Epilog
Das Zeitalter, in das wir eingetreten sind, wird durch Kommunikation definiert, die Möglichkeiten des Informationsaustauschs erscheinen grenzenlos. Wir leben in der Epoche des Realtime-Web, des weltweiten Internets in Echtzeit. War früher ein Brief tagelang unterwegs, kann heute ein Gedanke, mit einem Laptop aufgeschrieben, per E-Mail in Sekunden um die Welt reisen. Wir können mit Menschen am anderen Ende der Welt in einer Geschwindigkeit kommunizieren, als säßen wir ihnen gegenüber – beinahe jedenfalls. So, wie wir im Allgemeinen Kommunikation verstehen, ist sie nach außen gerichtet, global. Was ist aber mit der Kommunikation in unserem Inneren? Wir tragen in uns ein Kommunikationssystem, das sich in seiner Komplexität und Geschwindigkeit durchaus mit dem World Wide Web messen kann – zugegeben, die Entfernungen, die überbrückt werden, sind im Körper wesentlich geringer. Das Gehirn als Zentrum dieses Netzes sendet und empfängt aber ebenfalls Informationen in Echtzeit. Es kommuniziert über das Nervensystem mit allen Teilen des Körpers und organisiert so unter anderem seine eigene Energieversorgung. Doch was erfahre ich als Mensch eigentlich von diesem gigantischen Informationsaustausch in meinem Körper? Nur einen Bruchteil, und die Zeichen vieler Botschaften, die uns schließlich bewusst werden, sind schwer zu entziffern. Diese Botschaften, von denen hier die Rede ist, sind unsere Gefühle, sie sind die Sprache, in der sich das Gehirn an uns wendet. Oft genug interpretieren wir die Botschaft aber nicht richtig. Wir ignorieren unsere Emotionen, verdrängen sie, sind taub für das, was sie uns sagen wollen. Weil es unbequem ist, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, oder weil wir bereits unsere Antennen für sie verloren haben. Dabei ist es, wie in der Geschichte von ’Alâ ed-Dîn, eine Bereicherung für unser Leben, wenn wir wieder Zugang zu unseren Gefühlen und Bedürfnissen erlangen. Daher ist es wichtig, dass Menschen, die den Bereich ihrer emotionalen Homöostase verlassen haben, wieder lernen, die Sprache ihrer Gefühle zu deuten. Gelingt ihnen dies, sind sie besser in der Lage, Konflikte dauerhaft zu lösen; andernfalls werden diese unter der Oberfläche weiter schwelen. Erst wenn wir unsere emotionale und energetische Homöostase erreicht haben, wird es uns wie den Verwandten des Pantoffeltierchens im Ozean gelingen, unsere Wohlfühlzone zu finden. Und zwar in uns selbst.
Ein wichtiges
Werkzeug, um die verborgenen Botschaften unserer Gefühle zu
entziffern, kann die Erinnerung sein. Ohne Erinnerung ist es
unmöglich, unseren Gefühlen auf den Grund zu gehen. Doch »unsere
Trägheit, die uns von jeder schwierigen Aufgabe und jeder großen
Leistung fernhalten will«, so der Dichter Marcel Proust, stellt
sich uns dabei oft in den Weg. Proust widmet sich in seinem
Werk Auf der Suche nach der
verlorenen Zeit ganz und gar der emotionalen
Erinnerung. Bis zu einem entscheidenden Wendepunkt sind alle
inneren Bilder, die der etwa 40-jährige Ich-Erzähler von seiner
Kindheit im Dorf Combray hat, grau und dunkel. Eine Ahnung von
Traurigkeit, Angst und Schuld hatte sich wie ein Schleier über
seine Vergangenheit gelegt. Doch dann widerfährt dem Ich-Erzähler
etwas Unerhörtes. Eine unbedeutend erscheinende Begebenheit an
einem kalten, trüben Wintertag wird zum »Sesam-öffne-dich« für den
Schatz der eigenen Erinnerungen. Der Erzähler erlebt in dem Moment,
in dem der Geschmack einer Madeleine (eines französischen
Sandtörtchens) mit dem Duft des Lindenblütentees, den ihm seine
Mutter gebracht hatte, verschmilzt, ein unbestimmtes, aber zugleich
tiefempfundenes Glücksgefühl. In einem bewussten Akt
intellektuellen Erinnerns ist es dem Ich-Erzähler jedoch zunächst
nicht möglich, den Grund dieses Glücksgefühls zu entdecken. Erst in
der unbewussten,
emotionalen Erinnerung gelingt es ihm – zurückversetzt an einen
Ostersonntag im Haus seiner Tante in Combray –, das mit dem Genuss
einer Madeleine mit Lindenblütentee verbundene, aber verschollene
Glücksgefühl seiner Kindheit wiederzufinden. Im Buch stellt dieser
intensiv durchlebte Moment einen heilsamen Durchbruch am Ende einer
langen inneren Entwicklung des Ich-Erzählers dar. Diese verdichtet
sich in Form von Prousts metaphorischer Bildsprache in einem
einzigen Augenblick. Plötzlich entsteht aus der grauen Monotonie
des Lebens und der verdunkelten Kindheitserinnerungen des
Ich-Erzählers eine Welt voller leuchtender Farben und vielfältiger
Möglichkeiten. Es ist eine Art Umkehr der Lebensreise. Aus dem
naiven Kind mit all seiner Offenheit und seinen Möglichkeiten des
Reagierens und Handelns mit Humor, Begeisterung, Freude und
Zugewandtheit war durch Schmerzen, Enttäuschungen und Schuldgefühle
im Laufe der Jahre ein trauriger, verschlossener Mann geworden,
dessen Erlebnis- und Handlungshorizont sich immer mehr verengte.
Das durch den Geschmack der Madeleine und den Duft des
Lindenblütentees ausgelöste emotionale Erlebnis durchschlägt den
Knoten, der den Zugang zur Fülle seiner Erinnerungen bis zu diesem
Tage verschlossen hatte. Die »Suche nach der verlorenen Zeit« ist
also auch eine Suche nach der Essenz von köstlichen Erinnerungen
und der Kraft, Vielfalt und Intensität der Gefühlswelt. Dem
Ich-Erzähler gelingt es, diese Brücke zu seinem früheren Ich zu
schlagen.
Prousts Werk eröffnete dem Leser eine Sinfonie der Wahrnehmung, voller prismenartiger Farben, feinster Nuancen, kraftvoller Bilder, die sein Ich-Erzähler in dem entdeckt, was ihn umgibt – seine Welt, seine Liebe, sein Leben. Dieser Akt des emotionalen Erinnerns ist eine der stärksten Kräfte, die Welt in unserem Innern neu zu ordnen. Wie wir indes aus Erfahrung wissen, ist der Weg dahin aber alles andere als einfach. Proust spricht uns Mut zu, es trotzdem zu versuchen, denn wenn wir uns wirklich mühen, werden wir belohnt – mit Erinnerungen, die sich wunderbar anfühlen und die sich wie kunstvolle japanische Papierkügelchen in einer mit Wasser gefüllten Porzellanschale erst entfalten und dann als wunderschöne Figuren an die Oberfläche steigen.
Marcel Proust hat viele Erkenntnisse der modernen Neurowissenschaften auf dem Gebiet der Beschreibung der emotionalen Erinnerung literarisch vorweggenommen. Deshalb möchte ich ihm auch das Schlusswort überlassen, in dem sich sein erwachsener Ich-Erzähler als glückliches Kind wiederfindet:
Sobald ich den Geschmack jener Madeleine wiedererkannt hatte, die meine Tante mir, in Lindenblütentee eingetaucht, zu verabfolgen pflegte (obgleich ich noch immer nicht wusste und auch erst späterhin würde ergründen können, weshalb mich die Erinnerung so glücklich machte), trat das graue Haus mit seiner Straßenfront, an der ihr Zimmer sich befand, wie ein Stück Theaterdekoration zu dem kleinen Pavillon an der Gartenseite hinzu, der für meine Eltern nach hinten heraus angebaut worden war (also zu jenem verstümmelten Teilbild, das ich bislang allein vor mir gesehen hatte), und mit dem Hause, die Stadt, der Platz, auf den man mich vor dem Mittagessen schickte, die Straßen, die ich von morgens bis abends und bei jeder Witterung durchmaß, die Wege, die wir gingen, wenn schönes Wetter war. Und wie in den Spielen, bei denen die Japaner in eine mit Wasser gefüllte Porzellanschale kleine, zunächst ganz unscheinbare Papierstückchen werfen, die, sobald sie sich vollgesogen haben, auseinandergehen, sich winden, Farbe annehmen und deutliche Einzelheiten aufweisen, zu Blumen, Häusern, zusammenhängenden und erkennbaren Figuren werden, ebenso stiegen jetzt alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Monsieur Swann, die Seerosen auf der Vivonne, die Leutchen aus dem Dorfe und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, alles deutlich und greifbar, die Stadt und die Gärten auf aus meiner Tasse Tee.