Metabolische Erziehung oder wie unsere
Kinder schlank bleiben
können
»Wir gehen alle den gleichen Weg, aber jeder geht ihn auf seine eigene Weise.« Dieses Zitat stammt aus dem Kinofilm Der seltsame Fall des Benjamin Button. Ohne eine Ahnung davon zu haben, was in seinem Körper vorgeht, stellt Benjamin die Gesetze des Lebens, des Alterns und des Sterbens auf den Kopf. Er kommt als greises Baby zur Welt, um immer jünger zu werden, während alle Menschen um ihn herum altern. Sein Körper passt nie zu seinen Wünschen, Sehnsüchten und Zielen. Und trotzdem meistert er sein Leben, weil er trotz aller Widrigkeiten Liebe, Zuneigung und Geborgenheit und die Kraft der Zuversicht erfährt – von Menschen, denen er völlig fremd ist. Was schieflief, als die Grundeinstellungen seines spiegelverkehrten Menschenlebens (und seines Stoffwechsels) festgelegt wurden, bleibt indes ein Mysterium.
Der Gedanke, dass jeder Mensch eine Art Grundausstattung erhält, wenn er auf die Welt kommt, beschäftigt auch die medizinische Forschung. Tatsächlich gibt es programmierte Eigenschaften, über die jeder Mensch verfügt – zum Beispiel die angeborene Angst vor dem Alleinsein, vor sozialer Isolation als Quelle tödlicher Gefahr. Überhaupt wäre unser Gehirn ohne bestimmte Basisprogramme nicht funktionsfähig. Das gilt auch für den Stoffwechsel. Der Brain-Pull, der von unserem Stresssystem ausgeführt wird, ist bei Geburt voreingestellt. Dieses Stresssystem entsteht mit einer vorprogrammierten Ruhelage, die aber durch Prägung und Lernprozesse verändert werden kann. Diese Lernprozesse, die bereits beim Fötus einsetzen, sind eng verknüpft mit dem sogenannten emotionalen Lernen. Denn es sind die gleichen Zellverbände in der Amygdala, die in ihrer Doppelfunktion das emotionale Gedächtnis kodieren und den Brain-Pull bestimmen. Zeile für Zeile und Kapitel für Kapitel schreibt jeder Mensch so an seiner Stressbiographie. Dieses Lebensbuch der Stresserfahrungen und Stressantworten enthält bei manchen Menschen schlimme, aufwühlende Kapitel, die die ganze Erzählung bestimmen – wie bei den traumatisierten Kindern des holländischen Hungerwinters. Bei anderen gleicht die Stressbiographie eher einem langen ruhigen Fluss. Wenn das emotionale Erleben von Stress und der Umgang mit Stressoren untrennbar mit der Energieversorgung des Gehirns verbunden sind, folgt daraus, dass jede Stresserfahrung, die das Gehirn macht, auf die Einstellung des Brain-Pulls einwirkt. Indem wir also lernen, mit Stress umzugehen, beeinflussen wir auch die Strategien der Energieversorgung unseres Gehirns. Dieser Vorgang ist bisher wenig beachtet oder untersucht worden. Er spielte in Fragen der Kindererziehung, Verhaltens- oder Ernährungsforschung kaum eine Rolle.
Will man dem eine Bezeichnung geben, trifft der Begriff »metabolisches Lernen« es am besten (Metabolismus = Stoffwechsel). Denn dieser Lernvorgang, der den Brain-Pull optimiert, findet in der Software unserer Stoffwechsel-Ampel statt. Wir dürfen voraussetzen, dass nahezu jeder Mensch mit einer »normalen« Grundeinstellung dieses Brain-Pull-Programms auf die Welt kommt (eine Ausnahme bilden zum Beispiel im Mutterleib traumatisierte Kinder). Im weiteren Verlauf passt sich das Betriebssystem unseres Stoffwechsels durch permanente Updates an neue Gegebenheiten an. Bleiben diese Updates aus oder – schlimmer noch – kommt es zu Fehlprogrammierungen, büßt das Betriebssystem an Leistungsfähigkeit ein. Der Brain-Pull ist aber weit mehr als ein einfaches Rechenprogramm, um den Stoffwechsel zu regulieren. Er ist so etwas wie eine Gabe, ein Talent, das trainiert und ausgebaut werden kann; vergleichbar mit Musikalität oder Sportlichkeit. Erst durch Training wird ein musikalischer Mensch zum Musiker oder ein sportlicher zum Athleten. Werden diese Gaben nicht gefördert, verkümmern sie. Beim metabolischen Lernen trainieren wir unseren Brain-Pull und damit die Fähigkeit, unser Gehirn möglichst optimal mit Energie zu versorgen, ohne dass es auf Hilfsstrategien wie Essen in Stresssituationen zurückgreifen muss. Und wie bei Musikalität oder Sportlichkeit ist das Training im Kindesalter durch nichts zu ersetzen.
Kehren wir für einen Moment noch einmal in die Epoche der Jäger und Sammler zurück, in die Welt von vor 100 000 Jahren. Wissen war schon damals ein elementarer Überlebensvorteil. Nur der Kenntnisreiche hatte Erfolg bei der Nahrungssuche: Welche Farbe, Form und Beschaffenheit haben genießbare Beeren? Was unterscheidet sie von ungenießbaren oder giftigen, die ihnen zum Verwechseln ähnlich aussehen? Auf welchem Boden wachsen nahrhafte Getreidekörner? In welchem Baumschatten fühlen sich Speisepilze wohl? Mangelnde Orts- oder Pflanzenkenntnisse verurteilten die Sippe zum Hungern, ein Fehler bei der Nahrungssuche konnte Krankheit oder Tod bedeuten. Überlebenschancen hatten nur Menschen, die die Pflanzen der Umgebung und ihre Nutzbarkeit sehr gut kannten. Dieses Wissen galt es möglichst zu erweitern und zu vertiefen. Unerwartete Erfolge bei der Nahrungssuche, wenn beispielsweise an einer bisher unbekannten Stelle wohlschmeckendes energiereiches Obst gefunden wurde, aktivierten das Belohnungssystem im Gehirn, was nicht nur mit Glücksgefühlen einhergeht, sondern auch dazu führt, dass alles, was zu diesem Erfolg beigetragen hat – wie Ort, Erkennungszeichen, Hinweise –, verstärkt gelernt und abgespeichert wurde: »Come back to this!« Bei einem Misserfolg, zum Beispiel dem Verzehr eines ungenießbaren Pilzes, trat das Gegenteil ein: Unwohlsein, Ekelgefühle, die sich mit dem Lernen von Hinweisen wie Farbe, Form, Geruch, Geschmack verknüpften. Das alles zusammen half, dieses Missgeschick in Zukunft zu vermeiden, durch Vorgänge, die man in den Neurowissenschaften als Vermeidungs- und Aversions-Lernen bezeichnet.
Das so entstandene Wissen der Menschen war kostbar und wurde weitergegeben – von Generation zu Generation. Später kamen weitere Kenntnisse dazu: über den Anbau von Feldfrüchten, das Ziehen von Obstbäumen, Veredlung von Getreidesorten, Viehzucht, Kenntnisse in der Zubereitung durch Kochen, Braten oder Backen, im Einsatz von Salzen, Kräutern und Gewürzen, um Lebensmittel schmackhafter, aber auch wertvoller zu machen. Dieser Wissensschatz wurde über Jahrtausende erworben, verfeinert, durch Experimente erweitert, bewahrt und gelehrt. Es wäre schön zu sagen: bis heute. Doch das würde nur eingeschränkt der Wahrheit entsprechen. Die Revolution der Nahrungsmittelindustrie hat vieles verändert. Lebensmittel werden angereichert mit chemischen Substanzen, um Konsistenz, Farbe und Geschmack zu verändern oder die Haltbarkeit zu verbessern. Je mehr wir uns auf diese Angebote einlassen, desto größer wird die Abhängigkeit. Zeitersparnis und Bequemlichkeit sind die wesentlichen Vorteile, die vorgefertigte Nahrungsprodukte versprechen. Der Preis ist die Abkehr von alten Ernährungs-Traditionen – sowohl bei der Zubereitung als auch bei der Esskultur. Und noch ist kaum abzusehen, wie schwer dieser Verlust wiegt.
Im Grunde sind wir, was die Nahrungssuche angeht, gar nicht weit entfernt vom Verhalten unserer steinzeitlichen Vorfahren. So wie sie damals durch Wald und Savanne streiften, durchkämmen wir heute Regalreihen in Supermärkten, immer auf der Suche nach Signalen. Geschickt hat sich die Lebensmittelindustrie unser Steinzeitnahrungssuchprogramm zunutze gemacht. Packungsgrößen, Farbcodes, Food-Fotografie, Duft- und Aromastoffe ersetzen die einstigen Reize, die von den Beeren und Früchten des Waldes ausgingen. Welche künstlichen Signale besonders unwiderstehlich auf uns wirken, lässt die Industrie mit großem Aufwand testen. Das noch junge Forschungsgebiet des Neuromarketing beschäftigt sich dabei mit der Frage, welche Gehirnareale durch verschiedene (Produkt-)Stimuli aktiviert werden und letztlich einen Kaufimpuls auslösen. So beschreibt der Neuromarketingforscher A. K. Pradeep in seinem Buch The Buying Brain (Das kaufende Gehirn), über welchen emotionalen Zugang man das Gehirn einer jungen Mutter (»mommy brain«) dazu bringen kann, dass diese ein Produkt kauft. Werbebotschaften sprechen zum Beispiel gezielt die sogenannten Spiegelneuronen an. Sie liegen vorwiegend im Frontalen Kortex und spielen in der Emotionserkennung von Gesichtern eine entscheidende Rolle. Die emotionale Verknüpfung mit dem beworbenen Produkt gelingt etwa dadurch, dass der kaufwilligen Mutter auf der Verpackung oder im Werbejingle eine Szene präsentiert wird, in der eine andere Mutter ihr Baby zärtlich küsst.
Wir haben uns längst daran gewöhnt, Nahrungsmittel auch als Produkte einer Vermarktungskette zu sehen. Warum sollen die Gesetze des freien Marktes ausgerechnet bei der Ware Lebensmittel nicht gelten? Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten ist daran auch nichts auszusetzen. Legt man allerdings den Gedanken einer metabolischen Erziehung zugrunde, bei der es unter anderem darum geht, dem Stoffwechsel einen Input aus möglichst unverfälschten Nahrungssignalen zu vermitteln, wird die Sache problematischer. In den vergangenen Jahrzehnten hat die Nahrungsmittelindustrie eine Art moderne Ernährungskette geschaffen. In diesem System, das Geschlossenheit anstrebt, verfolgen Firmen Geschmacksmonopole. Rezepturen werden zu brisanten Wirtschaftsgeheimnissen: Was macht einen Hamburger zu einem besonderen Geschmackserlebnis? Antwort: eine Kombination von Aromastoffen, eine Art geheime chemische Formel des Geschmackserfolgs. Der Kunde soll durch diese Stoffe an das Produkt gebunden werden und möglichst häufig möglichst viel davon verzehren. Im Grunde geht es den Unternehmen dabei um eine Ernährungsumstellung – hin zu ihren Produkten. Die Folge ist nicht nur eine zunehmende Monokultur des Essens. Viel schwerer wiegt, dass das Urteilsvermögen des Konsumenten für natürliche Lebensmittel nachlässt und bei Kindern nur noch rudimentär entwickelt wird. Und das hat Auswirkungen auf unseren Stoffwechsel, unsere Energieversorgung und den Brain-Pull. Künstliche Aromastoffe wirken wie Cues auf unseren Gehirnstoffwechsel.
Hinzu kommt: Jede Werbebotschaft für einen Snack, einen Softdrink oder eine bestimmte Burgersorte hat als Cue das Potential, direkt auf den Brain-Pull des Betrachters einzuwirken. Aus Sicht der Lebensmittelindustrie soll genau das auch passieren: Denn all diese Strategien dienen letztlich dazu, das Regulierungssystem unseres Brain-Pulls auszuhebeln, damit wir mehr essen. Wenn wir also über Aufklärung im Zusammenhang mit industriell gefertigtem Essen sprechen, geht es nicht nur um das Aufzeigen einer gezielten Steuerung von Kaufimpulsen durch die Ernährungsindustrie. Sondern um einen neuen Kritikpunkt: Alles, was wir essen, hat direkten Einfluss auf die Leistungsfähigkeit unseres Stoffwechsels. Es geht in der Diskussion über die gesundheitlichen Risiken von Fertignahrung also nicht mehr nur um zu viele Kalorien, problematische Kohlenhydrate oder ungesunde Fettsäuren. Es geht vor allem bei Kleinkindern und Kindern um die Grundeinstellung ihres jungen, noch naiven Brain-Pulls. Und das erhöht das Maß der Verantwortung deutlich: für die Eltern, die Gesellschaft, aber nicht zuletzt auch für die Hersteller dieser Nahrungsmittel.
Kompetenzverluste
Wie würde wohl ein Jäger und Sammler reagieren, würde man ihn per Zeitmaschine in einen Supermarkt des 21. Jahrhunderts katapultieren? Das Angebot würde ihn heillos überfordern – und es würde im Laufe der Zeit dazu führen, dass jahrtausendealtes Wissen ausgelöscht wird. Das belegen Studien mit Naturvölkern. Ob Inuit aus der Nordpolarregion, afrikanische Pygmäen, Yanomami-Indianer vom Amazonas oder australische Aborigines – der Kontakt mit der modernen Ernährungsindustrie kann alte Jagd-, Sammel- und Zubereitungstraditionen innerhalb weniger Generationen restlos auslöschen. Aber auch wir befinden uns in einem Prozess des Wissensverlustes. Die Küchenkünste und Kenntnisse über natürliche Lebensmittel, auf die unsere Großeltern oder Urgroßeltern noch ganz selbstverständlich zurückgreifen konnten, drohen vielen Familien im beginnenden 21. Jahrhundert verlorenzugehen. So beschreibt der schwedische Dichter Lars Gustafsson, geboren 1936, in einem kurzen Essay unter dem Titel »Herbstküche«, wie seine Frau und er im Wald gesammelte Pilze trocknen, selbstangebaute Tomaten verarbeiten, eigene Säfte herstellen und eine Artischockensuppe aus dem Garten zubereiten. Am Ende notiert er: »Gehören wir zur letzten oder sagen wir zur vorletzten Generation, die auf diese Weise alles genießen kann, was eine einigermaßen unzerstörte Natur bietet?« Was auf den ersten Blick wie ein etwas düsterer Abgesang klingen mag, ist durchaus Realität. Ich kenne in unserer Nachbarschaft kaum mehr jemanden, der noch selbst einen Nutzgarten bestellt, Obst und Gemüse einmacht oder eine Suppe aus selbstgepflücktem Sauerampfer oder Brennnesseln kocht. In unserem Bekanntenkreis finden sich nur wenige Familien, die täglich mit frischen Zutaten kochen, selbst gemeinsame Mahlzeiten sind eine Seltenheit. Und wenn man sich vor Augen führt, dass die Ernährungssituation in sozial benachteiligten Haushalten häufig sehr viel problematischer ist, ergibt sich ein erschreckendes Bild. Untersuchungen belegen, dass Kinder zwischen 5 und 7 Jahren aus Familien mit niedrigerem sozioökonomischen Status deutlich häufiger zu Fast Food, Chips und Süßigkeiten greifen als Kinder aus Familien mit höherem Einkommen und Bildungsgrad.
Für Gustafsson bedroht die zunehmende Monokultur des Essens auch den natürlichen Anbau von Nahrungsmitteln. Es ist tatsächlich kaum wahrscheinlich, dass Menschen, die sich überwiegend von Convenience-Produkten (engl. convenience = Bequemlichkeit) ernähren, künftig darauf bestehen werden, dass der Anbau und die Herstellung von Grundnahrungsmitteln möglichst naturnah geschehen. Und wenn wir davon ausgehen, dass die USA auch weiterhin unsere Ernährungsgewohnheiten beeinflussen, kommt da noch einiges auf uns zu. Dort werden immer mehr Wohnungen ohne Küche vermietet – eine Mikrowelle reicht. Auch so werden wir schrittweise an eine künstliche Ernährung gewöhnt.
Was bedeutet diese Entwicklung für die Kompetenz unseres Brain-Pulls und – noch wichtiger – für die Ernährungskenntnisse und -fähigkeiten unserer Kinder? Die Forschungen zur Selfish-Brain-Theorie haben eines deutlich gemacht: Die Reaktion und Einstellung unseres Brain-Pulls auf unsere Ernährungsgewohnheiten sind uns nicht angeboren, sie entwickeln sich über viele Jahre oder gar Jahrzehnte. Nur einige Grundkenntnisse sind angelegt, der Rest muss erlernt werden. Die Kontrollinstanzen des Brain-Pulls (maßgeblich die Amygdala) brauchen Erfahrung, um einen optimal an die vielfältigen Situationen angepassten Stoffwechsel zu entwickeln. Und auch die Geschmacksnerven und die Geschmacksverarbeitungszentren im Gehirn (ebenfalls vor allem die Amygdala) sind auf Lektionen des Schmeckens angewiesen, um Nahrung zu unterscheiden und zu erkennen. Wenn diese Erfahrungen fehlen, bleibt das nicht ohne Folgen.
Der britische Starkoch Jamie Oliver machte seine ersten Kocherfahrungen als Kind in der Küche des Pubs seiner Eltern. Er schnitt Gemüse, half bei der Zubereitung der Mahlzeiten und begann auch selbst zu kochen. Der Umgang mit Grundnahrungsmitteln wurde für ihn so früh zur Selbstverständlichkeit. Seine Erfahrungen versucht er heute im Rahmen von Aufklärungsprojekten an Kinder in Großbritannien und den USA weiterzugeben. Seine Bemühungen dokumentiert er in TV-Beiträgen. In einer dieser Sendungen besucht Oliver eine amerikanische Grundschule mit einem Korb voller Lebensmittel. Er zeigt den Kindern eine Aubergine, Tomaten, Kartoffeln und fragt sie, was das wohl sein könnte. Die Kinder wissen es nicht. Die ersten Nahrungsmittel, die sie erkennen, sind Pommes frites und Hamburger. Olivers Aufklärungskampagne erinnert ein wenig an Don Quichotte, den »Ritter von der traurigen Gestalt«. Jamie Oliver versucht Eltern das Kochen nahezubringen, die noch nie gekocht haben und sich und ihre Kinder ausschließlich mit Fertigprodukten ernähren. Er wünscht sich die Erfahrung einer Esskultur für Kinder, die in ihren Mensen nur Fingerfood serviert bekommen, weil in manchen US-Schulen das Benutzen von Besteck wegen der Verletzungsrisiken nicht erlaubt ist. Und er möchte Kindern, die in ihrem Leben noch nie eine Kartoffel oder Tomate gesehen oder gegessen haben, die Formen, Farben, den Geruch und den Geschmack von frischem Gemüse vermitteln. Jamie Olivers Engagement stößt immer wieder auf Vorbehalte und auf Ablehnung – bei Eltern, Schulbehörden oder Politikern wie dem britischen Gesundheitsminister, der Olivers Kochkampagnen in Schulen kürzlich für gescheitert erklärte. Man kann die Methoden des medienversierten Kochs kritisieren, aber im Kern hat Oliver das Problem erkannt. Was er einfordert, ist nichts anderes als eine metabolische Erziehung für unsere Kinder. Und ich würde sogar so weit gehen, das Recht auf Bildung auf metabolisches Wissen auszudehnen. So wie wir unsere Kinder ihre Muttersprache, Mathematik und Naturwissenschaften lehren, so müssen wir auch ihren Umgang mit Nahrung und ihren Brain-Pull schulen.
Der Stoffwechsel ist wie unser Immunsystem oder das Nervensystem auf Herausforderung, Verfeinerung und Entwicklung angewiesen. Indem wir als Kind Infekte durchmachen, bilden wir ein »Immun-Gedächtnis« aus und verbessern damit unsere Abwehrkräfte. Alles, was wir begreifen, erklettern, erkunden, trainiert unser Nervensystem. Niemand wird bestreiten, dass diese kindlichen Erfahrungen wichtig für die persönliche Entwicklung sind. Wenn das Gleiche aber auch für unseren Stoffwechsel gilt, ergibt sich daraus, dass jeder Mensch neben einer sozialen, intellektuellen, kreativen und motorischen Erziehung auch Grundkenntnisse im Umgang mit Nahrung vermittelt bekommen sollte. Und dabei geht es nicht nur um das bloße Erkennen und Benennen von Gemüsesorten, sondern um die Erweiterung unseres aufs Essen bezogenen »Stoffwechselwissens«, das sich in der Programmierung des Brain-Pulls spiegelt. Eine solche metabolische Erziehung führt dazu, dass sich Ernährungsbewusstsein, Gehirn- und Körperstoffwechsel möglichst optimal ausbilden können. Auf diese Weise könnte man die Gefahr, Kinder mit der Bürde von Übergewicht und den daraus resultierenden Erkrankungen zu belasten, reduzieren.
Eltern wollen das Beste für ihre Kinder. Das war schon immer so, und schon immer war es schwierig, die Frage zu beantworten, was das wohl sein könnte – »das Beste« oder wenigstens »das Richtige«? Die Situation, in der sich Eltern heute befinden, ist nicht einfach. Mancher mag sogar das Gefühl haben, einer Art babylonischem Stimmengewirr ausgesetzt zu sein: Aus allen Richtungen prasseln Ratschläge auf uns ein, jede Stimme hat eine andere Botschaft, und es fällt vielen Eltern immer schwerer zu erfassen, worin ihre eigentliche Aufgabe besteht. Das gilt für die verschiedensten Erziehungsbereiche genauso wie für die Frage, welche Form der Ernährung für unsere Kinder die richtige ist. Glauben wir der Food-Industrie, dann gibt es Süßigkeiten, in denen lebenswichtige Vitamine oder Mineralstoffe stecken, und Fertiggerichte, die eine vollwertige Mahlzeit ersetzen können. Folgen wir manchen Fachärzten und Medikamentenforschern, lassen sich Aufmerksamkeitsdefizite bei Kindern mit Psychopharmaka behandeln und beheben. Für die Befürworter von internetgestützter Kommunikation stellt der intensive Umgang mit dem PC eine entscheidende Vorbereitung auf die Zukunft dar – je früher, desto besser. Nicht wenige leistungsorientierte Eltern sind davon überzeugt, dass Kinder nicht zu viel gefördert werden können und dass Freizeit »ungenutzte« Zeit ist. Die Spielzeugindustrie versucht uns einzureden, dass multimediale Angebote für die Entwicklung von Vorschulkindern unverzichtbar sind. Es gibt ratlose Eltern, die sich von der Schule mehr Erziehung wünschen, und es gibt überforderte Lehrer, die vom Elternhaus mehr Unterstützung beim Lernen fordern. Es gibt Pädagogen, die das Lob der Disziplin preisen, und es gibt Eltern, die feststellen, dass der mediale Einfluss auf ihre Kinder die eigenen pädagogischen Möglichkeiten übersteigt. Manche Eltern kämpfen hartnäckig, andere haben bereits kapituliert oder wursteln sich so durch. Und jetzt erhebt auch noch dieses Buch eine neue, weitere Stimme im Wettstreit der Ideen und Angebote. Die Botschaft lautet: metabolische Erziehung. Der Begriff ist ebenso neu wie das Konzept, das sich als ein Leitfaden versteht, der weit mehr umfasst als nur die Fragen der richtigen Ernährung.
Wir wissen aus der Grundlagenforschung, dass die Insulinausschüttung konditionierbar und damit erlernbar ist. Noch gibt es aber beim Menschen kaum gesicherte Studien oder gar Programme, wie so eine Erziehung des Stoffwechsels aussehen könnte. Hier eröffnet sich also ein weites Forschungsgebiet für Stress- und Ernährungswissenschaftler, Psychologen und Pädagogen. Aufgrund der vorliegenden Kenntnisse lassen sich aber schon jetzt wichtige Fragen stellen, mit denen sich jeder auseinandersetzen kann, der an metabolischer Erziehung für Kinder und Jugendliche interessiert ist.
Im Wesentlichen geht es darum, im Einklang mit sich und den Signalen aus dem Körper zu leben (also auch zu essen) und dabei möglichst alles auszuschalten, was diesen Einklang stört. Eine weitere wichtige Aufgabe besteht darin, mittelfristig zu lernen, mit psychischen Stressoren umzugehen. Eine Herausforderung, die mit zunehmendem Alter – und somit einer langen Stressbiographie – schwieriger wird. Auch wenn im Folgenden kein ausgearbeitetes Programm zur metabolischen Erziehung dargelegt werden kann, können die aufgeworfenen Fragen uns dabei helfen, unser Bewusstsein für das Zusammenspiel von Nahrung (und ihren Botschaften), der Nahrungsaufnahme (Body-Pull) und dem Stresssystem (Brain-Pull) zu schärfen.
Welche Esserfahrungen sind für Kleinkinder wichtig?
Welche ersten Esserfahrungen macht mein Kind? Wie führe ich es nach der Stillzeit oder nach der Fläschchen-Phase an feste Nahrung heran? Wie viel Aufwand bin ich bereit bei der Zubereitung von Kleinkindernahrung zu betreiben? Setze ich auf frische Lebensmittel oder vertraue ich auf Babybrei aus dem Gläschen? Kaufe ich Bioprodukte oder greife ich auf konventionell angebaute Nahrung zurück? Das ist nur eine Reihe von Fragen, mit denen sich junge Eltern auseinandersetzen. Die Antworten fallen naturgemäß unterschiedlich aus. Fakt ist indes, dass viele Kleinkinder ihre ersten Ernährungserfahrungen mit Fertigprodukten machen – meist mit Milchbrei oder Früchtetee, Obst- oder Gemüsebrei. So lernt das frühkindliche Gehirn von Anfang an ein Gemisch beziehungsweise eine heterogene Kombination aus unterschiedlichsten Nahrungsbestandteilen kennen. Besonders problematisch wird es, wenn feste Nahrung oder Getränke für Kleinkinder mit Süßstoffen oder künstlichen Aromata versetzt sind. Wie bereits dargelegt, greifen derartige »Falschsignale« wie zum Beispiel nicht-kalorische Süßstoffe in die Programmierung des Brain-Pulls ein und führen so zu Gewichtszunahme.
Aber woraus sollten die ersten Lektionen des Schmeckens idealerweise bestehen? Alles Lernen sollte einfach beginnen, mit den Grundlagen. In Bezug auf Essen heißt das, mit Nahrungsmitteln aus der Natur, die auf einfache Weise zubereitet werden: etwa einer zerdrückten Banane, einem geriebenen Apfel oder pürierten Möhren. Diese Grundbausteine der Ernährung – am besten pur und unverfälscht serviert – geben dem Kleinkind die Chance, eindeutige Geschmackserfahrungen zu machen und abzuspeichern. So werden auch dem Stoffwechsel grundlegende Kenntnisse zur Verarbeitung von Nahrungsenergie vermittelt.
Es wäre natürlich wünschenswert, dass Kinder diese Erfahrungen zuallererst mit ihren Eltern machen. Aber auch Kindergärten und Schulen könnten hier künftig einen wichtigen Erziehungsauftrag wahrnehmen. Ein Beispiel: Zusammen mit der Universitätskinderklinik und der Fachhochschule Lübeck haben wir ein Kindergartenprojekt ins Leben gerufen: »Lektionen des Essens«. Ein Lernziel ist dabei die spielerische Erkundung von Nahrungsmitteln. Kleinkinder lernen beispielsweise ein Stück Tomate sinnlich zu erfahren und von einem Stück Apfel zu unterscheiden. Das führt zu einer Art Geschmacks-Memory, um die Fähigkeit zu schulen, Nahrung zu schmecken, zu erkennen, zuzuordnen. Für das Projekt arbeitet eine Ökotrophologin, die sich besonders in Kindergärten engagiert, die in Stadtteilen liegen, in denen viele Familien mit niedrigerem sozioökonomischen Status leben. Hier mangelt es erfahrungsgemäß zu Hause oft nicht nur an finanziellen Mitteln, sondern auch am Bewusstsein für eine Ernährung mit frischem Obst und Gemüse.
Wie können Familien besser essen?
Wie essen wir als Familie? Welche Rituale haben wir? Wie viele Mahlzeiten nehmen wir wirklich gemeinsam ein? Führen wir dabei Gespräche über den Tag oder lassen wir uns vom Fernsehen unterhalten? Wie viel Zeit widmen wir den gemeinsamen Mahlzeiten? Welche Regeln vermitteln wir unseren Kindern beim Essen? Essen wir überhaupt noch zusammen? Gemeinsame Mahlzeiten sind nicht nur eine schöne familiäre Form des Essens, sondern auch eine wichtige Lernzeit für Kinder. Und dabei geht es nicht nur um klassische Tischregeln, sondern um Sozialisation – also um die Fähigkeiten, besser und integrierter in einer Gemeinschaft zu leben. Wie soziales und metabolisches Lernen beim Essen aussehen kann, soll ein Beispiel aus Afrika deutlich machen. Eine Schulkantine im Niger: 13 Mädchen unterschiedlichen Alters sitzen um eine große Schüssel mit Hirsebrei, dem wichtigsten Grundnahrungsmittel des Landes. Behutsam nehmen die Mädchen mit den Fingerspitzen den Brei bröckchenweise aus der Schüssel und führen jeden Bissen langsam zum Mund. Was Westeuropäern wie eine seltsame, vielleicht sogar unzivilisierte Form der Nahrungsaufnahme anmutet, unterliegt in Wahrheit strengen Regeln. Gegessen wird ausschließlich mit der rechten Hand. Die Finger dürfen aus hygienischen Gründen nur die Nahrung berühren, aber niemals den Mund. Niemand drängelt, keiner würde den letzten Bissen ohne die Einwilligung der Gruppe für sich beanspruchen oder gar versuchen, sich durch schnelles Essen einen Vorteil zu verschaffen. Wenn eines der jüngeren Mädchen einen Fehler macht, wird es von den älteren korrigiert. Nicht einmal das direkte Anschauen des Gegenübers ist gestattet. Es könnte sonst der Eindruck von Missgunst oder Futterneid entstehen.
Hinter dieser Situation des gemeinsamen Essens und Teilens steht ein komplexer Lernvorgang, bei dem die Nahrungsaufnahme mit sozialen Verhaltensmustern verknüpft wird. Die Entscheidung, Nahrung mit einem oder mehreren Menschen zu teilen, wird in den höheren Hirnregionen getroffen. Dabei spielen der Präfrontale Kortex und die Amygdala erneut eine wesentliche Rolle. Wenn man selbst hungrig ist und auf Essen verzichtet, um jemand anderen an der Mahlzeit teilhaben zu lassen, erfordert dies die Aktivierung des Brain-Pulls, damit die Hirnversorgung gesichert bleibt. Die Brain-Pull-Reaktion wird unter diesen Umständen in erster Linie von der Amygdala koordiniert. Und hier wird auch das physiologische Reaktionsmuster – ich teile und werde durch soziales Feedback belohnt – in Form des metabolischen Gedächtnisses erlernt und verfestigt. Das kindliche Gehirn erwirbt so die Fähigkeit, seine Energieversorgung flexibel an gesellschaftliche Umstände anzupassen, statt nur den eigenen Futtervorteil zu sichern.
Gemeinsame Mahlzeiten und das Teilen von Nahrung stellen in allen Kulturen, nicht nur in afrikanischen, einen wichtigen Sozialisierungsprozess für Kinder dar. Auf kognitiver Ebene lernen sie dabei Benimmregeln, die es ihnen später ermöglichen werden, Mahlzeiten mit fremden Menschen einzunehmen, ohne sich dabei unsicher zu fühlen oder zu blamieren. Kinder lernen auf diese Weise außerdem Zurückhaltung – sich zu beherrschen, obwohl sie Hunger verspüren. Indem jeder darauf achtet, dass die anderen nicht zu kurz kommen, entsteht Respekt, das Einfühlungsvermögen wird geschult. Auch das Gerechtigkeitsempfinden und der Sinn für Gastfreundschaft werden gefördert. »Der Kontakt mit der Nahrung wird zum Balanceakt zwischen der Freude, an einer gemeinsamen Mahlzeit teilzunehmen, und dem Verbot, den sinnlichen Genuss deutlich zu zeigen«, schreibt die französische Philosophin Martine Laffon über die Sozialisierung durch Nahrungsaufnahme. Wer sich dies vor Augen führt, ahnt, wie viele Kinder in unserer Welt diese Form der Erziehung entbehren. Essen im Gehen, vor dem Fernseher oder am Computer – in Situationen wie diesen ist das Risiko, den Food-Cues der Werbung ausgesetzt zu sein, am größten. In den Straßen der Städte locken unzählige Anbieter mit Snacks, Eis, Burgern usw. und senden entsprechende Zeichen, die den Brain-Pull hemmen und bei wiederholter Exposition programmieren können. Und welche Auswirkungen derartige Cues genau auf den Gehirnstoffwechsel haben, wissen wir ja bereits. Wir sollten uns also unbedingt bemühen, Essen wieder als Gemeinschaftserlebnis zu inszenieren.
Gibt es falschen Trost?
Niederlagen, Kränkungen oder körperlicher Schmerz treffen Kinder mit größerer Wucht als Erwachsene. Es gibt keine Regeln darüber, wie viel Schmerz oder Trauer für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes richtig sind. Sicher ist: Der Impuls, einem weinenden Kind Trost anzubieten, ist auf jeden Fall richtig. Aber wie trösten wir unsere Kinder, und womit? Mit Zärtlichkeit, mit Versprechungen oder mit Geschenken? Ist ein Riegel Schokolade ein angemessener Trostspender? Extra-Zucker führt im Gehirn sofort zu einer Deckung des erhöhten zerebralen Energiebedarfs in dieser Belastungssituation. Bietet die tröstende Mutter dem Kind darüber hinaus noch mehr Zucker an – Extra-Extra-Zucker sozusagen – und isst es das Mehrangebot auch tatsächlich, lernt es möglicherweise, die auf sein Stresssystem einwirkende Last mit Hilfe der neuen Nahrungsquelle zu erleichtern. Trost durch Nahrung aber verführt zum Comfort Eating mit all seinen Folgen. Mit dieser Strategie wird zwar der Brain-Pull entlastet (und damit verbessert sich auch die Stimmung), andererseits kann diese Form der kompensatorischen Nahrungsaufnahme in der Kindheit für manche Menschen den Beginn einer lebenslangen Leidensgeschichte aus Frust, Hunger, Übergewicht, noch mehr Frust und noch mehr Hunger markieren.
Neigen wir aber vielleicht auch deshalb dazu, das süße Trostpflaster zu verabreichen, weil es für uns als tröstende Eltern so schwer ist, den Schmerz des Kindes auszuhalten? Schneller Trost durch eine Süßigkeit lindert nicht nur den kindlichen Schmerz, sondern schont auch unsere Nerven. Dabei können schmerzhafte Situationen eine gute Gelegenheit sein, den Bund zwischen Eltern und Kind zu erneuern und zu stärken. Indem wir unser Kind festhalten, ihm das Gefühl von Nähe, Liebe und Fürsorge vermitteln, stärken wir die emotionale Bindung und das kindliche Vertrauen in uns Erwachsene. Gleichzeitig vermittelt der Trost durch freundliche Worte und zärtliche Gesten noch eine andere wichtige Lektion: Das kindliche Gehirn lernt so, Schmerz und Kummer aus sich heraus zu überwinden. Eltern, die ihr Kind liebevoll trösten, machen es mit der Fähigkeit vertraut, wie sich Trost anfühlt. Und das ist der erste Schritt auf dem Weg, sich später auch selbst Trost spenden zu können – ohne Essen.
Kann Sport den Brain-Pull stark machen?
Ein eindeutiges Ja. Bewegung führt nicht nur dazu, dass vermehrt Kalorien verbrannt werden. Die werden nach dem Sport einfach wieder ersetzt (Body-Pull-Prinzip). Körperliche Anstrengung stimuliert auch den Brain-Pull – die Fähigkeit des Gehirns, selbst bei energiekonsumierender Muskelarbeit seine Energie verstärkt aus den Körperdepots zu ziehen, wird gestärkt. Deshalb kann man mit Sport abnehmen. Das funktioniert besonders gut bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Sollten Eltern den Kampf gegen die Medien führen?
»Eltern müssen Rebellen sein.« Dieses Vermächtnis gab der 2003 verstorbene amerikanische Soziologe Neil Postman allen Erziehungsberechtigten mit auf den Weg. Postman war seit den 1970er Jahren als vehementer Medienkritiker aufgetreten. Sein Buch Wir amüsieren uns zu Tode entzündete die erste weltweit geführte Debatte über die schädlichen Einflüsse des Fernsehens auf die Erziehung. Postmans provokante Kernthese lautet: »Fernsehen wurde nicht für Idioten erfunden – es erschafft sie.« Dreißig Jahre und viele neurowissenschaftliche und soziologische Befunde später verdichten sich die Erkenntnisse, dass Postmans Medienkritik im Kern berechtigt ist.
Doch was genau meinte er, als er Eltern empfahl, rebellisch zu sein? Postman ahnte, dass moderne Erziehung immer mehr einem täglichen Kampf der Eltern um Einfluss auf ihr Kind gleichen würde. Denn der elterliche Einfluss ist immer stärkerer Konkurrenz ausgesetzt. Eltern konkurrieren mit Fernsehen, Internet, Computerspielen, Jugendkultur, Werbung und den Peer Groups – den gleichaltrigen, ebenfalls durch die Medien geprägten Freunden. Neil Postman riet, diesen Kampf dennoch zu führen und das Kind nicht vollständig medialen Einflüssen zu überlassen. Wie kann man sich das konkret vorstellen? Kinder komplett von Medien fernzuhalten erscheint weder realistisch noch wünschenswert. Häufig wird in diesem Zusammenhang das Erlernen von Medienkompetenz gefordert. Doch was heißt das? Im Sinne einer metabolischen Erziehung treten folgende Fragen auf: Wie lässt sich der Einfluss von Werbung begrenzen? In Großbritannien haben Medienwissenschaftler untersucht, welchen Anteil Nahrungsmittelspots in Werbeblöcken haben, die von Kindern gesehen werden. Es sind 13 Prozent der Werbezeit. Jeder Werbespot für eine Süßigkeit oder einen Snack wirkt als Cue auf das kindliche Gehirn. Es kann den Brain-Pull dämpfen und zu erhöhter Nahrungsaufnahme führen – Spot für Spot.
Wie viel Bildschirmzeit verbringt mein Kind? Vor allem stressige Inhalte, wie zum Beispiel Gewalt und Horror, können als Cues zur verstärkten Nahrungsaufnahme wirken. Selbst für Erwachsene ist es schwierig, einen Horrorfilm ohne Extra-Kalorienzufuhr durchzuhalten. Schlimmer aber ist: Begegnet das Gehirn Stressoren, die auf der Spielkonsole erscheinen, und kommt es zur Anpassung (Abschwächung) des Stresssystems, kann dies auf Dauer zur Entkopplung von Stresssystem und motorischem System führen. Die Folge ist dann zunehmende Immobilität. Man bewegt sich immer weniger, und jede Bewegung wird anstrengender. Die auffällige Unsportlichkeit vieler Jugendlicher ist vermutlich teilweise auf dieses Phänomen zurückzuführen.
Brauchen unsere Kinder neue Schulfächer?
Ernährungskunde steht immer öfter auf Lehrplänen in deutschen Schulen. Das ist ein guter Anfang. »Probleme lösen« könnte ein anderes Schulfach heißen, das Kindern Strategien vermittelt, mentale oder psychische Überforderung zu bewältigen und Konflikte mit Gleichaltrigen oder Eltern zu lösen. Laurel Mellin hat in den USA mit ihrem Therapiekonzept vorgemacht, wie zentral die Frage der Konfliktbewältigung ist – für den Umgang mit Stress, für die Abkehr von exzessivem Verhalten und für die Körpergesundheit. Die Schule wäre der geeignete Rahmen, um Kindern und Jugendlichen nicht nur Bildung zu vermitteln, sondern auch die Fähigkeit, eigene Bedürfnisse zu erkennen und artikulieren – wie man soziale Netze aufbaut, mit psychosozialem Stress umgeht, auf andere Menschen zugeht. Das wäre ein neuer Weg, um innere Konflikte zu entschärfen, Frustrationen abzubauen und Kinder so stark zu machen, dass sie weniger anfällig für Comfort Eating sind.
Welche Rolle spielen Alkohol und Drogen?
Was motiviert Kinder und Jugendliche, Alkohol und Drogen zu probieren? Warum werden einige Kinder süchtig und andere nicht? Oft führt Neugierde oder Gruppendruck dazu, dass ein Kind Alkohol trinkt oder erste Drogenerfahrungen macht. In den meisten Fällen kommt es glücklicherweise nicht zu dramatischen Folgen wie Alkoholkoma oder Sucht. Aber jede Drogeneinnahme, jeder Schluck Alkohol hat direkte Auswirkungen auf das Gehirn. Welche gewichtige Rolle Drogen bei der Entwicklung der Stoffwechselkontrolle spielen können, wurde bereits dargelegt. Das gilt im Prinzip für alle Drogen – von Kaffee über Coffein-Energy-Drinks, Nikotin und Alkohol bis hin zu den illegalen Rauschdrogen. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie sind Stimulanzien oder Hemmer, die direkt auf den Hirnstoffwechsel und den Brain-Pull einwirken. Bei illegalen Drogen wie Cannabis, Ecstasy oder gar Heroin sind Eltern und Gesellschaft hochalarmiert – und das ist auch richtig so. Gleichzeitig neigen wir dazu, andere Drogen zu verharmlosen, und geben oft selbst fragwürdige Vorbilder ab. Wie stehen wir zu unserem eigenen Alkoholkonsum in Gegenwart von Kindern und Jugendlichen? Nehmen wir aufputschende Getränke zu uns, wenn wir müde sind? Ist uns bewusst, dass Kaffee oder Energy-Drinks direkt in die Schlafarchitektur des Gehirns eingreifen? Wie glaubwürdig ist der Vater oder die Mutter, die das Rauchen des Kindes kritisiert und sich selbst eine Zigarette ansteckt? Vor allem: In welchen Situationen greifen wir eigentlich selbst zu Drogen wie Alkohol oder Nikotin? Oft geht es dabei um Stress und Überforderung. Es mag sein, dass ein Jugendlicher aus Neugier Drogen ausprobiert, aber hinter einer Drogensucht steckt selten etwas Zufälliges, sondern oftmals ein ernstes Problem: die Unfähigkeit, Konflikte zu lösen; Stressgefühle, die als so überwältigend empfunden werden, dass illegale Drogen oder Alkohol als wirksame Mittel erscheinen, das Stresssystem zu beruhigen.
Was tun wir als Eltern oder Lehrer also, um Kinder vor Suchtverhalten zu bewahren? Nehmen wir ihre Sorgen und Nöte ernst oder opfern wir womöglich ihr inneres Gleichgewicht auf dem Altar des Leistungsprinzips? Vermitteln wir ihnen die Fähigkeiten, Konflikte zu lösen, oder sind wir vielleicht selbst konfliktscheu und somit kein hilfreiches Vorbild? Fördern wir ihre Fähigkeit, in sich hineinzuhören und ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen? Oder lassen wir zu, dass ausgefeilte Verkaufsstrategien Zugang zu ihren Spiegelneuronen im Frontalen Kortex erhalten und so künstlich Emotionen hervorrufen, die einen Bedarf nur vortäuschen? Zeigen wir unseren Kindern, dass negative Gefühle ein Motor sind, um etwas in uns und um uns herum zu verändern, oder machen wir ihnen vor, wie man diese Gefühle durch Genussmittel, Medikamente oder andere Hilfsmittel betäuben kann und damit jeden Antrieb zur Wandlung zum Erliegen bringt? Sind wir bereit, nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch die Grenzen eines Kindes zu erkennen und zu respektieren? Reagieren wir auf Niederlagen eines Kindes mit Ungeduld oder indem wir ihm Mut machen? Gestalten wir unser Familienleben oder den Schulalltag so, dass kein Zustand von psychosozialem Dauerstress entsteht?
Wie viele Ruhepausen und Schlaf braucht ein Kind?
Wie verbringen wir unsere Abende als Familie? Wie gehen wir selbst mit unserem Schlafbedürfnis um? Wie klingt der Tag meines Kindes aus – mit Fernsehzeit oder mit Vorlesen vor dem Schlafengehen? Wie sieht der Terminkalender meines Kindes aus? Wie viel seiner Freizeit darf es selbst bestimmen? Gibt es Ruhepausen im Tagesablauf meines Kindes? Wie oft greife ich in das ein, was mein Kind tut? Wie viel Selbstverantwortung traue ich meinem Kind zu?
Das sind viele Fragen, und es wäre leicht, weitere hinzuzufügen. Es geht dabei um mehrere Punkte, die eng zusammenhängen: das Ruhebedürfnis von Kindern, die Selbstbestimmung. Es geht um Zutrauen und Verantwortung – und darum, was wir unseren Kindern vorleben. Denn Kinder folgen Vorbildern und Mustern. Als Eltern erleben wir oft, dass unsere Kinder nicht das machen, was wir ihnen sagen und was wir von ihnen verlangen. Aber wir können sicher sein, dass wir sie mit dem beeinflussen, was wir tun und was wir in ihnen sehen. Dafür haben Kinder sehr empfindliche Antennen. Neigen wir möglicherweise dazu, das Leben unserer Kinder immer stärker zu kontrollieren, zu reglementieren und zu verplanen – anstatt ihnen Selbstverantwortung zuwachsen zu lassen?
All diese Punkte führen zu weiteren Fragen – Fragen, die in der Erziehungs- und Bildungspolitik seit Jahren diskutiert werden: Wie bereiten wir unsere Kinder auf ihr Leben als Erwachsene vor? Wie viel verlangen wir ihnen ab und was trauen wir ihnen wirklich zu? Noch gibt es viele Kinder mit »normaler« Kindheit. Kinder, die mit den üblichen Irrungen und Wirrungen ihren Weg durch Pubertät und Erwachsenwerden erfolgreich gehen. Aber es mehren sich die Zeichen, dass immer öfter etwas schiefläuft. Da gibt es die einen, um die sich niemand richtig kümmert. Die Kinder, die vor dem Fernseher und der Spielkonsole vereinsamen. Und da gibt es die anderen, die übereffizient gefördert werden: Sportvereine, Nachhilfe, Schachclub, Ballett, Musikstunde und kaum Zeit zur freien Verfügung. Wie viel normale Kindheit bleibt da eigentlich noch übrig? Für beide Extreme gilt: Wir verlieren die Grundbedürfnisse unserer Kinder aus den Augen – etwa das Bedürfnis nach Ruhe.
In einer Ruhephase – etwa nach der Schule – kann das Gehirn vom Belastungs- in einen Ruhemodus wechseln. Kinder, bei denen Anstrengungs- und Ruhephase eine ausgeglichene Bilanz ausweisen, wirken auch nach außen hin überwiegend in sich ruhend, sogar während der Pubertät.
Dass auch der Brain-Pull dieser Kinder kompetent arbeitet, lässt sich mit klinischem Blick und den Erfahrungen jahrelanger Stressforschung (an Gesunden und Menschen mit den verschiedensten physischen und psychischen Erkrankungen) mit hoher Wahrscheinlichkeit erkennen: Der Brain-Pull dieser Kinder ist hochdynamisch-flexibel, er springt prompt und stark an, zum Beispiel bei hohen Lernanforderungen, aber auch in unterschiedlichen akuten Belastungssituationen wie einem sozialen Konflikt. Diese Kinder haben sowohl durch Erfolge als auch durch Misserfolge gelernt, die Stärke ihrer Stressreaktion differenziert und ökonomisch an die jeweilige Belastungssituation anzupassen. Sind Gefahr oder Konflikt gemeistert, fährt ihr Brain-Pull in dieser Erholungsphase ebenso schnell wieder zurück in seine Ruhelage. Nachts schlafen sie dementsprechend tief und ruhig.
Ohne diese Ruhezeiten aber bleibt der Belastungsmodus dauerhaft aktiv – Tag und Nacht. Die Folgen sind schlechte Laune, depressive Verstimmungen, Schlaflosigkeit. Und wenn die Ruhe fehlt, kann das dazu führen, dass das Kind sich Alternativen sucht, um das Stresssystem anderweitig ruhigzustellen: Comfort Eating oder Alkoholkonsum. Beides wirkt kurzfristig stimmungsaufhellend und entspannend.
Natürlich kann man Ruhepausen schlecht verordnen und schon gar nicht erzwingen. Gerade bei Kindern ergeben sich solche Unterbrechungen meist auch nicht von selbst. Ruhepausen kann man aber gestalten. Eine angemessene Auszeit für ein Kind, das einen anstrengenden Tag hatte und erschöpft nach Hause kommt oder gerade längere Zeit konzentriert an Hausaufgaben gearbeitet hat, ist beispielsweise eine gemeinsame Mahlzeit, bei der das Kind Erlebtes erzählen und loswerden kann. Ruhe ist jemand, der zuhört. Ruhe kann ein gemeinsamer Spaziergang sein, bei dem man sich austauscht. Aufmerksamkeit, Interesse und Zuwendung sind die besten Beruhigungsmittel für Kinder.
Fragt man Eltern, welche Zeit des Tages sie am schwierigsten finden, antworten viele: die Zubettgehzeit. Kindern die Notwendigkeit des Schlafens zu verdeutlichen ist ein ständiger Kampf, den die meisten Eltern spätestens in der Pubertät ihrer Kinder aufgeben oder verlieren. Dazu trägt die permanente Reizüberflutung, der die Kinder durch erhöhten Medienkonsum ausgesetzt sind, entscheidend bei. Je mehr Zeit unsere Kinder vor den verschiedenen Bildschirmen verbringen, desto später und weniger werden sie schlafen. Wir haben bereits erfahren, dass chronischer Stress und psychische Überlastungen bei der Gruppe von Menschen, die ihre Stressantwort an die Überlastung angepasst hat, eine Brain-Pull-Schwäche verursacht haben. Und das typische Symptom einer Brain-Pull-Schwäche ist die Schlafstörung, denn Wachsein ist unabdingbar, um den hohen Gehirnbedarf über den Body-Pull sicherzustellen. Übrigens schläft auch die Gruppe Menschen schlecht, die ihre Stressantwort nicht an die chronische Überlastung angepasst hat, denn erhöhtes Kortisol stört ebenso die Architektur des Schlafes.
Doch was bewirken Schlafdefizite bei Kindern? Für alle Eltern, die Argumente dafür brauchen, um den Schlaf-Wach-Rhythmus ihrer Kinder besser zu strukturieren: Längenwachstum, Hirnreifung und Gedächtnisbildung finden im Schlaf statt, und zwar überwiegend im Schlaf. Das Entscheidende aber ist: Der Schlaf setzt das Stresssystem in seine Ruhelage zurück. Wie das Wimperntierchen im Ozean findet das Kind im Tiefschlaf seinen absoluten Wohlfühlbereich. Hier liegt der behütete Garten der Erinnerung. Was wir heute in der modernen Hirnforschung über Schlaf, Gedächtnis, Hippocampus und Amygdala neu zu entdecken glauben, hat Marcel Proust, ein genauer Beobachter der menschlichen Seele, bereits vor hundert Jahren treffend in Worte gefasst: »In den Tiefen des Gartens liegt das Kloster mit den offenen Fenstern, in denen die Lektionen hergesagt werden, die es vor dem Einschlafen gelernt hat und erst beim Erwachen auswendig kann.«