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FÜR DAS GEMEINWOHL
Alexandria, Virginia, Hauptquartier der Schattenabteilung · 26. März
»Die Leiterin der Abteilung für Spezialaufgaben, Ms. Underwood, möchte Sie sprechen, sobald Sie gegessen haben«, erklärte Agent Cooper mit einem warmen Lächeln auf den Lippen und in den whiskybraunen Augen.
Emmett aß gerade den letzten Bissen seines Sandwiches – mit geröstetem Speck, aber zu viel Mayonnaise. Er schluckte ihn. »Ich dachte, die Sitzung solle erst heute Abend stattfinden, damit meine Kollegin daran teilnehmen kann.«
Purcells Assistentin mit dem rotbraunen Haar nickte. »Sollte sie auch. Aber ich glaube, Ms. Underwood hat heute Nachmittag unerwartet eine Stunde frei. Soll ich ihr ausrichten, dass Sie sie in fünfzehn Minuten im Konferenzzimmer treffen?«
»Ja, tun Sie das«, antwortete Emmett und zog eine Papierserviette aus dem metallenen Serviettenspender, der auf dem Tisch stand. Er wischte sich die Finger ab. »Ich trinke noch rasch meinen Kaffee und komme dann runter. In welchem Stock?«
»Im vierten. Zimmer 425. Ich werde Ms. Underwood wissen lassen, dass Sie unterwegs sind.« Cooper schenkte ihm ein weiteres warmes Lächeln und wandte sich ab. Ihr grauer Rock, der ihre Kurven betonte, unterstrich auch ihren wiegenden Gang.
Ich glaube, sie flirtet mit mir, dachte Emmett.
Belustigt zerknüllte er seine Serviette und warf sie auf den Tisch. Er nahm den Kaffeebecher und trank den abgekühlten, schwarzen Java aus. Dann stand er auf und verließ die Kantine, in der überall verteilt Leute saßen und aßen. Er wollte noch kurz in sein Zimmer, um dort einen Blick in den Spiegel zu werfen und sicherzustellen, dass sich kein Salat zwischen seine Zähne verirrt hatte, wenn er die Leiterin der Abteilung für Spezialaufgaben begrüßte.
Das war ungewöhnlich für ihn.
Aber Underwood galt Gerüchten zufolge als hart, aber fair und zurückhaltend. Sie nahm einen nur in die Mangel, wenn es unerlässlich war. Es hieß überdies, sie sei während der vergangenen zwei Jahre noch distanzierter geworden als zuvor.
Seit dem kaltblütigen Mord an ihrem Sohn Stephen.
Emmett machte ihr das nicht zum Vorwurf. Wenn einem seiner Kinder irgendetwas zustieße … er schüttelte den Kopf und verdrängte die Vorstellung.
Genug, um einen zu versteinern.
Nachdem Emmett sein Spiegelbild genau betrachtet hatte, kämmte er sich kurz und klopfte den Anzug ab, falls irgendwo noch Krümel waren. Dann verließ er sein Zimmer. Er schob eine Notiz auf einem gelben Papierfetzen unter der Tür seiner im Schlaf liegenden Partnerin hindurch.
Einen Augenblick hielt er inne und berührte mit den Fingerspitzen ihre Klinke. Er wünschte, er könnte noch mit ihr sprechen und ein paar Gedanken austauschen, ehe er sich auf den Weg zu der Besprechung machte. Aber das musste wohl bis abends warten.
»Schlaf gut«, flüsterte er und ließ die Hand wieder sinken.
Er drehte sich um und ging zu den Aufzügen. In der Liftkabine drückte er den leuchtenden Knopf mit der Vier. Obwohl er genug geschlafen hatte, wurde er das Gefühl nicht los, etwas sei aus dem Gleichgewicht.
Wirklich? Gefallene versteinerte Engel und eine Höhle, die es zuvor nicht gab, und du hast das Gefühl, dass etwas nicht stimmt?
Wie seine Großmutter gesagt hätte: Schwing sofort deinen Hintern hier rüber, damit ich dir etwas Verstand einprügeln kann.
Emmett lachte leise. Großmutter hatte nie viel mit Nuancen am Hut gehabt. Seine Belustigung verschwand allerdings, als er sich daran erinnerte, wie es ihm ergangen war, wenn sie ihm aus dem Buch der Offenbarung vorgelesen hatte. Ihm war stets eiskalt geworden, und er hatte vor Angst eine Gänsehaut bekommen.
Auch jetzt erging es ihm nicht anders.
Der Aufzug hielt an. Die Türen glitten auf, und Emmett trat in einen Flur voller Agenten, die eifrig ihren Erledigungen nachgingen. Er reihte sich in den Fluss ein und blieb kurz darauf vor einer Milchglastür stehen, in die KONFERENZZIMMER 425 geätzt war.
Er rückte den Knoten seiner schmalen, dunklen Krawatte zurecht, öffnete die Tür und trat ein. Drei Leute – eine Schwarze, die Emmett als Ms. Underwood identifizierte, Purcell und ein weiterer Weißer, den Emmett nicht kannte – saßen auf einer Seite eines langen Tischs. Vor jedem von ihnen stand ein Styroporbecher mit Wasser, Kaffee oder Tee. Daneben lag je ein brauner Schnellhefter.
»Agent Thibodaux«, sagte Underwood. »Freut mich, dass Sie es so kurzfristig möglich machen konnten. Indem wir die Besprechung vorziehen, spare ich mir abends viel Zeit, wissen Sie.«
»Kein Problem.« Emmett ging um den Tisch herum auf die andere Seite und setzte sich vor den einzigen Styroporbecher, der sich dort befand. Ein rascher Blick bestätigte, dass es sich um Wasser handelte.
»Sie kennen ja bereits meinen Assistenten, Agent Purcell«, fuhr Underwood fort, »und zu meiner Linken ist der Vernehmungsbeamte Mr. Díon.«
Emmett nickte den beiden zu.
Purcell neigte als Antwort den Kopf. Sein Gesichtsausdruck wirkte ruhig und gelassen, ganz anders als in der Nacht zuvor. Díon hingegen – breite Schultern, hellbraunes Haar, interessante violette Augen, vielleicht Mitte oder Ende vierzig – schenkte Emmett ein Lächeln.
Emmett merkte, wie ihn das warme Lächeln entspannte. Er nahm den Becher und trank einen Schluck.
»Wollen wir anfangen?«, fragte Underwood. Nachdem alle zugestimmt hatten, beugte sie sich vor und sagte: »Beginnen wir damit, wie Sie und Ihre Teamkollegin, Agent Goodnight, an der Einfahrt zum Grundstück der Wells eingetroffen sind.«
Emmett berichtete, wie sie Sheridan, den Kreis weißer Skulpturen, die brandneue Höhle sowie den kopflosen Leichnam in dem kleinen Nebengebäude gefunden hatten. Dann berichtete er von der langen Reise nach Alexandria, um den verwundeten, schweigenden Sheridan zu begleiten. Alles Routine. Alles wie fast immer bei solchen Einsätzen.
Merris Beobachtungen erwähnte er mit keinem Wort.
Ich höre ihre Herzen, Emmett. Ich höre ihre Herzen schlagen.
»Danke, Agent Thibodaux«, sagte Underwood, und ein Lächeln huschte über ihre Lippen. »Ich glaube, dann hätten wir es schon fast. Soweit ich weiß, hat Mr. Díon noch einige Fragen, um alles festzuzurren, und dann können Sie wieder gehen.«
»Gut«, meinte Emmett.
Díon nahm den Schnellhefter, der vor ihm auf dem Tisch lag, klappte ihn auf und stand auf. Als er um den Tisch zu Emmett kam, bemerkte dieser, dass der Vernehmungsbeamte etwa genauso groß wie er selbst war. Ein großer Mann.
Díon blieb neben Emmetts Stuhl stehen und schenkte ihm nochmals ein warmes Lächeln. Emmett nahm einen Hauch würziger Vanille wahr.
»Wir wollen eine neue Erinnerungstechnik erproben, um sicherzustellen, dass Sie keine Einzelheiten vergessen haben«, sagte Díon, klappte den Schnellhefter zu und legte ihn auf den Tisch.
»Ich glaube nicht, dass ich etwas weggelassen habe«, antwortete Emmett und richtete sich auf.
»Sie werden überrascht sein«, sagte Díon lachend. »Das Gedächtnis ist ausgekocht. Außerdem bestehen die, die hier etwas zu sagen haben, darauf, dass wir diese neue Technik zum Einsatz bringen.«
Emmett spürte, wie es zwischen seinen Schulterblättern zu jucken begann – fast, als träfe ihn von hinten ein unsichtbarer kleiner Pfeil. Er warf einen Blick zu Underwood. Sie nickte.
Emmett, dem die Sache nicht gefiel, blieb nichts anderes übrig, als seine Aufmerksamkeit wieder Díon zuzuwenden. Anteilnahme blitzte in den goldgesprenkelten Augen des Vernehmungsbeamten auf. Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst. Ist nur der neueste Blödsinn.
»Gut, bringen wir es hinter uns«, sagte Emmett. »Was soll ich tun?«
»Nicht viel.« Díon ging neben Emmetts Stuhl in die Hocke. »Schließen Sie die Augen und atmen Sie tief durch. In wenigen Minuten haben Sie es hinter sich.«
Emmett lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er atmete die nach Vanille duftende Luft ein. Noch etwas anderes drang in seine Nase – etwas Grünes, das nach Sonne roch. Das Bild eines sprießenden Löwenzahns tauchte vor seinem inneren Auge auf.
»Ich werde jetzt Ihre Schläfen berühren. Aber lassen Sie die Augen geschlossen.«
»Verstanden.«
Obwohl er wusste, was kommen würde, zuckte Emmett zusammen, als sich Díons Finger auf seine Schläfen legten. Sie fühlten sich heiß, aber überraschend entspannend an. Emmetts Schultern lockerten sich. Ihm wurde schwindlig.
»Kehren wir zum Anfang zurück«, wisperte Díon.
Mit gezücktem Fünfundvierziger-Colt schleicht Emmett an der Beifahrerseite des schmutzigen SUVs entlang, der neben der Straße parkt, kurz hinter der steilen Einfahrt mit dem Schild PRIVAT.
Als die Erinnerungen mit allen Geräuschen – dem Knirschen des Kieses und der kleinen Zweige unter seinen Schuhen sowie einem zwitschernden Vogel in den Kiefern – und Gerüchen Emmetts Bewusstsein erfüllten, schienen sie sich in Luft aufzulösen. Wie Nebel, der verflog.
Emmett wurde übel, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Kam das von der Mayonnaise auf dem Sandwich? »Warten Sie, mir ist schlecht. Ich …«
Eine kräftige Hand drückte seinen Unterarm. »Entspannen Sie sich. Es geht gleich vorüber.«
Ein Gedanke, so warm, besänftigend und dickflüssig wie erhitzter Ahornsirup, breitete sich in Emmetts Bewusstsein aus.
Alles in Ordnung. Du bist in Sicherheit. Du tust nur deine Pflicht, dann kannst du wieder gehen.
Er spürte, wie sich sein Körper entspannte, und hörte sich leise seufzen. Während er und Merri die Einfahrt zu Wells’ Anwesen entlangliefen, schwebten Emmetts Gedanken und Erinnerungen auf einer Brise aus Vanille und Löwenzahn dahin. Dann verschwanden sie.
Doch unsichtbar und unbemerkt breiteten sich Großmutters Grauen und eiskalte Angst in seinem Herzen aus und sanken tief in sein Inneres.
»Ich nehme an, das Gerücht von Monica Rutgers’ Kündigung hat Sie schon erreicht«, sagte Purcell und gab Celeste die Ketchup-Flasche, um die sie gebeten hatte.
Sie nickte. »Ich habe meine Kontakte beim FBI gebeten, sich umzuhören, ob da etwas dran ist.« Sie quetschte einen dunkelroten Streifen Ketchup auf den Sauerteig-Hotdog, neben die Linie von würzig-braunem Senf. »Ich habe das Gefühl, es könnte stimmen.«
»Warum?«, fragte Purcell und biss in seinen Hotdog.
»Weil sie sich für Sheridans Tod verantwortlich fühlt. Sie hat einen veralteten Ehrbegriff. Schade eigentlich. Sie ist eine intelligente, fähige Frau, aber manchmal zu involviert.«
»Wer wird Ihrer Ansicht nach ihr Nachfolger?«
»Schwer zu sagen«, brummte Celeste.
Eine leichte Brise, die trotz der frühen Nachmittagssonne kühl war, fuhr ihr durchs Haar. Allerdings hatte Celeste selbst beschlossen, hierherzukommen, um im Freien einen Hotdog zu essen. So konnte sie sich mit Purcell unterhalten, ohne fürchten zu müssen, dass man ihre Unterhaltung aufzeichnete.
Sie hatte sich geirrt. Es war kein Tag geworden, an dem sie daheim aß. Aber ihr vorbereitetes Mittagessen würde in dem kleinen Kühlschrank auch noch bis zum nächsten Tag halten.
Sie stellte die Ketchup-Flasche auf den Glastisch, klappte den Hotdog zusammen und biss hinein.
»Mit Thibodaux lief es gut«, sagte sie und schluckte. »Hoffentlich wird es mit seiner Kollegin auch so gut laufen. Fürchten Sie in dieser Hinsicht irgendwelche Probleme?«
»Möglicherweise. Schließlich ist sie Vampirin. Díon wird nicht in der Lage sein, ihre Erinnerung an den Wells-Tatort zu löschen, es sei denn, sie lässt ihre Schilde herunter.«
»Ich bezweifle, dass sie das freiwillig tun wird – trotz dieser Geschichte von der angeblichen neuen Technik. Wie will er vorgehen, wenn sie es ablehnt?«
»Dann wird es vermutlich eine Betäubungspistole werden. Daran könnte er später auch die Erinnerung löschen.«
»Ich hoffe, eine Betäubungspistole wird nicht nötig sein«, meinte Celeste. »Vampirin oder nicht – sie ist eine zuverlässige Agentin.«
»Geht es zu weit, wenn ich frage, warum man Prejean und Wallace laufen ließ?«
»Ich weiß es nicht. Der Direktor hielt es für unnötig, mich davon in Kenntnis zu setzen«, antwortete Celeste und nahm einen Schluck ungesüßten Eistees. »Wir müssen diese Anordnung irgendwie umgehen. Glauben Sie, Sie werden Prejean isolieren, kontrollieren und seine Programmierung auslösen können, wenn das in New Orleans stattfindet und nicht hier? Ohne gesehen zu werden?«
Purcell kaute auf seinem letzten Stück Hotdog herum und dachte nach, den Blick gen Himmel gerichtet. Dann nickte er. »Es wird zwar nicht leicht sein, Ma’am, aber ich denke, ich könnte es schaffen. Ich bräuchte bestimmte Dinge und Drogen. Aber ich glaube, das kriege ich hin.«
Celeste atmete auf. »Was immer Sie brauchen – ich besorge es Ihnen.«
»Wann soll ich los? Da ich einiges mitnehmen muss, was sich im Flugzeug nicht problemlos transportieren lässt, ist es wohl das Beste, wenn ich mit dem Wagen fahre.«
Sie nickte. »Gute Idee. Fahren Sie los, sobald Sie mit Thibodaux’ Kollegin fertig sind. Offiziell werde ich behaupten, Sie hätten eine Überwachung zu erledigen.«
»Gut.« Purcell tunkte fettig aussehende Pommes frites in einen See von Ketchup. Er wirkte geistesabwesend. »Gibt es etwas, was Prejean Ihrer Schwiegertochter ausrichten soll?«
»Ja. Er soll der Schlampe ausrichten, Stephen lässt sie herzlich grüßen.«
»Haben Sie was von Beck gehört?«, fragte Epstein. Er kippte seinen mit Sattlernägeln versehenen Lederstuhl zurück, so dass die Federn quietschten.
Caterina musterte ihren Vorgesetzten bei der Schattenabteilung einen Augenblick lang, während sie die Stirn runzelte. Sie hatte erwartet, dass man sie über ihren Partner bei der Wells-Geschichte ausfragen würde. Ihren verstorbenen Partner. »Nein. Hätte ich von ihm hören sollen?«
»Wann und wo haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«
Beck reißt den Colt aus dem Holster. Caterina feuert ihre Glock ab. Die Kugel trifft Beck zwischen den Augen, und er ist tot, ehe er auf dem Boden aufschlägt und den Hügel hinabrollt.
»Ich habe Beck das letzte Mal in seinem Auto gesehen, als er mich bei dem Hotel in Portland rausgelassen hat, und zwar nachdem wir uns vom Grundstück der Wells zurückgezogen hatten«, entgegnete Caterina. »Am dreiundzwanzigsten März, um genau zu sein.«
Epstein ließ sie nicht aus den Augen. Seine eisblauen Augen registrierten wie ein menschlicher Lügendetektor jede ihrer Reaktionen. »Gleich nachdem Sie Ihren Job erledigt hatten?«
Als einzige Sterbliche in einem Haushalt voller Vampire hatte Caterina früh gelernt, ungerührt und gelassen zu bleiben. Sie konnte ihren Herzschlag und ihre Schweißproduktion unter Kontrolle halten, um überleben zu können und ungewollte und gierige Aufmerksamkeit zu vermeiden.
Panik ruft die Bestie zum Fest, meine Kleine.
»Genau.«
»Sie haben also nicht noch irgendwo etwas getrunken? Oder gegessen?« Epstein nahm ein durchsichtiges rosa Quadrat aus der geöffneten Rolle Jolly Ranger auf seinem Tisch. Er schob es in den Mund. Caterina nahm einen Hauch von Wassermelone wahr.
»Ein gemeinsames Essen? Ich mit Beck? Nachdem wir stundenlang auf der Erde zwischen Kiefernnadeln gelegen hatten und er mich die ganze Zeit über zugelabert hatte? Sicher nicht.«
»Ich gebe zu, das klingt undenkbar.«
»Worum geht es denn?«, fragte Caterina und nahm einen Schluck von ihrem Latte Macchiato mit Karamellgeschmack, den sie sich auf dem Weg nach Alexandria bei Starbucks geholt hatte. »Ist Beck ungenehmigt nicht zum Dienst erschienen?«
»Möglicherweise. Wir hatten keinen Kontakt mehr zu ihm, seit wir ihn am dreiundzwanzigsten März zum Flughafen Portland geschickt haben, um Sie abzuholen.«
Caterina zuckte die Achseln. »Tut mir leid. Aber das hat nichts mit mir zu tun.«
»Wohl wahr.« Epstein hob die Arme und verschränkte die Finger hinter dem Kopf. Sein weißes, kurzgeschnittenes Haar schimmerte im Licht der Deckenlampen.
Caterina lächelte. »Also? Wie geht es weiter? Eine neue Aufgabe für mich?«
Epstein musterte sie eine Weile stumm. Seine himmelblauen Augen wirkten nachdenklich. Schließlich meinte er: »Wir arbeiten schon ziemlich lange zusammen.«
»Wohl wahr«, sagte sie sanft. »Seit meinem ersten Tag als verdeckte Ermittlerin.«
Wie ein kurzer Sonnenstrahl auf einer winterlich-frostigen Metalloberfläche blitzte ein warmes Lächeln in Epsteins eiskalten Augen auf. »Im Gegensatz zu fast allen anderen Geheimagenten unter meiner Führung wussten und verstanden Sie immer, was wir tun und warum. Die anderen Krakeeler sind Befehlen gefolgt, haben Kugel in Schädel gejagt oder garrottiert. Alles gute Soldaten, kein Zweifel. Aber Sie – Sie haben es verstanden.«
»Mit jedem Leben, das wir beenden«, flüsterte Caterina, »verändern wir die Zukunft, kappen Möglichkeiten, werden wir Agenten des Schicksals.«
Epstein nickte. »Manches wird abgetrennt, anderes findet seine Erfüllung. Eine harte, ehrenhafte Pflicht, und darum gibt es auch die Schattenabteilung. Um den harten und ehrenhaften Pflichten nachzukommen, für die andere zu faul, zu korrumpiert oder zu verängstigt sind.«
Caterina richtete sich auf. Ihre Hose raschelte leise auf dem Ledersitz, während sie sich über Epsteins ungewöhnliche Rührseligkeit wunderte. Auch der Widerspruch zwischen seinen allzu milden Worten und dem harten Gesichtsausdruck ließ sie stutzig werden.
»Worum geht es hier eigentlich? Ist etwas passiert?«
Anstatt darauf zu antworten, stellte er ihr eine Gegenfrage: »Sind Sie informiert, was nach Ihrem Auftauchen auf dem Wells-Grundstück passiert ist?«
»Nein.«
»Nachdem Sie Wells getötet hatten, entschied sich sein Sohn, FBI Senior Agent Alexander Lyons, begleitet von Heather Wallace …« Epstein hob eine Braue. Als Caterina nickte, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie den Namen ihrer ehemaligen Zielperson wiedererkannte, fuhr er fort. »… Wells’ Produkt zum Einsatz zu bringen. Aus bisher unbekannten Gründen benutzte er Dante Prejean dazu, Senior Agent Alberto Rodriguez umzubringen.«
»Sind sie immer noch auf der Flucht?«
»Ja. Einige unserer Außendienstagenten haben Prejean und Wallace letzte Nacht in einem Motel vor Damascus aufgegabelt.«
Caterina nippte an ihrem Kaffee und zwang sich, ihre Muskeln nicht anzuspannen. »Prejean und Wallace sind entkommen?«
Epstein ließ die Arme sinken. Er rieb sich mit einer Hand übers Gesicht. »Mehr oder weniger.«
Der Mann war am Ende. Aber es war untypisch für Epstein, das zu zeigen. Caterina wurde unruhig. »Mehr oder weniger?«
»Wir haben den Agenten den Befehl erteilt, sich zurückzuziehen und Prejean laufen zu lassen.« Da er ihre nächste Frage bereits ahnte, fügte er hinzu: »Es war die Anordnung unseres illustren Direktors Britto.«
»Warum zum Teufel hat er das angeordnet?«
»Gute Frage. Ich könnte einige der Antworten kennen.« Epstein schob den Stuhl zurück und stand auf. Instinktiv strich er mit einer Hand seine schiefergraue Krawatte glatt.
Er winkte Caterina zu sich, während er zu dem Karteischrank aus Eichenholz ging, der seinem Tisch gegenüberstand. Er schloss die oberste Schublade auf und zog sie auf. Nachdenklich zog er eine schmale Mappe und etwas, das wie ein iPod aussah, heraus.
Ein Störsender.
Caterinas Puls begann zu rasen, und ihre Haut kribbelte. Sie stand auch auf und trat neben ihren Vorgesetzten. Er warf ihr unter seinen weißen Brauen heraus einen Blick zu, während er den Verzerrer auf den Aktenschrank stellte und ihn anschaltete. Der Apparat fing schrill zu piepsen und zu quaken an, wodurch alle anderen Aufnahmegeräte, die sich im Zimmer befanden, außer Gefecht gesetzt wurden.
»Ich habe mich umgehört«, sagte Epstein und klopfte mit der Mappe auf seine Hand. »Ich wollte verstehen, warum Britto Prejean laufen ließ.«
»Was haben Sie herausgefunden?«
»Ich habe erfahren, dass Brittos einziger Sohn vor drei Jahren im Alter von sechzehn fast an einem tödlichen Hirntumor gestorben wäre.«
»Gütiger … Augenblick. Sagten Sie gerade ›fast gestorben wäre‹?«
Ein Lächeln huschte über seine Lippen. »Genau. Offenbar ist Brittos Sohn inzwischen geheilt und quicklebendig – vor allem zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang.«
»Britto hat also einen Pakt mit Vampiren geschlossen, um seinen Sohn zu retten«, sagte Caterina und lehnte sich an den Aktenschrank.
»Nicht mit irgendwelchen Vampiren«, antwortete Epstein und sah sie an. »Britto schloss einen Pakt mit Renata Alessa Cortini, und sie hat daraufhin jemanden geschickt, der seinen Sohn heilte.«
»Typisch«, meinte Caterina, während sie versuchte, diese neue Information zu verdauen. »Ich frage mich allerdings, warum sie mir nie davon erzählt hat.«
»Sie mussten nichts davon wissen«, antwortete er. »Nehme ich jedenfalls an. Vor allem, da der Pakt bedeutete, dass Ihre Mutter Britto in der Hand hatte, und ich glaube, sie hat ihn gerade gebeten, einen Teil seiner Schuld zu begleichen.«
»Indem er Prejean laufen lässt? Warum? Weil er Vampir ist? Er ist nur einer von vielen. Sie kennt ihn nicht mal.« Sie schüttelte den Kopf. »Klingt in meinen Ohren recht windig.«
»Ich glaube, der Direktor hat Renata vom ersten Tag an auf dem Laufenden gehalten. Er hat nicht nur seine Integrität für seinen Sohn aufs Spiel gesetzt, der nicht einmal mehr sterblich ist, sondern alles, wofür die Schattenabteilung steht: für die harten, ehrenhaften Pflichten.«
»Die niemand anderer übernimmt«, sagte Caterina. »Ich verstehe. Aber vielleicht steht Britto ja in mehr als einer Schuld. Wer könnte noch ein Interesse daran haben, Prejean frei zu wissen und außerhalb unserer Reichweite?«
Epstein kicherte. »Jeder, der noch etwas mit Bad Seed zu tun hat. Vielleicht hat auch die vermisste Dr. Moore ein Damoklesschwert über dem Kopf unseres Direktors.« Er sah auf die Mappe in seiner Hand. »In dem Augenblick, als sich Britto einverstanden erklärte, einen mordenden Psychopathen laufen zu lassen, hat er jedenfalls seinem Schicksal und dem der Schattenabteilung eine andere Richtung gegeben.«
»Was wollen Sie damit sagen, Ep?«
Epstein blickte auf, seine blauen Augen wirkten ruhig und zugleich tödlich entschlossen. »Bad Seed ist Geschichte. Meiner Meinung nach war es vom ersten Tag an ein Schlag ins Wasser. Der einzige Überlebende dieses Experiments ist Prejean. Er ist auf eine Weise programmiert, die wir nie durchschauen werden, weil Wells vieles geheim gehalten hat. Prejean ist zu gefährlich, um ihn laufen zu lassen. Trotzdem ist er uns schon wieder entkommen – und zwar mit Erlaubnis von oben.«
Caterinas Puls begann erneut zu rasen, und ihr äußerer Anschein der Ruhe wurde allmählich brüchig. »Warum erzählen Sie mir das?«
Ein Lächeln ließ den eisernen Blick in Epsteins Augen etwas weicher wirken. »Ich erzähle Ihnen das, weil Sie es verstehen. Niemand sonst ist dazu in der Lage. So einfach ist das. Wells, Moore, Underwood, selbst Lyons und jetzt Britto haben Prejean von seinem wahren Weg abgebracht. Immer wieder. Wir beide werden sein Schicksal wieder geradebiegen.«
Die Unruhe, die Caterina ergriffen hatte, drohte sie völlig zu übermannen.
Ihr Chef packte sie an den Schultern. »Hier Ihre Aufgabe: Die Schattenabteilung muss ihre Ehre und Würde zurückgewinnen. Britto ist Ihre nächste Zielperson. Sobald Sie ihn erledigt haben, vernichten Sie Prejean, und damit ist Bad Seed auf immer begraben.«
Caterina hatte das Gefühl, als sei eine Falltür unter ihr aufgegangen und sie in einen tiefen, eisigen See gestürzt. Sie starrte die Mappe an, die Epstein ihr hinhielt.
»Hier sind die Anweisungen, wie man einen Blutgeborenen vernichtet«, sagte er.