Nächtliche Hungerattacken

Es ist eine Situation, die wir alle schon einmal erlebt haben. Draußen ist es noch stockdunkel, man hat gut und gerne noch zwei Stunden Zeit, bis der Wecker klingelt, aber mit einem Mal sind wir hellwach, ohne ersichtlichen Grund. Das Fenster im Schlafzimmer ist zu, ein heftiges Geräusch als Ursache dürfte also ausfallen. Während die einen von uns sich in den nächsten Minuten wieder in den Schlaf zählen, werden sich die anderen am Küchentisch wiederfinden, den Pudding vom Vortag löffelnd. Eine nächtliche Hungerattacke hat sie aus dem Schlaf gerissen.

Appetit lässt sich kaum beeinflussen und bei manchen Menschen nie stillen. Sie haben das Gefühl, immer und immer essen zu müssen und dennoch niemals satt zu werden. Andere überfällt Appetit zu den ungewöhnlichsten Zeiten, sogar während des Schlafs. Ungewöhnlich deshalb, weil wir eigentlich nachts keinen Hunger haben sollten. Das liegt daran, dass sich unser Gehirn einen Großteil der Nacht – nämlich während des Tiefschlafs – im Sparmodus befindet. Der Energieverbrauch liegt dann bis zu 40 Prozent unter dem Tageswert. Dennoch kommt es vor, dass Menschen nachts aufstehen und das dringende Bedürfnis haben zu essen. Der Schlüssel zum Verständnis dieses Phänomens heißt Orexin, ein Nervenbotenstoff, der in zahlreichen Neuronen des Lateralen Hypothalamus (LH) gebildet wird. Dieser Botenstoff spielt beim Schlaf-Wach-Rhythmus eine große Rolle. Er macht uns hellwach, aufmerksam und aktiv. Orexin ist auch der Stoff, aus dem unser Appetit gemacht ist. Und es hat außerdem Macht über unser Gefühlsleben: Orexin wirkt dabei mit, uns bei der Suche nach Dingen euphorische Gefühle zu verschaffen. Kurz: Dieser faszinierende Botenstoff erfüllt eine dreifache Funktion: Aktivierung des Wachzustandes, Auslösung des Programms für Nahrungsaufnahme beim Body-Pull und Antreiben des Belohnung suchenden Verhaltens. Wenn wir also aufgrund einer vermehrten Orexin-Ausschüttung nachts essen, haben wir die Botenstoffmission unseres Gehirns vollständig erfüllt. Wir sind aufgewacht, haben den Hunger befriedigt, werden dadurch mit einem Ruhe- und Entspannungsgefühl belohnt und können anschließend wahrscheinlich wieder selig einschlummern.

In Squire’s Fundamental Neuroscience, einem Standardwerk der Hirnforschung, befindet sich ein Längsschnitt durch das menschliche Gehirn und das Rückenmark. Die Darstellung wirkt wie die Landkarte einer bizarr gewundenen Flusslandschaft. Nehmen wir einmal an, wir könnten uns anhand der Karte auf eine Reise in das Innere des Gehirns begeben. Unser Weg führt uns von den Nervenbahnen des Rückenmarks auf einer langen gewundenen Straße an der Hypophyse (der Hirnanhangsdrüse) und der Sehnervenkreuzung vorbei in den oberen Hirnstamm. Dann betreten wir den Hypothalamus, eine Region, die sich genau im Zentrum des Gehirns befindet – und zwar in der räumlichen Mitte zwischen vorn und hinten, zwischen links und rechts. Schon diese zentrale Position deutet darauf hin, wie wichtig der Hypothalamus für die Kommunikation zwischen den beiden Hirnhemisphären einerseits sowie zwischen Hirn und Körper andererseits ist. Hier im Hypothalamus arbeiten wichtige Kontrollsysteme: für die Stressreaktion, das Sexualverhalten, die Körpertemperatur, den Schlaf-Wach-Rhythmus – und die Nahrungsaufnahme. Letztere wird im seitlichen, also lateralen Hypothalmus (LH) reguliert. Im LH befindet sich gewissermaßen die Messstation unseres Gehirns, die feststellt, ob wir in diesem Augenblick Nahrung brauchen, und, wenn ja, gegebenenfalls Alarm schlägt. Und dieser Alarm springt in seltenen Fällen sogar nachts an.

Bevor wir uns zu unserem nächtlichen Ausflug zum Kühlschrank aufgemacht haben, ist womöglich eine Messung im Hypothalamus vorausgegangen, bei der festgestellt wurde, dass dem Gehirn zu wenig Energienachschub zur Verfügung stand. Tatsächlich arbeitet der LH wie eine Art Energiefühler, der misst, wie viel Glukose im Körper zirkuliert. Die Glukose wird in Gehirnkapillaren in die Nähe des LH transportiert. Um von den LH-Neuronen erkannt und gemessen werden zu können, müssen Glukosemoleküle zuerst die Blut-Hirn-Schranke überwinden, die aus den Innenwänden der Kapillaren gebildet wird. Ihre Aufgabe besteht darin, bestimmte chemische Substanzen, Viren, Bakterien oder fehlgeleitete Botenstoffe von den Neuronen fernzuhalten. Sie schützt so das Gehirn vor biochemischen Fehlinformationen, Infektionen oder Vergiftungen. Die Kapillarwände haben aber Glukoseporen, die Blutzuckermoleküle erkennen und sie in das extrazelluläre Gewebewasser gelangen lassen. Dieses Wasser füllt die Räume zwischen den Neuronen des Hirngewebes. Bildlich gesprochen sind die Hypothalamus-Neuronen Zell-Archipele in einem Meer aus Gewebewasser. Der Zuckergehalt dieses Ozeans in unserem Kopf (also die extrazelluläre Glukosekonzentration) entspricht ziemlich genau der aktuellen Zuckerkonzentration im Blut. Hiermit lässt sich im LH ein sehr präzises Bild der Glukoseversorgungslage im Blut berechnen. Dazu nutzen die Orexin bildenden Neuronen des LH Andockstellen (Rezeptoren), welche die extrazellulären Glukosemoleküle binden können. Wenn diese Andockstellen mit Glukose besetzt sind, geben die Orexin bildenden Neuronen Ruhe. Sind aber die Glukoserezeptoren unbesetzt, fangen diese LH-Neuronen an zu feuern, was zu einer verstärkten Freisetzung von Orexin im Gehirn führt: das Signal, den Body-Pull zu aktivieren. Jetzt gilt es, Energie von außen zuzuführen. Mit anderen Worten: aufwachen, aufstehen, essen.

Wie sich ein solches Orexin-Signal des Body-Pulls anfühlt, erleben die meisten Menschen – allerdings nicht nachts: Orexin macht auch tagsüber wach, unruhig und schickt uns auf die Suche nach etwas Essbarem. Dieses Suchprogramm ist faszinierend. Es bewirkt in der Regel, dass wir uns unweigerlich auf den Weg dorthin machen, wo wir nach unseren Erfahrungen schon bei früherer Gelegenheit auf der Nahrungssuche erfolgreich waren: etwa zum heimischen Kühlschrank, zum Snackautomaten im Büro oder zum Bäcker um die Ecke. Je häufiger und ausgeprägter wir diesen Verhaltensmustern nachgehen, desto mehr stellt sich die Frage, ob hinter diesem Impuls etwas Krankhaftes stecken könnte. Der permanente Drang zu essen könnte darauf hindeuten, dass die Gewaltenteilung zwischen den Pulls aus dem Gleichgewicht geraten ist. Mit anderen Worten: Muss der übermäßige Body-Pull einen zu schwach arbeitenden Brain-Pull ausgleichen? Oder immer wieder einem überlasteten Brain-Pull zu Hilfe eilen?

Tatsächlich deutet ausgeprägtes Body-Pull-Verhalten auf eine Brain-Pull-Inkompetenz des Gehirns hin. Nächtliches Aufwachen und der anschließende Gang zum Kühlschrank sind ein deutlicher Hinweis auf ein Problem mit dem Glukosenachschub für das Gehirn. Es gibt aber noch weitere Symptome, die auf einen geschwächten Brain-Pull hindeuten: zum Beispiel das In-den-Mund-Stecken von Gegenständen, das Kauen am Stift oder das Ziehen an einer Zigarette. Denn Hungergefühle, die aus körperlichen Bedürfnissen entspringen, sind nicht auf ein bestimmtes Lebensmittel ausgerichtet, sie regen uns lediglich dazu an, etwas in den Mund zu stecken. Solche oralen Ersatzhandlungen sind ebenfalls sichtbare Anzeichen einer Energiekrise des Gehirns. Und da zum Beispiel das Nikotin beim Rauchen das Stresshormon Kortisol in die Höhe schnellen lässt, wundert es nicht, dass dieses Ersatzverhalten eine Brain-Pull-Inkompetenz kompensieren kann. Für jemanden, der mit dem Rauchen aufhören will, heißt das: mehr essen, um die Brain-Pull-Inkompetenz auszugleichen – mit der leidigen Folge, dass man mehrere Kilo zunimmt.

Interessanterweise gibt es einen entscheidenden Unterschied, ob der Brain-Pull von innen (vom Hirn selbst unter Stressbedingungen) oder von außen (zum Beispiel durch das Nikotin der Zigarette) aktiviert wird: Von innen entsteht das Gefühl der Anspannung, von außen das der Entlastung und Entspannung. Das erklärt, warum Raucher (oder Menschen, die es sich abgewöhnen wollen) vor allem in Stresssituationen das Bedürfnis nach einer Zigarette verspüren.

Ein weiteres Symptom der Brain-Pull-Inkompetenz ist die sogenannte Süß-Präferenz. Menschen mit schwachem oder überlastetem Brain-Pull bevorzugen für ihre schnellen Zwischenmahlzeiten süße Speisen und Getränke. So zeigen neueste Befunde, dass Kinder, die unter chronischem Stress leiden, im Laufe der Zeit eine ausgesprochene Vorliebe für süße Nahrungsmittel entwickeln. Das ist kein Zufall, sondern eine Strategie des Gehirns, das genau weiß, dass sich mit stark zuckerhaltiger Nahrung der Energiebedarf im Kopf am schnellsten decken lässt. In extremen Fällen von mangelndem Glukosenachschub zum Gehirn kann es sogar zum Craving kommen – brutalen Heißhungerattacken, die sofort nach Zucker verlangen. Menschen mit Diabetes kennen das, wenn ihr Blut durch eine zu hohe Insulindosierung bei der Injektion einen dramatisch niedrigen Zuckerwert aufweist.

Fassen wir noch einmal kurz zusammen, was wir bisher über den Body-Pull erfahren haben: Er springt an, wenn die Blutglukose sinkt. Dann werden wir wach, bekommen Hunger, trachten danach, etwas in unseren Mund zu stecken, und das sollte am besten süß sein.

Wenn wir von Strategien des Body-Pulls und des Beschaffungs-Pulls sprechen, setzt dies eine gewisse Intelligenz des Systems voraus. Tatsächlich handelt es sich um erlerntes Verhalten. Wie gesagt: Das Orexin bringt uns in der Regel dazu, Nahrungsquellen aufzusuchen, die wir bereits kennen. Es kann aber auch die Suche neuer Quellen initiieren. Hier kommt dem Belohnungsaspekt des Systems, in dem Orexin mitwirkt, eine entscheidende Bedeutung zu. Unser Belohnungssystem ist dabei so programmiert, dass es vor allem bei unerwartetem Erfolg anspringt – und nicht, wenn wir schon alles kennen. Das ist vergleichbar mit der Freude, die uns überkommt, wenn wir im Sport nicht sicher sind, ob wir das Spiel oder das Rennen gewinnen. Ein Erfolg trotz einer schwierigen Ausgangslage beschert uns die größte Freude. Interessanterweise ist bei der Nahrungsbeschaffung das euphorische Gefühl besonders groß, wenn wir hungrig eine neue, unerwartet gute Energiequelle entdecken. Das kann ein neues Restaurant sein, ein neuer Gemüseladen um die Ecke oder ein neues Produkt aus dem Supermarktregal. In der Wiederholungsphase schwächt sich das Glücksgefühl merklich ab, weil der Body- und der Beschaffungs-Pull nicht die Nahrungsaufnahme, sondern das erfolgreiche Suchen belohnen. Es ist also weniger das Essen selbst, sondern das Finden der Nahrung, was uns glücklich macht und das uns auffordert, an diesen Ort zurückzukehren.

Deuten also die Impulse zur Nahrungsaufnahme, die uns tagsüber oder manchmal auch nachts auf Trab halten, ausschließlich auf einen Energiemangel im Blut (bzw. im extrazellulären Hirnwasser) hin? Was ist mit der weitverbreiteten Auffassung, dass geleerte Fettdepots des Körpers wieder aufgefüllt werden wollen und uns zum Essen nötigen? Tatsächlich gibt es mit dem Leptin einen weiteren Spieler um den Jackpot der Nahrungsaufnahme. Leptin ist ein Botenstoff, ein Hormon, das im Blut kreist. Es wird im Fettgewebe gebildet und zeigt an, wie hoch der Energiefüllstand der Fettzellen ist. Hohes Leptin, zum Beispiel nach den Weihnachtsfeiertagen, signalisiert: Die Speicher sind gut gefüllt. Niedriges Leptin, etwa bei einer Fastenkur, teilt das Gegenteil mit. Diese Leptinbotschaften laufen über eine Relaisstation und gehen anschließend im Lateralen Hypothalamus (LH) ein. Was aber passiert, wenn das Fettgewebe Energievollversorgung, das Gehirn dagegen Energiebedarf signalisiert? Wenn also ein übergewichtiger Mensch plötzlich einen hohen Energiebedarf im Gehirn hat – bekommt er dann trotzdem Heißhunger?

Es ist kaum überraschend, wer sich in einer solchen Situation durchsetzt: Wenn das Gehirn Energiebedarf hat, werden die Sättigungssignale des Fettgewebes abgeblockt. Sie dringen überhaupt nicht bis zu den Orexin-Neuronen im lateralen Hypothalamus vor. Bei einem Energiebedarf im Gehirn springt in der Relaisstation, die im unteren Hypothalamus auf dem Weg hin zu den Orexin-Neuronen liegt, gewissermaßen eine Sicherung raus, das egoistische Gehirn zieht die unliebsamen Leptinsignale einfach aus dem Verkehr. Wird dies zu einem Dauerkonflikt, ist Übergewicht unvermeidlich. Denn obwohl das speichernde Fettgewebe den Körper mit Sattheitsbotschaften flutet, verfügt das Gehirn: »weiter essen.« Es sind also nicht die Fettzellen selbst, die Übergewicht verursachen, indem sie ständig Nachschub fordern. Es ist die mangelhafte Energieversorgung des Gehirns, die bei übergewichtigen Menschen dazu führt, immer mehr zu essen!

In einem System, das so komplex ist, so anpassungsfähig und letztlich doch auch so störanfällig wie der Brain-Pull, ist die Frage der inneren Balance von zentraler Bedeutung. Wie kommt das System ins Gleichgewicht? Welche Kräfte wirken darauf ein? Interessanterweise ist die Balance des Brain-Pulls eng mit unserem inneren Gleichgewicht verknüpft. Die Regulationsmechanismen, die den Brain-Pull aktivieren oder hemmen, haben sich im Lauf der Evolution langsam herausgebildet. Der Anfang dieser Entwicklung fand vor 500 Millionen Jahren statt – in einem warmen Urmeer.

Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft
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