17
»Was heißt das, Vater und Mutter ehren?«, Ödöns Stimme wurde lauter. »Ich soll ihnen mit Achtung begegnen? In der Kirche jedem Glied der Gemeinde? Mit Achtung. Achtung, ein Glied der Gemeinschaft. In der Gemeinde, wissen Sie, Herr Pater, Sie sind doch auch ein Glied der Gemeinde, dem ich mit Achtung begegnen soll, nicht? In der Gemeinde klingt für mich immer wie in der Umklammerung, im Würgegriff, im Schwitzkasten, wir schwitzen gemeinsam, in der Sauna, im Kältebecken, wir sind ein Team, wir sind ein Team, ihr Seelsorgeteam, sagte der Priester an Weihnachten, ihre Dienstleister der Seele.
Ich bin allein durch die Straßen gelaufen, leere, hell erleuchtete Straßen, das ganze Glück, das mir heimleuchtete, es ist ein Kind geboren, ein Kind, aber zu Hause, daheim, war kein Kind, das Haus war leer, keine Mitglieder der Familiengemeinschaft, leer, das Wohnzimmer, das Kinderzimmer, das Schlafzimmer, die Küche, der Flur, der Keller, der Trainingsraum, die Sauna, die Abstellkammer, die Garage, der Kühlschrank, unter dem Bett, hinter dem Vorhang, im Auto, im Kofferraum, im Garten, im Gartenhaus, im Schnee, unter dem Schnee, im Baum, im Himmel, nichts, gar nichts, niemand, gar niemand, die Lichter, oh du selige, ich war allein, o Tannenbaum, allein, es ist ein Ros entsprungen, ich kniete im Schnee und heulte, Mama, Mutter, Vater, Ivonne, Ingemar, warum habt ihr mich verlassen, bin ich denn schuld, im Namen des Vaters schuld, im Namen des Sohnes schuld und des heiligen Geistes schuld, eine Geisterstadt, ich sah keine Menschen, keine Menschenseele, ich irrte umher, zumindest eine Tankstelle, dachte ich, Wunderkerzen kaufen, eine Badewanne voll Wunderkerzen, in Wunderkerzen baden und dann das Streichholz, Hosanna in der Höhe, es jauchzen die Engel, ein Feuerwerk, eine blaue Tankstelle, eine gelbe Tankstelle, eine grüne Tankstelle, ich lief, ich war in Turnschuhen, ohne Jacke, Advent, Advent, ein Lichtlein brennt, ich brannte lichterloh, mir war ein Licht aufgegangen, warum verstanden sie mich nicht, warum waren sie ohne ein Wort gegangen, ausgezogen ohne ein Wort, aber sprich nur ein Wort, wortlos verlassen, und meine Eltern, wo waren sie, bei ihr, aber ich war ihr Sohn, sie tragen besondere Verantwortung, das steht doch hier, besondere Verantwortung, ich trage sie auch, ich trag sie wie ein totes Kind auf meinen Armen durch die Stadt, seht meine Verantwortung, meine Eltern haben mich allein gelassen, immer haben sie mich allein gelassen, sie hielten es für ihre besondere Verantwortung, mich allein zu lassen, du schaffst das schon, er muss sich alleine durchbeißen, allein ist der Mann, warum soll ich sie ehren? Dabei war ja alles glücklich.
Und doch stand ich dann allein in der Kirche, ich öffnete die Tür und dachte, auch hier wird niemand sein, ich werde alleine sein, allein in der Kälte. Aber ich hatte mich getäuscht. Die Kirche war voll, brechend voll, Menschen Schulter an Schulter, Atem an Atem, glückliche Menschen, Menschen voller Erwartung, Kinder mit glühenden Augen, Kinder mit ungeduldigen Augen, Alte, Gebrechliche, Jugendliche, coole Jungs, Jungs wie mein Junge, pubertär, mit der Kraftanstrengung, mit all der Herkulesanstrengung, cool zu sein, die Pickel wegzudrücken, aus dem Gesicht, aus dem Geist, aus dem Spiegel, die Spiegel einschlagen mit dem coolen Blick, maximale Coolheit bei minimalem Weihnachtskleidungskompromiss, Weihnachtsbäume auf den Boxershorts, Weihnachtsmänner auf den Arschbacken, offene Schnürsenkel, Kapuzen groß wie Loungechairs, Kopfwippen, als wären Stöpsel in den Ohren, die Gregorianik einfach im Kopf wegbeatboxen, die Mädels in der Menge suchen, was geht, bei der Kommunion, was geht, wo geht ihr nachher hin, geht noch was, die Mamas in den Pelzmänteln, wieder Pelzmäntel, kein schlechtes Gewissen, die Rendite um den Hals, schön warm, die Ugg-Boots, ihre Weihnachtsmesse sponsored by, ich drängte mich durch die Menge wie durch ein Kaufhaus beim Winterschlussverkauf, zwängte, quetschte mich hindurch, warum, wusste ich nicht, ich wusste nicht, warum, warum nach vorne, wie in den Konzerten in die erste Reihe, alles hinter dir drückt nach vorne, drückt dich in die Absperrung, wann kommt er, der Heiland, wann betritt er die Bühne, lights out, Kerzen an, sie singen, O, o, o du fröhliche, gleich kommt er, es ist ein Ros entsprungen, er springt in die heilige Menge, der heilige Geist, er zerschlägt seine Gitarre, die Kassen sind überfüllt, die Einkaufswagen schieben sich ineinander, wo ist er, wo bleibt er, alle umarmen sich, frohe Weihnachten, gesegnete Weihnachten, ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Weihnachten, ein friedvolles Fest, ein Friedensfest, das Fest der Liebe, der Liebe, das Fest der Familie, die Jungs berühren sich mit den Fäusten, klatschen sich ab, was geht, Weihnachten geht, Playstation, Subwoofer, die Kirche leerte sich, die Schritte, der Hall, die Kerzen, sie löschen die Kerzen, komm, komm zu mir, lösch mein Herz, die Flamme, die da noch flammt, die Hoffnung, die Sparflammen, lösch sie, erstick sie, blas auf mein Herz, es flammt nicht mehr auf, meine Seele wie nasses Holz.
Ich knie, ich kniete, Pater, ich kniete in der Kirche, warum in der Kirche, warum ich allein in der Kirche, wo war sie, die heilige Familie, der Stall, mein Stall, die Jungs, mein Sohn, meine Frau, meine Eltern, die Heilige Familie, die Familie ist mir heilig, sagte ich, heilig, heilige Maria, bitte für mich, aber ich ehrte meine Familie nicht, nur durch meine Abwesenheit, die Familie ist das Wichtigste auf der Welt, sagte ich zu den Vätern, vertrauen Sie mir, ich halte Ihre Familie zusammen, Sie ziehen mit Ihrem Sohn mit, ich halte die Familie zusammen, family values, best value, meine Valuta, die Jungs, noch Kinder, die Jungs, bald Stars, ein Stern am Himmel, Kometen, ein Komet, kometenhafte Karrieren, ja ist denn heut schon Weihnachten, machte ich Witze, wenn sie in den Profikader kamen, ich habe ein Recht, hier zu knien, und wenn ich die ganze heilige Nacht über auf diesem Stück Eichenholz knie. Hausfriedensbruch, ist das Hausfriedensbruch, habe ich die Friedenspflicht verletzt, Gott, hier bin ich, du hast gewonnen, mach deinen Siegfrieden mit mir, schließe Frieden mit meinem verpfuschten Leben.
Ich dachte, gleich pfeift er ab, wir haben gewonnen, endlich, das erreicht, wovon ich immer und innigst geträumt habe, und dann der Ausgleich in der Nachspielzeit, in letzter Sekunde, Gott, in letzter Sekunde hast du mich verlassen, mich in die Verlängerung gezwungen, ich dachte, mit fünfzig höre ich auf, nur noch die Familie, schön die Hoffnung hochgehalten hast du, ich hätte wissen sollen, dass das Spiel sich dreht, ich hab geahnt, es lief zu gut, zu märchenhaft, und der große Erfolg, mein größter Erfolg, gerade vor meinem fünfzigsten, als wäre alles wie im Bilderbuch, und da ist mein Bild und das Bild meines Sohnes als strahlender Sieger, sein erster Pokal, auf dem Treppchen, Ausnahmetalent, und noch dazu hier, in Kitzbühel, sein mit dem Himmel um die Wette strahlendes Kaiserwettergesicht, und ich mache den Transfer meines Lebens, Real, Real ist meine Realität, es kommt alles zusammen, es kommt alles, wie ich mir immer wünschte, dass es kommen sollte, aber es kommt anders, schlimmer, als ich es mir je hätte vorstellen können in meinen Ängsten.
Ich habe keine Angst mehr. Jetzt, wo alles verloren ist, habe ich auch die Angst verloren. Innenpfosten, der letzte Elfmeter, der Ball war unterwegs, aber ich wusste schon, er geht nicht ins Tor, ich wusste, die Stollen bohren sich ins Knie, das erste Spiel, ich wusste nach dem Anruf, es ist zu spät, wusste nicht, was war, warum, ein Streich, postpubertär, der Leistungsdruck, die ganzen Worte, Beschwichtigungen, im Sekundentakt Schreckensnachrichten, ein Tsunami, aber nur über mir, nein, nicht dass es nur über mir regnet und alle in der Sonne stehen, nein, ein Tsunami und ich im Wasserglas, mein Haus, mein Beruf, meine Familie, und alle schauen durch das Wasserglas, wie wir ertrinken, wie es uns über das Haus wirbelt, durch den Keller spült, alle, die mit mir zu tun haben, werden unter Wasser gedrückt, ringen nach Atem, schleudern gegen Wände, die Dächer stürzen ein, die Sonne taucht wie eine Tablette ins Wasser, man kann nichts mehr sehen, nur die Wirbel, alles wirbelt, Körperteile, Hoffnungen, Geldscheine, Pokal, aber das Glas bricht nicht, bräche das Glas, gäbe es vielleicht Rettung, aber das Glas ist gepanzert, das Glas ist schussfest, feuerfest, Sicherheitsglas, das Glas, hinter dem alles, was mir sicher war, sicher zu Bruch geht, und du, Gott, schaust zu, schüttest alles in den Ausguss, nein, mit spitzen Fingern fischst du mich heraus, deinen Zierfisch, und wirfst mich hier auf die Straße, und ich zapple auf dem Eis, immerhin Eis, das ist ja fast wie Wasser, das ist feucht, und wenn es wärmer wird? Aber wenn es kälter wird, bleibe ich kleben, und das Eis umschließt mich, und der Stein umschließt mich, ich werde ein Fossil, ein Briefbeschwerer für die Leichtgläubigen, Gott. Warum haben mich meine Eltern nicht vor all dem bewahrt?
Ödön beugte sich nach vorne, um eine Schnalle seines Skischuhs zu öffnen, als es ihm in den Rücken schoss, der Schmerz verzerrte sein Gesicht, er hätte schreien wollen, laut aufschreien. Jede Bewegung wird von diesem Augenblick an eine Folter sein, wusste er, er würde von unsichtbaren, kalten Händen gequält, Fingern, die sich in seine Wirbelsäule mit ihren Eisnägeln bohrten und drehten. Er würde an nichts anderes mehr denken können, als eine Stellung zu finden, die ihn nicht die Tränen in die Augen trieb. Der Pfarrer wird denken, ich heule, heule wegen meiner Eltern, durchfuhr es ihn, meine Eltern sind zum Heulen, wollte er ansetzen, aber der Schmerz war schneller als sein Satz, narrte ihn, seine Zunge, spielte sein diabolisches Spiel. Immer, wenn er über seine Eltern sprach, bekam er es im Kreuz, alles verschob sich und seine Rippen mutierten zu Kühlaggregaten, sein Körper kämpfte in der Kälte um sein Überleben, verkrampfte, sperrte alle Muskel, verriegelte jede Bewegung mit Schmerz, keine falsche Bewegung jetzt. Was war, wo lag der Grund?
»Ich glaube«, presste er heraus und hasste sich dafür, dass er nach »glaube« eine Pause machen musste, »ich glaube, ich bin nicht von meinem Vater, ich bin ein Bankert, ein Kuckucksei, was auch immer, oder ganz adoptiert, ich weiß nicht, keiner hat etwas gesagt, aber es ist ein Gefühl, es war immer ein Gefühl in mir, etwas stimmt nicht, woher diese Distanz, dieser Hass auf mich, ohne diesen Hass hätte ich nie Gott angreifen können, immer wenn sie Liebe sagten, hörte ich Hass, wir lieben dich, unser geliebter Sohn, in Liebe Deine Eltern, Hass, Hass, Hass, hassen, sie hassten mich, ich war schuld, ich war die Schuld. An was war ich schuld? Worin lag sie? Warum sprachen sie nicht mit mir, warum spürte ich nur, was ich nicht wusste? Wie sollte ich sie ehren, wenn ich nicht wusste, ob sie meine Eltern sind, ich sie aber lieben musste, weil sie meine Eltern sind. Ich verglich dauernd Photos, ihre Bilder mit mir, suchte Ähnlichkeiten, schnitt ihre Köpfe aus, setzte mich wie ein Suchbild, ein Puzzle aus ihnen zusammen, wollte von ihnen abstammen, wollte alles nach ihnen benennen, die Nase der Mutter, die Liebe zur Schokolade, ein Schleckermaul wie seine Mutter, er fährt Ski wie sein Vater, dieser Blick, ganz der Vater.
Schon sein Vater hatte seinen Vater gehasst, ohne dass Ödön je eine Ahnung gehabt hätte, warum, nicht wusste wo dieser Hass, der von Generation zu Generation weitergegeben wurde, seinen Ursprung hatte, die Urszene, dieses eingebrannte: du sollst deinen Vater hassen wie dich selbst, dieser Zwang, alle Liebe an einer Wand zu stauen, bis man an ihr erstickt und nur noch der Hass einen vor dem Ertrinken rettet. Warum waren sie zu ihren Söhnen, wie Tiere zu ihren Jungen sind?
Er hatte seinem Vater nie verziehen, dass er das Haus des Großvaters im Spertental, hier in den Bergen, verkaufte, schon vor dessen Tod, als er noch im Sterben lag, als könnte er ihm mit diesem Verkauf das Licht ausblasen, ihm heimleuchten, indem er es ihm heimzahlte. Und Ödön durfte nach Großvaters Tod das Haus entrümpeln, entsorgen. Du hast ihn doch geliebt, sagte sein Vater, nimm dir, was du brauchst.
Ödön hatte auf den Wilden Kaiser geblickt, zwischen den Tannen in ihren weißen Kutten. Wenn er das Feuer anfachte und den alten Krempel verbrannte, hatte er sich gefragt, würden sie dann nackt dastehen, knochig und verschossen wie sein Großvater, der hier im Garten gestanden und das Holz mit entblößtem Oberkörper in Scheite gehackt hatte, die er dann an die Hauswand stapeln durfte. Es wurde kein Wort gesprochen, nie ein Wort, und Ödön hatte, hypnotisiert von den zwischen Narben tanzenden Muskelbergen, seinen Blick nicht abwenden können, vor allem von dem Tattoo auf Großvaters Unterarm, zu dem er ihn nie hatte fragen dürfen und das er sich nie hatte erklären können. Jetzt würde er die letzten Scheite Großvaters verheizen. Und seine Abwesenheit ließ ihn nah und näher kommen.
Ein Zweig war damals unter der Schneelast zusammengebrochen und hatte Ödön zurück in die Gegenwart geschreckt. Ihm war die Stille aufgefallen. Eine unmögliche Stille. Kein Auto, keine Lifte, kein Helikopter, der die Schädel- und Beinbrüche ausflog, keine Krähe, keine Kuh aus den Ställen, kein Menschenlaut, alles still. Etwas Gedämpftes lag in der Luft, erinnerte er sich jetzt, als wäre die Ruhe, erinnerte er sich an Bowles, eine bewusste Kraft, die das Eindringen von Geräuschen verübelt und jedes Geräusch sogleich mindert und verstreut. Schneewüste, sagte sich Ödön, der Himmel über dem Schnee. Pulverschnee, Schnee ohne jede Spur, bis du kommst und sie ziehst. Jetzt musste er wieder an Huller denken, den gescheiterten Skihelden. Sein Großvater, der gesagt hatte, den Huller wird eine Lawine begraben, dem Huller fehlt jeder Respekt vor dem Berg. Hatte Großvater wirklich recht behalten, fragte sich Ödön und schweifte in Gedanken ab, während er stumm vor dem Pater kniete. Es schien so.
Mit meinem Großvater, sagte er unvermittelt dem Pater, war es wie mit einem Skischuh. Einem Skischuh, in den man sich zwang, den der Fuß störte und der sich deshalb störrisch gegen den Einstieg wehrte und den Wunsch, sich widerstandslos anzupassen. Ödön blickt auf seine Skischuhe. Seine Schuhe beglückten ihn mit jenem Schmerz, den er seit seiner Kindheit kannte und der ihm treu geblieben war, egal welche neue Techniken sie erfanden, egal, wie viel Geld er ausgegeben hatte, der Schmerz hatte das Rennen immer schon gewonnen und war vor ihm ins Ziel eingelaufen.
Aber jetzt war es Ödön egal, er erinnerte sich, wie er, nachdem er alles verbrannt hatte, einfach nur loswollte, er schwitzte den Hang hoch, brach immer wieder ein, bis er endlich oben an der Kante war und auf der Abfahrt. Der erste Meter war immer ein Wunder. Er hatte die Piste noch fast für sich, musste lediglich einem Skikurs ausweichen, der überraschend querte. Ein Junge, das sah er noch aus den Augenwinkeln, blieb an der Kante stehen, sein Heulen trug der Wind bis zu ihm.
Wie oft, dachte Ödön, hatte er auch heulend mit halberfrorenen Fingern und Füßen an dieser Stelle gestanden und sich den Befehlen seines Großvaters mit bockigen Kullertränen widersetzt, die auf den Wangen festfroren und den Schmerz noch unerträglicher machten.
»Pater, wie sollte ich Vater und Mutter ehren, wenn sie mich nicht ehrten? Wie sollte ich sie lieben, wo sie mir nicht beibrachten, mich selbst zu lieben? Haben sie mich erzogen, dass ich menschlich und religiös reife? Was ist religiöse Reife, Pater? Was ist die religiöse Reifeprüfung? Wissen Sie, was wir in den Beichtstühlen gemacht haben? Wir haben uns einen runtergeholt unter dem Ministrantengewand. Das war unsere Mutprobe. Gott schaut in dein Herz, aber schaut er auch unter den Rock? Wir waren pubertierende Jungs. Natürlich hatten wir Angst vor dem Tod, vor der Todsünde, im Gotteshaus ein Geschlecht zu haben und die Vorhaut nach hinten zu schieben für die endgültige Nacktheit vor dem Herrn. Ekelt Sie, Pater? Mich widert es an, wenn ich es Ihnen heute erzähle. Warum hatte unser Pfarrer nichts gemerkt, warum hatte es keiner von uns gebeichtet? Hatten wir wirklich alle dichtgehalten? Hatte keiner das Wort gebrochen? Hatte jeder immer weitergelogen? Denn wir mussten beichten, wöchentlich. Hat jeder von uns es verschwiegen und gelogen, nichts gesagt? War es unser eigenes Beichtgeheimnis? Oder wusste der Pfarrer alles? Wir steigerten den Kitzel. Wenn wir zur Beichte knieten, öffneten wir vorher unsere Hosenschlitze und ließen ihn raushängen. Hat der Pfarrer das alles nicht gesehen? War es sein Großmut? Pubertierende Jungenstreiche? Was hätte mein Vater gemacht? Hätte er mich geschlagen, von der Schule genommen, auf den Bau geschickt, ins Internat gesteckt? Oder hätte er mir auf die Schulter geklopft, ja, Junge, wichs auf die Pfaffen, diese Schwanzlutscher. Ich weiß es nicht, ich kenne meinen Vater nicht. Ich ehrte ihn wie einen Fremden. Ich habe ihn nicht geehrt, Herr Pater, ich habe ihn enttäuscht, sein Leben lang enttäuscht, denn es gab keine Ehrungen, nach denen ich aufs Podest gerufen worden wäre, keine Pokale, keine Buchpreise. Ich blieb einfach unter seinem Niveau, weshalb er mich nicht sehen konnte. Er ließ mich einfach, da stand ich gerade auf den Skiern, auf eine Schanze zufahren, wollte, dass ich keine Angst vor dem Springen habe, dass ich dünn bleibe, damit ich besser springen kann, dass ich schnell bin als Flügelstürmer, wollte, dass ich Klassen überspringe. Ich kam mir immer so vor wie ein Zwerg, dem man den Stab eines Riesen zum Hochsprung in die Hand drückt, einen Stab, der ihn zu erschlagen droht, den er kaum halten kann, geschweige denn ihn dazu zu nutzen, in die Luft und über die Stange katapultiert zu werden. Und dann schaff ich es doch, ich fliege, bin in der Luft, aber die Stange schiebt sich nach oben, ich sah mich sie schon überqueren, mich auf den Rücken drehen, aber ich segle wieder unten durch, lande auf dem Rücken, breche mir das Kreuz, hebe am Schanzentisch zu spät ab und krache in die Tiefe, oder eine Böe trägt mich weg, weit weg, ich komme nie wieder zurück. Wie ein Mädchen musste ich Seilspringen, Boxer springen auch Seil, motivierte er mich, während die anderen mich auslachten und gar nicht wussten, wie schwer das war, zieh doch ein Röckchen an, man sieht ja deine Strumpfhose. Ich brach mir das Sprunggelenk, als ich so alt war wie mein Sohn. Es war das Aus, mitten in der Pubertät, Metallplatten, Schrauben, Gips. Leistungssport ade, der verlorene Sohn, der Verlierer, von Arzt zu Arzt, bei jeder OP wurde es schlechter und mein Vater wütender. Er brach mit mir, als mein Gelenk brach. Ich spüre ihn, wenn das Wetter wechselt, wenn es kälter wird, spüre ich ihn, diesen Schmerz, ich begrüße ihn, hallo Papa, willst du nicht in den Skistiefel, musst du aber, sei ein braver Vater. Mein Vater gab mir Voltaren, schluck das, Junge, vergiss die Nebenwirkungen, lies das nicht, sei hart, prügelhart die Piste, vereistes Beton. Ich stand auf dem Sprungbrett, das kannst du ja trotz deines Sprunggelenks, vorne, die Zehen über dem Abgrund, das Brett wippte, nahm die Angst meines Körpers auf, Kerze, du wirst doch nicht nur eine Kerze springen, dreh dich, Köpfer, Kopfsprung, Salto, denk an Acapulco, Todesspringer, du bist doch ein mutiger Junge, alle schauen dir zu, du bist der Jüngste da oben, die Mütter schreien mit stummen Mündern, sie sind so weit weg, jetzt, ich krümme mich wie ein Embryo und falle, falle, knalle auf das Wasser, ich zerspringe in tausend Stücke, Knochensplitter in den Mündern, mein Vater spuckt meine Knochen auf den Boden, ich sammle sie ein, krieche, suche, setze mich zusammen, klebe mich mit Tesafilm zusammen, alle lachen sie, lachen mich aus, Arschbombe, mein Steißbein gebrochen, ich schreie, schreie, schreie noch heute im Schlaf auf, Mutter, Mutter, deine Mutter ist nicht da. Meine Mutter, Herr Pater, werden Sie sich fragen, wo war sie? Du sollst Vater und Mutter ehren? Und Mutter, ja, Mutter war immer nur »und Mutter«, das will ich und deine Mutter, und Mutter wird mir zustimmen, und hast du es Mutter schon gebeichtet, und Mutter wird dir schon was erzählen, und Mutter hat dafür auch nicht das geringste Verständnis, und Mutter geht das gar nichts an, Erziehung ist Vatersache und Mutter macht den Haushalt. Deine Mutter bringt sich wieder einmal um, empfing mich mein Vater seelenruhig vor dem Fernseher sitzend, mittags, als ich von der Schule kam, sie hat sich eingeschlossen, aus seiner Comedy brüllte ein eingespielter Lacher. Was denkst du, versucht sie es wieder mit Schlaftabletten oder mit meinem Bademantelgürtel? Und wieder lachten sie. Sie könnte sich eigentlich auch im Bad die Pulsadern aufschlitzen, wenn sie es in ihrem Suff geschafft hat, sich im Supermarkt Rasierklingen zu kaufen. Es war, als spräche er mit diesen Witzfiguren im Fernsehen, zu einem imaginären Publikum, das jeden seiner Sätze zum Totlachen fand. Am Ende nimmt sie noch das Brotmesser. Er schaute mir nie in die Augen, wenn er mit mir sprach, schaute auf den Bildschirm, seine Uhr, seine Schuhe, überprüfte seine Nägel, strich sich die Butter wie mit dem Lineal auf das Brot. Wenn er mir ins Gesicht schaute, zuckte ich zusammen, als hätte er Werwolfaugen, als liefe ein grüner Streifen über seine Pupillen. Sein ganzer Rücken war behaart, ich hatte Angst, als Kind, wenn ich ihn in der Dusche sah und das Wasser seine Haare gegen den Körper klatschte. Du kannst ihr auf den Bauch springen, nimm deine Skischuhe, ich pumpe ihr nicht mehr den Magen aus. Sie hörten nicht mehr auf zu lachen, das Lachen überschlug sich, wurde immer lauter, als ich die Treppen hochrannte, das Lachen verfolgte mich, wurde größer, war schneller als ich, sprang von Wand zu Wand, lachte mich aus, als ich an Mutters Tür trommelte, meine Fäuste gegen das Holz schlugen wie auf eine Trommel, aus der nichts als Lachen kommt. Sie öffnete nicht, was sollte ich tun, ich warf mich gegen die Tür, ich sprang, ich wusste doch, wie man springt, ich bin auf dem Schanzentisch und spring, spring in die Tür, hinter der sich meine Mutter umbringt, wo sie auf dem Bett liegt, in der Hand das leere Tablettenröhrchen, wo sie an der Heizung hängt, wahrscheinlich hat sie sich am Kronleuchter erhängt und der hat sie erschlagen, lachte jetzt mein Vater mit und über sich selbst, ich sah Mutter blutüberströmt, mit geweiteten Augen, das Bett übersät mit kleinen Flaschen, ein Flaschenmeer aus grünem, weißem, braunem Glas, leere Flaschen, eine nach der anderen geleert, das Lachen, das Schlucken, die paar Schlucke, und schon war die Stimmung besser, zur Verdauung, mir ist schlecht, mein Junge, ich hab mir den Magen verdorben, das ist wie Medizin, ich krachte mit der Schulter gegen die Tür, sank zu Boden, es tat weh, die Tür hatte sich kaum bewegt, aber ich gab nicht auf, nahm Anlauf, sprang und der Schmerz schoss in mich. Ruf die Rettung, rief ich, Vater, hilf, hilf mir, wie konnte ich mich gegen die Tür stemmen, als ich unten den Schlüssel in der Haustür hörte und Mutter sich vollgepackt mit Einkaufstaschen hindurchzwängte, Schatz, ich bin zu spät, verzeih, ich mache gleich Essen, ein paar Minuten, kein Hallo zu meinem Vater, ich rang nach Luft, pumpte, jetzt spürte ich das Stechen tief in der Schulter. Mutter, warum ist dein Zimmer abgeschlossen? Was hast du in meinem Zimmer zu suchen? Lachen, mein Vater schlug sich auf die Schenkel, und ich hörte das Klirren des Schlüssels auf der Glasplatte des Wohnzimmertisches, du verziehst den Jungen, der bekommt noch einen Ödipuskomplex, er schaut mich an, als wollte er mich umbringen, er schüttelte sich vor Lachen, ist dir das noch nicht aufgefallen, dass dein Sohn mit dir schlafen möchte?
Ich erstarrte, ich stand zwischen Vater und Mutter, mit hängender Schulter, Tränen in den Augen, aus Angst, aus Wut, aus Trauer, Vater machte mit seinem linken Daumen und Zeigefinger einen Kreis und schlug mit der rechten Hand darauf, aber er blickte mich nicht an dabei, er schaute nur nach vorne auf die Serien, jeder Schlag der flachen rechten Hand auf den Kreis in seiner linken schlug mir ins Gesicht, er ohrfeigte mich, Muttersöhnchen, will seine Mutter flachlegen, das Kind, und Papa dafür das Messer in den Rücken rammen, Mutter wusch den Salat, das Wasser lief, was hatte sie gehört, hatte sie gehört, was er gesagt hatte, hatte sie es überhört, hörte sie ihm überhaupt noch zu, ins eine Ohr rein, ins andere raus, Schatz, deckst du den Tisch, Mutterrammler, ich bin gleich fertig, schalte den Fernseher aus, Mutter trank nicht mehr, hatte sie je getrunken, nimm die Tabletten, aber verschone mich mit deinem Therapeuten, hatte Vater sie angeschrien, hatte ich gehört, durch die Tür, durch ihre Schlafzimmertür, und dann das Bett, hatte er sie geschlagen, auf das Bett geworfen, schlug er sie, er schlug sie doch nicht, sie schrie, Mutter schrie, ja, sie schrie, aber es waren andere Schreie plötzlich, Lustschreie, das Kind, das Kind wird es hören, deck auch die Löffel ein, ich habe uns Eis mitgebracht. Vater hatte den Fernseher ausgeschaltet, kam zum Esstisch, schaute mich nicht an, aber ich hörte weiter das Lachen, hörte das Lachen aus seinen Lachfalten, aus seinen geschlossenen Lippen heraus hörte ich es lachen, er schlug mir auf die Schulter, du wirst doch einen Spaß verstehen, mein Junge, du bist doch fast ein Mann, wie kannst du ein Mann werden, wenn du deinen Vater nicht erschlagen willst. Ich bin dein Feind, verstehst du, ich liebe dich, mein Sohn, ich will dir nur helfen, da draußen tobt der Krieg, du siehst es nicht, aber es ist Krieg und nur die Härtesten werden überleben und sich als Sieger das nehmen, was sie wollen.
Setzt euch, ging meine Mutter dazwischen und stellte die Schüssel mit den Nudeln in die Mitte des Tisches. Wollen wir nicht ein Tischgebet sprechen, fragte Vater und faltete die Hände. Aber das machen wir sonst nur Weihnachten, wandt Mutter ein. Es ist ein Ros entsprungen, schoss es mir durch den Kopf. Warum wollte mein Vater mich bis aufs Blut provozieren, Pater? Ich kam mir immer vor wie der Sündenbock, ich war schuld, an allem schuld, was in seinem Leben schiefgelaufen war, er musste mich Gott opfern, mir die Kehle durchschneiden und mein Blut sammeln in einer Schüssel. Magst du denn keine Tomatensauce, du liebst doch Tomatensauce, dachte ich? Dann nimm dir Butter, wenn du magst, oder Parmesan. Er isst, was auf den Tisch kommt. Nimm Chili, dann schmeckt es dir besser. Er kippte das Pulver über meine Nudeln. Was hatte ich ihm getan?
Ich werde in die Klinik gehen, Pater, ich möchte wissen, ob er mein Vater ist. Muss ich ihn deshalb exhumieren? Mach ich das nicht gerade? Ihn ausgraben und die Erde von den Knochen pissen. Er quälte nicht nur mich, er quälte auch Mutter. Sie brachte das Geld mit, das er in Luft auflöste, mit seinen Luftgeschäften und Luftbuchungen, seinen Luftschlössern. Er quälte sie, fast war es so, als wollte er sie bestrafen, indem er sie, indem er uns arm machte, ruinierte, in den Bankrott, in die Privatinsolvenz trieb, in den Offenbarungseid. Aber Mutter zog wie die Flaschen immer wieder ein Konto, einen Koffer, ein Schließfach aus dem Nichts, aus dem Verborgenen und beglich mit seinen Schulden ihre Schuld. Hatte sie eine Schuld, war ich ihre Schuld? Warum hatte sie ihn nicht verlassen? Sie liebten sich. Ich verstehe nicht, warum, aber sie liebten sich, sie konnten nicht anders, sie liebten sich auf meinem Rücken. Ich lag auf dem Bauch, in die Matratze gepresst, erstickte fast, und sie liebten sich auf meinen Schultern, drückten mein kümmerliches Flügelpaar unter die Schulterblätter, tief ins Fleisch hinein wie Messer, mein Engelchen, mein Engelchen, was weinst du, warum bist du nur so traurig, Engelchen, Kullertränchen, komm doch zu uns rüber, ins Bett, leg dich zwischen uns, verweichliche den Jungen nicht, dreh die Heizung in seinem Zimmer ab, dann schläft er besser, zieh ihm die Socken aus, das Elternschlafzimmer, da kommt das Christkind, da darfst du nicht rein. Ich wollte, dass sie mich in ein Internat stecken, dass ich frei von ihnen bin, dass ich sie aus der Ferne lieben kann, ich träumte von einem Internat, von Schlafsälen, Freunden, Jungs, die zusammen Sport machen, Abenteuer erleben, heimlich rauchen, kiffen, knutschen, Jungs, die keine Eltern brauchen, harte Jungs, weiche Jungs, nicht alleine schlafen müssen, nicht die Geräusche der Eltern hören müssen, nicht Sohn sein, nicht Kind sein, Herr Pater, ich wünschte meine Eltern tot, ein Autounfall, ein Flugzeugabsturz, ein Virus, in Quarantäne, weggesperrt, hoffte, sie würden meinen Vater verhaften wegen betrügerischer Geschäfte, Pyramidengeschäften, Schneeballsystemen, aber er war nie der Abzocker, sondern immer nur der Abgezockte, er hatte nicht den langen Atem, er kam zu kurz, war immer zu kurz gekommen. Ich hätte ihn auch umbringen können, dann wäre ich ins Heim gekommen, besser ins Heim als dieses Elternhaus sein Heim nennen. Schon als Kind spielte ich ausziehen, wegziehen, ins Internat ziehen, spielte davonlaufen, ausbüchsen, abhauen, ausbrechen, versteckte mich im Keller, kauerte mich in ein Ecke und träumte, ich wäre in einem Lastwagen, in einem Zugabteil, einem Kofferraum, einem Container, unter Deck, nur weg von hier, und wenn ich die Augen öffne, bin ich in Amerika, die Freiheit, die Weite, nichts als Weite, alles hinter mir lassen, meine Eltern. Warum soll ich sie ehren? Mein Vaterland, meine Muttersprache, die Mutter Kirche, den Vater Abt, die Muttermagermilch und die Vatermorgana? Ich wollte keine Kinder, aber dann wurde ich Vater, selbst Vater, verstehen Sie, Pater. War ich ein besserer Vater? Soll es nicht heißen, du sollst deine Kinder ehren? Ihr Kinderlein kommet, oh kommet doch all, das singt ihr doch, Pater, nicht, ihr Kinderlein kommet. Und sie kommen, die Schar zu den Heiligen, die Esel zu den Ochsen, die Kälber zu den Stieren. Ich habe meinen Sohn ins Internat gegeben. Er wollte es nicht. Meine Frau wollte es nicht. Ich wollte es. Er sollte dort sein, bevor ich wie mein Vater wurde. Ich musste mich von ihm trennen, solange ich ihm noch der Vater war, den er sich wünschte, den er lieben konnte, den er nicht hassen musste. Sollte er andere hassen. Aber ich vermisste ihn, vermisste ihn so stark, ich vermisse ihn, ich kann nicht leben ohne ihn. Ich habe ihn früher wenig gesehen, aber, er war da, zu Hause. Als ich mit dem Lift hochfuhr, hier hochfuhr, saß ein Junge neben mir, ein kleiner Junge, so alt, wie auch mein Sohn einmal war. Ihm war ganz kalt, er fror, er fürchtete jede Berührung, jeden Körperkontakt, aber dann rutschte er zu mir, unwillkürlich. Ich wollte meinen Arm um ihn legen, ihn wärmen, ihn beschützen. Er sprach vor sich hin, sprach in seinen Helm hinein, er merkte gar nicht, dass ich hörte, was er sagte, dass ich ihm zuhörte. Er zerbiss seine Skimaske mit seinen Worten, er sprach ein Loch durch die Maske, er war unglücklich, ein unglücklicher, kleiner Junge. Ich wollte ihn mitnehmen, ihn zu meinem Jungen machen, ihm ein Vater sein, ab heute bin ich dein Vater, ich bin dein Vater, Junge, ich bin für dich da, ich bin für alles da, ich lass dich nicht allein, lass dich nie wieder alleine, ich pass auf dich auf, Tag und Nacht, dir wird nichts geschehen, du musst keine Angst haben.«