Übergewicht – alles nur
eine Frage des Willens?

Der Blick auf die Waage bestätigt die schlimmsten Befürchtungen: zwei Kilo zugenommen, innerhalb weniger Tage. Wieder einmal waren die wochenlangen Diätbemühungen vergebens. Dabei hatte alles so hoffnungsvoll begonnen: Die Pfunde schmolzen dahin wie Butter an einem schönen Sommertag. Doch der Stolz über die ersten geschwundenen Pfunde verflog rasch. Der Verzicht, das Mit-sich-Ringen um jede Mahlzeit, die schlechte Laune, die quälenden Heißhungerattacken und die ständigen Gedanken ans Essen nagen am Felsen der Entschlusskraft – bis zu jenem entscheidenden Moment der Schwäche, in dem man alle Vorsätze über Bord wirft. Plötzlich scheint alles egal, Hauptsache, wieder einmal richtig essen …

Jeder, der schon einmal eine Diät gemacht hat, kennt solche Situationen. Dabei suggerieren uns Ratgeber und Zeitschriften, dass die Sache mit dem Abnehmen doch ganz einfach sei. Gewicht verlieren ist schließlich nur eine Willensfrage, nicht wahr? Oder warum fühlen wir uns schuldig, wenn wir trotz aller Bemühungen nicht abnehmen oder schon in kürzester Zeit wieder an Gewicht zulegen? Schlanksein ist längst zu einer zentralen Wertenorm in unserer Gesellschaft geworden, und wer ihr nicht entspricht, hat es schwerer, anerkannt zu werden. Schlank zu sein suggeriert Aktivität, Lebensfreude und Leistungsfähigkeit. Übergewicht hingegen scheint der Inbegriff mangelnder Disziplin zu sein, gepaart mit der Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen. Wer das noch nicht einmal für den eigenen Körper schafft, wie kann so ein Mensch dann zu einem vollwertigen Leistungsträger der Gesellschaft werden, die uns doch immer mehr Dynamik und Flexibilität abverlangt?

Die Sichtweise, dass das Streben nach Lustgewinn ein Ausdruck mangelnder Willenskraft sei, hat im abendländisch-christlichen Kulturkreis eine lange Tradition. Im Mittelalter wurde unmäßiges Essen sogar als Todsünde angesehen. So beschreibt der italienische Dichter Dante in seiner Göttlichen Komödie, wie Schlemmer und Fresssäcke in der Hölle bestraft werden: »Tief im Schlamm und Kot liegen sie, der Regen klatscht unerbittlich auf sie nieder … wegen der Gaumensünde, der verderblichen.« Bis heute werden übergewichtige Menschen stigmatisiert. Nicht immer geschieht dies aus Bosheit. Im Gegenteil: Vieles, was sich übergewichtige Menschen anhören müssen – von den Medien, Mitmenschen oder Experten –, wird mit besten Absichten geäußert. Es geht ihnen um die Vorbeugung von gesundheitlichen Problemen, sie warnen vor einem Anstieg von Diabetes und anderen Erkrankungen, die nicht nur für den Einzelnen, sondern für das ganze Gesundheitssystem gravierende Folgen haben.

Tatsächlich aber offenbaren all die gutgemeinten Abnehmempfehlungen eine große Ratlosigkeit. Denn die Medizin blieb bis heute konkrete Antworten auf die Frage nach den Ursachen von Übergewicht schuldig. Betrachtet man die Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), so scheinen sie zu bestätigen, dass es uns bis heute an den richtigen Angriffspunkten zur Vorbeugung und Behandlung mangelt. Es sind die Zahlen einer stillen Gesundheitskatastrophe: Weltweit sind 1,6 Milliarden Erwachsene übergewichtig. 400 Millionen von ihnen haben Adipositas, also so starkes Übergewicht, dass es als Krankheitsbild eingestuft wird. 42 Millionen Kinder unter fünf Jahren wiegen ebenfalls deutlich zu viel. Im Report der WHO wird Übergewicht seit Jahren als globale Epidemie aufgeführt – und als das kostspieligste Gesundheitsproblem der kommenden Jahrzehnte. In einigen Bundesstaaten der USA hat sich die Zahl der an Adipositas erkrankten Erwachsenen seit 1980 mehr als verdreifacht; dort wurde inzwischen sogar der Begriff der Superadipositas (ab einem Body-Mass-Index von über 35) eingeführt. Ähnlich dramatisch ist die Situation in Großbritannien, Osteuropa oder Ozeanien. Und in der EU liegt Deutschland mit 75,4 Prozent übergewichtigen Männern und 58,9 Prozent übergewichtigen Frauen auf Platz eins. Insbesondere für deutsche Kinder und Jugendliche sind die Zahlen beunruhigend gestiegen, bereits heute sind 14,8 Prozent oder 1,7 Millionen übergewichtig. Was müssen wir ändern, damit unsere Kinder schlank bleiben und die Epidemie endlich zum Stillstand kommt?

Auch das chinesische Gesundheitswesen sieht sich mit einer zunehmenden Übergewichtsproblematik konfrontiert – zumindest in der Bevölkerung der schnell wachsenden Metropolen. Hier hinterlässt der rasante wirtschaftliche Aufstieg Spuren im Stoffwechsel der Menschen, und das mit einer Geschwindigkeit, die alarmierend ist: 53,9 Prozent der Einwohner von Peking und 34 Prozent der Einwohner von Shanghai wiegen zu viel. Und was ist mit dem Kontinent, der im allgemeinen Bewusstsein mit Hunger und Unterernährung in Zusammenhang gebracht wird? So unglaublich es klingen mag, selbst in Afrika breitet sich Übergewicht aus. Doch warum gelingt es nicht, dieser Epidemie Einhalt zu gebieten, obwohl in vielen Ländern enormer finanzieller und therapeutischer Aufwand betrieben wird? Gegessen hat die Menschheit immer – warum wurde Essen plötzlich zum Problem? Und warum kann niemand dieses Problem lösen? Woran liegt es also, dass die Menschen immer dicker werden?

»Der Grund für Übergewicht liegt im Energiestoffwechsel des Körpers«, davon war der Physiologe Jean Mayer überzeugt. Er hatte in den 1950er Jahren als Erster den Versuch unternommen, die Stigmatisierung von übergewichtigen Menschen durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu beenden. Er wollte mit einem physiologischen Modell belegen, dass die Nahrungsaufnahme nicht vom Willen abhängt, sondern vom Energielevel in unserem Körper reguliert wird. Ausgehend von dieser Grundidee nahm Mayer den medizinischen und gesundheitspolitischen Kampf gegen das Phänomen des Übergewichts in den USA auf.

Der gebürtige Franzose, ein Ernährungsexperte mit ausgeprägtem politischem Bewusstsein und großem Einfluss, wurde zu einem der maßgeblichen Vordenker im Kampf gegen die Ausbreitung von Übergewicht und Typ-2-Diabetes. Mayer, der aus einer traditionsreichen Familie von Unternehmern und Ärzten stammte, wurde am 19. Februar 1920 in Paris geboren. An der Sorbonne studiert er zunächst Philosophie, Mathematik und Biologie, bis ihn der Zweite Weltkrieg zur vorläufigen Aufgabe seiner Universitätslaufbahn zwingt. Nach dem Krieg entschließt sich Mayer, in die USA auszuwandern, wo er wissenschaftlich in die Fußstapfen seines Vaters, eines renommierten Physiologen, tritt. In Yale promoviert er in Physiologischer Chemie, weitere Stationen seiner wissenschaftlichen Karriere werden die Washington Medical School und Harvard. Mayer ist der neue strahlende Stern am Wissenschaftshimmel – zumal er sich mit einem Bereich beschäftigt, der medizinisch und gesundheitspolitisch an Bedeutung gewinnt. Sein Interesse gilt der Ernährungsforschung, die Entstehung und Behandlung von Übergewicht und Diabetes macht er zu seinem Spezialgebiet. Nach Jahrzehnten, die geprägt waren von Wirtschaftskrisen, Mangel, Krieg und Rationierungen, bricht mit den 1950er Jahren eine Epoche des Wohlstands an. Die Ernährungsgewohnheiten der Amerikaner verändern sich dramatisch. Aus dem American Diner entstehen Fastfood-Ketten. Schnelles Essen verdrängt zunehmend die häusliche Kultur des Kochens und des gemeinsamen Miteinanders bei Tisch. Die Folgen dieses Wandels sind aus damaliger medizinischer Sicht eklatant: Übergewicht und Diabetes breiten sich in der Bevölkerung aus. Für die Behandlung von Stoffwechselerkrankungen waren Ärzte damals nur unzureichend gerüstet. Insbesondere der insulinabhängige jugendliche Diabetes (Typ 1) stellte die Mediziner vor Probleme. Der Blutzucker konnte nur langwierig in Monatsabständen vom Hausarzt gemessen werden, während es heutzutage Teststreifen gibt, mit denen jeder Diabetespatient selbst mehrfach am Tag seinen Blutzucker rasch bestimmen und so seine Nahrungsaufnahme und seine Insulindosis anpassen kann. Auch die medizinischen Möglichkeiten, das Risiko von Folgeerkrankungen zu senken, waren vor fünfzig Jahren wesentlich begrenzter als heute. Und die Ursachen, die überhaupt erst zur Eskalation des Stoffwechsels und damit zu Übergewicht und zum nicht-insulinabhängigen Alters-Diabetes (Typ 2) führen, lagen im Dunkeln.

Mayer wollte dies ändern. Er setzte sich das Ziel, die Gesetze der Energieversorgung des Körpers zu finden und zu erklären. Dabei legte er zunächst einen Grundgedanken fest: Der Energiefüllstand im Körper bestimmt die Nahrungsaufnahme. Mit anderen Worten: Wenn zu wenig Energie in unserem Körper vorhanden ist, werden wir hungrig und essen; wenn das Energielevel im Körper wieder ansteigt, sind wir satt und hören auf zu essen. Dieser Prämisse folgend, müsste es also ein Signal geben, das zunächst anzeigt, dass der Körper Energie benötigt, und diese dann gezielt anfordert.

Auf der Suche nach einem solchen Botenstoff, der den Energiefüllstand im Körper signalisiert, hatte sich Mayer dem Naheliegendsten zugewandt: dem Blut. Glukose war als wichtigste Energiewährung des Körpers bereits bekannt, und Blutzuckerwerte spielten schon bei der Behandlung der größten bekannten menschlichen Energiekrise, des Typ-1-Diabetes, eine entscheidende Rolle. Genau dort knüpft Mayers »Glukostatische Theorie« an. Sie besagt, dass das Gleichgewicht des Blutzuckers der entscheidende Faktor bei der Energieversorgung des Körpers ist. Der Blutzucker, der durch die Nahrungsaufnahme reguliert wird, bestimmt die Energieversorgung aller Organsysteme einschließlich des Gehirns.

Jean Mayer veröffentlichte seine Theorie im Jahr 1953. Noch im selben Jahr kam eine Variante von Mayers Grundgedanken auf: die »Lipostatische Theorie« von Gordon C. Kennedy. Auch er ging davon aus, dass der Energiehaushalt durch einen Botenstoff aus dem Körper reguliert würde. Kennedy vermutete diesen Stoff aber nicht im Blut, sondern im Fettgewebe. Nach seiner Theorie setzen Fettzellen je nach Füllstand Botenstoffe frei, die dafür sorgen, dass mehr oder weniger Nahrung zugeführt wird. Kennedy suchte nach einer Art Sättigungshormon, ohne es allerdings finden zu können. Andere Wissenschaftler folgten ähnlichen Ansätzen und forschten im Magen-Darm-Trakt nach einem eindeutigen Hinweis zur Energieregulierung. Einen entscheidenden Durchbruch bei der Frage nach der Entstehung von Übergewicht erzielte mit all diesen Forschungsansätzen bis heute niemand.

Am Ende setzte sich Mayers Grundgedanke in der medizinischen Behandlung von Übergewicht und Diabetes durch. Jean Mayer investierte viel Zeit in die Erforschung seiner Glukostatischen Theorie. Er konnte durch Studien und Publikationen ihren Geltungsbereich erweitern, allerdings gelang ihm dies nicht lückenlos. Trotz seiner jahrzehntelangen Bemühungen blieben viele Fragen offen, darunter eine ganz entscheidende: Warum isst ein Patient mit Diabetes, obwohl sein Blutzucker dramatisch erhöht ist? Aufgrund seines hohen Blutzuckers müsste er gemäß Mayers Theorie eigentlich sofort zu essen aufhören. Die aus Mayers Grundgedanken abgeleitete Lipostatische Theorie wies eine ähnliche Lücke auf: Warum isst ein Patient mit Übergewicht, obwohl seine Fettspeicher übervoll sind? Gemäß den Vorhersagen des Modells dürfte auch er wegen des hohen Energiefüllstandes im Körper nicht mehr essen. Warum sich diese Prognosen in der Praxis nicht bestätigen, auf diese Frage konnte bis heute niemand eine Antwort geben.

Von 1969 an kehrte Mayer der experimentellen Forschung den Rücken, wurde Präsident der Tufts University und in den folgenden Jahren gesundheitspolitischer Berater von drei US-Präsidenten – Richard Nixon, Gerald Ford und Jimmy Carter. Obwohl seine Theorie offenkundige Schwächen hatte, war er bis 1993 der einflussreichste Experte für Ernährungsfragen in den USA. Unter seiner Leitung wurden diverse Programme und Richtlinien zur Bekämpfung von Unter- und Überernährung aufgelegt und zum Teil zu Gesetzen und Verordnungen geformt. Sein Denkansatz fand weltweit Beachtung und hatte auch Auswirkungen auf das Gesundheitswesen in Deutschland. Die gesamte Fachrichtung der Diabetologie etwa basiert auf Mayers Theorie und formuliert dementsprechend ihre Therapieziele: Der Blutzucker soll in engen Grenzen normal oder nahe normal eingestellt werden, auch bei Menschen mit Typ-2-Diabetes. Gleiches gilt für die Bewertung von Gesundheitsrisiken durch Übergewicht in der Inneren Medizin; auch das Körpergewicht soll gemäß der von Mayers Grundidee abstammenden Lipostatischen Theorie auf normal eingestellt werden. Dementsprechend zielt die daraus abgeleitete Therapie von Adipositas schlicht auf eine Normalisierung des Körpergewichts.

Jean Mayers Konzept hat über die vergangenen Jahrzehnte die gesundheitspolitische Diskussion geprägt. Die Erfolge indes sind bescheiden. Die Industrienationen geben nach wie vor Milliarden für die Behandlung von Übergewicht und den daraus entstehenden Folgeerkrankungen aus. Parallel dazu hat sich ein weiterer Milliardenmarkt etabliert, der Unsummen mit Diäten, kalorienreduzierten Lebensmitteln oder Nahrungsergänzungsmitteln verdient. Alles, um das Übergewichtsproblem zu lösen. Alles vergebens, wie die Statistiken der WHO belegen.

Erstaunlicherweise machen trotzdem alle so weiter wie bisher: die Mediziner, die Politiker, die Ernährungsberater, die Physiologen … In einer Situation, in der ein Problem trotz vielfältiger Bemühungen unlösbar erscheint, steht die Schuldfrage hoch im Kurs. Irgendjemand muss doch für die Übergewichtsepidemie verantwortlich sein. Diesen endlosen und ebenso sinnlosen Diskurs hat der Kinderarzt Robert H. Lustig in einem Artikel in der Fachzeitschrift Pediatric Annals treffend so beschrieben: »Die Gesundheitsbehörden sagen, Übergewicht resultiert aus einem Ungleichgewicht im Energiehaushalt – es wird zu kalorienreich gegessen und zu wenig Sport getrieben. Die Lebensmittelkonzerne beklagen, dass sich die Menschen nicht genug bewegen, die TV-Industrie behauptet, es liegt an der falschen Ernährung, die Atkins-Leute verteufeln die Kohlenhydrate, die Ornish-Befürworter verdammen das Fett, die Fruchtsafthersteller machen die Limonaden verantwortlich, die Limonadenhersteller verweisen auf die Fruchtsäfte. Die Schule sieht die Verantwortung bei den Eltern, die Eltern sehen die Schule in der Pflicht. Wie soll man ein Problem lösen, wenn sich niemand verantwortlich fühlt?« Und das Problem wird immer drängender. Die eingangs erwähnten WHO-Zahlen werden schon bald überholt sein. Besonders dramatisch ist der rasante Anstieg von übergewichtigen Kindern. Übergewicht in der Kindheit und Jugend wiederum ist ein maßgebliches Vorzeichen für Übergewicht im Erwachsenenalter. Und: Je früher Übergewicht auftritt, desto früher erhöht sich auch das Krankheitsrisiko. Es ist nicht die Zeit, einfach so weiterzumachen. Es ist an der Zeit, eine Krise auszurufen: Wir haben ein riesiges Gesundheitsproblem mit übergewichtigen Kindern und Erwachsenen, und Schuldzuweisungen werden es nicht lösen. Es ist an der Zeit, alte Überzeugungen in Frage zu stellen und die Ursachen, die zu Übergewicht führen, besser zu erforschen und neu zu bewerten. Ein wichtiger Fingerzeig dafür sind neue Forschungsergebnisse, die belegen, dass vermehrte Nahrungsaufnahme letztlich nichts anderes als eine Notlösung des Gehirns ist, das sich in einer Energiekrise befindet. Welche Rolle Stress dabei spielt, was das für Fragen der Ernährung, für Diäten, für die Richtigkeit von Therapien bei Übergewicht und Diabetes, ja sogar für die Erziehung unserer Kinder bedeutet, darum geht es in diesem Buch. Und um die Erkenntnis, dass diese neue wissenschaftliche Sicht herkömmliche Denkansätze zur Entstehung von Übergewicht, die auf »Lustgewinn« und »Schuldzuweisung« beruhen, endlich überflüssig macht.

Das Gehirn auf der Waage

Als selbstkritischer Wissenschaftler setzte sich Jean Mayer immer wieder mit experimentellen Ergebnissen auseinander, die nicht zu seinem Konzept passten. Interessanterweise hätte er die Chance gehabt, eine der entscheidenden Lücken zu schließen, die sowohl in der Glukostatischen wie auch in der Lipostatischen Theorie vorhanden waren, und damit sein Konzept entscheidend zu erweitern und zu verbessern. Denn schon 1921 hatte Marie Krieger, eine Pathologin aus Jena, eine Studie veröffentlicht, die in Mayers Theorie zu einem wichtigen Grundpfeiler hätte werden können. Mayer könnten ihre Arbeiten vorgelegen haben. Umso mehr, da sein Vater und Kriegers Doktorvater, Robert Rössle aus Berlin, die berühmtesten Physiologen ihrer Zeit waren und sicherlich die Arbeiten des jeweils anderen kannten. Jedenfalls hat Mayer die Studie nie in einer seiner Publikationen erwähnt. Was Marie Krieger vor über neunzig Jahren herausfand, können wir also erst heute bewerten: als einen Meilenstein in der Erforschung der Frage, welchen Einfluss der Energiebedarf des Gehirns auf unser Körpergewicht hat.

Frühjahr 1917: Über zehn Millionen deutsche Soldaten führen einen Zweifrontenkrieg – im Westen gegen Frankreich und seine Verbündeten England und die USA, im Osten gegen das zerfallende russische Reich. Nicht nur für die Soldaten, auch für die Zivilbevölkerung hat der lange, zermürbende Krieg fatale Folgen. Aufgrund der Kontinentalblockade der Alliierten wird die Versorgungslage in Deutschland immer schwieriger. Es fehlt an Brennstoffen, Medikamenten und vor allem an Nahrungsmitteln. Im sogenannten Steckrübenwinter des Jahres 1916/17 spitzt sich die Situation dramatisch zu. Viele Menschen sind chronisch unterernährt und gesundheitlich geschwächt. Typhus, Ruhr und Tuberkulose breiten sich aus.

Im Pathologischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität in Jena werden täglich Opfer der tödlichen Entbehrungen eingeliefert. Die von Krankheit und Hunger ausgemergelten Körper werden dem Institut zu Forschungszwecken überstellt. Im Keller des Gebäudes arbeitet Marie Krieger als junge Doktorandin. »Über die Atrophie der menschlichen Organe bei Inanition« lautet der Titel ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Atrophie bezeichnet den Gewebeschwund des Körpers und seiner Organe. Die Ursache dafür nennt das zweite medizinische Fachwort im Titel: Inanition. Darunter verstehen Mediziner die Abmagerung des Körpers auf ein extremes Maß unterhalb des Normalgewichts. Die Körper, die Marie Krieger untersucht, unterschreiten diesen Wert deutlich. Einige der Leichname weisen bis zu 45 Prozent Gewichtsverlust auf. Die Ursachen dafür sind vielfältig, wenngleich alle mit den Folgen des Krieges in Zusammenhang stehen: psychische Erkrankungen, die zu massiven Essstörungen führten, Ruhrfälle, wodurch die Nahrungsaufnahme der Kranken zum Erliegen kam, vor allem aber extreme Mangelversorgung bei jungen Soldaten.

Für die Medizinerin wird diese Jahrhundertkatastrophe zur wissenschaftlichen Chance, niemand hat bislang die organischen Folgen von Hunger und Auszehrung beim Menschen dokumentiert. Ausgangspunkte von Kriegers Untersuchungen sind ganz einfache Fragen: Wenn unser Körper abnimmt – durch Hungern oder Fasten –, schrumpfen dann nicht nur Muskeln und Fett, sondern auch die inneren Organe? Und wenn ja, trifft das auf alle Organe zu?

Um diese Fragen beantworten zu können, ermittelte die Wissenschaftlerin zunächst die Durchschnittsgewichte der inneren Organe normal ernährter Männer und Frauen. Für die Leber zum Beispiel notierte sie: »Beim gesunden Erwachsenen im normalen Ernährungszustand macht die Leber 2,69 Prozent des Körpergewichts aus – sie wiegt zwischen 1592 und 1659 Gramm.« Für das Gehirn stellte sie ein Durchschnittsgewicht von 1405 Gramm fest. Dann entnahm sie den ausgemergelten Toten verschiedene Organe und legte sie auf die Waage. Im Vergleich zu den Normalwerten wichen die meisten Messergebnisse stark ab. Alle inneren Organe waren durch die Auszehrung um bis zu 40 Prozent leichter als bei normal genährten Erwachsenen – alle, bis auf das Gehirn. Nur zwei Prozent oder weniger Gewichtsverlust ergaben Marie Kriegers Messungen. Selbst unter schlimmsten Ernährungsbedingungen, so ihre sensationelle Entdeckung, verändert das Gehirn sein Gewicht nur minimal.

Im Jahr 1921 veröffentlichte sie ihre Ergebnisse, und obwohl Kriegers Analysemöglichkeiten damals nur bescheiden waren, hat ihr Befund bis heute Bestand. Mittlerweile lassen sich Gewichtsverluste innerer Organe durch die moderne Magnetresonanztomographie (MRT) auch bei lebenden Menschen präzise ermitteln. Bei Menschen, die an Magersucht (Anorexie) leiden, weisen die inneren Organe im Extremfall Gewichtsverluste von bis zu 40 Prozent auf, während das Gehirn nur minimal an Masse und Gewicht einbüßt. Auch neueste MRT-Ergebnisse zu stark übergewichtigen Patienten, die mit Hilfe einer kalorienreduzierten Diät Körpermasse verlieren, belegen, dass das Gehirn im Gegensatz zu allen anderen Organen nicht abnimmt.

Woran liegt das? Warum gibt es ein Organ in unserem Körper, das selbst während einer Hungersnot nicht von der Mangelernährung betroffen zu sein scheint? Für dieses Phänomen kann es nur eine Erklärung geben: Das Gehirn nimmt in der Stoffwechselhierarchie des Körpers eine Sonderstellung ein. Es stellt zuerst seine eigene Versorgung sicher, während sich der Rest des Körpers mit der Energie begnügen muss, die dann noch übrigbleibt. In Zeiten des Mangels bedeutet dies, dass die anderen Organe hungern und dem Gehirn alle verfügbaren Energiereserven überlassen müssen. Kann es sein, dass unser Gehirn wie ein egoistischer Despot agiert?

Checks and Balances – das Prinzip der
Gewaltenteilung in unserem Gehirn

Den Wissenschaftlern war zwar seit den 1950er Jahren klar, dass das Gehirn Informationen aus dem Stoffwechsel empfängt, sie verarbeitet und weitergibt. Grundsätzlich aber war das Gehirn für sie nur ein ganz normaler Energieempfänger wie alle anderen Organe auch. Keiner kam auf die Idee, dass das Gehirn einen ganz eigenen Energieplan haben könnte. Marie Krieger hatte einen ersten Beleg dafür geliefert, dass unser Stoffwechsel hierarchisch organisiert ist und das Gehirn darin eine Sonderstellung einnimmt. Der »Egoismus des Gehirns« geht dabei sogar so weit, dass es in Notsituationen den Rest des Körpers von der Energiezufuhr weitgehend abschneidet. Dieses charakteristische Vorgehen gab der Forschungsrichtung, die diesem Buch zugrunde liegt, ihren Namen: die Selfish-Brain-Theorie (engl. »selfish« = selbstsüchtig; engl. »brain« = Gehirn).

Es mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, dass unser Gehirn wirklich selbstsüchtig oder egoistisch sein kann. Denn das würde bedeuten, dass unser Zentralnervensystem in der Lage ist, eigenständig zu handeln, möglicherweise ohne unsere Wünsche und Interessen zu berücksichtigen. Doch dieser Egoismus des Gehirns verschafft uns Menschen Vorteile. Ist es also denkbar, dass uns gerade ein solchermaßen konkurrenzfähiges Gehirn dabei hilft, unseren Körper auch in Zeiten des Nahrungsüberangebotes schlank zu halten?

Das funktioniert natürlich nicht einfach per Knopfdruck. Die Entscheidungs- und Handlungsprozesse, die in unserem Kopf ablaufen, sind viel komplexer, als wir denken, und am ehesten vergleichbar mit der Funktionsweise eines demokratischen Rechtsstaats. »Checks and Balances« ist eine Redewendung aus der angelsächsischen Politikwissenschaft. Frei ins Deutsche übersetzt bedeutet sie: kontrollieren und ausgleichen. Ein solches Regulationssystem ermöglicht demokratischen Regierungen innerhalb definierter Grenzen Handlungsfreiheit und reduziert die Gefahr einer Diktatur. Denn Macht und Entscheidungsgewalt sind auf verschiedene Instanzen verteilt, die sich gegenseitig beeinflussen und kontrollieren. In einem demokratischen Staat sind das die Regierung, die Parteien, das Parlament, die Gerichte und die Wähler. Keiner kann allein entscheiden. Und solange die Zeiten gut und stabil sind und das System intakt ist, wird keiner die uneingeschränkte Macht an sich reißen können. So entsteht eine ideale Balance, die es ermöglicht, die wesentlichen Bedürfnisse aller zu befriedigen.

Diese Gewaltenteilung ist auch ein grundsätzliches Prinzip unseres Gehirns. Sie gilt sowohl für unsere bewussten als auch für unsere unbewussten Entscheidungen. Jeder der verschiedenen Gehirnteile ist an Entscheidungen beteiligt, kein Teil regiert allein. Welcher sich am Ende durchsetzt, welche Instanzen im Gehirn ein Entscheidungsimpuls durchläuft und inwieweit dieser dabei noch modifiziert wird, das hängt von ganz unterschiedlichen Faktoren ab. Wenn das System defekt ist oder in schlechten Zeiten unter Druck gerät, kann es sich zwar an die geänderte Situation anpassen, aber es entsteht eine neue Balance: Die Kompetenzen werden umverteilt, Bedürfnisse anders befriedigt. Dieses neue Gleichgewicht ist nicht mehr so ideal wie der Ausgangszustand, aber unter vielen schlechten Optionen dennoch die beste.

Eine derartige »Stabilisierung durch Veränderung«, wie diese Form der Anpassung in der Hirnforschung genannt wird, vollzieht sich insbesondere bei stoffwechselphysiologischen Vorgängen, also dann, wenn Energie im Körper verteilt wird. Denn sobald es Engpässe bei der Energieversorgung des Gehirns gibt, tritt eine besondere Fähigkeit unseres Denkapparates zutage, die für unser Überleben ausschlaggebend ist: Das Gehirn entscheidet selbständig und teilweise sogar egoistisch gegen den eigenen Körper. Geostrategisch formuliert könnte man sagen: Energiepolitik ist für das Gehirn eine Frage der neuronalen Sicherheit – sie hat höchste Priorität.

Energie – freie Fahrt ins Gehirn

Diesen Grundgedanken der Selfish-Brain-Theorie habe ich erstmals im Mai 1987 in der kanadischen Metropole Toronto formuliert. Ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft hatte es mir damals ermöglicht, im Hospital for Sick Children, eine der renommiertesten Kliniken Nordamerikas, meine wissenschaftliche Arbeit zum Thema Diabetes aufzunehmen. Toronto ist für die Diabetesforschung von großer historischer Bedeutung. Hier wurde die medikamentöse Anwendung von Insulin erfunden und erprobt. Ganz in der Nähe meines Büros lag das Institut, in dem Fred Banting und Charles Best 1921 erstmals Insulin isoliert und einem kleinen Jungen namens Leonard verabreicht hatten. Leonard, ihr Patient 0, war an Typ-1-Diabetes erkrankt. Die Inselzellen seiner Bauchspeicheldrüse hatten nach und nach ihre Insulinproduktion eingestellt. Insulin aber ist lebensnotwendig, damit der Körper die aufgenommene Energie in Form von Zucker (Glukose) in den Depots abspeichern kann. Ein Mensch, dessen Bauchspeicheldrüse kein Insulin mehr produziert, kann so viel essen, wie er will, und wird doch innerhalb weniger Wochen verhungern. Leonard war der erste Mensch mit Typ-1-Diabetes, der die Krankheit überlebt hat. Seitdem wird Diabetes mit Insulinspritzen behandelt, die Lebenserwartung der Patienten ist von praktisch null auf »nahezu normal« gestiegen.

Trotz dieser medizinischen Erfolgsgeschichte stellte die Diagnose Ärzte und Patienten noch in den 1980er Jahren vor ein schwerwiegendes Problem. Denn es gab keine Richtwerte, wie viel Insulin der Körper eines Betroffenen tatsächlich braucht. Die Insulintherapie ist eine der komplexesten Einstellungen in der Medizin, der Blutzucker muss viermal täglich analysiert werden, um die richtige Dosisaufteilung zu finden. Eigentlich kann dies nur eine medizinische Fachkraft optimal berechnen – für die Betroffenen auf Dauer ein unzumutbarer Zustand. Deshalb konzentrierte ich mich während meines Aufenthaltes in Toronto auf die Frage, wie man Menschen mit Zuckerkrankheit dabei helfen könnte, die richtige Insulinmenge selbst zu bestimmen.

Ich glaubte, einen Lösungsansatz für das Problem finden zu können. Mitte der 1980er Jahre gab es die ersten Minicomputer auf der Basis leistungsfähiger Taschenrechner. Was wäre, wenn man ein solches Gerät dahingehend programmierte, dass jeder Patient den mittels eines Teststreifens selbstermittelten Blutzuckerwert einfach in den Computer eintippt und dieser daraus die angemessene Insulindosis errechnet? Eine präzise Hochrechnung, nicht wie bisher eine Schätzung, das wäre ein großer Fortschritt. Die Wirkung des Insulins würde verbessert. Und das Risiko einer Überdosierung würde gesenkt, wodurch sich insbesondere eine drohende Gewichtszunahme einerseits und die durch Unterzucker ausgelösten Ohnmachtsanfälle andererseits eindämmen ließen. Nach der präzisen Berechnung könnte sich der Patient die ermittelte Dosis selbst spritzen. Das wäre die größtmögliche Verbindung von wirksamer Therapie und Lebensqualität.

Doch wie würde so ein Computerprogramm aussehen? Welches Schaltschema läge ihm zugrunde? Um diese Frage beantworten zu können, müsste man wissen, wie unser Körper im gesunden Zustand das Problem der optimierten Insulinausschüttung gelöst hat. Eine Frage, die der Medizin noch immer Rätsel aufgab.

Eines Morgens nahm ich nicht den direkten Weg in mein Büro, sondern wanderte durch die Straßen von Downtown Toronto und genoss die frische Frühlingsluft. Beim Gehen kommen einem die besten Ideen, heißt es. Ich erreichte eine Kreuzung und musste an einer Fußgängerampel warten. Autos fuhren an, während die Wagen auf der kreuzenden Straße stoppten. Dann schaltete die Ampel wieder um, und der Gegenverkehr begann von neuem zu fließen. Ich war so in Gedanken, dass ich die nächste Grünphase verpasst hatte. Fasziniert starrte ich auf die Kreuzung: Wenn zwei Straßen aufeinandertreffen, lässt sich der Verkehrsfluss mit einer einfachen Rot-Grün-Phase sicher und effektiv regulieren. Wäre dieses Modell auch für den Stoffwechsel denkbar? Eine Art Ampelschaltung des menschlichen Organismus, die die Glukosezufuhr zum Gehirn beziehungsweise zu den Speicherorganen reguliert?

Beflügelt eilte ich ins Büro und ging mein Bücherregal durch. Ich hatte mich schon früher mit Mathematik und der Berechnung von Schaltkreisen beschäftigt, Joseph J. DiStefanos Buch Theory and Problems of Feedback and Control Systems über Regelungstheorie musste hier irgendwo sein. Tatsächlich entdeckte ich darin die Schaltung einer Ampel, die den Verkehr der sich kreuzenden Straßen A und B regelt. Diese Ampel war aber nicht, wie im Straßenverkehr üblich, starr programmiert. Hier ging es um eine flexible Ampelschaltung, die ständig Informationen über das aktuelle Verkehrsaufkommen erhält und die Grünphasen für A und B rechnerisch so anpasst, dass Verkehrsstaus vermieden werden.

Ließe sich so ein flexibles System auf die Regulierung des Blutzuckers bei Menschen wie dem kleinen Leonard übertragen? Ich spielte das Szenario durch: Straße A führt ins Gehirn, Straße B ins Fett- und Muskelgewebe. Bei einem Energiemissverhältnis (zu wenig Glukose gelangt ins Gehirn, zu viel in die Speicher) ergeht ein Signal an die Bauchspeicheldrüse: »Insulinausschüttung drosseln!« Fett- und Muskelzellen können jetzt keine Glukose mehr aufnehmen, der »Blutzuckerverkehr« fließt ungehindert ins Gehirn. Entsteht dort eine Überkapazität, erfolgt der gegenteilige Befehl: »Insulin ausschütten!« Jetzt sind die Speicher im Muskel- und Fettgewebe offen, der Glukose-Strom wird gezielt dorthin geleitet.

Wenn dieses Prinzip zutraf, könnte so auch ein Insulinrechner funktionieren – wie eine intelligente Ampelschaltung, die aufgrund aktuell erhobener Blutzuckerwerte den Energiefluss des Körpers durch eine rechnerisch optimal angepasste Insulindosis reguliert. Ob dieses Schaltmodell so oder ähnlich tatsächlich im Körper arbeitet, war 1987 allerdings noch nicht zu belegen. Viele physiologische Aspekte lagen im Dunkeln, auch die Frage, welche Rolle das Gehirn bei der Entscheidung spielt, wohin der Blutzucker gelenkt wird, war ungeklärt. Wer weiß, vielleicht war sogar das Gehirn allein für die Programmierung der Stoffwechsel-Ampel in unserem Körper verantwortlich. Diese einfache, aber fundamentale Frage nach der Kontrolle des Energieflusses durch das Gehirn war schließlich der Ausgangspunkt für die Entstehung der Selfish-Brain-Theorie. Bis dahin hatte die Medizin versucht, Störungen im Energiehaushalt des Körpers symptomatisch zu behandeln, ohne näher zu erforschen, wo die tieferen Ursachen für das Ungleichgewicht lagen.

Auch wenn es mir damals noch nicht gelang, meine Theorie experimentell zu untermauern – die Idee vom egoistischen Gehirn ließ mich nicht mehr los. 1998 beschäftigte ich mich erneut mit der Ampelidee. Ich hatte mein Forschungsprojekt in Kanada beendet und arbeitete an der medizinischen Fakultät der Universität Lübeck. Dort befasste ich mich mit der entscheidenden Frage, ob und wenn ja auf welche Weise das Gehirn den Energiefluss im Körper kontrolliert. Seit Toronto waren elf Jahre vergangen – viel Zeit für neue Erkenntnisse. Inzwischen hatten ein Kanadier, ein Amerikaner und ein Brite drei wichtige Funktionen des Hirn- und Körperstoffwechsels entdeckt: Luc Pellerin hatte 1994 den Schlüsselmechanismus des Hirnenergiestoffwechsels gefunden und nachgewiesen, dass Nervenzellen Energie beim Körper »bestellen«. Im gleichen Jahr hatte Jeffrey Friedman das Leptin (vom griechischen leptos = schlank) entdeckt, einen körpereigenen Botenstoff, der dem Hirn den Energiefüllstand im Fett- und Muskelgewebe übermittelt. David Spanswick lieferte drei Jahre später den letzten missing link. Er fand ihn im ventromedialen Hypothalamus, einer Region im oberen Hirnstamm, in der Stoffwechselvorgänge des Körpers reguliert werden. Hier laufen die Informationen über die Energieflüsse im Blut zusammen. Hier werden die Energiefüllstände im Gehirn sowie im Fett- und Muskelgewebe registriert und verglichen; und von hier werden die Glukoseströme gelenkt. Der Ampelschalter im Gehirn war gefunden!

Jetzt musste man die Studien nur noch in einen Zusammenhang stellen. Interessanterweise war genau dies bisher nicht geschehen. Pellerin, Friedman und Spanswick kannten die Forschungen der jeweils anderen zu wenig. Aber wenn man diese hervorragenden Arbeiten aus den Gebieten des Körper- und Hirnstoffwechsels wie bei einem Puzzle zusammenfügte, würde ein völlig neues Bild Konturen annehmen. Das Ergebnis war die Selfish-Brain-Theorie, die erklärt, wie das Gehirn selbstbestimmt seine Energieversorgung sichert und dabei in Krisenzeiten alle anderen Organe in die zweite Reihe verweist.

1998 formulierte ich die Selfish-Brain-Theorie in Lübeck, 2004 wurde sie publiziert. Wie die Golden-Gate-Brücke in San Francisco ruht die Theorie auf zwei fundamentalen Grundpfeilern:

  • Das Gehirn reguliert zuerst seinen eigenen Energiefüllstand. Dazu aktiviert es sein Stresssystem, das die Energie aus den Körperreserven ins Gehirn leitet (die Ampel zeigt Grün Richtung Gehirn).
  • Anschließend kehrt das Stresssystem wieder zurück in seine Ruhelage. Jetzt erfolgt die Nahrungsaufnahme, um die Körperreserven wieder aufzufüllen (die Ampel zeigt Grün Richtung Körper).

Die Selfish-Brain-Theorie wurde inzwischen anhand von mehr als 10 000 Studien aus den unterschiedlichsten Fachdisziplinen geprüft und findet sich mit diesen im Einklang. Sie wurde auf »Plausibilität« getestet, in zahlreichen persönlichen Gesprächen und auf zwei internationalen Selfish-Brain-Konferenzen mit ausgewählten Experten der Bereiche Neuroenergetik, Stressforschung, Adipositas, Diabetes, Schlaf und Gedächtnis. 2004 rief die Deutsche Forschungsgemeinschaft an der Universität zu Lübeck die Klinische Forschergruppe »Selfish Brain: Gehirnglukose und Metabolisches Syndrom« ins Leben. In diesem Team forschen seitdem unter meiner Leitung 36 Wissenschaftler und fünfzig Doktoranden aus den Disziplinen Hirnforschung, Innere Medizin, Diabetologie, Psychiatrie, Psychologie, Neuroendokrinologie, Pharmakologie, Ökotrophologie, Biochemie, Chemie und Mathematik zum gleichen Thema: zur Selbstsucht des Gehirns.

Wie wir später noch sehen werden, ist der Egoismus des Gehirns aber kein reiner Selbstzweck, sondern verschafft uns evolutionäre Vorteile. Der prähistorische Mensch war ständig von Nahrungsknappheit und Gefahren aus der Umwelt bedroht – ein Problem, das noch weit bis in die Neuzeit reichte. Um darauf adäquat reagieren zu können, war es vor allem wichtig, dass das Gehirn funktionierte. Die Wahrnehmung musste geschärft sein, man musste in Situationen der Gefahr die richtige Entscheidung treffen und wissen, wo man in Zeiten des Mangels Nahrung finden konnte. Also hieß die Devise: Alle Energie in die Schaltzentrale! Diese Mechanismen, die uns damals in Zeiten der Nahrungsknappheit eine gute Hirnleistung garantiert haben, wirken in uns noch heute. Wenn sie reibungslos funktionieren, ermöglichen sie uns, trotz des Nahrungsüberangebots schlank zu bleiben. Tritt allerdings eine Störung auf, dann – und nur dann – werden wir dick.

Dieses Thema ist natürlich aus wissenschaftlicher Sicht hochspannend – vor allem aber ist es für jeden Einzelnen von uns von großer Bedeutung. Denn es zeigt, wie groß der Einfluss unseres Gehirns auf unseren gesamten Stoffwechsel ist. Wenn die Ampelschaltung funktioniert, können wir vom Egoismus des Gehirns profitieren, denn er sichert in schlechten Zeiten unser Überleben und hält uns in guten Zeiten schlank. Wenn das System aber aus dem Tritt kommt, hat das gravierende Folgen. Übergewicht, Typ-2-Diabetes, Magersucht und Bulimie, die vermeintlichen Zivilisationskrankheiten unserer Zeit, haben ihren Ursprung in einer Veränderung in unserer Ampel-Schaltzentrale und nicht in »Maßlosigkeit« oder bewusstem »Verzicht«. Erst wenn wir die Rolle des Gehirns als Verbraucher Nummer eins und Regulator Nummer eins im menschlichen Energiestoffwechsel verstehen, können wir Therapien entwickeln, die nicht nur die Symptome behandeln, sondern endlich die Ursachen von Übergewicht und Diabetes bekämpfen. Und wir können uns von der Idee verabschieden, dass wir nur streng genug Diät halten müssen, um dauerhaft abzunehmen. Dabei wird es auch um die Fragen gehen, inwieweit unser Gefühlsleben und unser Umgang mit Stress mit dem Stoffwechsel von Gehirn und Körper zusammenhängen.

Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft
titlepage.xhtml
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_000.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_001.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_002.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_003.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_004.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_005.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_006.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_007.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_008.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_009.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_010.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_011.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_012.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_013.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_014.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_015.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_016.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_017.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_018.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_019.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_020.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_021.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_022.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_023.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_024.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_025.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_026.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_027.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_028.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_029.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_030.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_031.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_032.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_033.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_034.html
CR!KGG9WH516X58927EWZ69QTZE9CJ5_split_035.html