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Die Streif musste begonnen haben. Ein Raunen rauschte über die Hänge, klammerte sich an die Lifte, multiplizierte sich in den staunenden Mündern, in den unwissend geweiteten Augen, in den nervösen Schultern der Liftmänner, die zurück zu ihren Radios oder Bildschirmen wollten und den Himmel nach Zeichen absuchten, dem Vogelflug der Helikopter. Jeder hatte seine Privatmythologie, warum es heute klappen musste. Weil es mehr rote als blaue Anoraks gab, mehr weiße als gelbe Skischuhe, weil das Thermometer stieg, weil drei Streifen am Horizont waren, das gleiche Unterhemd, die gleichen Socken, weil er sich eine Woche nicht rasiert hatte, weil der Schnee es erzählte, weil der Eiszapfen es mit seinen Tropfen in den Boden bohrte, egal weshalb, ein Österreicher musste gewinnen. »Der Wind riecht nach Franz Klammer«, hatte ein schmierig lächelnder, sich wortlos für jede Bewegung entschuldigender Mann Ödön fast angeschrien und war dann im Lift zu ihm hinübergerutscht, war unangenehm nahe gekommen mit seiner abstoßenden körperlichen Präsenz, als hätte er Mundgeruch, als würde er zum Frühstück Fliegen fangen und sie mit seinen fetten, schmierigen Fingern zerdrücken, um sie auf sein Honigbrot zu kleben. Er platzte aus seinem Anorak, der mit seinen rosa Ballonärmeln aus einem anderen Jahrtausend kam. Man erwartete einen blonden langhaarigen Herkules oder Sonnyboy, aber dieser Mann hatte im Blick, in seinem devoten Lächeln ein Kellerverlies, einen Bunker für dunkle Begierden, hinter jedem Satz fiel eine Eisentür ins Schloss. »Heute werden wir gewinnen.« Und erst jetzt fiel Ödön auf, dass er ein Deutscher war, dass er einen eigentümlichen deutschen, verwehten Akzent hatte, eine belegte Stimme, eine Blaupilzzunge. Zum Glück waren sie in keiner Gondel, sagte er sich und wollte einwenden, nie und nimmer würde der einzige Deutsche gewinnen, im Gegenteil, der könne froh sein, wenn er ohne Verletzung den Zielraum erreiche und nicht vom Gespött der Menge totgeprügelt würde.

»Da, schau, da drüben«, der Deutsche zeigte auf einen Skikurs, »da schlittert unsere Zukunft! Das sind die Streifhörnchen. Ich hab schon geschrieben, wir müssen die Samenproben unserer Streifgewinner sammeln, den Ferstl Sepp, und dann müssen wir sie unseren goldenen Skimädels einspritzen, Skiborn, verstehen Sie, dieses Mal zum Wohle der Skination, wir dürfen uns nicht länger erniedrigen lassen von diesen Österreichern und Schweizern, das gefährlichste Rennen der Welt muss ein Deutscher gewinnen, wir gewinnen ja auch die Formel 1. Sie werden sehen, Sie werden von mir hören, ha!«, der Kauz sprang fast aus dem Lift und beschleunigte, wie man es seinem Gewicht nicht zutraute, er wurde plötzlich ganz geschmeidig, ging in die Knie, schwebte fast über die Buckel, er nahm die Abkürzung durchs Gelände.

Ödön verfolgte den Skikurs, der unten querte. Es waren nur noch Skikurse unterwegs. Sie schossen aus dem Schnee in allen Farben und Leiberln, lauter kleine Teufel mit Leuchtwesten und Tierhelmen, Häschenohren.

Es gab Kurse mit Kindern in Kostümen. Obwohl Fasching noch fern war, waren sie ganz verkleidet und die Piste glich an manchen Stellen einem Streichelzoo. Ödön hoffte nur, dass die Mangas nicht auch noch das Skigebiet für sich entdecken würden und er mit japanischen Monstern oder Mädchen mit zerrissenen Netzstrümpfen Schlepplift fahren müsste.

Dort unten musste der nächste Unfall passiert sein. Zwei Skidos brachten Kinder zu einem am Rand gelandeten Helikopter, der gleich den Schnee aufstäuben würde, und während die RedBull-Showhelikopter und Weltkriegsmaschine Kunststücke zeigten und Saltos durch die Luft schlugen, einen Looping nach dem anderen auf die sonnenüberflutete Postkarte zauberten, weinte ein Kind, schrie vor Schmerz, übertönt von den Rotorblättern, dem Schluchzen seiner Mutter, den Fangesängen vom Zielraum, die nach oben stiegen, Jubel, vom Wind getragen, Lautsprecheransagen, und da lagen zwei Jungen, die mit den Köpfen aneinander gestoßen waren und schossen durch einen Luftraum, der so außer Rand und Band war wie alles auf dem Boden. Fehlten nur noch die Düsenjets, die die Streif vor ausländischen Terrorattacken schützten, vor Rucksackbomberfallschirmspringern und Plastiksprengstoffparaglidern, vor all den Freestylern, die durch den Himmel wirbelten und unvermutet einschlugen.

Und da waren sie tatsächlich die Jets, die mit ihrer Überschallgeschwindigkeit den Rennläufern unten auf dem Eis vorgaben, wie sie Fahrt aufnehmen sollten und die Schallmauer durchbrechen. Wenn ein Österreicher sich aus einer Raumkapsel in die Atmosphäre stürzen könnte, warum nicht mit dem gleichen Todesmut in die Mausefalle?

Als Ödön an der Unfallstelle war, überkamen ihn Tränen, er schüttelte sich vor Schluchzen, sein Körper zuckte, er konnte nicht mehr. Im Schnee lag ein Krokodilskostüm ohne Kopf, ein Tigerkostüm, dessen Kopf halb abgetrennt war und das im Hals ein Loch hatte. Ödön suchte nach Blut, aber es war kein Blut zu finden, nur die Spuren der Rettung, der Hilfe, die hoffentlich nicht zu spät gekommen war. Und während er stand und versuchte, wieder die Kontrolle über sich zu bekommen, jagte der nächste Raser über seine Ski und hätte ihn um ein Haar gerammt. Hätte er seinen Kopf nur etwas nach vorn geneigt, er hätte ihn abrasiert. Ödön wollte ihm nach, ihn sich schnappen, aber im letzten Moment hielt er inne. Er schien ein herausragender Fahrer zu sein, nahm immer mehr Speed auf und verschwand plötzlich in den Wald. Ödön könnte ihn nicht einholen. Und wenn er ihn einholte, was dann? Was würde er dann machen? Ihn zusammenscheißen, anschreien, ihn anzeigen, ihm die Faust ins Gesicht schlagen, ihn anspucken, einen Tumult erzeugen, ein Geschrei, einen Auflauf. Es war ihm nichts passiert, warum wegen eines solchen Idioten nun alles riskieren, was er minutiös vorbereitet hatte. War der Krokodilskopf im Helikopter? Würden sie ihn mit in die Notaufnahme nehmen, mit dem Bett durch die Gänge rasen, umklammerte das Kind ihn mit der kleinen Hand und ließ ihn nicht mehr los? Vielleicht hatte es sich nur das Bein gebrochen. Vielleicht war alles gar nicht so schlimm, redete er sich ein, ein paar blaue Flecken. Leichenflecken, durchschoss es ihn, und wieder kamen ihm die Tränen. Er fasste sich. Er hatte doch ein Ziel. Er musste zur Kapelle, er musste rechtzeitig dort sein. Wenn er seinen Zeitplan nicht einhielt, riskierte er alles. Er blickte auf sein Handy, den Livestream.

Das wäre die Ironie der Geschichte, dachte er sich, wenn er sich jetzt den Arm brechen würde, wenn er einen Unfall hätte, wenn ihn jemand rammen, in ihn hineinfahren würde, sein Herz aufspießen, die Skispitzen durch den Kehlkopf fräsen, wenn ihm jemand die Innereien zerfetzen und ihm schlicht das Kreuzband riss, weil er ausweichen musste, eine falsche Drehung. Es brauchte ja niemanden, er konnte es selbst einfädeln, ein unkonzentrierter Moment, eine Bodenwelle, ein Loch, ein Stück Eis unter der Schneedecke. Sein Vater hatte ihm immer Hals- und Beinbruch gewünscht, und er hatte Skiheil geantwortet und beide hatten sie mit einer Wut im Bauch dabei gelacht.

Ödön wischte sich die Tränen aus den Augen, setzte die Brille wieder auf, die fremde Farbe und er fuhr so, als fahre er einem Skilehrer hinterher, Schwung für Schwung. In Schönheit sterben, dachte er, und verkantete.