23

ILLUSIONEN

25.–26. März

Der Morgenstern glitt mit Hilfe einer aus Nacht gewebten und sternendurchsetzten Sinnestäuschung unsichtbar durch den Himmel. Er folgte dem tannengrünen SUV, als die attraktive, rothaarige Geliebte des Creawdwrs ihn von der Raststätte auf die Autobahn lenkte.

Heather, die ältere Schwester der formbaren und mehr als bereiten Annie.

Er hatte recht viele Informationen über Dante aus dem Bewusstsein beider Schwestern zusammengetragen.

Sein Wybrcathl verstummte, und Luzifer schoss höher in den Himmel hinauf. Eiskristalle zischten an ihm vorbei und verdampften auf seiner heißen Haut, während sie sein weißes Haar wie Diamanten schmückten.

Annies wirrer Geist hatte es ihr ermöglicht, seine Sinnestäuschung zu durchschauen. Sie war gegen sein Wort immun gewesen … aber nicht gegen seine Berührungen, seine Eingebungen – vor allem dann nicht, als sie beides begehrt hatte. Ohne ihre Bereitschaft wäre er nicht in der Lage gewesen, die kleinen Samen in ihr Unterbewusstsein zu pflanzen, damit sie dort aufgingen.

»Du wirst ihm doch nicht wehtun, oder?«

»Natürlich nicht. Man wird ihn anbeten.«

»Gut. Äh … bist du wieder so weit?«

Annie war heftig und drängend gewesen, als sie miteinander geschlafen hatten, als wolle sie sie beide dafür bestrafen. Es war ihr nur halb gelungen. Ihre Tränen danach hatten ihn ebenso erstaunt wie ihr Selbsthass. Doch selbst nach Jahrtausenden konnte er nicht behaupten, Frauen wirklich zu verstehen, mochten sie nun sterblich oder nicht sein. Das war gleichzeitig auch Teil ihrer großen Anziehungskraft.

Die Flügel des Morgensterns rauschten durch die allmählich schwindende Nacht. Er atmete die eisige Luft ein und veränderte seine Sinnestäuschung derart, dass er sich dem korallenroten Sonnenaufgang anpasste, der nun über die Berge am Horizont aufzutauchen begann.

Annie hatte wenig über Dante gewusst. Nachdem sie in ihr Bett zurückgekehrt war und sich neben ihre Schwester gelegt hatte, wo sie so tat, als würde sie schlafen, hatte sich der Morgenstern in Heathers Bewusstsein gestürzt.

Ein wahrer Schatz, die anmutige Heather.

Wenn er schließlich in New Orleans auf die Erde kam, würde er Dantes Vater und Mentor werden, den dieser sein Leben lang vermisst hatte. Er wollte diesem missbrauchten, gequälten Creawdwr helfen, endlich sein Schicksal anzunehmen und zu erfüllen.

Celeste Underwood trank ihren Kaffee aus und spülte dann den Becher in der Spüle aus. Sie hatte das geröstete Karamellaroma des Sumatra Mandheling kaum bemerkt. Nachdenklich stützte sie sich an der Kante der Granitarbeitsplatte ab und blickte aus dem Küchenfenster. Schwere graue Regenwolken verdeckten den Sonnenaufgang und ließen nur ein schwaches Grau durchschimmern, das nun den Himmel zu erhellen begann.

Sie wusste, wie man mit Grau umging, hatte sie es doch oft genug in ihrem Beruf eingesetzt. Man erwartete von ihr, dass sie in Grautönen und nicht in Schwarz oder Weiß dachte. Es machte ihr sogar Spaß.

Doch Direktor Brittos Anruf am Abend zuvor hatte das Grau in ein tiefes Schwarz verwandelt.

»Rufen Sie Ihre Leute von der Jagd auf S und Wallace zurück. Sofort.«

»Was ist los? Was soll das? Ich habe kein Problem damit, Wallace oder Lyons laufen zu lassen, aber ich vermute, jemand hat S’ Programmierung ausgelöst und ihn benutzt. Wir müssen ihn uns genau ansehen, um ausmachen zu können …«

»Celeste, hören Sie mir sehr genau zu.«

»Ja, Bill.«

»S wird nicht festgenommen und untersucht. Er und Wallace können gehen, wohin sie wollen. Klar? Wir können sie weiter unter Beobachtung halten, aber es ist von größter Wichtigkeit, dass ihre Überwachung nicht mehr auffällt.«

»Verstehe. Aber was ist passiert? Was hat sich geändert?«

»Sie meinen außer der Tatsache, dass ein ganzes Haus fehlt und es stattdessen eine rätselhafte Höhle und einen Kreis aus Steinengeln gibt, die inzwischen auf dem Weg in die Zentrale sind?«

»Aber genau darum geht es doch. S und Wallace wissen garantiert, was da passiert ist und warum. Eine Befragung …«

»Nein. Kein Verhör. Keine Fahndung. Keine Inhaftnahme. Ist das klar? Rufen Sie Ihre Leute auf der Stelle zurück, und falls Sie Lyons entdecken, stellen Sie sicher, dass er offiziell ein Opfer der Erdfall- und Giftgeschichte wird. S und Wallace gehen Sie hingegen nichts mehr an.«

Eine Wortwahl, die ihr ironisch vorkam, wenn man bedachte, dass sie im Büro der stellvertretenden Dienststellenleiterin Rutgers fast das Gleiche gesagt hatte. Doch offiziell oder nicht – Prejean stand weiter ganz oben auf Celestes Agenda. Vor allem, da ihre frühere Schwiegertochter jederzeit mit ihren Enkelinnen, Stephens Mädchen, untertauchen konnte.

Was Celeste noch mehr beunruhigte als Brittos Anordnungen, war die Angst, die sie in seiner Stimme gehört zu haben glaubte. Sie war zwar unterdrückt, aber doch eindeutig gewesen.

Wer hatte die Macht, den Direktor der Schattenabteilung so unter Druck zu setzen und zu verängstigen?

Was sie besonders ärgerte, war die Tatsache, dass Gillespie und seine Agenten Prejean und Wallace bereits vorm Lauf ihrer Waffen gehabt hatten, als sie diese gottverdammte Anordnung erreichte.

Seufzend stieß sich Celeste von der Arbeitsplatte ab und ging zur Kücheninsel in der Mitte des Raums, wo sie sich ihr heutiges Mittagessen auf dem grünen und mit Gold durchzogenen Granit zusammengestellt hatte. Sie hatte allerdings das Gefühl, als ob sie es heute einmal zur Abwechslung zu Hause essen würde.

Der Thunfisch-Tomaten-Curry-Salat, den sie zubereitet hatte, verbreitete einen angenehm würzigen Duft. Einige Kräcker und ein großzügig geschnittenes Stück Apfelkuchen rundeten das Mittagessen ab.

Sie trug die veilchenblaue Lunchtüte ins Wohnzimmer, wo sie sie aufs Sofa stellte. Dann nahm sie Gillespies Bericht, den ihr dieser am Abend zuvor noch gemailt hatte. Einige Dinge, die sie dort entdeckte, beunruhigten sie, um es einmal milde auszudrücken.

Gillespie behauptete, Prejean habe ein Kind verwandelt, das ins Kreuzfeuer geraten war, und ein ganz anderes aus ihm gemacht. Wenn es nicht die angehängten Zeugenaussagen der anderen Außenagenten, der Motelgeschäftsführerin und der Mutter des Mädchens gegeben hätte, die diese absurde Behauptung stützten, hätte Celeste höchstwahrscheinlich einfach angenommen, dass Gillespie mal wieder zu viel Bier intus gehabt hatte.

So aber hatte sie keine Ahnung, was sie von dieser Verwandlung halten sollte beziehungsweise wie so etwas überhaupt möglich sein konnte. Vielleicht war es eine Massentäuschung gewesen, die dem Blutgeborenen da gelungen war? Gesetzt den Fall, solche Wesen waren zu derartigen Täuschungsmanövern fähig.

Sollte sie den Bericht an den Direktor weiterleiten oder abwarten? Schließlich war sie offiziell nicht länger für S – Prejean – zuständig.

Celeste schob den Bericht in ihre Aktentasche und klappte sie zu. Vielleicht war es das Beste, das Ganze erst mal eine Weile zu überdenken. Sie sollte nach Widersprüchen suchen, und außerdem klang es, als habe der Direktor momentan andere Sorgen.

Das Klingeln ihres Mobiltelefons durchbrach die Stille. Auf dem Display stand »Purcell«. Celeste klappte das Handy auf und sagte: »Etwas früh, Richard. Oder nicht?«

»Stimmt. Leider habe ich schlechte Nachrichten. Sheridan ist letzte Nacht gestorben.«

Celeste rieb sich die Stirn. Klar – vom Regen in die Traufe. Wie soll es auch anders sein?

»Vor oder nach dem Gespräch?«

»Währenddessen. Man hat eine Autopsie angeordnet und festgestellt, sein Tod sei die Folge mehrerer Hirnblutungen gewesen. Eventuell, da man ihn mit einer Schussverletzung transportiert hatte.«

»Hat Díon etwas Interessantes aus ihm herausbekommen, ehe er starb?«

»Nein.«

»Mist«, seufzte sie. »Ich würde die Sache mit dem Transport weglassen, wenn Sie Monica Rutgers über den Tod ihres Agenten in Kenntnis setzen. Sie wird so oder so nicht glücklich darüber sein, es ist also unnötig, ihr auch noch Munition für ihre Hab-ich-es-nicht-gesagt-Pistole zu liefern.«

»Verstanden.«

»Wir treffen uns in zwei Stunden in meinem Büro. Es gibt einiges zu klären.«

»Ja, Ma’am.«

Celeste klappte das Mobiltelefon wieder zu und ließ es in die rechte Tasche ihres dunklen Blazers gleiten. Sie fragte sich, wie schnell Purcell nach New Orleans gelangen konnte. Prejean nach Alexandria zu bringen war nun keine Option mehr, aber vielleicht konnte Purcell etwas anderes organisieren. Möglicherweise sogar näher an dem Ort, wo Valerie arbeitete.

Das Bild einer Tatortaufnahme – von dem Tatort – tauchte vor ihrem inneren Auge auf – ein Bild, an das sie sich in jeder herzzerreißenden Einzelheit zu erinnern versuchte.

Mit dem Gesicht nach unten liegt Stephen in einer Lache seines Bluts auf dem grauen Schieferboden des Hauseingangs. Ein Schuh – ein brauner Slipper – liegt hinter ihm, als sei er aus ihm herausgeschlüpft. Eine Hand befindet sich unter seiner Brust; er wirkt, als wüsste er nicht, wie ihm geschah.

Celeste war klar, dass das nicht stimmte. Der Mörder ihres Sohnes hatte einem Zellengenossen gestanden, dass Stephen um sein Leben gefleht und seine Geldbörse angeboten hatte, ehe ihm der Mann in den Kopf geschossen hatte.

Dann hatte er die Pistolenöffnung an Stephens Schläfe gehalten und erneut abgedrückt.

Stephen, ihr einziger Sohn, ihr intellektueller, kreativer Junge, war umgebracht worden, weil seine Frau eine Scheidung befürchtet hatte, die sie mehr gekostet hätte, als sie zahlen wollte.

Die Kosten eines Auftragsmords beliefen sich auf viele sexuelle Gefälligkeiten, falsche Versprechungen und fünftausend Dollar in bar.

Zugegebenermaßen preiswerter als eine Scheidung, aber der Mordprozess hatte die Rechnung ziemlich in die Höhe schießen lassen.

Celeste wollte sicherstellen, dass Purcell alles hatte, was er brauchte, um Prejeans Programmierung ein weiteres Mal auszulösen. Wegen der Anweisungen Brittos würde es allerdings nicht mehr möglich sein, dass Purcell den Vampir tötete, nachdem dieser ihre Ex-Schwiegertochter Valerie aus dem Weg geräumt hatte.

Schade, aber man konnte nicht alles haben.

Celeste nahm Aktentasche und Lunchtüte und machte sich auf den Weg ins Büro.

Gillespie trank das letzte Bier aus, während er sich nach einer Flasche Black Velvet, Jack Daniel’s oder gar Grey Goose sehnte, um den Biergeschmack zu vertreiben. Allerdings hatte er das Gefühl, niemals genügend Gehirnzellen abtöten zu können, ganz gleich, wie viel er auch trinken mochte, um die Bilder der Sicherheitskamera zu vergessen, die sich ihm gerade eingebrannt hatten.

Die Energie, die Prejean umgibt, dringt aus Dutzenden Richtungen in Johanna Moores Körper ein. Sie explodiert in ihren Augen, ihrer Nase und ihrem schreienden Mund.

Sie teilt sich in feuchte, glänzende Stränge.

Prejeans Energie zerlegt Moore in ihre Einzelteile.

Löst sie auf.

Moore sackt auf dem gefliesten Boden zu einem flüssigen Haufen zusammen. Ihr Schrei endet in einem Gurgeln.

Nun, die Millionen-Dollar-Frage, wo sich Johanna Moore aufhielt, war damit endgültig gelöst: noch immer im Bush-Center für psychologische Forschung.

Tot.

Ihre Überreste waren wahrscheinlich in einem Putzeimer.

Prejeans hübsches Gesicht ist ekstatisch. Er schließt die Augen, und Energieblitze schießen durch seinen Körper, blaue Flammen aus seinen Händen.

Die gleichen blauen Flammen hatten auch seine Hände umgeben, als er das arme kleine Mädchen verwandelt hatte. Sanitäter hatten später der Mutter eine Beruhigungsspritze gegeben, während das Kind immer wieder von dem hübschen Engel mit den schwarzen Flügeln gesprochen hatte: Prejean.

Ich war ein Ballon, dessen Leine gerissen ist. Ich bin schon zu den Sternen geschwebt, als mich ein Engel wieder einfing. Er hat meine Leine um sein Handgelenk gewickelt und mich wieder heruntergezogen. In meinem Bauch hat es ganz stark gekribbelt.

Nachdem er die Disc angesehen hatte, die er am Tatort hatte mitgehen lassen, jagten diese Worte Gillespie noch im Nachhinein einen eiskalten Schauder über den Rücken.

Eine Gestalt tritt ins Bild: taillenlanges schwarzes Haar, das sich wie nachtblauer Seetang in der Luft schlängelt. Die Flügel des Mannes sind ebenfalls schwarz und glatt. Sie ragen halb ausgebreitet hinter ihm in die Höhe, als er sich auf den Boden kniet und einen der beiden hochnimmt, die dort zusammengerollt auf den Fliesen liegen.

»Räche deine Mutter und übe Rache für dich selbst.«

Prejean erhebt sich aus den Armen des Mannes – aus den Armen des gefallenen Engels. Er wird von dem roten Notlicht bestrahlt, sein Körper wirkt hart und angespannt, und sein atemberaubend schönes Gesicht ist blutverschmiert.

Prejean war also nicht nur ein blutgeborener Vampir. Er war erheblich mehr.

Gefallene Engel. Gütiger Himmel!

Gillespie hätte jeden Cent verwettet, den er noch auf seinem Konto hatte, dass die Engelstatuen, die sich nun auf der Interstate Richtung Alexandria befanden, ursprünglich keine Plastiken gewesen waren. Aber Prejean – »Ich heiße nicht Prejean« – hatte das ärgerliche kleine Fleisch-und-Blut-Problem auf seine Art gelöst, nicht wahr?

Möglicherweise hatte Underwood gerade erst selbst die Wahrheit über Prejean herausgefunden und ihm deshalb den Befehl erteilt, ihn nicht zu verhaften, sondern laufen zu lassen.

Wallaces Worte, ihre klare, ruhige Warnung, hallten in seinem Gedächtnis wider.

»Sie werden belogen. Fragen Sie nach Bad Seed.«

»Ich weiß von Bad Seed. Ich weiß, was Prejean ist.«

»Das bezweifle ich.«

Sie hatte Recht gehabt.

Er war völlig ahnungslos gewesen, und über Bad Seed wusste er im Grunde nicht das Geringste.

Wenn man es genau bedachte und sich vor Augen hielt, wozu Prejean in der Lage war, hatte ihnen Underwood vermutlich mit diesem Befehl das Leben gerettet, ganz gleich, welchen Grund sie dafür gehabt haben mochte. Auch so waren bereits zwei Agenten in einem kritischen, aber stabilen Zustand ins Legacy-Emanuel-Krankenhaus in Portland gebracht worden.

In einer weiteren Hinsicht hatte Heather Recht gehabt.

Man belog ihn, und es gab keinen Grund, jetzt damit aufzuhören.

Gillespie ließ die Hände sinken, ging ins Badezimmer und stieg unter die Dusche. Sobald er sich rasiert, etwas Jo¯van Musk aufgelegt und frische Klamotten angezogen hatte – graue Hose, graues Jackett, weißes Hemd und blaue Krawatte –, packte er seinen Koffer.

Er sammelte die leeren Bierflaschen ein und schob sie in ihren Karton zurück. Dann stellte er das gefüllte Sechserpack auf die Kommode. Er fuhr seinen Laptop herunter und schaltete ihn aus – die geklauten Sicherheitskameraaufnahmen von Prejean blieben wie ein heimlicher, tödlicher Virus im Laufwerk.

Gillespie starrte in den Spiegel und beäugte sich. Er bemerkte die Extrapfunde um seine Taille und wie bleich seine Haut wirkte. In den Augen hinter den Brillengläsern sah er die Furcht, die er spürte.

Es war nie der Alkohol gewesen.

Er war ein Feigling – ganz einfach. Sein fehlender Mut hatte ihn Lynda verlieren lassen und ihm jeden Respekt geraubt – den seiner Frau, seiner Kinder, seiner Kollegen und seinen eigenen.

Auch das Saufen war ein Ausdruck seiner Feigheit.

Natürlich versuchte sein durstiges Hirn, dieser Sicht zu widersprechen. Es behauptete, er könne besser denken und schärfer analysieren, sobald er einige Biere intus hatte.

Gillespie stützte sich auf der Kommode ab und lehnte sich näher an den Spiegel, um seine alternde Physiognomie genauer zu mustern. Die meisten hätten ihn vermutlich zehn Jahre älter geschätzt und nicht angenommen, dass er in Wirklichkeit sechsundvierzig war.

Er musste eine Entscheidung treffen.

Option eins: Er konnte das Motel verlassen, in seinen Mietwagen steigen, zu FedEx fahren und die Disc mit den Aufnahmen von Moores Tod an Underwood schicken. Dann konnte er zum Grundstück der Wells zurückkehren und mit seiner Arbeit fortfahren.

Damit würde er Prejean seinem Schicksal überlassen, um das sich seine Vorgesetzten wie angekündigt kümmern würden. Er konnte jeglichen Gedanken an den Blutsauger beiseiteschieben oder – wahrscheinlicher – wegsaufen.

Option zwei: Er konnte das Motel verlassen, in seinen Mietwagen steigen, zum Flughafen Portland fahren und einen Flug nach New Orleans buchen. Wallace hatte Prejean erklärt, sie würden sich auf den Weg nach Hause machen. Dort konnte Gillespie etwas tun, was eine Bedeutung hatte.

Er wusste, er würde Lynda nie zurückgewinnen. Er wusste auch, dass man ihm den Respekt, den er versoffen hatte, nie wieder mit der gleichen Fraglosigkeit wie früher entgegenbringen würde. Die Menschen, die aufgrund seiner Irrtümer und seiner Feigheit ihr Leben hatten lassen müssen, würden stets schwer auf seinem Gewissen lasten. Er brauchte aber den Mut und die Kraft, das durchzustehen und damit zurechtzukommen.

Jetzt hatte er die Gelegenheit, das Richtige zu tun.

Eine Chance, die Welt sicherer zu machen. Eine Chance, ein Monster zur Strecke zu bringen.

Das Einzige, das er jetzt allerdings wollte, war etwas zu trinken.

Er stieß sich von der Kommode ab und zog seine Goretex-Jacke an. Dann nahm er seinen Koffer, schob den Laptop in eine schwarze Mappe und trat in den Regen hinaus.

Purcells Worte – angemessen mitfühlend und weniger aufrichtig als das Lächeln einer Nutte – hallten noch immer in Monica Rutgers’ Ohren nach.

»Die Operation hatte er problemlos überstanden, weshalb uns sein Tod alle total überraschend getroffen hat. Die Leiterin der Abteilung für Spezialaufgaben, Ms. Underwood, lässt Ihnen ihr Beileid ausrichten, Ma’am.«

»Ist sie so beschäftigt, dass sie sich nicht selbst bei mir melden konnte?«

»Es tut mir aufrichtig leid, aber heute Vormittag nimmt sie an einer wichtigen Sitzung teil.«

»Ich bin mir sicher, dass Sheridans Familie durchaus verstehen wird, dass eine Sitzung natürlich wichtiger als Brians Tod ist.«

Mit vor Zorn zitternder Hand hatte Rutgers aufgelegt. Sie vermochte Purcells glatte Stimme keine Sekunde länger zu ertragen.

Senior Agent Brian Sheridan war tot.

Rutgers massierte sich die schmerzenden Schläfen. Ihr Puls raste unter ihren Fingern. Sie dachte an das, was Underwood am Tag zuvor gesagt hatte.

»Sie haben ihn in die Schusslinie gebracht. Das sind die Konsequenzen Ihres Handelns, und Ihr Agent wird dafür bezahlen müssen.«

Rutgers hatte Sheridan in den tiefen, dunklen Wald geschickt und versprochen, ihn wieder herauszuführen – ein Versprechen, das sie nicht gehalten hatte.

Die Mikrowelle piepte. Selbst in der Trauer und der Katastrophe lief das alltägliche Leben weiter, als wäre nichts geschehen.

Seufzend stand sie von ihrem Schreibtisch auf und ging zu dem Rollwagen mit den Getränken und der Mikrowelle. Sie nahm ihren lavendelblauen Becher aus dem Gerät und warf zwei Teebeutel in das heiße Wasser. Dann kehrte sie mit dem Becher zu ihrem Tisch zurück und stellte ihn auf den USB-Tassenwärmer.

Dampf, der nach Vanille und Blaubeeren roch, stieg auf. Diesmal jedoch beruhigte dieses Aroma ihre Nerven nicht. Sie wusste, dass sie den Tee unangerührt stehen lassen würde.

Rutgers drückte den Knopf der Sprechanlage, der sie zu ihrem Assistenten durchstellte.

»Ja?«

Sie starrte auf die Sprechanlage, während ihr Herz in ihrer Brust zu dröhnen schien. Einen Augenblick lang hatte Ellis’ Stimme wie die Sheridans geklungen. Ihr Hals schnürte sich zu. Von einer Stimme verfolgt und von all dem, was sie niemals gesagt hatte.

Die letzte Unterhaltung, die sie mit Sheridan geführt hatte, kam ihr in den Sinn.

»Brian? Passen Sie auf. Sie haben Ihr Gewehr dabei, oder?«

»Ja.«

»Benutzen Sie es.«

Ein knappes Gespräch, effizient und einfach – und jetzt? Eine kalte, hohle Grabrede. Sheridan hatte so viel mehr verdient.

»Ma’am?«, wiederholte Ellis.

Rutgers holte tief Luft. »Brian Sheridan ist letzte Nacht verstorben«, sagte sie. »In der Obhut der Schattenabteilung. Ich will, dass Sie mir Adresse und Telefonnummer seiner Eltern heraussuchen.«

»Brian? Scheiße. Ich meine, ja, natürlich. Soll ich Blumen schicken?«

»Selbstverständlich, und stellen Sie keine Anrufe durch.«

»Ja. Verstanden.«

Rutgers lehnte sich zurück. Sie sah zu den Kirschbäumen hinaus, die vor ihrem Fenster blühten. Dank der Schattenabteilung war Sheridan tot und Dante am Leben. Nicht nur das – er war frei und konnte weiter morden und korrumpieren.

Über inoffizielle Wege hatte Rutgers von der Schießerei zwischen Prejean, Wallace und Underwoods Außendienstagenten in der Nacht zuvor auf dem Parkplatz des Motels vor Damascus erfahren.

Teamleiter Gillespie war gezwungen gewesen, Prejean und Wallace laufen zu lassen, während zwei seiner Leute mit Schussverletzungen im Krankenhaus gelandet waren.

Rutgers konnte ein bitteres Lächeln nicht unterdrücken. Sie war absolut sicher, dass es für Gillespie besonders bitter gewesen sein musste. Wie viele Biere wohl nötig waren, um diese Schmach hinunterzuspülen?

Eine frühmorgendliche Brise fuhr sanft durch die Kirschblüten. Eine rosa Blüte flatterte auf den noch winterlich braunen Rasen, wodurch dieser gleich belebter wirkte.

Was Heather Wallace auf ihre Bewerbung geschrieben hatte – Worte, die früher einmal das Motto der Agentin gewesen waren –, flatterte wie Kirschblüten durch Rutgers’ Bewusstsein.

Ich will eine Stimme für die Toten sein.

Ich auch.

Für Sheridan. Für Rodriguez. Für alle, die durch Dante Prejeans Hände und Reißzähne gestorben waren. Selbst für die Frau, die einmal eine engagierte, leidenschaftliche Agentin gewesen war: Heather Wallace.

Mit Bad Seed hatte die Schattenabteilung – nein, um ehrlich zu sein, durch die Schattenabteilung und das FBI – Dante Prejean erschaffen. Hatten ein Kind brutal zerstört und dann wieder mit allen Ecken und scharfen Kanten der Zerstörung zusammengesetzt. Auch die Risse waren noch zu sehen gewesen, und all das nur, um herauszufinden, wie es sich verhalten würde.

Prejean würde nie mit dem Töten aufhören. Ob allein oder als Waffe von Leuten, die wussten, wie sie ihn benutzen mussten – wie zum Beispiel Alexander Lyons.

Selbst nach dem Fiasko in der Nacht zuvor in Oregon hatte die Schattenabteilung vor, freundlich lächelnd beiseitezutreten und ihm zu gestatten, so weiterzumachen wie zuvor. Er durfte noch immer so viel unschuldiges Blut vergießen und trinken, wie ihm beliebte.

Rutgers wandte den Blick vom Fenster ab. Einen Augenblick lang musste sie blinzeln, da das Licht geblendet hatte.

Es gibt so viel zu tun und nicht genug Zeit, um alles zu schaffen. Also: Setz dir Prioritäten, dachte sie.

Sie wandte sich ihrem Rechner zu und schrieb ihre Kündigung, druckte sie aus und unterschrieb sie. Sie steckte sie in ein Kuvert und schrieb mit ihrer eleganten, ausdrucksvollen Schrift den Namen des stellvertretenden Direktors darauf, ehe sie ihn auf ihre Tastatur legte.

»Wenn Sie das Bedürfnis verspüren, so etwas nochmal zu bringen, können Sie gleich Ihre Kündigung einreichen. Dann sind Sie erledigt.«

»Verstanden, Sir.«

Sie würde nie mehr jemanden in den tiefen, dunklen Wald schicken.

Sie wollte ihn allein betreten.

03 Nightfall - Zeiten der Finsternis
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