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Ich bin ein Krokodil, ein Schneekrokodil, wenn ich weine, weine ich Schneeflocken, große, schwere Schneeflocken, die mir kalt über die Wangen laufen. Aber ich weine nicht, der Himmel weint für mich, ich muss nicht weinen, ein Schneekrokodil ist so stark wie ein Schneeleopard. Doch ein Schneeleopard kann springen, kann aus dem Stand springen, über die Schlucht springen, über alles hinwegspringen.
Ich wäre gern ein Schneeleopard oder ein Schneetiger, ein Säbelzahntiger. Dann könnte ich mit meinen gefletschten Säbelzähnen allen Angst machen. Du böser Mann, gleich ist dir ganz bang, wenn ich dich fang, mein Maul aufreiß und dich dann beiß. Ich fresse alles, ich fresse die ganze Welt auf, fresse allen Schnee weg, dann ist die Wiese grün und der Himmel ist blau, aber mein Bauch ganz voll Schnee. Und ich hab Bauchweh, ganz schlimmes Bauchweh von dem vielen Schnee, ganz kalt ist mein Bauch, so viel Schnee kann ich gar nicht schlucken, aber ich hatte einen solchen Durst, so schrecklichen Durst, und Hunger.
Ein Schneekrokodil frisst Gummibärchen, aber die Gummibärchen haben sich versteckt, sie sind davongelaufen, die Gummibärchen haben sich als Eisbären verkleidet, deshalb sehe ich sie nicht und kann nicht nach ihnen schnappen. Ich esse keine Süßigkeiten von fremden Männern. Ich habe ganz scharfe Zähne, pass nur auf, und ich bin schnell, so schnell, dass du mir nicht hinterherlaufen kannst, wenn du mich einfangen willst. Der Sturm macht mir keine Angst, Schneekrokodile haben keine Angst, auch nicht vor Darth Vader, ich bin nur ein Krokodil, weil ich ein verwandelter Prinz bin. Aber keiner darf mich küssen, ich mag küssen nicht, ich beiße, meine Zähne sind so scharf wie Vampirzähne. Und wenn ich tot bin, bin ich ein Vampirkrokodil, dann saug ich dir das Blut raus.
Mir ist kalt, aber ich habe eine ganz dicke Haut, eine ganz dicke Krokodilhaut, da kommt nichts durch, das ist so dick, das weiße Leder, meine Haut, wie Mamas Handtasche, wie ihre weiße Lederjacke, nur noch viel dicker. Ich sehe gar nichts mehr, ich will gar nichts sehen, wenn ich nichts sehe, sieht mich keiner, so war es doch früher, dass mich keiner sah, wenn ich die Hand vors Gesicht hielt, jetzt halt ich einfach den Schnee vors Gesicht und keiner sieht mich, und ich muss nichts sehen, aber es ist so kalt, Schneekrokodile jedoch, Igor, die frieren nicht, die setzen sich hin und halten still, die halten ihre Ski fest, die halten ihre Stöcke fest. Bräuchte ich eigentlich nicht noch viel mehr Ski und Stöcke oder Bindungen? Ich möchte in den Schnee tauchen, wie ein Krokodil ins Wasser taucht, und dann tauchen nur die beiden Augen auf, und dann sieht mich keiner, weil ich unter Wasser, weil ich unter dem Schnee bin, weil ich unter den Sturm hindurch tauche, die Bäume sind nur Algen, die Berge Korallen, ich bekomme sogar Luft unter Wasser, unter dem Schnee, ich muss mir nicht mal die Nase zuhalten, ich habe ja meine Maske auf.
Warum bewegt sich nichts mehr? Es ist plötzlich so still. Du hast ja ein Loch da? War das mein Stecken? Nicht böse sein? Aua, nicht mir weh tun, pass auf, sonst schnapp ich zu und dann ist deine Nase ab. Meine Mama kann das Loch stopfen. Schau nur, da blinkt es überall rot, überall rot, und die Sirenen. Ich schrei nicht nach Mama, ein Schneekrokodil ist tapfer, tapfer bis in den Tod. Bis der Tod euch scheidet, mussten Mama und Papa bei der Hochzeit sagen. Ich bekomme immer Angst, wenn Mama sagt, sie lässt sich scheiden, dann denk ich an den Tod, der kommt. Dass ich dann auch tot bin, weil ich nicht leben will, wenn meine Mama geschieden wird und Papa todtraurig ist und vom Dach springt, wie er sagt, oder sich umbringt, wie er Mama angeschrien hat. Wie eine Frau klingst du, hat sie zurückgeschrien, ein Waschweib, was für eine Heulsuse du bist, ich dachte, ich hätte einen Mann geheiratet und kein Mädchen. Aber Mädchen dürfen doch jetzt auch heiraten. Ich habe mir Papa als Mädchen vorgestellt, wie er mit den anderen Mädchen spielt. Ich habe sie beide zum Fressen gern, aber wenn ich sie fressen würde, dann wäre keine Ruhe, dann würden sie in meinem Bauch weiterstreiten, und ich hätte ganz furchtbares Bauchweh wie jetzt auch. Vielleicht habe ich sie ja längst aufgefressen.
Ich bin gar nicht so spät dran, wie sie sagen. Sie sagen immer, die Mädchen sind viel weiter, als wäre ich zurückgeblieben, dabei bin ich der Schnellste, schnell wie ein Krokodil, wie eine Gazelle, nein, Gazellen werden gefressen, wie ein Gepard, ich bin der Gepard in meiner Klasse, ich renne, renne davon, warum rennst du denn dauernd davon, Igor, weil ich ein Gepard bin, weil ich schneller als der Wind bin, schneller als der Schnee, ich bin so schnell, dass der Schnee mich gar nicht berührt oder sofort schmilzt, weil ich so heiß bin, weil ich so schnell laufe, weil ich in der Wüste bin, keiner kann mich einfangen. Igor ist noch ganz ein Kind, so verschmust, ganz verschmust, Mamabubi schimpfen sie mich, Daumenlutscher, komm lutsch mal Igor, lutschen Igor, ja weiter lutschen, Igor, so ist es gut. Du wirst deinen Daumen noch ablutschen, sagt Papa. Aber der Daumen wächst doch mit, der Daumen wächst doch nach. Mama hat mir was auf den Daumen geschmiert, das hat gebrannt wie jetzt, wie die Kälte brennt. Nur weil ich Daumen lutsche, bin ich doch kein Baby mehr. Ich kann besser als alle rechnen. Und ich bin der Mutigste. Schau nur, wie mutig ich jetzt bin.
Das hätte sich keiner aus meiner Klasse getraut. Geh mit niemand Fremdem mit. Es gibt böse Männer, die dir weh tun wollen. Wenn ich an Mamas Computer sitze, denke ich immer an die bösen Männer, die gleich kommen, die mich hineinsaugen in den Bildschirm, die mit ihren dicken Händen nach mir greifen, mich mit ihren riesigen, klebrigen Froschzungen abschlecken, die Sex haben wollen, wie sie schreiben.
Ich weiß, was Sex ist, ich habe es gegoogelt auf Mamas iPhone, Brüste auch, und hab mir die Bilder angeschaut wie die großen Jungs. Ich habe die Bilder mit meinen Playmobil-Figuren nachgestellt, mit den Feuerwehrleuten und Polizisten, und die Piraten waren die bösen Männer, aber ich habe fast keine Frauen, deshalb mussten die Männer Frauen sein. Aber Männer haben ja auch Sex mit Männern, wie du ja weißt, du hast ja alles gesehen. Mich haben schon oft Männer angesprochen. Was für ein süßer Junge ich wäre, ob sie ein Foto machen dürfen. Und haben mir, wenn Mama dabei war, in die Backe gekniffen. Oder saßen im Lift neben mir und haben mich ausgefragt. Aber du warst ja dabei, und seit ich ein Krokodil bin, hat sich keiner mehr getraut.
Es ist schön warm in meinem Skianzug, nicht? Wenn es so weiterschneit, sind wir morgen früh ein Schneemann mit Krokodilschnauze. Und dann wird Mama weinen müssen, weil sie glaubt, die Schneekönigin hätte mich verzaubert, weil ich dann ganz tot und erfroren bin und sie mich dauernd reiben muss und ihre heißen Tränen fallen auf meinen Bauch, in dem sie sich sonst streiten, dann weint sie Krokodilstränen, obwohl ich das Krokodil bin, und sie rubbelt mich ganz arg und umarmt mich, bis der Schnee weg ist, bis das Eis weg ist, aber dann zerspringe ich wie die Vase, die ich beim Fußballspielen im Wohnzimmer von der Anrichte geschossen habe, aber Mama wird nicht schimpfen, sie wird weinen und mich wie die Scherben aufkehren, und dann wird sie mich wie diese schweren Puzzles, wo am Ende immer Teile fehlen oder unter dem Teppich landen, wieder zusammensetzen, aber ich werd nie wieder ganz sein, glaub ich, und sie muss auf die leeren Stellen Pflaster kleben, auf die sie dann mit dem roten Filzer ein Herz malt. Aber Mama kann gut flicken und Löcher stopfen, sind wird auch deine Wunde heilen.
Was ist da los, die ganzen Lichter, alle Lichter drehen sich. Müssen wir uns verstecken? Müssen sich denn Krokodile verstecken? Das tut mir weh. Das will ich nicht.