Unsere Gefühle als Wegweiser
Er war halsstarrig, ungehorsam und weigerte sich, das Handwerk des Vaters zu erlernen. Er wollte überhaupt nichts lernen. Alle Versuche der Eltern, den Sohn auf einen eigenen Weg zu bringen, scheiterten. Da resignierte der Vater und überließ den Jungen seinem Schicksal. Kurz darauf starb der Vater überraschend – vielleicht an gebrochenem Herzen, wer weiß das schon so genau. Die Mutter verkaufte die Schneiderwerkstatt ihres Mannes und versuchte, mit ihrem ungeratenen Sohn von dem erlösten Geld zu leben. Der Junge aber blieb ein Tunichtgut. Er trieb sich mit Freunden herum, statt zu arbeiten, und wenn seine Mutter ihn zur Rede stellte, beschimpfte und bedrohte er sie. Eines Tages sprach ein Fremder den Jungen an. Er gab sich als ein längst totgeglaubter Verwandter aus, kümmerte sich um den Jungen und unterstützte die Mutter. Der 15-Jährige bewunderte den älteren Mann, seine Klugheit, seine Weltgewandtheit, seinen augenscheinlichen Reichtum und Erfolg. Als der vermeintliche Wohltäter den Jungen bat, ihn auf einen Ausflug zu begleiten, willigte er ohne zu zögern ein. Aber als sie ein entlegenes Tal betraten, bekam der Junge langsam Angst. Doch der Mann, der in Wahrheit kein Verwandter, sondern ein Zauberer war, ließ ihn nicht gehen. Stattdessen deutete er energisch auf eine Marmorplatte mit einem Messingring und befahl dem Jungen, seinen eigenen Namen zu nennen, die Hand an den Ring zu legen und die Platte zu heben. Wie von Zauberhand öffnete sich daraufhin ein versteckter Höhleneingang – der Zugang zu einem Schatzgewölbe. Dort sollte der Junge hineingehen und nicht eher wieder herauskommen, bis er eine einfache Öllampe gefunden habe …
Die Geschichte von ’Alâ ed-Dîn (Aladin) und der Wunderlampe ist eine der berühmtesten aus dem legendären orientalischen Zyklus Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten. Nachdem ’Alâ ed-Dîn die Lampe gefunden und eingesteckt hatte, betrat er auf dem Rückweg durch die unterirdische Welt einen Garten mit Bäumen, an denen keine gewöhnlichen Früchte hingen, sondern kostbare Edelsteine. Fasziniert betrachtete er den vielfarbigen Schatz: orangefarbene, funkelnde Granate, Rubine wie rotviolette Blütentrauben, Diamanten wie gelber blütenumwachsener Stein, goldener Schmuck, glänzend wie der Schein der Sonne am Vormittag, Smaragde wie heraldischgrüne Äpfel, Edelsteine und Perlen wie lasurblaue Kornblumen und amaranthfarbene Blütenstände. ’Alâ ed-Dîn, der solche Dinge noch nie in seinem Leben gesehen hatte und deren Wert auch nicht kannte, füllte seine Taschen randvoll mit den wundersamen Früchten, die er für Glas hielt. Als er am Ausgang des Schatzgewölbes angekommen war, forderte der ungeduldige Zauberer die Lampe. ’Alâ ed-Dîn aber war es unmöglich, die Lampe zwischen all den Edelsteinen zu ertasten. In einer überraschenden Wendung, wie sie wohl nur in Märchen vorkommt, fügte sich der Zauberer und zog von dannen. Die Lampe veränderte das Leben ’Alâ ed-Dîns – er entdeckte ihre wundersame Kraft, Wünsche zu erfüllen. Mit der Hilfe des Lampengeistes entledigte er sich aller Sorgen, gewann das Herz einer Prinzessin und wurde ein besserer Mensch.
Liest man das Märchen heute, fällt auf, wie aktuell es beginnt. Die scheinbar gescheiterten Erziehungsbemühungen der Eltern, ihre Verzweiflung und Ratlosigkeit, die Weigerung des Jungen, erwachsen zu werden und Verantwortung zu übernehmen, seine Lethargie, die Respektlosigkeit und Aggressivität der (nunmehr alleinerziehenden) Mutter gegenüber – das ist der Stoff, aus dem moderne Erziehungsdramen bestehen. Der Konflikt scheint unlösbar, der Weg des Jungen auf die schiefe Bahn scheint vorgezeichnet. Doch dann geschieht etwas Unerwartetes: ’Alâ ed-Dîn entdeckt einen Schatz. Wenn man das Märchen psychologisch deutet, wird schnell klar, dass der Gang in die dunkle unbekannte Höhle und das Auffinden des Schatzes nur vordergründig für materiellen Reichtum und die damit verbundene Erlösung aus prekären Lebensumständen stehen. Betrachtet man das Abenteuer in der Schatzhöhle hingegen als Reise ins Ich, so liegt es nahe, dass die Entdeckung von Gold und Juwelen dem »gewahr sein« oder »gewahr werden« der eigenen Gefühle und Wünsche entspricht. Nach dieser Interpretation hat sich das Ich des Jungen nach der Rückkehr aus der Höhle verwandelt. Er reift zu einer Persönlichkeit, in sich ruhend und so stark, dass selbst die Kräfte des intriganten Zauberers machtlos sind. Nicht die Juwelen, sondern die unscheinbare Lampe wird zum Symbol dieses neuen, sich seines Selbst bewussten jungen Mannes. Der Geist aus der Lampe steht hier stellvertretend für die Kraft, die wir in uns tragen, für die Macht unserer Gefühle, die wir einsetzen und als Wegweiser nutzen können.
Tatsächlich aber fällt es vielen Menschen schwer, über ihre Gefühle zu sprechen oder sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Gefühle werden maskiert oder verdrängt, doch nur selten in ihrem ganzen Ausmaß wahrgenommen oder beurteilt. Vor allem mit negativen Gefühlen haben wir Schwierigkeiten: Traurigkeit macht unattraktiv, Unsicherheit oder Angst sind uncool. Was es noch schwieriger macht: Gefühle sind schwer zu greifen. Manche treiben scheinbar an der Oberfläche wie Eisberge, aber man weiß nicht, wie tief sie hinabreichen. Und ihre Ursprünge sind häufig kaum auszumachen.
In der Selfish-Brain-Forschung spielt der Umgang mit Gefühlen eine große Rolle. Wir haben bereits erfahren, wie eng emotionale und energetische Homöostase zusammenhängen. Wenn beide eine Balance erreicht haben, geht es uns gut. Konkreter gesagt: Das Gehirn zielt darauf ab, zunächst sein Energiegleichgewicht zu finden und erst danach Ruhe und Ausgeglichenheit anzustreben. Diese energetische und emotionale Homöostase ist jener Zustand, den wir als Wohlfühlbereich bezeichnen können. Wir ähneln darin den Verwandten der Pantoffeltierchen im Ozean, die immer versuchen, sich in der Wasserschicht aufzuhalten, in der die Bedingungen optimal sind und in der sie sich wohl fühlen können. Beide, Einzeller und Mensch, folgen im Prinzip zwei einfachen Regeln:
- Wenn du dich vom Wohlfühlbereich entfernst und nicht zurückkannst – so ändere dein Verhalten.
- Wenn du im Wohlfühlbereich bist – so behalte dein Verhalten bei.
Das Pantoffeltierchen ändert mit Hilfe seines »Richtungswechslers« genau dann seine Bewegungsrichtung, wenn ihm die Temperatursensoren für Wärme und Kälte anzeigen, dass es seinen Wohlfühlbereich verlassen hat. Ist die Wassertemperatur hingegen angenehm, verharrt das Tierchen einfach dort, wo es gerade ist. Seitdem die Evolution mit den Einzellern die ersten Lebewesen schuf, hat sich an diesem Verhaltensmuster wenig geändert. Natürlich ist das menschliche Verhaltensrepertoire wesentlich vielseitiger, und es geht auch nicht um einen so einfach zu bestimmenden Faktor wie die richtige Wassertemperatur. Aber das Grundprinzip ist das Gleiche. Die menschlichen Wohlbefindlichkeitssensoren messen die Energiekonzentrationen im Gehirn und die Stressreaktion auf Erlebtes. Wenn der Mensch sich außerhalb seiner Wohlfühlzone befindet, zeigen ihm seine beiden Kortisolrezeptoren (GR und MR) an, dass er sich im Hoch-Kortisol-Stressbereich oder im Niedrig-Kortisol-Mangelbereich befindet.
Auch wenn die Wirklichkeit oft sehr viel komplizierter ist, soll hier zur Veranschaulichung ein einfaches Beispiel dienen: Ein Schüler fühlt sich von einem neuen Lehrer ungerecht behandelt. Er verspürt autoritären Druck, seine Leistungen lassen nach. Diese Situation löst in ihm Gefühle von Wut, Ärger und Enttäuschung aus. Druck und folgender Leistungsabfall haben das Stresssystem des Schülers in einen Unruhezustand versetzt – er befindet sich in einer Zone außerhalb des Wohlfühlbereichs. Deshalb sollte er nun wie das Pantoffeltierchen die Richtung wechseln. Wie wir bereits wissen, geht die Aktivierung des Stresssystems bei Niederlagen oder misslungenen Verhaltensstrategien mit negativen Gefühlen wie Angst, Unsicherheit und Enttäuschung einher. Diese negativen Gefühle sind jetzt wichtig. Denn nur in diesem Zustand verhindert der GR die Festschreibung von unangemessenem Verhalten und unvorteilhaften Lebensstrategien ins Gedächtnis. Die Lehren, die wir aus Niederlagen ziehen, sind ebenso wichtig wie das Erlernen von Erfolgsstrategien. Wenn also Wut, Enttäuschung und Angst vorherrschen, macht der GR den Weg frei für eine Verhaltensänderung und das Einschlagen einer neuen Richtung. Im Fall des Schülers könnte dies ein klärendes Gespräch mit dem Lehrer sein. Vielleicht ist man nur schlecht gestartet? Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden die Gesprächsbereitschaft und die Einsicht des Schülers das Bild des Lehrers positiv verändern und die Gefühlslage entspannen, also möglicherweise beide ihrer Wohlfühlzone wieder näher bringen. Gelingt diese aktive Umorientierung, wird der andere Kortisolrezeptor (der MR) anzeigen, dass das Stresssystem wieder in seine Ruhelage (Niedrig-Kortisol-Bereich) zurückgekehrt ist. Dieser Zustand erlaubt positive Gefühle wie Erleichterung, Stolz und Ruhe. Das spüren wir auch, wenn wir uns zum Beispiel nach einem Streit mit einem geliebten Menschen wieder versöhnt haben.
Der MR sorgt dafür, dass im Tiefschlaf all die Strategien und Programme, die uns das Erreichen dieses Wohlfühlzustands ermöglicht haben, gesichert und festgeschrieben werden. Damit wir sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder abrufen können. Es besteht allerdings keine Garantie, dass diese erlernten Strategien uns davor bewahren, nicht wieder in eine ähnliche Konfliktsituation zu geraten – aber sie ermöglichen uns, besser und versierter damit umzugehen.
Glücksgefühle
Wir wissen zwar nichts über das Gefühlsleben der Pantoffeltierchen, aber es ist legitim anzunehmen, dass das Streben nach der Wohlfühlzone eines seiner höchsten Lebensziele darstellt. Wir Menschen sind anspruchsvoller. Wir trachten nach Höherem, »nur« entspannt zu sein genügt uns nicht. Wir wollen möglichst oft glücklich sein. Aber: Wie entstehen eigentlich Gefühle des Glücks? Und was lernen wir aus ihnen?
Unser Belohnungssystem funktioniert nach zwei Regeln: Im Falle eines unerwarteten Erfolges greift das alte Prinzip, das schon die Einzeller seit Urzeiten verfolgen – das Streben in die Wohlfühlzone. Ein Beispiel, das der Veranschaulichung dienen soll: Nach ihrer Scheidung fühlt sich Frau M. einsam. Was die Situation für sie besonders schmerzhaft macht, ist die Tatsache, dass sie keine Freundin hat, mit der sie sich austauschen könnte. Tatsächlich fiel es ihr schon als Mädchen und junge Frau schwer, engere Freundschaften zu knüpfen. In ehrlichen Momenten gesteht sie sich ein, dass sie gar nicht weiß, wie man mit einer Freundin umgeht. Sie beschließt, allein in den Urlaub zu fahren, um sich vom Grübeln abzulenken. Da passiert das Unerwartete: Sie lernt im Hotel eine gleichaltrige Frau kennen, die ihre Interessen teilt, einen ähnlichen Lebensweg hinter sich hat und mit der sie tatsächlich Freundschaft schließt. Die Frau empfindet Glücksgefühle. Auf neurobiologischer Ebene wird der Erfolgsbotenstoff Dopamin in der Amygdala, dem Hippocampus und einem weiteren Areal, dem Nucleus Accumbens, vermehrt freigesetzt. Das löst die uns allen bekannten Glücksgefühle aus, wenn wir zum Beispiel Freunde finden. Dabei spielt wieder ein ähnliches Rezeptor-Paar (das einen in den Wohlfühlbereich leitet) im menschlichen Gehirn eine Rolle, wie wir es für Kortisol und die Temperatursensoren des Pantoffeltierchens schon kennen: nämlich der D1- und der D2-Dopamin-Rezeptor. Im unerwarteten Fall der neuen Freundschaft wird der D1, der erst im Hoch-Dopamin-Bereich anspringt, im Gehirn aktiviert, es stellt sich ein Hochgefühl des Glücks ein. Wesentlich ist aber, dass jetzt im Hippocampus alle Strategien und Programme, die dem Menschen diesen Wohlfühlzustand ermöglicht haben, gesichert und festgeschrieben werden. (In welchem Restaurant fand die erste Begegnung statt? Wie kam der erste Kontakt zustande? Wie waren die Begleitumstände?)
Die beiden Frauen treffen sich im Folgejahr am gleichen Ort und planen bereits das nächste Wiedersehen. Als Frau M. im dritten Jahr bei ihrer Ankunft am Urlaubsort erfährt, dass die Freundin unversehens ihre Buchung storniert hat, ist die Enttäuschung groß. Neurobiologisch geschieht nun Folgendes: Bei den hohen Erwartungen, die sich nicht erfüllt haben, wird unterdurchschnittlich wenig Dopamin in den oben genannten Hirnregionen freigesetzt. Nur noch der D2 wird aktiviert, der im Niedrig-Dopamin-Bereich arbeitet. Das geht mit schlechter Stimmung einher (Enttäuschung). Jetzt wird es spannend: Das alte Verhaltensmuster hätte bei Frau M. wahrscheinlich zu einer Resignation geführt (»Natürlich passiert mir so etwas, mit Freundschaften habe ich noch nie Glück gehabt …«). Da die positive Glückserfahrung aus den vorangegangenen Jahren inzwischen allerdings im Gehirn als gelernt verankert wurde, wird sie nur kurz im Zustand der Enttäuschung verharren. Dann wird ihr Gehirn seinen »Richtungswechsler« einschalten und Strategie Nummer zwei abrufen. Für Frau M. heißt das: Sie wird nach Alternativen suchen, um sich zu einem späteren Zeitpunkt an einem anderen Ort mit der Freundin zu treffen; sie wird vielleicht auf andere Menschen im Hotel zugehen, mit denen sie neue Freundschaften schließen kann. Kurz: Trotz ihrer enttäuschenden Erfahrung ist sie offen für neue Wege. Und das verdankt sie auch dem Präfrontalen Kortex, der als unser »Richtungswechsler« diese Alternativvorschläge mitentwirft.
Im Grunde genommen leben wir also nach einem simplen Schema, das uns schon die Einzeller vorgemacht haben: Sind die Lage und die Stimmung schlecht, sollten wir unser Vorgehen ändern; werden dadurch die Lage und die Stimmung gut, sollten wir das neue Vorgehen beibehalten! Entscheidend ist, dass unsere Gefühle dabei unsere besten Wegweiser sind. Problematisch wird es, wenn wir diese wegweisende Funktion unserer Gefühle nicht nutzen können. Manche Menschen nehmen ihre Gefühle kaum wahr, andere spüren sie zwar, können sie aber nicht differenziert einordnen – sei es durch ihre Erziehung oder durch Lernerfahrungen, die ihnen den Weg zu den eigenen Emotionen verstellen. In der Regel ist es uns gar nicht bewusst, dass sich die Tür zu unserer inneren Gefühlswelt geschlossen hat oder dass wir es selbst waren, die den Schlüssel umgedreht und später vielleicht sogar verloren haben. Dabei lohnt es sich, auf die Suche nach dem Schlüssel zu gehen. Denn ohne Zugang zu unseren wahren Gefühlen und Bedürfnissen laufen wir Gefahr, das rechte Maß zu verlieren. Wir neigen zu Exzessen oder entwickeln Defizite, was sich in einem Unterlassen oder Übertreiben bestimmter Verhaltensweisen ausdrückt. Zum Beispiel arbeiten wir zu viel (Verhaltensexzess), wir ziehen uns sozial zurück oder suchen zu wenig Kontakte (Verhaltensdefizit). Im Grunde sind diese Muster nichts anderes als zweitrangige Lösungsstrategien (sogenannte »secondary solutions«), mit denen wir uns zu beruhigen versuchen.
Auch das bereits erwähnte Comfort Eating ist so eine zweitrangige Verhaltensstrategie, die viele Menschen in wiederholt oder dauerhaft belastenden Lebenssituationen anwenden. Solche Situationen können typischerweise mit Stimmungsschwankungen, depressiven Symptomen und mit einer stressbedingten Brain-Pull-Überlastung einhergehen. Der Energieverbrauch des Gehirns kann in belastenden Situationen so rapide ansteigen, dass es extrem unangenehm für den Betroffenen wird, genügend Glukose aus dem Körper anzufordern. Unter dieser allostatischen Last verlässt der Mensch seinen Wohlfühlbereich, die Stimmung wird schlecht, er fühlt sich aufgeregt und angespannt. Comfort Eating ist dann zwar nicht die optimale Lösung, aber eine naheliegende: Durch das Essen gegen den Frust erhält das Gehirn schnell einen Glukoseschub von außen, was dazu führt, dass die Stressantwort zur inneren Mobilisierung der körpereigenen Reserven nachlassen kann und man sich dadurch fast augenblicklich besser fühlt – ja, sogar getröstet.
Train the Brain
Laurel Mellin arbeitet seit vielen Jahren mit Patienten, die durch Comfort Eating unglücklich und übergewichtig wurden. Kern ihres Therapiekonzeptes ist es, die eigenen Gefühle und Wünsche wahrzunehmen und zu lernen, sich »um sich selbst zu sorgen«. Es ist sehr spannend, was ihren Patienten bei dem Begriff »Self Nurturing« spontan einfällt. Lynn ist eine 39-jährige Krankenschwester mit Übergewicht und einem Dienstplan, der sie bis an ihre Grenzen belastet. Als die Therapeutin ihr den Gedanken der Selbstfürsorge vorstellt, antwortet Lynn spontan: »Mir mal wieder etwas gönnen, das wäre toll – eine Shoppingtour, oder ein Wochenendtrip. Leider geht das alles nicht mehr, seit mein Mann Jake den Job verloren hat …« Lynn denkt an Shopping und Wochenendreisen, aber sind das wirklich ihre inneren Bedürfnisse? Mellin fragt, wie Lynn diese geäußerten Wünsche bewertet und auch wie sich das für sie anfühlt, wenn sie daran denkt. Lynns Reise zur Entdeckung ihrer Gefühlswelt beginnt mit der Erkenntnis, dass Selbstfürsorge nichts ist, was man sich kaufen kann, und dass auch niemand anders dafür zuständig ist als sie selbst. Sich um sich selbst sorgen zu können bedeutet in sich hineinzuhorchen, sich seiner Gefühle gewahr zu werden und seine wahren, inneren Bedürfnisse zu formulieren: Wie fühle ich mich? Was brauche ich wirklich? Benötige ich Unterstützung? Entscheidend ist dabei, dass Lynn lernt, auf ihr Inneres zu hören und sich nicht von künstlich erzeugten Empfindungen (zum Beispiel durch Alkohol, Medikamente oder einen geschickten Verkäufer, der mit »emotionalen Verkaufstechniken« arbeitet) leiten zu lassen. Denn die Gefühle, die durch die eigenen Bedürfnisse von innen her entstehen, zeigen uns an, was wir ändern sollen, die von außen induzierten Empfindungen und Bedürfnisse nicht – im Gegenteil.
Mellin ermuntert ihre Patientin, sich ihren Gefühlen immer wieder zu stellen. Lynn gewinnt auf diese Weise nach und nach neue Einsichten. Sie entdeckt, dass ein Teil ihrer Unzufriedenheit und Wut daher rührt, dass sie sich von ihrer Schwiegermutter nicht respektiert fühlt – aber sie weiß nicht, wie sie ihr Problem darlegen kann, ohne dass die Situation eskaliert. Sie wünscht sich, dass ihr Mann Jake zugewandter ist und sie wenigstens abends gemeinsam essen. Doch statt sich auszutauschen, verharrten beide bislang in frustrierenden Mustern. Ihr wird auch deutlich, wie sehr sie darunter leidet, ihrem Chef gegenüber immer wieder nachzugeben. Sie lässt sich von ihm Sonderschichten und zusätzliche Patienten aufdrücken und findet nicht den Mut, nein zu sagen – aus Furcht, ihren Job zu verlieren. All diese Trauer, der Zorn, die Ängste, die Hilflosigkeit, die Ohnmacht und die Frustrationen wurden in Lynns Leben zunehmend von einer anderen Empfindung überlagert: Hunger! Ihrem egoistischen Gehirn ist es nicht gelungen, eine Lösungsstrategie für Lynns Konflikte zu entwerfen, es hat einzig und allein darauf geachtet, genug Energienachschub zu bekommen. Nach Besuchen bei der Schwiegermutter tröstet sich Lynn mit der Energie aus einem Liter Eiscreme, und wenn der Job zu stressig wird, holt sie sich Nachschub aus dem Süßigkeitenautomaten.
Dieser Kreislauf aus Überforderung, Stress und Comfort Eating lässt sich mit therapeutischen »Train the Brain«-Ansätzen, die auf den Erkenntnissen der Selfish-Brain-Forschung beruhen, durchbrechen: Da energetische und emotionale Homöostase untrennbar miteinander verbunden sind, kann man davon ausgehen, dass ein ausbalanciertes Gefühlsleben ein entscheidender Schritt ist, um den Brain-Pull wieder zu normalisieren. Ob es gelingt, ihn wieder in seine gesunde Grundeinstellung zu bringen, hängt von vielen Faktoren ab: vom Alter der betroffenen Person, von der inneren Bereitschaft und auch davon, ob man professionelle Hilfe in Anspruch nehmen will. Um es deutlich zu sagen: Therapeutische Programme, die auf den Prinzipien von Emotionsregulation, sozialem Kompetenztraining und Problemlösungstraining aufbauen, sind zeit- und kostenintensiv. Keine deutsche Krankenkasse wäre derzeit in der Lage, eine derartige Therapie bei 75,4 Prozent übergewichtigen Männern und 58,9 Prozent übergewichtigen Frauen zu bezahlen. Es gibt in Deutschland auch leider bisher keine auf ihre Wirksamkeit geprüfte Selbsthilfe-Therapie – aber es gibt Anhaltspunkte, wie sich das eigene Gehirn so beeinflussen lässt, dass es sich wieder seinem metabolischen Gleichgewicht annähert. Wer also versuchen möchte, selbst die Macht der eigenen Gefühle zu nutzen, bekommt in diesem Kapitel eine Art Checkliste an die Hand. Sie soll das Prinzip verdeutlichen und Anregungen geben, selbst zu überprüfen, wie man mit seinen Gefühlen umgeht, Konflikte löst oder ureigene Bedürfnisse formuliert. Um es noch einmal deutlich zu machen: Das seelische Gleichgewicht (emotionale Homöostase = Stresssystem in Ruhelage) ist eng verknüpft mit der metabolischen Balance unseres Gehirns (energetische Homöostase). Aus diesen beiden Gleichgewichtszuständen ergibt sich in eindeutiger Weise das Körpergewicht. Daher gilt: Innere Notlagen machen nicht nur unzufrieden und unglücklich, sondern beeinträchtigen auch den Energiehaushalt des Körpers massiv.
Der Weg zu unseren Gefühlen und Bedürfnissen ist allerdings häufig steinig. Sich mit seinen Ängsten auseinanderzusetzen ist schwierig und die Versuchung, einer Vermeidungsstrategie nachzugeben, groß. Vermeidung verspricht aber nur kurzfristig ein Gefühl der Linderung. Meist ist es so, dass die negativen Gefühle wieder und wieder zurückkehren, bis der Konflikt gelöst ist. So gesehen führen Vermeidungsstrategien nicht nur über einen längeren Zeitraum zu unangenehmen Gefühlen, sondern kosten einen hohen Preis: Und der geht meist zu Lasten des Körpers – in Form eines gestiegenen Körpergewichts oder eines erhöhten Blutglukosespiegels. Hinzu kommt, dass wir mit unserer Neigung zu Vermeidungsstrategien die eigentliche Botschaft unserer Gefühle ignorieren. Sie wollen uns auf etwas hinweisen – auf ein Problem, einen Konflikt, den es zu lösen gilt. Und noch etwas ist wichtig: Negative Gefühle besitzen große Kräfte. Kräfte, die sich gegen uns richten mögen, die wir aber auch positiv nutzen können. Die Kraft der negativen Gefühle birgt enormes Potential zu Veränderung in sich – wenn man sie zu nutzen weiß. Obwohl diese psychologischen Erkenntnisse nicht neu sind, fällt es uns dennoch schwer, negative Gefühle wahrzunehmen, die zugrunde liegenden Situationen neu zu bewerten und aus alten Verhaltensmustern auszusteigen.
Aber werfen wir zunächst einen Blick auf die Liste der negativen Gefühle, um die es hier geht:
- Ärger
- Traurigkeit
- Krankheitsgefühl
- Enttäuschung
- Einsamkeit
- Schuld
- Unsicherheit
- Langeweile
Keines dieser Gefühle ist uns unvertraut. Wir halten sie aus, schieben sie weg, lenken von ihnen ab. Viel zu selten riskieren die meisten von uns einen genaueren Blick auf die wahren Ursachen dieser Gefühle. Aber erst wenn wir ihren Ursprung kennen, sind wir in der Lage, diese Gefühle wirklich zu bewältigen und sie als Motor so einzusetzen, dass wir alte Verhaltensmuster dauerhaft aufbrechen können.
Sehen wir uns im Folgenden ein paar einfache Beispiele an, die stellvertretend für eine Vielzahl von möglichen Verhaltensoptionen stehen. Die Wirklichkeit ist natürlich viel komplizierter, häufig treten mehrere Gefühle gleichzeitig auf, was ihre Bewertung erschwert. Worauf es mir hier aber ankommt, ist etwas anderes: Es geht um das Prinzip, auf ein bestimmtes Gefühl mit einem dazu passenden Verhalten zu reagieren. Welche Verhaltensweise das im Einzelfall sein kann, das muss jeder für sich selbst herausfinden. Manchem mag ein intensives Gespräch helfen, andere werden versuchen, das Problem allein zu bewältigen. Grundsätzlich aber sollten wir uns diesen Gefühlen stellen.
Beim Umgang mit negativen Gefühlen kommt es vielfach zu seltsamen Reaktionen. Wir spüren zwar oft das Richtige und geben trotzdem die falsche Antwort. So, wie wir einen Kaffee trinken, um uns aufzuputschen, anstatt mehr zu schlafen. Was soll unser Körper, unser Gehirn damit anfangen? Eigentlich gibt es für den richtigen Umgang mit unliebsamen Gefühlen erstaunlich pragmatische Lösungen. Gehen wir also die Liste der negativen Gefühle noch einmal durch und schauen uns Beispiele an, was bedürfnisorientiertes Handeln aus Sicht unseres Gehirns bedeutet.
• Ärger: Wir fühlen uns ungerecht behandelt, übergangen oder sind mit jemandem in Streit geraten. Mit dem Gefühl, sich zu ärgern, schaltet das Gehirn in den Alarmmodus: »Suche nach Lösungen!« In diesem Modus erhöht sich gleichzeitig der Energiebedarf unseres Gehirns. Gelingt es nun, tatsächlich eine Lösung zu finden, so kann die erhöhte Hirnversorgung gezielt zur Konfliktbewältigung eingesetzt werden. Hat man zum Beispiel Ärger mit einer Behörde, könnte die Lösung so aussehen: Anstatt sich weiter und weiter in seine Wut hineinzusteigern (was weitere Energie kostet), könnte man Hintergrundinformationen über den Sachverhalt einholen, einen wohlüberlegten Brief schreiben oder gut vorbereitet ein klärendes Gespräch suchen. Die Energie wird so positiv umgenutzt und zum wichtigen Motor bei der Problemlösung.
• Traurigkeit: Der Verlust eines geliebten Menschen, das Ende einer Liebe, Arbeitslosigkeit, der Tod eines Haustiers lösen in uns Trauer und Traurigkeit aus. Diese Trauer braucht Zeit – auch dies ist eine uralte Weisheit. Psychologen sprechen sogar von Trauerarbeit und meinen damit, dass Trauer ein Gefühlszustand ist, den wir nur dann überwinden können, wenn wir ihn eine gewisse Zeit aushalten, ohne uns zu betäuben. Wie lange dieser Zeitraum dauert, kann niemand sagen. Manchmal kann das Gefühl der Trauer durch Veränderungen beendet werden: durch einen neuen Job, ein neues Haustier oder eine neue Liebe. Aber das klappt nicht immer.
• Krankheit: Wer krank ist, sollte sich schonen, Bettruhe einhalten, einen Arzt rufen, Freunde oder Verwandte um Hilfe bitten. Alles naheliegende Maßnahmen, die doch vielen Menschen schwerfallen, vor allem, wenn sie sich als Leistungsträger sehen. Fehltage schaden der Karriere und dem Image, Ärzten wird misstraut, und sich von Freunden helfen oder gar pflegen zu lassen, ist für viele von uns eine schwer erträgliche Vorstellung. Wir befürchten, jemandem zur Last zu fallen. Doch warum fühlen wir uns bei einem Infekt eigentlich so schwach, müde und ruhebedürftig? »Sickness behaviour«, krankheitsbedingtes Verhalten, nennen Mediziner das Energiesparprogramm, das unser Gehirn bei einer Erkrankung wählt. Die Grundversorgung des Gehirns und die ausreichende Energiebereitstellung für das Immunsystems stehen jetzt im Vordergrund. Jeder unnötige Energieverbrauch – etwa durch Bewegung, Sozialkontakte, geistige Leistungen – soll vermieden werden, um den Genesungsprozess nicht zu gefährden. Wenn wir die Signale unseres Körpers ernst nehmen, sollten wir uns also ins Bett legen und viel schlafen.
• Enttäuschung: Ein berufliches Ziel wird nicht erreicht, ein Freund hat ein ersehntes Treffen abgesagt, eine geplante Reise lässt sich nicht realisieren. Enttäuschungen widerfahren uns ständig. Unser Gehirn reagiert auf sie mit Stress und erhöhtem Energiebedarf. Auch hier besteht die Gefahr, das ungute Gefühl der Zurückweisung und des Scheiterns »wegzuessen«. Dabei will dieses Negativgefühl erlebt und bearbeitet werden. Enttäuschungen wollen uns an unseren Ausgangspunkt zurückführen. Ähnlich wie beim Monopoly-Spiel sollen wir auf Los zurückgehen, allerdings ohne dabei einen sofortigen Gewinn einzustreichen. Dort können wir uns erneut überlegen, an wen wir uns wenden, oder überdenken, ob der Zeitpunkt beispielsweise für eine berufliche Veränderung gekommen ist.
• Einsamkeit: Dieses Gefühl kann uns jederzeit überfallen. Bedürfnisorientiertes Handeln ist auch hier ganz pragmatisch: zum Beispiel einen Freund anrufen, sich verabreden. Es sind auch andere Möglichkeiten denkbar, um Einsamkeit zu begegnen. Entscheidend ist in dieser Situation, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und zu berücksichtigen. Bedürfnisorientiertes Verhalten kann nämlich in manchen Fällen auch bedeuten, dass man den Zustand nicht als Einsamkeit wertet, sondern als Alleinsein annimmt und somit lernt, sich mit sich selbst gut zu fühlen.
• Schuldgefühle: Man hat jemanden verletzt, sich im Ton vergriffen oder sich ungerecht verhalten. Schuldgefühle sind unsere Art, einen äußeren Konflikt zu verinnerlichen. Sie sind ein äußerst wertvoller Seismograph für Ungerechtigkeiten und Fehlverhalten. Unbearbeitete Schuldgefühle verlieren zwar an Intensität, aber sie existieren weiter. Sie sinken unter die Oberfläche unseres Bewusstseins und können jederzeit reaktiviert werden. Auflösen lassen sich Schuldgefühle in der Regel nur durch aktives Verhalten: sich entschuldigen, sich erklären, Verantwortung übernehmen oder Wiedergutmachung leisten. Genau dafür stellt unser Gehirn dann mehr Energie zur Verfügung.
• Unsicherheit: Sich in einer Situation nicht wohl zu fühlen, führt im besten Fall zu einer kritischen Betrachtung der eigenen Möglichkeiten, Schwächen und Stärken. Geldsorgen können lähmen. Und sie verschwinden in der Regel nicht von allein. Wenn es gelingt, das Gefühl der Verunsicherung umzunutzen, kann daraus Energie entstehen – etwa, um einen konkreten Finanzplan auszuarbeiten. Wo kann ich mehr einnehmen, wo kann ich sparen? Vielleicht kommt es durch solche Einsparungen zu Konflikten mit anderen Familienmitgliedern. Dann muss ich mit ihnen über meine Sorgen und Pläne reden und sie mit einbeziehen. Selbst wenn ich in dieser Phase des Sparens auf manche flüchtige Freude beim Kauf einer schönen Sache verzichten muss, entsteht in mir doch langfristig ein Gefühl von Ruhe und Sicherheit.
Selbstverständlich lassen sich noch viele andere Beispiele finden. Jeder kann hier seine eigenen Lösungsstrategien für unsichere Lebenssituationen hinzufügen. Das Prinzip jedoch sollte deutlich geworden sein: Alle diese Handlungsweisen entfalten auf mindestens zwei Ebenen ihre Wirkung: auf der sachlichen (wenn ich etwas an meinem Haus repariere, habe ich ein konkretes Problem beseitigt) und auf der emotionalen – über einen reparierten Wasserhahn muss man sich keine Gedanken mehr machen, während ein ungelöstes Problem uns wie ein tropfender Hahn lange Zeit emotional belastet. Ein konkreter Plan kann in Zeiten der Verunsicherung dazu beitragen, dass unser Stresssystem entlastet wird; und damit hat der Brain-Pull wieder die Möglichkeit, sich zu regenerieren.
• Langeweile: Dieses Empfinden ist möglicherweise das essentielle emotionale Negativerlebnis unserer Zeit. Langeweile gilt es in unserem Medienzeitalter unbedingt zu vermeiden. Sie wird als kaum aushaltbar empfunden. TV, Smartphones, Internet und Computer bieten sofortige und jederzeit verfügbare Fluchtmöglichkeiten vor dem Gefühl der Langeweile. Doch statt sich abzulenken und die Zeit totzuschlagen, kann es sich lohnen, Langeweile auszuhalten. Das böte die Chance, herauszufinden, woraus sie eigentlich resultiert. Das Gefühl der Langeweile ist ein deutlicher Hinweis, dass eine Diskrepanz zwischen Lebensstil und wahren inneren Bedürfnissen besteht. Der amerikanische Stressforscher Mihály Csíkszentmihályi untersuchte in einer Langzeitstudie, in welchen Situationen Menschen sich glücklich, erfüllt und nicht gelangweilt fühlen. Vor dem Test antworteten die meisten Probanden: »In meiner Freizeit.« Csíkszentmihályi bat die Teilnehmer nun, über einen längeren Zeitraum und in bestimmten Abständen ihre Stimmungslagen aufzuzeichnen. Das Ergebnis verblüffte: Die meisten Glücksmomente notierten die Testpersonen bei ihrer Arbeit, nicht bei Freizeitaktivitäten. Diesen Zustand, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren, sich ihr hinzugeben, bezeichnet der Psychologe als »Flow«. Die Zeit beginnt zu fließen, wir verschmelzen mit dem, was wir tun. Das ist das Gegenteil von Langeweile und hat offenbar viel mit Glück zu tun.
Phasen konzentrierten Arbeitens wirken interessanterweise auch stimulierend auf den Brain-Pull. Die Energieversorgung des Gehirns arbeitet unter einer gewissen Last meist erstaunlich effektiv. Jeder, der schon einmal wie in Trance an einem Problem gearbeitet hat, kennt vielleicht das Gefühl, nicht nur die Zeit aus dem Sinn zu verlieren, sondern auch keinen Hunger zu verspüren. Vom amerikanischen Mathematiker Norbert Wiener ist eine Anekdote überliefert, die dieses Phänomen verdeutlicht. Wiener wurde auf dem Campus des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in eine Diskussion über ein mathematisches Problem verwickelt. Nach dem Gespräch erkundigte er sich, aus welcher Richtung er eigentlich gekommen sei. Als sein Gesprächspartner auf die mathematische Fakultät deutete, stellte Wiener fest: »Das bedeutet, dass ich noch nichts zu Mittag gegessen habe …«
Negative Gefühle zu deuten und positiv zu nutzen, ist der Weg in die richtige Richtung des bedürfnisorientierten Handelns. Allerdings gibt es keine sofortige Erfolgsgarantie. Möglich, dass eine Entschuldigung zurückgewiesen wird, dass eine Aussprache verweigert wird, der Hinweis auf eine berufliche Überlastung zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führt. Solche Situationen werden in uns erneut negative Gefühle auslösen, und auch mit diesen sollte man sich bedürfnisorientiert auseinandersetzen. Ein Freund, der eine Aussprache verweigert, ist möglicherweise eine Freundschaft gar nicht wert. Lohnt es sich wirklich, in einem Job zu verharren, in dem man sich überfordert und nicht respektiert fühlt? Die wachsame Auseinandersetzung mit negativen Gefühlen führt fast zwangsläufig zu positiven Ergebnissen – vielleicht nicht gleich im ersten Anlauf. Am Ende wird es sich auf jeden Fall lohnen. Als Gefährten für den Weg empfiehlt die kalifornische Übergewichts-Therapeutin Laurel Mellin kraftspendende Gedanken, formuliert in einfachen Sätzen, mit denen man sich immer wieder vor Augen führen kann, wohin die Reise gehen soll:
- Es wird funktionieren.
- Ich werde in dieser Situation bestehen.
- So wie es jetzt ist, wird es nicht immer sein.
- Etwas Gutes wird aus dem, was ich jetzt erlebe, entstehen.
- Ich brauche keine Perfektion, um ein wunderbarer Mensch zu sein.
- Ich werde mein Bestes geben, und das ist genug.
Die Kraft der negativen Gefühle zu nutzen heißt, sie in positive Gefühle zu verwandeln. Es ist das Wunder der inneren Metamorphose. Wir fühlen uns geliebt statt einsam, stolz nach einer bestandenen Prüfung, statt vor der Angst zu kapitulieren. Wir sind zufrieden, dankbar, glücklich, ausgeruht, fühlen uns wohl und gesund nach einer überstandenen Krankheit. Wir verspüren neue Sicherheit, nachdem wir eine kritische Situation gemeistert haben. Wir zerstreuen Furcht und Zweifel, wenn wir den Mut aufbringen, uns ärztlich untersuchen zu lassen, und mitgeteilt bekommen, dass der Befund gutartig ist.
Bedürfnisorientiertes Handeln verändert nicht nur unser Leben, sondern auch unser Gehirn. Es verfestigt und verstärkt diese Strategien des Denkens und Handelns. Dabei geht es aber nicht nur um emotionales, prozedurales und deklaratives Lernen – also die Verbesserung unserer mentalen Fähigkeiten, mit Gefühlen umzugehen, Verhaltensstrategien zu entwickeln und unsere Bedürfnisse besser zu formulieren. Es kommt noch eine vierte Form dazu – nämlich die Art und Weise, wie der Brain-Pull optimal eingesetzt werden kann: das metabolische Lernen.