15
Ödön sah auf das Ohr, das Profil des Paters, durchlöchert vom Gitter zwischen ihnen, der durchstochenen Membran Gottes. Ödön wunderte sich, dass er ihn mit keinem Wort fragte, warum er nicht aus dem Beichtstuhl gekommen war, warum er nicht ganz selbstverständlich hinausgetreten war, nachgefragt, sich besorgt gezeigt, alle Hilfe angeboten und alle Zweifel zerstreut hatte, Auge in Auge mit den dreien, die sich sein Gesicht eingebrannt hätten, die ihn wiedererkannt hätten, identifiziert, rekonstruiert, die sein Gesicht aus Tausenden Gesichtern zusammengesetzt hätten, die Nasenflügel breiter, die Augenbrauen tiefer, die Lippen voller, eine Narbe auf dem Lid, enger anliegende Ohren, Locken, nein, nicht Locken, der Helm, gibt es keinen Helm in dem Programm, holen Sie einen Zeichner, können Sie auf dem Computer nicht zeichnen, Bart, ja, nein, Dreitagebart, die Haut, eher dunkel, trotz Kälte, trotz der Leichenblässe dunkel, eher südländisch, Haarfarbe, schwarz, ja schwarz, ein schmutziges Schwarz. Aus dem Baukasten seines Sohnes hätte der Alte ihn zusammengesetzt, der Kopf eines Panthers auf dem Körper eines Esels und den Beinen eines Nilpferds, die Augen eines Adlers, die Lippen eines Kamels, die Haare eines Affen, die Ohren eines Otters, die Lederjacke eines Bikers, die kurzen Hosen eines Fußballers, Skischuhe, Schwimmmütze, Zigarre, peng, sie explodiert, es ist ein Spiel, alles verändert sich, jeder verändert sich, wie sollen sie sich an mich erinnern, sie müssten sich nicht erinnern, keiner hat mich gesehen. Ahnte der Pater etwas? Ahnte er, warum ich nicht entdeckt werden wollte, habe ich ihn unterschätzt, hat er ihnen ein Zeichen gegeben, holen sie Hilfe, sie kreisen mich ein, der Schnee fällt und fällt und fällt, er schneit mich ein, ich werde in der Kirche eingeschneit, mit dem Pater eingeschneit, im Beichtstuhl eingeschneit, den Schnee schon bis an den Lippen, er friert, meine Lippen frieren zusammen, ich kann meine Lippen nicht mehr öffnen, wie Eiswürfel kleben sie in meinem Gesicht.
»Das dritte Gebot«, hob er gegen alle seine Schübe an, »können wir auslassen. Ich kann keinen Sonntag. Ich war ein Sonntagsarbeiter, Sonntag war Spieltag.« Aber der Sonntag war für mich kein Spiel, kein kurz in die Kirche gehen, sich den Segen holen, Weihwasser auf die Stirn, beten, Hände kneten, zeigen, dass man da ist, zeigen, wer man ist, was man hat, was man haben wird, dann essen gehen, mit der Familie, Sonntagsbraten, Satansbraten, geschmort, ich war wie in einem Schmortopf gefangen an solchen Sonntagen, an den spielfreien Sonntagen, an den Familiensonntagen, wenn ich nicht verreisen konnte, durfte. Sonntag ist der Tag des Herren, der Herrentorten, der Herrenreiter, sonntags spielen die Herren Dame, befeuchten ihre Zigarren, sonntags wird spazieren gegangen, ausgiebige Spaziergänge, Kreuzgänge, in denen du zu Kreuze kriechen musst für all die Sünden der Woche, Sonntag ist Harmonie, nichts ist härter als diese Harmonie der Sonntage, die ruhige Zeit, wenn es in dir schreit, lauter als in den Fankurven, wenn du Feuerkörper zündest und doch nur die Kerze anmachst, damit wir es gemütlich haben, ausspannen können, alle viere von sich strecken, niedergestreckt, Bauchschuss, noch eine Torte, Plattschuss, ich kann nicht mehr, einen Schnaps, Shot, und in den anderen Ligen spielen sie erst abends, wo sie den Winter durchspielen, musst du immer die Nächte vor dem Fernseher verbringen, kannst du die Spiele nicht aufzeichnen, wir sind eingeladen, wir bekommen Gäste, wer bekommt sonntags Gäste, abends, Samstag bist du doch nicht da, Samstag spielst du doch, als wäre nicht all die Tage Fußball genug.
Ich arbeite, verdammt, ich scoute Spieler, das ist wie Aktien verkaufen, ich könnte auch in eine Bank gehen, in einer Bank arbeiten, meine Spieler sind meine Bank, sie sind eine Bank, und wer sich auf die Bank setzt, der greift mein Kapital an, ich kaufe und verkaufe nicht in Millisekunden, ich bin nur ein Vermittler, nein, ein Freund, ein Freund des Fußballs. Sonntags ist der Fußball meine Messe, Herr Pater, die Stadien die Kathedralen, zu denen ich pilgere, die Dorfkirchen, die Bolzplätze, die Käfige in den Outskirts, die Garagentore sind meine Sakristei, meine Ministranten sind die Jungs, denen der Ball am Fuß klebt, die von der Straße kommen, die aus den Asylheimen kommen, die mit den Schiffen aus Afrika kommen, die fast verdurstet sind, aber verdursten, wenn sie nicht spielen, Ball für die Welt, das ist mein Programm, ihr könnt ihnen ruhig Brot versprechen, ich lass es sie verdienen, ohne dass sie betteln und dabei traurig schauen müssen. Ich bin ein Missionar, verstehen Sie, ich bin dort, wo es weh tut, in den Slums, ich wage mich da rein, ich spreche mit den Jungs, mit den Eltern, ich gebe ihnen Hoffnung, nicht aufs Jenseits und seine Todesschwadrone, nein, hier und heute, zum Fressen und Träumen gebe ich ihnen, das ist kein Sklavenhandel, die Leute sind doch nur Sklaven ihrer Vorurteile, Sklaven des schlechten Gewissens, das ihr allen macht, eure Bischöfe fliegen Erste Klasse ins Elend, stoßen mit Champagner im Anflug auf die Erlösung der Welt an, eure Nächstenliebe ist sich selbst der nächste Gang, das nächste Glas, der nächste göttliche Gigolo, hören Sie mir auf, ich bin ein Heilsbringer, ich habe die Luftpumpe, die den Ball aufbläst, das Flickzeug, das ihn vorher flickt, was sage ich, ich bringe ihnen Bälle mit, obwohl sie das, was sie können, mit Dosen lernen, mit Bällen, die sie sich selbst zusammenflicken.
Mit ihnen und ihren Eltern gehe ich sonntags in die Kirche, singe, bete, werfe die Hände in die Luft, umarme sie, mir egal, ob das katholisch ist oder irgendeine protestantische Sekte, an was die da beten, ich bete ihre Söhne an, Söhne Gottes am Ball, das Himmelreich in ihren kleinen Füßen, sie spielen auf Wolken, immer knapp über dem Boden, sie sind Jünger des Heiligen Diegos, ihre Madonna ist Maradona, ihr Jesus Sokrates, ihr Messias Messi, und ich bin der Papst, verstehen Sie, ich verschicke sie in die ganze Welt. Ja, ich bring sie hier unten, unter all den Rassisten, in die Dorfvereine, die nur das Maul halten, weil ihnen die Münder offen stehen bleiben, wenn sie meine Mohren den Ball küssen sehen, und wie ein dribbelndes Pfingstwunder allen das Spielen beibringen.
Soll ich ihnen sagen, sie dürfen sonntags nicht vor die Türe, nicht auf den Platz, nicht den heiligen Boden berühren, die Grasnarbe, aufgefahren in den Himmel, ich sitze und beobachte sie, das ist Arbeit ja, ich arbeite für die Kinder Gottes und schicke ihre Eltern zum Teufel, ich verkaufe sie nicht, ich betreue sie, ich bin ihr Hirte. Wollen Sie den Stab brechen? Die Jungs in den Skiinternaten fahren ja auch sonntags Ski, oder? Oder müssen sie in die Kirche und dann im Liegestuhl ruhig mit ansehen, wie die anderen die Hänge hinunterwirbeln, wie sie sich balgen, einander berühren, als wären sie Slalomstangen?
Ödön wartete, hoffte auf eine Reaktion, eine Drehung des Kopfes, eine Wimper, die hochschnellt, ein Husten, das Verkrampfen der Faust, er wiederholte »Internat«, er redete von den Jungs dort, dass ihr Vergnügen ja auch ihre Arbeit war, werden wir noch so erzogen, dass wir alles verwischen, verwischen Sie nicht auch Vergnügen und Arbeit, Pater, im Skigebiet, nehmen die Beichte ab wie andere dir den Bügel unter den Arsch halten, ja, Sie sind so überholt wie Schlepplifte, die ganze Kirche ist ein Schlepplift, und es bläst dir ins Gesicht, und du fürchtest Hüfte an Hüfte um dein Gleichgewicht, es drängt dich aus der Spur, aber du entkommst nicht dem andern, der Bügel ist verrutscht in deinem Kreuz, deinem Knie, du stemmst dich gegen den anderen, du nimmst die Kleinen zwischen die Beine, es geht bergauf, aber wenn du aussteigst, stehst du allein da und die anderen ziehen vorbei, du stehst in der Schneewehe, du fällst aus der Liftgemeinschaft, fällst vom Glauben ab, und sie lachen, lachen dich aus, wer fällt schon aus dem Lift, Anfänger. Ihr bringt den Kindern das mit den Bügeln bei, wie sie ihn zwischen die Beine nehmen, wenn sie allein fahren, wenn ihr sie allein lasst.
Du Drecksau hast, verschluckte Ödön, noch nicht, jetzt noch nicht, wenn, wollte er alles loswerden, er wollte alles hinter sich bringen, einmal alles erzählen, über alles reden, warum nicht hier, wir kommen eh nicht raus, es gibt kein Entkommen, nur den Schutz der Kirche, Kirchenasyl, Wehrkirche, ich wehre mich, wehre mich hier in deiner Kirche, ich trotze, ein trotziges Kind, wie waren die Sonntage zu Hause, Herr Pater, die Sonntage waren wir in Kitzbühel, jedes Wochenende in den Bergen, auf den Pisten, das Wochenende war meinen Eltern heilig, in der Skihose zur Messe, die Kälte in den Körper lassen, die den ganzen Tag nicht mehr weichen wird, bis abends die Zehen in der Dusche unter dem heißen Wasser verbrennen, du nur das Brennen spürst, auf dem Scheiterhaufen unter der Dusche stehst, im Regen, sie ließen mich im Regen stehen, das härtet den Jungen ab, ich bin abgehärtet, jedes meiner Blutkörperchen trägt seine Bleiweste durch meine Arterien.
Aber, Herr Pater, auf das war ich nicht vorbereitet, keine Härte der Welt schützt davor, kein Stahl, kein Panzer ist hart genug, es bläst alles weg. Wo war Gott, als es über mich kam? War ich ein Vater wie mein Vater? Ist mein Vater schuld, ist es vererbbar? Ist das die Erbschuld? Meine Eltern. Ich sollte sie ehren, Vater und Mutter. Er sollte mich ehren. Sie werden ungeduldig, nicht, oder friert Sie? Ich sehe es an Ihren Bewegungen, ich habe gelernt, Körper zu lesen, wissen Sie. Gott hat Zeit, ich nehm sie mir, Gott schenkt mir Ihre Zeit. Hat eigentlich schon einmal jemand im Beichtstuhl geraucht?