei so viel Süßigkeiten, dass ihm fast schlecht davon wurde. Sie wirkte abwesend, und doch erschien sie ihm wunderschön und begehrenswert. Er schämte sich dieses Gefühls, weil er ahnte, dass es nicht das Gefühl eines Kindes war. Und er war diesem phantomhaften Vater böse, diesem Feigling, weil er sie verlassen hatte, um in ein Furcht einflößendes, dunkles Land namens Tod zu reisen.
Am folgenden Abend hatte seine Mutter ihn zu seinem Onkel gebracht, dann war sie mit einer Taxikugel in die Nachbarstadt Betsabee gefahren, um eine Freundin zu besuchen. Mitten in der Nacht hatte seine Tante ihn plötzlich aus dem Schlaf gerissen. In jener Nacht erstrahlten die Sechs Sterne in der Sonne besonders hell und rot, im Rot des himmlischen Bluts. Er wurde zu einem Bett geführt, auf dem seine Mutter mit auf der Brust verkreuzten Händen lag. Sie bewegte sich nicht mehr; sie atmete nicht mehr. Benommen betrachtete er ihr weißes friedliches Gesicht, das von ihrem golden schimmernden Haar umgeben war. Hilflos und allein hatte sie ihn zurückgelassen. Man sagte ihm, die Taxikugel sei abgestürzt, und seine Mutter sei zu seinem Vater in das wunderbare Königreich des Todes gegangen. Da fragte er sich, warum dieses Königreich so verlockend sei, dass sie ihn deswegen habe verlassen können. Dabei hatte sie doch immer behauptet, ihn mehr als alles andere auf der Welt zu lieben und ihn niemals zu verlassen. Also war seine Mutter eine Lügnerin, wie alle anderen auch.
Er weinte, ohne zu wissen, warum Tränen aus seinen müden Augen strömten, vielleicht nur, weil das eine große Erleichterung war oder einfach ein beruhigendes Gefühl, etwas Wärme auf seinen Wangen zu spüren. Seine Tante drückte ihn an ihre Brust, wie seine Mutter es getan hatte. Doch bei dieser Frau fühlte er nichts als Kälte und Gleichgültigkeit hinter dieser leeren Geste.
»Sie sind aber früh auf den Beinen, Bilo!«, rief Stanislav Nolustrist.
Völlig nackt stand der Hirte vor der offen stehenden Tür seiner Hütte und streckte sich. Seine tiefe Stimme hatte ein paar seiner im Gras ruhenden Bovinen geweckt. Jetzt standen sie auf, scharrten mit den Hufen und schnaubten, bereit zu fliehen oder anzugreifen.
Derart abrupt in die Realität zurückgekehrt, merkte Tixu erst jetzt, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Er wischte sie mit dem Handrücken weg und rieb sein Gesicht mit einem Zipfel der Wolldecke, um seine Verlegenheit zu überspielen.
Der Hirte ging zu ihm und deutete auf die Sterne. »Schauen Sie sich den Himmel an! Sehen Sie diesen Stern da? Rechts neben der Sichel des Sandwindes? Das sind Sie. Dieser Stern wird bald vom Firmament verschwunden sein, so wie Sie aus meinem Leben verschwinden werden. Er wird von der Dunkelheit verfolgt, so wie Sie vom Tod verfolgt werden. Er muss hell strahlen, will er nicht von der Nacht verschluckt werden. Und Sie müssen einen sehr starken Lebenswillen haben, wollen Sie nicht vom Tod hinweggerafft werden! Sein Schicksal wie das Ihre hängt einzig und allein davon ab, mit wie viel Energie ihr euch zur Wehr setzt. Und Sie, Bilo, haben Sie genug Lebenswillen, um den Fallstricken des Sensenmanns zu entgehen?«, schloss Stanislav und brach in unbändiges Gelächter aus, noch ehe Tixu darauf antworten konnte.
»Verflucht noch mal, ich sehe ja, wie ich Sie mit meinem Geschwätz anöde. Kommen Sie! Begleiten Sie mich lieber zum Gebirgsbach. Sein Wasser wird uns erfrischen und wieder munter machen. Gestern sind Sie auch nicht mitgekommen.«
»Das Wasser ist mir zu kalt«, entschuldigte sich Tixu lahm. Er wunderte sich, dass dem Hirten solche Temperaturen nichts auszumachen schienen.
»Es ist nicht kalt!«, widersprach Stanislav. »Es ist bloß noch etwas abgekühlt von der Nacht, aber klar und von einem unbeschreiblichen Frieden erfüllt … Also, los! Sie werden sich hinterher viel besser fühlen.«
Er ging ins Haus und kam kurz darauf mit einer aus ungebleichter Wolle gewebten Tunika bekleidet wieder. Ohne ein weiteres Wort ging er zum Bach. Tixu trottete schließlich, in seine Decke gehüllt, hinter ihm her. Der Tau unter seinen nackten Fußsohlen war eisig, und sein Atem gefror in der kalten Luft. Die Bergkette in der Ferne war in fahles, diesiges Licht getaucht.
Der Bach bildete sich aus einem hohen Wasserfall, und rauschte schäumend über das Felsgestein. An seinen Ufern wuchsen vom Raureif versilberte Pinien. Der Pfad wurde schmaler und führte zu einer kleinen Bucht unter einem Felsvorsprung, wo sich eine Gumpe gebildet hatte.
Stanislav Nolustrist zögerte keine Sekunde. Er streifte seine Tunika ab und sprang in das stille Wasser. Tixu ließ seine Decke von den Schultern gleiten und tauchte vorsichtig seinen großen Zeh in den Bach. Es war eiskalt und er bekam eine Gänsehaut.
»Los, rein mit Ihnen! Das Wasser ist herrlich. Genießen Sie es, wie Sie das Zusammensein mit einer Frau genießen würden. Nur keine Schüchternheit vortäuschen!«
Aber Tixu weigerte sich. Er zitterte vor Kälte und rührte sich nicht vom Fleck. Stanislav schwamm näher heran und bespritzte seinen Gast mit Wasser. Tausend Nadeln stachen Tixu und raubten ihm den Atem. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als ins klare Wasser zu springen.
Als die beiden eine Viertelstunde später ans Ufer kletterten, musste Tixu gestehen, dass ihm dieses auferzwungene Bad sehr gutgetan hatte, auch wenn ihm noch immer leicht der moschusartige Geruch der Bovinen anhaftete. Er rubbelte sich mit der Decke trocken.
»Ich muss Sie verlassen, Stani …«
»Das wusste ich von Anfang an«, murmelte der Hirte und lächelte traurig. In seinem Bart hingen noch glitzernde Wassertröpfchen. »Der Himmel belügt mich nie … Sie werden mir fehlen, ich fühlte mich in Ihrer Gesellschaft wohl … Doch Sie haben einen schlechten Tag für Ihre Abreise gewählt, denn die Krönungsfeierlichkeiten anlässlich der Inthronisation des neuen Kaisers beginnen heute.«
»Länger kann ich nicht warten«, sprach Tixu weiter. Er richtete seine Worte ebenso an sich wie an seinen Gesprächspartner. »Die Zeit läuft mir davon … Und jetzt bin ich entschlossen, alles auf eine Karte zu setzen … Irgendwie finde ich schon eine Möglichkeit, von hier wegzukommen. Die Transfergesellschaften öffnen heute Morgen wieder ihre Büros. Doch was auch immer geschehen mag, ich komme nicht zurück.«
Stanislav Nolustrist stand nachdenklich am Ufer des Bachs. Eine frische Morgenbrise wirbelte Strähnen seines nassen Haars auf.
»Wenn jemand derart entschlossen ist wie Sie«, sagte er schließlich, »wird der Himmel Ihren Wunsch erfüllen. Übrigens … weil die Sterne mir Ihre Abreise verkündeten, habe ich Sie quasi zu diesem Bad gezwungen. Denn dieses Wasser ist wirklich heilig. Noch nie wurde die Quelle des Bachs entdeckt und das aus einfachem Grund: Er entspringt direkt dem Mund Dimutas der Wohltäterin, der Wassergöttin. Seine reinigenden Wasser haben vorübergehend die Kraft, die zerstörerische Macht Brouhaers, des Dämons des Nichts, zu neutralisieren. Und Sie werden in den nächsten Tagen wahrhaft Dimutas Hilfe brauchen. Ach, wie heißen Sie wirklich?«
Tixu sah Stanislav offen an. »Tixu Oty vom Planeten Orange. Aber am besten ist es, Sie vergessen meinen Namen, Stani. Sollten jemals die mentalen Inquisitoren Eingang in Ihre Gedanken finden, könnten wir beide den allergrößten Ärger bekommen.«
»Ich bade jeden Tag in diesem Wasser«, entgegnete der Hirte fröhlich. »Was kann mir da schon passieren?«
Zwar hörte sich dieses Argument völlig naiv an, doch Tixu ahnte, dass Stanislav Nolustrists Glaube gerechtfertigt war und er durch das Wasser geschützt war.
»Ich danke Ihnen für alles, was Sie für mich getan haben … Und was das Geld betrifft, das Sie mir geliehen haben … ich glaube nicht, dass ich es Ihnen zurückzahlen …«
»Ja, verflucht noch mal!«, schalt ihn der Hirte. »Noch solch einen Unsinn, und ich werfe Sie ins Wasser. Sie beleidigen mich, wenn Sie noch einmal über Geld reden … Meine Intuition sagt mir, dass in Ihnen etwas Göttliches ist, etwas, das mir zwar unbekannt ist, dessen Bedeutung ich aber erkenne. Glauben Sie, dass man das Göttliche mit einer Hand voll marquisatinischer Dukaten aufwiegen kann? Mir wäre es lieber, wenn mir deswegen ein paar Schwächen verziehen würden, und an Schwächen mangelt es mir nicht … Und sollten Sie auf unüberwindbare Hindernisse stoßen, können Sie jederzeit wieder einen Unterschlupf in meiner bescheidenen Behausung finden.«
Eine Stunde später und nach der ersten Mahlzeit zur Begrüßung des Silberkönigs verabschiedete sich Tixu von seinem Gastgeber, der ihm für alle Fälle – »Und wagen Sie ja nicht, mir zu widersprechen!« – hundert marquisatinische Dukaten schenkte. Stanislavs schwielige Hand drückte Tixus Hand lange, und beide brachten vor lauter Rührung kein Wort mehr hervor.
Während der Silberkönig höher und höher am Himmel emporstieg, eilte Tixu über den steinigen Pfad ins Tal und erreichte bald die Vorstädte Duptinats. Von fern hörte er die nostalgischen Lieder Stanislav Nolustrists, und er musste den Sinn der Worte nicht verstehen, um zu wissen, dass der Hirte mit seiner schönen tiefen Stimme von Freundschaft und Traurigkeit sang.
Trotz der frühen Stunde war die Hauptstadt bereits in Hochstimmung – oder tat wenigstens so. Überall zwischen den Menschen auf den Straßen und Plätzen patrouillierten Interlisten in blauen Overalls und Pritiv-Söldner in grauen Uniformen.
Die Ovalibusse waren derart überfüllt, dass Tixu mehrmals glaubte, gleich ersticken zu müssen. Die Duptinatiner überboten sich in ihrem Eifer, an den Feierlichkeiten teilzunehmen, weil sie Repressalien fürchteten. Sie hatten eine höllische Angst vor den psychischen Fähigkeiten ihrer neuen Herren. Niemand konnte sich vor der mentalen Inquisition schützen, deshalb hütete sich ein jeder auch nur ein Fünkchen Missbilligung oder Gleichgültigkeit zu zeigen, was sofort die Aufmerksamkeit der Scaythen oder der Vertreter der Kirche des Kreuzes erregt hätte. Also hatten sich die Leute fein gemacht, geschminkt, gepudert und legten eine aufgesetzte Freude an den Tag, als würden sie Karneval feiern.
Der Ovalibus überflog die graublauen Dächer der Stadt, die vom phosphoreszierenden Licht der hängenden Straßenlampen bestrahlt wurden. Tixu stieg am Jatchaï-Wortling-Platz aus. Er war von Menschenmassen überfüllt. In der Mitte, ganz in der Nähe von Dame Armina Wortlings Hinrichtungsstätte hatten die neuen Machthaber eine riesige Holo-Leinwand aufgebaut. Sie thronte auf einem noch größeren, mit syracusischem, changierendem Stoff bespannten Podium, das außerdem mit weißen Blumen und geometrischen Leuchtmotiven dekoriert war. Die Zeit für die Übertragung schien schlecht gewählt, doch ein Text in Naflinisch auf der Leinwand ließ das marquisatinische Volk wissen, dass sich die kaiserlichen Astronomen nach offiziellen Berechnungen auf diesen Zeitpunkt unter Einbeziehung der planetarischen Zeitverschiebung und unter der Berücksichtigung der demografischen Bedeutung eines jeden Vasallenstaates geeinigt hätten, damit ein jeder per Direktübertragung der Inthronisation Menati Angs beiwohnen könne.
Tixu konnte sich nur einen Weg durch die bunt gekleidete und lärmende Menge bahnen, die zudem noch von ambulanten Händlern bedrängt wurde, indem er sich rücksichtslos mit Füßen und Ellbogen Platz schaffte. Schließlich kam er vor dem Feuerkreuz an.
Die Duptinatiner hatten sich schnell an diese abscheulichen transparenten Räder der Kirche des Kreuzes gewöhnt. Schon kümmerte sie das Schicksal der Gemahlin ihres einst so geliebten Herrschers, des Seigneurs Abasky, nicht mehr. Aus blanker Angst hatten sie sich mit verblüffender Flexibilität der neuen Lage angepasst.
Dame Armina lebte nicht mehr, aber damit war wenigstens ihrem Martyrium ein Ende gesetzt. Frieden lag auf ihrem geschundenen Gesicht. Großes Mitleid für diese ihm unbekannte Frau ergriff Tixu, der nur ahnen konnte, was sie hatte erleiden müssen. Von dieser Kirche war weder Milde noch Gnade zu erwarten. Sie konnte jetzt mit Hilfe der Scaythen blindwütig ihrem Fanatismus freien Lauf lassen. Schon an jeder Straßenecke stellte sie die Körper der Gefolterten zur Schau, alles Menschen, die es gewagt hatten, an andere Formen des Göttlichen zu glauben und diesem Glauben Ausdruck zu verleihen. Auf diese Weise ließ sie andere für den ihr innewohnenden Hass und Terror bezahlen. Tixu musste an den lächerlichen heruntergekommenen Missionar in der Taverne auf Zwei-Jahreszeiten denken, dessen Worte nur auf Hohn und Spott gestoßen waren.
Ein Raunen ging durch die Menge auf dem Platz. Die fünfzig Meter hohe Bullovision-Leinwand leuchtete weißgolden, und die ersten Takte einer aplymphonischen Hymne ertönte zum Beginn der Übertragung. Als das holografische Bild des neuen Kaiserpalastes in Venicia in seiner barocken Pracht gezeigt wurde, brachen die Duptinatiner in Begeisterungsrufe aus. Was für ein Gegensatz zu ihrer eigenen schmucklos strengen, aufs rein Funktionelle beschränkten und einfallslosen Architektur! Sie gerieten geradezu in Ekstase beim Anblick der unzähligen Türme und Erker, deren Dächer mit Platten aus rosa Optalium gedeckt waren, und der bläulichen, mit hunderten von Lichtskulpturen verzierten Fassade, und dem geometrisch angelegten ausgedehnten Park mit seiner üppigen Vegetation in schillernden Farben. Etwas derart Grandioses hatten sie noch nie gesehen. Dies war ihr erster Kontakt mit der syracusischen Kultur, und sie waren fasziniert, geblendet, voller Enthusiasmus …
Seltsamerweise vergaßen sie bei der Übertragung, dass es eben diese Syracuser und deren Verbündete waren, denen sie die Besetzung ihres Planeten und das damit verbundene Elend verdankten. Tixu konnte es nicht fassen, wie schnell sich dieses Volk von seinen neuen Herren hatte verführen lassen, die sie noch vor ein paar Minuten am liebsten zur Hölle geschickt hätten.
Und als sich der Krönungszug vor dem Palast formierte, wurde die Begeisterung noch größer. Voran schritt Barrofill XXIV., der Muffi der Kirche des Kreuzes. Der Muffi war ein verschrumpelter Greis, dessen dünne, krumme Beine in einem granatroten Colancor steckten. Darüber trug er ein weites violettes Messgewand und auf dem Kopf, über seinem verschlagenen Gesicht, eine mit alten Rubinen geschmückte Tiara. In der Rechten hielt er den geheiligten Krummstab des Unfehlbaren Hirten, das Symbol des obersten Vertreters der Kirche des Kreuzes und Herrschers über die armen Seelen der niederen Welten. Hinter ihm folgte die kleine, in Rot und Blasslila gekleidete Armee der Kardinäle, denen sich die finstere schwarze Schar der Generalvikare anschloss. Dann folgten die in Weiß und Dunkelgelb gewandeten Missionsbischöfe und schließlich kam ein Schwarm blaugrauer Verwalter, Novizen und Ministranten.
Dann war der Festzug der Höflinge zu sehen, dessen Teilnehmer streng nach Bedeutung und Alter der Adelsfamilien aufgereiht waren. Als die Duptinatiner so viel Eleganz und Raffinement in Schnitt, Farben und Accessoires – ein Luxus, der in diesem Übermaß fast lächerlich wirkte – sahen, fingen sie spontan an zu klatschen. Natürlich wäre diese Reaktion auf Syracusa völlig unangebracht gewesen, auf Marquisat aber war sie natürlich.
Nach den Höflingen kamen die je nach ihren Funktionen in verschiedenfarbigen Kapuzenmänteln gekleidete Trupps der Scaythen von Hyponeros: weiß mit roten Bordüren für die Gedankenschützer, schwarz für die kirchlichen Inquisitoren, lindgrün für die weltlichen Gedankenleser. Die Kapuzen verhüllten ihre Gesichter. Zwischen jeder Formation marschierten Interlisten und Pritiv-Söldner, deren weiße Masken den sonderbaren Eindruck erweckten, es handele sich um ein und dasselbe ins Vielfache reproduzierte Wesen. Jetzt stöhnte die Menge auf, denn die Marquisatiner hatten bereits mit den äußerst gefährlichen Scaythen Bekanntschaft gemacht.
Den Abschluss des feierlichen Festzugs vom Kaiserpalast zum Bischofspalast bildete eine schwebende, mit leuchtenden Blumen geschmückte und von der imperialen Garde – eine Elite der Pritiv-Söldner in schwarzen Overalls und schwarzen Masken – begleitete Plattform, auf der der Scaythe Pamynx, der Großkonnetabel des Imperiums, in seinem blauen Kapuzenmantel stand und der Kaiser, Menati Ang, der Zweitgeborene des illustren Seigneurs Arghetti Ang und Bruder des kürzlich verstorbenen Seigneurs Ranti Ang. Repräsentanten des Hochadels, die Sieger über das Planetarische Komitee, denen es gelungen war, die Herrschaft des Adels zu reetablieren, trugen die nicht enden wollende Schleppe seines weißgoldenen Mantels. Seltene Edelsteine schmückten zu Hunderten seinen indigofarbenen Colancor – ein Sinnbild des sternenübersäten nächtlichen Himmels –, und eine Wasserkrone zierte sein Haupt. Mit kaum wahrnehmbaren Gesten grüßte er die hinter einer unsichtbaren magnetischen Absperrung reglos dastehenden Syracuser.
Eine Zuschauerin fand, der neue Herrscher sehe trotz seiner kantigen Gesichtszüge und des Hochmuts, den er ausstrahle, wie ein richtiger Kaiser aus.
»Und diese Haarsträhne«, flüsterte sie Tixu ins Ohr, »die ihm von der Stirn bis zum Kinn reicht, finden Sie nicht, dass er damit sehr verwegen aussieht?«
Angs schwarze Augen – sein Gesicht war jetzt in Großaufnahme zu sehen – glänzten triumphierend, während auf seinen schmalen rot geschminkten Lippen ein zufriedenes Raubtierlächeln lag.
Tixu hatte genug gesehen, die unweigerlich folgenden zum Gähnen langweiligen Reden wollte er sich ersparen. Diese außerordentlich gekonnte Inszenierung fand er angesichts der gleichzeitigen Zurschaustellung der sterblichen Überreste Dame Arminas empörend. Außerdem verlor er kostbare Zeit, wenn er sich dieses Spektakel weiter anschaute.
Nur mit Mühe gelang es ihm, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Verärgerte Zuschauer warfen ihm giftige Blicke zu. Schließlich bog er in die erstbeste kleine Straße ein. Doch überall, auf allen Plätzen, an jeder Kreuzung konnten die Menschen die Krönungsfeierlichkeiten auf den Leinwänden der Bullovision verfolgen. Überall standen die Gaffer und starrten wie hypnotisiert auf die in der Luft hängenden Geräte. Duptinat war eine Stadt voller Gespenster geworden, eine Geisterstadt.
Schließlich erreichte er eine breite, von Bäumen gesäumte Avenue. Er musste sich jetzt nach einem Reisebüro umsehen. Die hundert Dukaten würden bei Weitem nicht für einen Transfer reichen, aber wenn er genauso viel Überzeugungskraft wie Aphykit auf Zwei-Jahreszeiten an den Tag legte, könnte er vielleicht einen der Angestellten dazu bewegen, ihn per Deremat auf den Planeten Selp Dik zu transportieren.
»Tixu! Tixu Oty!«, hörte er da eine weibliche Stimme hinter sich. »Was für ein Zufall. He, Tixu!«
Er drehte sich um und erkannte nach kurzem Zögern Babsée Obraillène, seine damalige Kollegin und Geliebte während der Ausbildung auf dem Planeten Oursse. Er musste nicht zwei Mal hinsehen, um zu erkennen, dass das junge dralle, noch ein wenig unreife Mädchen, das sie damals gewesen war, schon vor seiner Zeit gealtert war. Sie sah verhärmt und hart aus. Ihr schönster Schmuck, ihr langes kastanienbraunes Haar, hatte sie ebenfalls geopfert, und den kurzen Schopf schwarz gefärbt. Der Bürstenhaarschnitt lies ihre Gesichtszüge noch härter wirken. Obwohl sie ein weißes elegantes issigorisches Kostüm trug, war nichts von ihrer jugendlichen Anmut übrig geblieben. In ihren früher so fröhlich blitzenden braunen Augen war jedes Leuchten erloschen.
»Bist du noch immer so ein Muffel?«, fragte sie und lächelte scheu. »Na, sag doch was. Erkennst du mich nicht wieder?«
Sogar ihre Stimme hatte jenen herben Klang verloren, über den sich Tixu so oft lustig gemacht hatte, jetzt versteckte sie sich hinter ihrer schroffen Art. Doch den Oranger überraschte am meisten die Tatsache, dass dieses plötzliche und scheinbar zufällige Auftauchen Babsées seltsamerweise mit seinen durch das Antra hervorgerufenen Erinnerungen vor ein paar Tagen zusammenfiel. Ihm schien, als hätte der Klang des Lebens ihn auf dieses Treffen vorbereitet.
»Hallo, Babsée!«, sagte Tixu schließlich. »Was machst du denn hier?«
»Das sollte ich dich lieber fragen«, entgegnete sie gereizt. »Ich bin hier, weil ich die Zweigstelle in Duptinat leite.«
»Dann bist du also auf den Planeten Marquisat versetzt worden … Bei dir scheint ja alles zu klappen …«, entgegnete Tixu ohne große Begeisterung. Er fühlte nichts und fragte sich, was er damals an dieser jungen Frau reizvoll gefunden hatte.
»Ja, es läuft nicht schlecht. Hier, in Duptinat, eher gut. Fast alle Geschäftsreisenden in diesem Sektor buchen nun bei uns. Übrigens muss ich mich jetzt beeilen, denn alle Reisebüros der Großen Ostregion öffnen jetzt. Und du weißt, dass die InTra jede Verspätung hasst. Die Direktion legt Wert darauf, dass wir unseren Kunden wieder zur Verfügung stehen, sobald das Dekret zur Requisition aufgehoben wird … Aber es wird ziemlich ruhig zugehen, denn heute wird ja der Kaiser gekrönt.«
Tixu hoffte, die Lösung für sein Problem gefunden zu haben. Deshalb sagte er: »Wenn du möchtest, begleite ich dich, Babsée.«
»Gute Idee. Ich zeige dir den Laden. Und dann können wir ein wenig über die guten alten Zeiten plaudern. Sechs Jahre Standard ist das her. Eine lange Zeit, wie? Ich hoffe, bald wieder versetzt zu werden. Duptinat geht mir inzwischen auf den Geist. Die Leute sind zwar nett, aber ziemlich ungehobelt, wenn du weißt, was ich meine … Eben Paritolen, wie die Syracuser sie nennen. Deshalb habe ich auch gebeten, dass man mich nach Venicia versetzt, das ist schließlich der Nabel der Welt. Aber ich habe nicht viel Hoffnung auf einen solchen Posten, dafür bin ich noch zu jung.«
Während die beiden zu dem ein paar Straßen entfernt gelegenen Reisebüro der InTra spazierten, plauderten sie über alles und nichts. Tixu erfuhr, dass Babsée fast einen dicken Händler vom Planeten Orange geheiratet hätte: »Das wäre dann mein zweiter Oranger gewesen, ha, ha!« Doch sie habe auf die Ehe verzichtet, um nicht ihre Aufstiegschancen zu gefährden: »Du weißt ja, wie die Direktion denkt. Sie ist der Meinung, dass ihre Angestellten keine Familie brauchen, denn die Familie ist die InTra.« Tixu erfuhr ebenfalls, welche Strategien Babsée anwandte, um den anderen Gesellschaften ihre Kunden abspenstig zu machen … »Und du, welcher Tricks bedienst du dich?« …, von ihren ständigen Kämpfen mit der Direktion: »Sie schafft keine modernen Geräte an. Man kann doch heutzutage nicht mehr völlig nackt irgendwo ankommen, das ist geradezu unanständig. Findest du nicht?«
Babsée stellte noch viele Fragen. Aber Tixu antwortete immer so ausweichend, dass es keineswegs ihre Neugier stillte. Er versuchte, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, indem er erklärte, er mache nur eine Stippvisite auf dem Marquisat vor seiner Weiterreise nach Orange zu seinem schwer kranken Onkel.
»Mit einem privaten Deremat … das macht alles viel einfacher …«
»Jaaaa … also … das geht eigentlich nur dich etwas an«, meinte sie skeptisch. »Dein Freund, der mit dem Deremat, der muss aber gute Beziehungen haben … oder völlig naiv sein. Alle privaten Geräte wurden nämlich konfisziert. Und die der Transportgesellschaften wurden samt und sonders an die zentrale Memodisk in Venicia angeschlossen … mit dem Resultat, dass wir viel weniger Kunden haben. Ist das auf Zwei-Jahreszeiten auch so?«
»Hm … ja. Ja, natürlich«, stotterte Tixu.
»Diese Typen, ich meine die Scaythen, die sind schon komisch. Man kann ihnen überhaupt nichts verheimlichen. Also ist es am besten, wenn man sich mit ihnen verbündet, findest du nicht?«
Tixu wechselte das Thema und redete lang und breit über das Klima auf Zwei-Jahreszeiten, den unaufhörlichen Regen, die Riesenechsen, die Sadumbas, den Tiefen Wald und über die Taverne Drei Brüder.
Jetzt kam das Reisebüro in Sicht. Zwischen zwei Bäumen leuchtete das bläuliche Magnetfeld des magnetischen Rollladens. Die Hausfront unterschied sich von den Nachbarhäusern nur durch das blinkende holografische Leuchtschild der InTra – es hatte sogar noch alle fünf Buchstaben; diese Dependance war wahrscheinlich die am besten ausgestattete des bekannten und unbekannten Universums! – , das in die Mauer eingelassen war.
Babsée blieb abrupt vor dem Gerät zur Erkennung der DNA stehen und sah Tixu direkt an.
»Hör jetzt endlich auf, mir einen Haufen Unsinn zu erzählen! Hältst du mich für so blöd?«, sagte sie aufgebracht. »Wenn man von Zwei-Jahreszeiten zum Planeten Orange reisen will, macht man keinen Umweg über das Marquisat, das weiß ich. Also, Tixu Oty, entweder vertraust du mir, oder du haust ab.«
Tixu begriff, dass er mit weiteren Lügen wahrscheinlich alles verlieren würde und es besser wäre, nach Babsées Regeln zu spielen.
»Es würde zu lange dauern, dir das alles zu erklären, Babsée. Um es kurz zu machen, ich habe den Job hingeschmissen und bin zufällig hier gelandet. Jetzt habe ich für einen neuen Transfer nicht mehr genug Geld … Aber ich muss weiter! Das ist sehr wichtig …«
Babsée musterte ihn noch immer skeptisch. »Du hast die InTra im Stich gelassen?«, sagte sie fassungslos. »Wie? Ohne vorher zu kündigen? Bist du vollkommen verrückt oder leichtsinnig oder beides? Du weißt doch, was es bedeutet, wenn die Inspobots hinter einem her sind. Die geben nie auf. Sie haben deine Zellkoordinaten. Die finden dich überall, egal wo …«
Sie reagierte, wie die Regeln es vorschrieben, die perfekte Angestellte.
»Schon möglich. Aber ich habe keine andere Wahl«, sagte Tixu. »Kannst … kannst du mir helfen?«
Sie zupfte nervös an ihren Haarstoppeln.
»Ich … ich weiß nicht. Gehen wir erst mal ins Büro. Ich muss es sowieso bald öffnen und möchte auf keinen Fall die Aufmerksamkeit der Direktion erregen.«
Sie steckte ihre Finger in das DNA-Erkennungsgerät, und der Magnetschutz löste sich auf. Die Tür neben dem Schaufenster öffnete sich automatisch. Die beiden betraten das Reisebüro gerade in dem Augenblick, als die synthetische Stimme des internen Senders der Gesellschaft erklang. Die Zweigstelle in Duptinat verfügte über mehrere hintereinanderliegende Räume, die alle hell, sauber und gut möbliert waren.
»Versteck dich in einer Ecke!«, befahl Babsée nervös. »Die Überwachungskameras werden gleich eingeschaltet, und ich habe keine Lust, mit dir hier gesehen zu werden. Ich habe mich für die permanente Kontrolle entschieden, weil ich möglichst schnell Karriere machen will. Auf diese Weise kommt die Direktion nicht auf den Gedanken, ich könnte ihr etwas verheimlichen. Stell dich zwischen Schaufenster und Tür. Das ist ein toter Winkel.«
Gehorsam tat Tixu wie befohlen. Babsée setzte sich hinter ihren Schreibtisch und kaute auf ihrer Unterlippe, die Stirn von tiefen Falten durchzogen. Tixu hielt den Atem an, als er das leise Summen der in der Decke versteckten Kameras hörte.
Lange Minuten herrschte Schweigen. Spontan konzentrierte sich Tixu während dieser Stille auf sein Antra. Und wie in dem Ovalibus vor ein paar Tagen nahm Tixu nicht mehr Babsées Erscheinungsbild wahr, sondern die wirkliche Babsée. Und er erkannte, dass das zu schnelle Verblühen ihrer Jugend nur geschehen konnte, weil sie bedingungslos die Regeln der Transportgesellschaft verinnerlicht und ihre überschäumenden Vitalität und Jugend der InTra geopfert hatte, einer Gesellschaft, die einer Krake gleich mit ihren unsichtbaren Tentakeln die junge Frau umfangen hielt und sie nach und nach jeder lebensnotwendigen Substanz beraubte. Das erklärte ihr Aussehen: ihren wächsernen Teint, ihren mürrischen Gesichtsausdruck, ihr toten Augen. Babsée siechte dahin, verkümmerte innerlich. Zwar war sie sich dessen bewusst, aber sie wusste nicht, wie sie sich aus dieser Umklammerung lösen könnte. Wenn ein solches Schicksal jedem Angestellten der InTra drohte – und das war eine mögliche Erklärung für Tixus eigenes selbstzerstörerisches Verhalten auf Zwei-Jahreszeiten –, so hatte er Glück, sehr viel Glück gehabt, den Weg der schönen Aphykit gekreuzt zu haben.
Babsée beugte sich unter ihren Schreibtisch und tauchte ein paar Sekunden später wieder auf.
»Hörzu. Ich habe die Überwachungskameras ausgeschaltet und eine Panne vorgetäuscht … was uns etwas mehr als eine Viertelstunde Zeit lässt. Also müssen wir uns beeilen. Wohin willst du?«
Tixu ging zum Schreibtisch. »Zum Planeten Selp Dik.«
»Dem Planeten des Ordens der Absolution? Ja, das ginge. Es gibt nur ein Problem. Jeder Transfer wird automatisch im Hauptsitz der Gesellschaft registriert, und die Daten müssen außerdem der Interlice auf Syracusa übermittelt werden. Und wenn der Preis für den Transfer nicht direkt nach der Buchung überwiesen wird, treten die Inspobots sofort in Aktion … Das ist alles ziemlich kompliziert. Was schlägst du vor?«
»Es gibt nur eine Möglichkeit: den Eingang des Geldes auf das Konto der Gesellschaft zu simulieren … Bis die Kontrollabteilung das herausgefunden hat, vergeht ein Tag. Bis dahin können wir etwas inszenieren. Hinter mir sind sie sowieso schon her. Du brauchst ihnen also nur zu sagen, dass ich dich mit einer Waffe bedroht habe, oder etwas in der Richtung …«
»Ja, das könnte klappen«, murmelte Babsée, wenig überzeugt. »Daran habe ich auch schon gedacht.«
Tixu beugte sich über den Schreibtisch und bohrte seinen Blick in ihren. »Würdest du das für mich tun?«
Die junge Frau wandte den Blick ab und schwieg. »Herrgott noch mal!«, explodierte sie plötzlich. »Du bist anscheinend immer noch so borniert wie früher! Ich habe dir doch gerade erklärt, dass der ganze Laden hier von der Interlice kontrolliert wird. Alle Daten des Transfers, der Name des Passagiers, die DNA, der Bestimmungsort werden sofort den Bullen mitgeteilt.«
»Dann muss man sie eben mit falschen Daten füttern«, schlug Tixu vor.
»Leichter gesagt als getan. Du bist dann ja nicht mehr hier. Du bist ein Renegat. Hast du die Feuerkreuze gesehen? Jeden Tag gibt es in Duptinat mehr davon. Kannst du dir vorstellen, dass ich mich nicht auf einem dieser Dinger rösten lassen will? Das könnte aber passieren, wenn sie rausfinden, dass ich jemandem geholfen habe, heimlich auf den Planeten des Ordens zu reisen. Und zudem noch einem ehemaligen Kollegen! Ich weiß nicht, und ich will es auch nicht wissen, warum du dich derart tief in die Scheiße geritten hast. Aber aus redlichen Grünen tust du das sicher nicht. Stimmt’s?«
»Ich verstehe«, sagte Tixu leicht enttäuscht. »Du willst deiner Karriere nicht schaden, deshalb darfst du nicht gegen die Regeln verstoßen … Aber eins musst du wissen: Die Feuerkreuze sind nur Häretikern vorbehalten …«
Ein bedrücktes Schweigen entstand zwischen ihnen. Babsée blickte mit ihren haselnussbraunen Augen ziellos umher. Tixu erwartete keine große Hilfe mehr von ihr, aber er hatte ihr zu viel gesagt. Sie konnte wohl nicht mehr zurück, sie war zu einem Klon der InTra geworden, zu jemandem, für den die Interessen der Gesellschaft wichtiger als die eigenen Gefühle waren. Deshalb war er sehr überrascht, als sie plötzlich redete.
»Ich muss jetzt die Kameras wieder aktivieren. Eine zweite Panne kann ich nicht gleich simulieren, das würde Verdacht erregen … Und du kannst nicht hier bleiben. Jeden Augenblick könnte ein Kunde kommen. Also machen wir Folgendes: Du gehst jetzt in die Stadt und kommst am frühen Nachmittag zurück. Dann löse ich eine neue Panne aus … und transferiere dich auf Selp Dik. Irgendwie werden ich in meiner Kundenkartei schon eine passende Identität für dich finden … Rendez-vous um neunundzwanzig Uhr Lokalzeit. Und jetzt geh, sonst bereue ich noch diesen Schwachsinn.«
Tixu sah seine ehemalige Geliebte lange prüfend an. Ihr Blick war noch immer unstet und verriet den inneren Kampf. Doch er wusste nicht, wie dieser Kampf ausgehen würde. Damals waren sie sich nahe gewesen, er hatte sie begehrt, geküsst, gestreichelt, war in sie eingedrungen. Vielleicht erinnerte sie sich an diese glücklichen Momente. Von Zweifeln gequält, beschloss er trotzdem, ihr im Namen dieser einstigen Zuneigung zu vertrauen.
»Danke, Bab. Bis später dann«, sagte er deshalb.
»Ja. Und vergiss nicht: um neunundzwanzig Uhr Lokalzeit.«
Die meiste Zeit des Vormittags verbrachte Tixu zwischen den Menschen, die noch immer die über den Straßen hängenden Leinwänden anstarrten. Sie waren wie hypnotisiert von den Ereignissen und lauschten den endlosen Tiraden der neuen Würdenträger des neuen Kaiserreichs, die ständig von einem goldenen Zeitalter sprachen und eine Ära des Friedens und des Wohlstands verkündeten, die es in der Geschichte der bekannten und unbekannten Welten noch nie gegeben habe, was die Völker der ehemaligen Konföderation, diese korrupte und ungerechte Organisation, nun einsehen müssen.
Der Muffi Barrofill XXIV. hielt eine bissige Schmährede gegen die Feinde der Kirche des Kreuzes. Die Kirche des Kreuzes dulde keinerlei Abweichung, und die Geistlichkeit habe die Pflicht, Andersgläubige gnadenlos zu jagen und zu bestrafen …
Tixu begegnete auch einer gemischten Patrouille aus Interlisten und Pritiv-Söldnern, die offen ihre Wurfgeräte trugen. Ihm wurde flau im Magen, aber das Antra, die wachsame Schlange, entrollte sich und beschützte ihn, sie verscheuchte seine Angst und verbreitete eine innere Ruhe und Gelassenheit.
Gegen dreiundzwanzig Uhr musste er einen Pfannkuchenverkäufer fast anflehen, ihm etwas zu verkaufen. Der Mann knallte ihm verärgert eine halb durchgebratene Portion auf einen fettigen Holzteller und verfolgte dann fasziniert den weiteren Verlauf der Krönungsfeierlichkeiten.
Der Silberkönig stand nun im Zenit, und Feuerpferd, sein Nachfolger, tauchte rot glühend am Horizont auf. Eine Wanduhr zeigte achtundzwanzig Uhr an. Tixu ging in Richtung Reisebüro. Die Ovalibusse waren leer.
Je näher er seinem Ziel kam, umso lauter wurde eine innere Stimme, die ihm riet umzukehren. Er gebot ihr zu schweigen, denn noch sah er keine andere Lösung für sein Problem, als die von Babsée vorgeschlagene. Er brannte geradezu vor Ungeduld, so schnell wie möglich zum Planeten Selp Dik zu reisen, denn er hatte das Gefühl, eine nochmalige Verzögerung würde alle seine Hoffnungen zunichte machen. Die kleinen Parallelstraßen zu dem großen Boulevard, wo sich das Reisebüro befand, waren nahezu leer.
Seine innere Stimme meldete sich wieder, schrill wie eine Sirene, die bei wachsender Gefahr immer lauter wird. Wieder brachte Tixu sie zum Schweigen, gleichzeitig verlangsamte er jedoch seine Schritte. Plötzlich schienen ihm die Straßen nicht mehr so leer wie vorher zu sein. Er hatte das Gefühl, von unsichtbaren und bedrohlichen Wesen umgeben zu sein. Sein Herzschlag und seine Atmung beschleunigten sich.
»Bleib stehen!«, befahl ihm die Stimme.
Dieses Mal gehorchte er und presste sich gegen die raue Mauer eines Wohnhauses. Von dieser Stelle aus konnte er zwischen den Bäumen das blinkende Firmenschild des Reisebüros sehen. Noch hatte er sich nicht entschieden. Unbeweglich gegen die Hauswand gelehnt, schloss er automatisch die Augen. Und das Antra löschte sofort seine kontraproduktiven Gedanken aus seinem Gehirn. Die Alarmglocke schrillte weiterhin in seinem Körper und drohte, Panik in ihm auszulösen, aber er widerstand der wahnsinnigen Versuchung, die Augen zu öffnen und die Flucht zu ergreifen. Jede Faser seines Körpers wollte fliehen, doch das Antra befahl ihm, stehen zu bleiben. So hatte er das Gefühl, gespalten zu sein, in zwei Teile zu zerfallen, sich von sich selbst zu trennen.
Dann erschienen Bilder von erstaunlicher Klarheit in seinem Refugium der Stille. Und obwohl er sich nicht von der Stelle gerührt hatte, befand er sich plötzlich in Babsées Reisebüro. Die Issigorin saß hinter ihrem Schreibtisch. Ihre scheinbare Ruhe stand im Widerspruch zu den gehetzten Blicken, die sie der Gestalt im grünen Kapuzenmantel zuwarf, die genau dort stand, wo Tixu vor ein paar Stunden gestanden hatte. Der Kopf des Scaythen war unter dem Stoff verborgen.
Gleich einer selbst gelenkten Kamera glitt Tixu in den nächsten Raum und entdeckte Pritiv-Söldner, die sich hinter der Tür versteckt hatten. Er hörte auch alle Geräusche überdeutlich: Babsées stoßweises Atmen, das Klopfen ihrer Finger auf die hölzerne Schreibtischplatte, das Aneinanderreiben ihrer Schenkel, weil sie ständig ihre Beine übereinander kreuzte …
Die junge Frau wurde immer nervöser. Sie warf einen Blick auf die Uhr und sagte zu dem Gedankenleser:«Er muss gleich kommen …«
Die metallene Stimme aus der Kapuze erwiderte: »Sind Sie sich dessen sicher? Wenn das so ist, verstehe ich nicht, warum ich seine Gegenwart nicht spüre … Ich weiß, dass Sie mich nicht angelogen haben. Seltsam! Vielleicht ist da Hexerei im Spiel.«
»Gut möglich«, murmelte Babsée, sichtlich verstört. »Er will zum Planeten Selp Dik, zu den Rittern der Absolution …«
»Diese verfluchten Häretiker bekommen bald das, was sie verdienen«, tönte der Scaythe mit blecherner Stimme. »Sollten Ihre Informationen sich bewahrheiten, Mademoiselle, besteht die Aussicht, dass Sie eher als vorgesehen nach Venicia versetzt werden.«
Babsée lächelte. Es war ein zugleich zufriedenes und bitteres Lächeln, in ihren braunen Augen lag ein Ausdruck der Verzweiflung.
Tixu hörte ein metallisches Knirschen in seiner Nähe und erlangte sofort sein sinnliches Wahrnehmungsvermögen zurück. Er öffnete die Augen und sah einen Pritiv-Söldner, der sein glänzendes Wurfgerät in etwa zwanzig Schritt Entfernung auf ihn richtete.
Aus dem schmalen Schlitz seiner weißen Maske drang eine näselnde Stimme: »Keine Bewegung!«
Adrenalin wurde in Tixus Kreislauf gepumpt. Er sah sich schnell um. Die nächste Kreuzung war etwa zehn Meter entfernt. Andere, durch den Befehl alarmierte Söldner tauchten bereits aus den Nebenstraßen auf. Einzelne Spaziergänger blieben erschrocken stehen. Das Netz zog sich um ihn zu. Er hielt den Atem an, sammelte alle Kraft, sprintete auf die Kreuzung zu und hechtete in die erste schmale Passage zu seine Rechten. Eine sich drehende Scheibe prallte gegen die Wand und fiel einem entsetzten Passanten vor die Füße. Tixu sah sich nicht um. Er rannte die kurze Passage entlang und bog dann in eine gewundene Gasse ein. Hinter sich hörte er die Schreie und die Schritte der ihn verfolgenden Söldner. Er rempelte rücksichtslos ein paar Fußgänger an, lief nach rechts, nach links und wieder nach rechts, ohne Plan, bis er aufs Äußerste erschöpft und mit brennenden Lungen stehen bleiben musste. Zufälligerweise stand er vor einem Geschäft, in dessen Schaufenster kleine geschnitzte Figuren und heilige Kultgegenstände ausgestellt waren. Erst jetzt merkte er, dass ihn seine verzweifelte Flucht geradewegs in die Straße der heiligen Goldschmiedekunst geführt hatte.
Sein Herz schlug rasend schnell. Er lauschte angestrengt, konnte aber kein Geräusch hören. Also glaubte er, seinen Verfolgern entkommen zu sein. Doch er wusste, dass die Söldner ihn auf jeden Fall aufspüren würden, weil sie seine Geruchsdaten über eine automatische Sonde weiterleiteten. Diese kleine schwarze, einen Meter über dem Boden fliegende Untertasse folgte der Duftspur des Fliehenden und würde sie früher oder später zu ihrer Beute führen.
Tixu machte Geofo Anidolls Werkstatt ausfindig. Dieses Mal standen die Fensterläden offen, nur das Geschäft war geschlossen. Long-Shu Paes alter Freund war früher als erwartet zurückgekommen. Tixu zögerte keine Sekunde. Er überquerte die Straße, doch anstatt wie bei seinem ersten Besuch zu läuten, drückte er die Klinke nieder. Die Tür ließ sich öffnen und knirschte in den Angeln, als er sie wieder schloss.
»Sind Sie das, Joab-Ty?«, fragte eine weibliche Stimme aus einem Hinterzimmer.
Tixu ging über einen im Halbdunkel liegenden Flur, in dem es nach Wachs und geschmolzenen Metallen roch. Er betrat die Werkstatt, einen völlig verglasten, direkt ans Haus angebauten Raum, der auf einen kleinen, von einer Mauer aus weißen Steinen begrenzten Innenhof hinausging.
Zwei Frauen arbeiteten in diesem lichtdurchfluteten Atelier inmitten von Heerscharen kleiner Statuetten und Objekten der Goldschmiedekunst, denen die Strahlen des Silberkönigs und des Feuerpferds funkelnden Glanz verliehen. Sie überwachten die Arbeit eines Robotomaten, der Staub und Abfall aufsaugte. Die beiden waren nicht sehr schön: klein und gedrungen, mit runden Gesichtern und straff zurückgekämmtem und zu einem Knoten geschlungenem Haar, was sie noch strenger wirken ließ, zudem steckten sie in plumpen sackartigen Kleidern. Sie glichen einander wie zwei Früchte vom selben Baum.
Wegen des Summens des Robotomaten, bemerkten sie Tixus Anwesenheit erst, als eine von ihnen den Kopf hob und ihn in der Türöffnung stehen sah. Ihre blassblauen Augen wurden vor Entsetzen groß. Sie trat unsicher drei Schritte zurück. Die andere reagierte ähnlich, ihr Mondgesicht spiegelte eine abgrundtiefe Angst wider.
Trotzdem stammelte sie: »Wer … wer sind Sie?«
»Kennen Sie den Goldschmied Geofo Anidoll?«, fragte der Oranger.
»Warum? Was wollen Sie von ihm?«, fragte die Frau abwehrend. »Außerdem betritt man nicht unaufgefordert fremde Häuser.«
Tixu lächelte freundlich, er wollte sie nicht noch mehr erschrecken.
»Ich bitte vielmals um Verzeihung. Ich habe geläutet, aber Sie haben mich wahrscheinlich nicht gehört«, erklärte er. »Ich möchte gern mit Geofo Anidoll sprechen. Es ist sehr dringend und sehr wichtig.«
»Wir sind seine Töchter«, sagte die eine Frau abweisend. »Aber Sie kommen zu spät. Unser Vater wurde heute Morgen verhaftet, von diesen …«, sagte sie verächtlich, ohne jedoch ihren Satz zu beenden. Denn sie merkte, dass sie fast einem Fremden ihre Gefühle preisgegeben hätte.
» … von diesen weiß maskierten Männern. Heute früh, als er von seinem monatlichen Besuch der Werkstätten in der Provinz zurückkehrte.«
Ihre Schwester fügte hinzu: »Papa kam mit dem ersten Pendelbus im Morgengrauen, da waren sie schon da. Wir sollten ihn abholen und haben es gesehen. Seitdem haben wir keine Nachricht von ihm«, sagte sie, mühsam ihre Fassung bewahrend. »Warum möchten Sie ihn sprechen?«
Die Verhaftung des Goldschmieds war ein herber Schlag für Tixu. Aber sie erklärte die bedrückte Stimmung, die in dem Haus herrschte.
»Ich wollte ihm Grüße von einem alten Freund ausrichten«, sagte Tixu. »Vielleicht kennen Sie ihn. Er heißt Long-Shu Pae.«
Die beiden tauschten einen kurzen Blick aus.
»Der … der Ritter?«, fragte die scheinbar Ältere.
Tixu glaubte in ihrer Stimme eine Veränderung herausgehört zu haben, so als würde sie diesen ungebetenen Besucher jetzt zu den Verbündeten zählen.
»Ja, ganz recht. Der Ritter des Ordens der Absolution«, bekräftigte Tixu.
»Persönlich kennen wir ihn nicht, aber Papa hat oft von ihm gesprochen«, sagte die Jüngere. »Er bewunderte ihn zutiefst. Haben Sie den Ritter kürzlich gesehen?«
»Vor vier Tagen, auf dem Planeten Roter-Punkt. Er war es, der mir Ihre Adresse gegeben hat. Ich brauche sofort einen Transfer zum Planeten Selp Dik, und der Ritter hat mir versichert, dass Ihr Vater einen Deremat besitzt … eine Maschine, die Reisen durch den Transfer der Zellen möglich macht. Die Maschine sei alt, wurde mir gesagt, aber vielleicht könnte sie ein letztes Mal nützlich sein … Sie wurde doch hoffentlich nicht beschlagnahmt?«
»Sie meinen sicher diese große schwarze Kugel auf dem Dachboden«, sagte die Ältere. »Sie ist noch immer da, aber sie wurde jahrelang nicht mehr benutzt. Als wir klein waren, haben wir darin gespielt.«
»Könnten Sie mir bitte diese Maschine zeigen?«, fragte Tixu und versuchte so gut es ging, seine wachsende Erregung zu verbergen. »Es eilt. Und die Verhaftung Ihres Vaters beweist, dass wir schnell handeln müssen. Ich bin Spezialist für Transfermaschinen und brauche nur eine Minute, um festzustellen, ob sie noch immer funktioniert.«
Die beiden Schwestern tauschten wieder Blicke aus. Sie wollten sich ihres gegenseitigen Einverständnisses versichern.
»Kommen Sie! Ich zeige sie Ihnen auf dem Speicher. Da hat sie seit zwanzig Jahren niemand mehr angerührt«, sagte die Ältere dann. »Ich bin Isalica. Meine Schwester heißt Sofrène. Sie ist drei Jahre jünger.«
»Entschuldigen Sie, aber ich möchte Ihnen meinen Namen lieber nicht nennen. Nicht aus Unhöflichkeit, sondern weil ich nicht möchte, dass Sie durch mich in Schwierigkeiten geraten …«
»Das verstehen wir sehr gut. Kommen Sie!«
Sie stiegen eine Wendeltreppe hoch, die in einen dunklen Flur mündete, der den Laden mit der Werkstatt verband. Die Stufen waren alt und abgetreten, sie knarrten unter ihren Schritten. Tixu stolperte dreimal und musste sich am Geländer festhalten.
Auf dem Dachboden stieß Isalica einen langen Pfiff aus und eine in der Luft schwebende Kugel fing an zu leuchten und warf ihr Licht auf ein unbeschreibliches Durcheinander: alte Puppen – die berühmten Sisoten –, antike Möbelstücke, Stofffetzen, gebrauchte Pinsel, Töpfe mit eingetrockneten Leuchtfarben … Rostige Nägel und kleine Holzstücke, von denen manche die Spuren kindlicher Schnitzereien trugen, lagen auf einem blauen, fadenscheinigen Teppich. Die abgestandene Luft roch nach Staub. Das Licht der Kugel warf bizarre längliche Schatten auf die Wände und in die Ecken, wo dichte Spinnweben hingen.
»Papa wollte, dass wir auch Goldschmiedinnen werden, aber wir waren für dieses Kunsthandwerk nicht begabt genug«, sagte Sofrène.
»Wir sollten Pho-Pho einmal hier hoch bringen. So nennen wir den Robotomaten«, meinte Isalica.
Mit dem Fuß schob sie Metallspäne beiseite, bahnte sich einen Weg in eine Ecke, und da fiel das Licht der Kugel auf die glatte runde Oberfläche des Deremats.
»Das ist die Maschine.«
Sie war halb unter einem Haufen nachlässig aufgestapelter Kartons versteckt. Darüber lag eine dicke Staubschicht. Tixu erkannte sofort, dass es sich um ein uraltes Modell handelte, das bei Weitem nicht die Präzision moderner Geräte besaß. Mit einer solchen Maschine bestand die Gefahr, bereits im Weltall wieder rematerialisiert zu werden – was den sicheren Tod bedeutete. Oder dass – gesetzt der Fall, er sollte wirklich auf Selp Dik landen –, diese Landung zu neunzig Prozent irgendwo stattfände, auf einer Straße, dem Dach eines Hauses oder mitten im Ozean, der neun Zehntel des Planeten bedeckte …
Er ging zu dem Deremat und legte die Hände auf die gewölbte Oberfläche. »Könnten Sie die Lichtkugel über die Einstiegsluke lenken?«, bat er Isalica.
Geofo Anidolls Tochter pfiff wieder, die Kugel schwebte herbei und blieb über der Maschine in der Luft stehen. Seitliche Einstiegsmöglichkeiten hatten die damaligen Konstrukteure der Deremat nicht vorgesehen. Tixu hatte bereits die Leiter unter gefalteten Kartons entdeckt. Er zerrte sie hervor, legte sie an und kletterte auf das Gerät. Er entriegelte die Luke.
Plötzlich war von unten eine laute Stimme zu hören. »Isalica! Sofrène! Die grauen Männer! Sie sind da! Sie …« Die Stimme erstarb in einem Röcheln.
»Das war Joab-Ty, unser Nachbar«, sagte Isalica. Sie war totenblass geworden. »Mein Gott, was wollen die von uns?«
»Sie sind nicht Ihretwegen, sondern meinetwegen gekommen«, sagte Tixu. »Sie haben mich gefunden, und ich glaubte, sie abgeschüttelt zu haben. Sagen Sie ihnen, dass ich Sie gezwungen habe mir zu helfen. Ich danke Ihnen für alles, leben Sie wohl.«
Er kletterte, die Füße zuerst, ich das Einstiegsrohr. Dann verschwand er ganz im Bauch der alten Maschine. Die Lichtkugel erlosch, und er konnte kaum noch etwas sehen. Tastend fand er den Programmator, eine Tastatur mit runden Knöpfen, der direkt an die Memodisk der Desintegration angeschlossen war, ohne die Möglichkeit irgendeiner Kontrolle. Die Maschine konnte nur einen Teil seines Körpers rematerialisieren oder die Angaben durcheinander bringen. Er hatte einmal auf einem während seines Praktikums auf Oursse gezeigten Videoholo gesehen, was passierte, wenn nur ein partieller Transfer stattgefunden hatte: Unförmige, nicht wiederzuerkennende, geradezu monströse Körper, waren das Resultat gewesen. Aber er musste dieses Risiko eingehen.
Er drückte auf den Knopf, um das Programm zu aktivieren und wartete, dass die Instruktionen auf dem noch schwarzen Armaturenbrett aufleuchteten. Leider hatte er nur eine vage Erinnerung an die Weltraumkoordinaten von Selp Dik, weil er es versäumt hatte, sich vorher in einem Reisebüro oder einem geostellarischen Institut zu informieren.
Jetzt hörte er die Pritiv-Söldner im Haus, Schritte, Stimmen, Türenschlagen. Die Schwestern standen eng aneinandergeklammert, wie versteinert mitten auf dem Dachboden.
Das Armaturenbrett leuchtete noch immer nicht. Fieberhaft tastete Tixu darunter und stellte fest, dass es nicht an den Partikelfilter angeschlossen war. Wahrscheinlich eine Vorsichtsmaßnahme Geofo Anidolls, weil seine Töchter als kleine Mädchen in der Maschine spielten. Nicht auszudenken, was dann hätte passieren können …
Tixu fand das fehlende Kabel nicht. Schweiß rann ihm von der Stirn bis in die Augen, sein Tasten wurde unsicher, ungeschickt. Dann riss er brutal ein unter dem Liegeplatz hängendes Kabel heraus und hoffte, dass es für die Inbetriebnahme des Geräts keine Bedeutung habe. Mit Nägeln und Zähnen entfernte er hastig an beiden Enden die Isolierung und schloss es provisorisch an den Programmator und den Filter an. Sofort leuchtete das Armaturenbrett auf. Er betete, dass sein stümperhaftes Flickwerk den Energieschock aushalten möge. Er war in Schweiß gebadet und schon hörte er die Schreie seiner Verfolger.
Die Kabine war jetzt in ein diffuses grünes Licht getaucht. Er tippte die ungefähren Koordinaten Selp Diks ein. Ein letzter Zweifel überfiel ihn: Und wenn ich mich nun geirrt habe?
Während seines Praktikums hatte er die Koordinaten aller Planeten der Konföderation auswendig lernen müssen. Aber das war lange her, so lange … In einer anderen Welt, einer anderen Zeit …
Er ließ sich auf die Liege sinken. Der Würfel war gefallen.
Er hörte ein Rauschen, dann Knacken und Knistern, und schließlich begann alles zu beben. Er glaubte, dass dieser alte verrostete Haufen Eisen gleich explodierte … Und vielleicht war es genau das, was passierte …
Die schwarze runde Sonde glitt auf die bebende Kugel zu. Die Söldner stürmten auf den Dachboden. Die Strahlen der Laserlampen erfassten Isalica und Sofrène, die vor Entsetzen wie erstarrt waren. Die beiden Schwestern leisteten keinen Widerstand, als die Söldner ihnen Magnetbänder um den Hals legten.
Einer der Söldner kletterte auf die Leiter und wollte die Luke entriegeln. Es gelang ihm nicht, der Deremat vibrierte zu stark. Da zerschlug er mit der bloßen Hand das Glas und stürzte sich wie ein Verrückter in die Maschine.
Eine Minute später tauchte er triumphierend wieder auf und schwenkte eine blaue Wolljacke, eine schwarze Samthose, Unterwäsche aus weißer Baumwolle und ein Paar marquisatinische Stiefel.
»Er hat sich auf Selp Dik programmiert. Die Koordinaten sind noch sichtbar … Doch ich kann mir kaum vorstellen, dass dieses alte Ding ihn transferiert hat. Seine Kraft reicht sicher nicht einmal bis zum Jatchaï-Wortling-Platz.«
»Selp Dik?«, sagte eine metallisch klingende Stimme. »Dann hatte die junge Frau von der InTra also recht.«
Der Scaythe löste sich aus den Schatten und trat hervor. »Schade. Ich hätte zu gern gewusst, wie es diesem nicht besonders intelligenten Mann gelungen ist, unseren mentalen Nachforschungen zu entgehen. Es hat wohl nicht sein sollen. Da dieser Idiot es so eilig hat, zu seinen Freunden vom Orden der Absolution zu gelangen, wird er mit ihnen sterben. Er, die Tochter des Syracusers und alle anderen … Alle … Und so wird jedes Relikt der Hexerei aller bekannten Welten für immer ausgelöscht. Was diese Demoiselles betrifft, sie werden erfahren, was es kostet, wenn man die Feinde des Kaisers unterstützt. Ich überlasse sie Ihnen für eine Stunde, meine Herren. Machen Sie mit den beiden, was Sie wollen. Dann bringen Sie sie zum Runden Haus, damit sie die allen Verrätern gebührende Strafe erleiden. Wie ihr Vater. Und zerstören Sie diese Maschine.«
Als die Pritiv-Mörder sich an Isalica und Sofrène abreagiert hatten, ließen sie die beiden Frauen liegen, nackt, blutend, zitternd, gedemütigt und genauso kaputt wie ihre Puppen. Dann richteten sie ihre Mumifizierstrahlwaffe auf die schwarze Maschine.