ACHT

In Filmen prügeln die Helden aufeinander ein, ohne dass es sie zu beeindrucken scheint. Insbesondere John Wayne war einer der Protagonisten gewesen, der jede noch so derbe Schlägerei wegsteckte, ohne erkennbare Wirkung zu zeigen.

Christoph fühlte sich alles andere als wie ein Held. Der Kopf brummte noch, und auch der Leib war nicht beschwerdefrei, obwohl er sich das Wochenende über geschont hatte. Deshalb hatte Christoph auf der Dienststelle angerufen und dort hinterlassen, dass er zuvor noch Dr. Hinrichsen aufsuchen wollte.

Als er die Praxis betrat, sah Anna Bergmann hinter dem Empfangstresen auf.

»Willst du dich entschuldigen kommen?«, fragte sie. »Wir hatten uns für Freitagabend verabredet. Ich finde es nicht schön, wenn du mich einfach sitzen lässt, ohne mir eine Nachricht zukommen zu lassen. Selbst dein Handy hast du abgeschaltet.«

Er hatte das Mobiltelefon abgeschaltet, als der Vibrationsalarm ihn mitten im Verhör des Ehepaars Klingenberg auf der Quickborner Wache überraschte. Später hatte er nicht mehr an Anna gedacht.

Er erzählte ihr von seinem unfreiwilligen Abenteuer. So ganz war sie noch nicht versöhnt, verschaffte ihm aber eine Sonderbehandlung, indem sie ihn auf einen Stuhl im Eingangsbereich verwies. So konnte er unter Umgehung der anderen wartenden Patienten als Nächster ins Behandlungszimmer.

Dr. Hinrichsen untersuchte ihn gründlich, machte umfangreiche Ultraschalluntersuchungen und brummte schließlich: »Sieht so aus, als wären Sie mit einem blauen Auge davongekommen.«

Nicht das Auge, sondern die Beule am Kopf sowie die blauen Flecken auf der Bauchdecke verursachten immer noch Beschwerden.

Nachdem er das Behandlungszimmer wieder verlassen hatte, bat er bei Anna um gut Wetter. »Heute Abend? Ganz bestimmt?«

Sie versuchte, ein mucksches Gesicht zu machen, was ihr aber nicht ganz gelang.

»Gut«, sagte sie und zeigte dabei zwei Reihen weißer Zähne, »und … pass auf dich auf.«

Es war ein kühler Morgen, obwohl ein blauer Himmel einen schönen Tag versprach. Durch die Verkehrsführung, die ihn im Bogen um das Zentrum herumführte, brauchte er mit dem Auto fast genauso lange wie zu Fuß, nicht zuletzt aufgrund der Müllabfuhr, die sich mit den Paketdiensten arrangiert zu haben schien, nur um die engen Straßen zu verstopfen und den Husumern praktisch demonstrieren zu wollen: Ihr solltet in eurer Stadt der kurzen Wege lieber zu Fuß gehen.

»Na, alles klar?«, begrüßte ihn Große Jäger im Büro und musterte ihn kritisch. »Nun spiel hier nicht den Harten. Es reicht hin, wenn du dich im Dienst verprügeln lässt. Ein wenig Ruhe hätte dir für heute nicht geschadet.«

»Ich kann nicht behaupten, du wärst im Unrecht. Es geht aber schon wieder. Und zu Hause würde mich ohnehin nur der Gedanke plagen, wer mir so übel mitgespielt hat. Wobei ich auch Zufallsopfer sein kann, jemand, der von einem Unbekannten überfallen wird.«

Große Jäger zog kräftig die Nase hoch. »Das glaubst du doch selbst nicht. Dieser Bulgare hat dir seinen Schläger hinterhergeschickt.«

»Auch das könnte möglich sein. Trifft das aber zu, hätte Smitkov, der auf mich einen klugen und überlegenen Eindruck machte, einen Fehler begangen. Im Gespräch mit mir trat er nicht nur selbstbewusst auf, sondern er hat auch bemerkt, dass wir noch nicht viel wissen. Wenn er mich anschließend verprügeln lässt, wäre das mehr als unklug. Er kann sich vorstellen, dass wir ihn dann als Ersten im Verdacht haben. Und außerdem halte ich ihn für so gescheit, dass er nicht glaubt, die Polizei durch solche Maßnahmen einschüchtern zu können.«

Große Jäger rümpfte die Nase. »Und wenn du nicht nur einen Denkzettel erhalten solltest, sondern man dich völlig von der Bildfläche räumen wollte?«

Bei diesen Worten des Oberkommissars schrak Mommsen hoch. Er setzte die Teekanne, aus der er Christoph einschenken wollte, mit zu viel Schwung auf Große Jägers Schreibtisch ab, sodass sie überschwappte.

»Pass doch auf«, fluchte Große Jäger und hatte schon ein benutztes Papiertaschentuch zur Hand, um die Feuchtigkeit aufzutupfen.

»Das klingt sehr abwegig«, sagte Christoph. »Bei uns in Nordfriesland werden Polizisten weder eingeschüchtert noch gejagt. Nein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir tätlich angegriffen werden.«

»Und was hat es mit unserem Verfolger auf sich? Wieso haben wir den Eindruck, man würde uns nachspüren und unsere Ermittlungen beobachten?«, warf Mommsen ein.

Christoph reichte ihm die Teetasse, bevor er antwortete. »Zugegeben, dass manches merkwürdig erscheint. Aber daran, dass Smitkov der Auftraggeber für den Überfall war, mag ich nicht glauben. Da liegt es näher, dass der Beobachter, sofern es ihn wirklich gibt, durch meinen Besuch in Quickborn aufgescheucht wurde. Oder, aber das klingt sehr abwegig, wir haben mit Smitkov doch einen wichtigen Faden aufgenommen, und jemand denkt dreimal um die Ecke. Wenn Smitkov nun entgegen meiner Vermutung doch den Schläger losgeschickt hat …«

»Aber vorher hast du dem selbst widersprochen, weil du sagtest, so dumm wäre er nicht, weil wir ihn sofort verdächtigen würden«, warf Große Jäger ein.

»Ja. Und weil dieser Verdacht so nahe liegend ist, schließen wir ihn aus, und wenn Smitkov genauso kombiniert hat und eben noch einen Schritt weitergeht, dann …«

»… könnte er doch den Überfall inszeniert haben, weil er glaubt, wir würden nur zweistufig denken können. Mann, ist das kompliziert«, stöhnte der Oberkommissar. »Darauf muss ich erst einmal …«

»… eine rauchen«, schloss Mommsen den Dialog.

Wenn Telefone heute einen Ton von sich geben, sind es elektronisch erzeugte, die nichts mehr gemein haben mit dem noch mechanisch erzeugtem Klingeln alter Bakelitapparate.

»Starke«, meldete sich der Anrufer, nachdem Christoph abgenommen hatte. »Ich habe von Ihren Eskapaden am letzten Freitag gehört. Wie kommen Sie dazu, sich in eine solche Situation zu begeben? Was hat sich überhaupt zugetragen?«

Christoph ging nicht auf den Vorwurf des Kriminaloberrats ein und schilderte den Ablauf des Überfalls.

»Wieso waren Sie allein unterwegs? Und was suchen Sie überhaupt in Südholstein? Hätten die örtlichen Kollegen nicht die Befragung übernehmen können?«

»Wie Sie schon richtig sagten: Es war eine harmlose Befragung. Und dadurch, dass wir nicht erst eine andere Dienststelle einweihen mussten, haben wir uns alle viel Zeit und Mühe gespart. Ferner war der direkte Kontakt zu Smitkov für uns von entscheidender Bedeutung, um uns einen persönlichen Eindruck von ihm zu machen.«

»Also ist er jetzt Ihr Verdächtiger, ohne dass Sie es begründen können? Ihnen fehlen alle Beweise.«

»Georghe Smitkov ist genauso viel oder wenig verdächtigt wie alle anderen Beteiligten in diesem Fall.«

»Mit anderen Worten: Sie sind überhaupt noch nicht vorangekommen.«

»Das kann man so nicht sagen. Immerhin haben wir die Identität des unbekannten Toten geklärt und damit faktisch auch den ersten Mord in Leck. Opfer und Täter sind identifiziert.«

»Und das Motiv?«

An dieser Stelle musste Christoph passen. Er wollte dem Kriminaloberrat weder etwas von der These mit der russischen Mafia erzählen noch von der Vermutung der Husumer, sie würden beobachtet und verfolgt.

»Da haben wir Ideen, die es aber noch zu untermauern gilt«, antwortete Christoph ausweichend.

»Es wäre begrüßenswert, wenn Sie und Ihre Leute zügig vorankämen, jetzt, wo sie mit Frau Hauck auch noch Verstärkung bekommen haben«, schloss Dr. Starke das Telefonat.

Nachdem Christoph den Hörer aufgelegt hatte, hob er in einer abwehrenden Geste beide Hände in Richtung Große Jäger. »Du musst jetzt keinen Kommentar abgegeben.«

Der Oberkommissar grinste, dass sich das Schwarzgrau seiner Bartstoppeln in Richtung Ohren bewegte. Dann öffneten sich seine Lippen ein wenig. Tonlos, aber für die beiden anderen im Raum unmissverständlich konnte er ein »Scheiß-Starke« nicht unterdrücken.

»Ich werde noch einmal nach Apenrade fahren und mit der Freundin von Reiche sprechen. Vielleicht weiß Anneliese Schmidt doch noch etwas, was sie uns beim ersten Besuch verheimlicht hat. Zumindest ist sie unsere letzte Spur, wenn ich unterstelle, dass weder Smitkov noch Schöppe aus Schleswig reden werden, von Mitrolitis ganz zu schweigen. Dabei fällt mir ein: Ist eigentlich Dugovic wieder aufgetaucht?«

»Ich habe noch einmal mit den Dithmarschern gesprochen. Die sind so clever, dass sie bei ihren Streifen gelegentlich am Haus vorbeigefahren sind. Dort hat sich aber nichts getan. Sorry, wenn ich es in der Aufregung der jüngsten Ereignisse nicht erzählt habe«, entschuldigte sich Mommsen. »Aber ich glaube, ich sollte dich nach Apenrade begleiten.«

»Das ist gut gemeint von dir«, mischte sich Große Jäger ein, »aber dafür bin ich schon eingeplant.«

»Das ist gut gemeint von euch beiden«, beschied Christoph, »aber wir werden keinen Betriebsausflug unternehmen. Ich fahre allein. Und das ist endgültig.« Dabei sah er Große Jäger fest an.

*

Christoph hatte ihren Dienstwagen gewählt, um nicht eine weitere Diskussion über die Abrechnung von Fahrten mit dem privaten Pkw zu provozieren.

Nach den Erfahrungen der Vergangenheit warf er öfter einen Blick in den Rückspiegel, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Er war schon eine Weile unterwegs, hinter Süderzollhaus, als sich ihm eine Gelegenheit bot, einen vorwegfahrenden Lastwagen zu überholen. Routinemäßig kontrollierte er noch einmal den Verkehr hinter sich, als er im Spiegel einen kurz auf die Überholspur ausweichenden Wagen sah, der aber sogleich wieder rechts einscherte.

So langsam leidest du wirklich unter Verfolgungswahn, schalt er sich. Dann wurde er wieder vom Verkehr abgelenkt. Doch er hatte sich nicht getäuscht. Die Autobahn Richtung Grenze, die er mittlerweile erreicht hatte, war nur mäßig frequentiert. Die Fahrzeuge fuhren mit großen Abständen. Und da er beim Einbiegen entgegen üblicher Gepflogenheit nicht übermäßig beschleunigte, wurde sein Verfolger, obwohl er sich geschickt verhielt, überrascht, als auch er auf die Autobahn einbog.

Christoph musste lachen, als er Mommsens gelben Mini entdeckte. Selbst wenn der Innenminister es persönlich untersagt hätte, so wären seine beiden Kollegen ihm doch gefolgt. Wer hätte eine Glucke wie Große Jäger auch stoppen können. Er ließ die beiden im Glauben, sie wären unentdeckt.

Gewohnheitsmäßig reduzierte er beim Passieren der Grenzanlage Ellund die Geschwindigkeit und wunderte sich, dass ein älterer Mercedes »Europa ohne Grenzen« wörtlich nahm und ihn rasant überholte. Das Fahrzeug mit dem weißen »D« auf blauem Grund entfernte sich schnell Richtung Norden. Offensichtlich hatte der Fahrer noch nichts davon gehört, dass der ausgeglichene dänische Staatshaushalt auch durch die drakonischen Strafen für Raser mit finanziert wird.

In Aabenraa parkte er wieder auf dem Platz am Ende der Reperbanen, den ihm Bjarne Thorbensen bei seinem ersten Besuch beschrieben hatte. Christoph überlegte, ob es nicht klüger gewesen wäre, den dänischen Inspektor von seinem Besuch zu informieren. Nein, es sollte ein informelles Gespräch sein.

Die Haustür war unverschlossen, sodass Christoph direkt an der Wohnungstür klingeln konnte. Obwohl er glaubte, Geräusche in der Wohnung wahrgenommen zu haben, blieb die Tür verschlossen. Nichts rührte sich. Nach einer Weile versuchte er es erneut. Auch dieses Mal blieb alles stumm.

Er klopfte gegen das Holz. Erfolglos. Anneliese Schmidt öffnete nicht, obwohl sie zu Hause schien.

Christoph wollte die Frau anrufen. Es dauerte eine Weile, bis sich sein Handy auf einen dänischen Netzbetreiber eingestellt hatte. Dann wählte er die Nummer. Es meldete sich der Anrufbeantworter. Seine Dänischkenntnisse reichten aus, um den allgemeinen Text zu interpretieren. Nach dem Pfeifton sprach er in das Mikrofon.

»Hallo, Frau Schmidt. Hier ist Christoph Johannes von der deutschen Polizei. Erinnern Sie sich? Ich habe Sie neulich mit meinem dänischen Kollegen besucht. Wir sind in unseren Ermittlungen weiter vorangekommen, und ich würde mit Ihnen gern noch ein paar Fragen erörtern. Ich werde mich jetzt auf die andere Straßenseite stellen, damit Sie mich sehen können.«

Er überquerte die ruhige Straße und stellte sich gegenüber auf. Hinter der Gardine vernahm er eine vorsichtige Bewegung. Schließlich wurde sie ein wenig zur Seite geschoben, und Anneliese Schmidts blasses Gesicht tauchte auf. Sie nickte ihm kurz zu.

Als er erneut klingelte, wurde die Tür einen Spalt geöffnet. Hastig warf die Frau einen Blick ins Treppenhaus, ob noch mehr Besucher dort stehen würden.

»Ich bin allein«, beruhigte Christoph sie. Frau Schmidt öffnete die Tür ganz und ließ ihn herein. Hinter seinem Rücken hörte er, wie der Eingang von innen wieder verriegelt wurde.

Nachdem er im Wohnzimmer Platz genommen hatte, sah er die Frau an. In ihrem schmalen, blassen Gesicht hatten sich tiefe Furchen gegraben. Die Augen lagen, umgeben von dunklen Schatten, tief in den Höhlen. So sahen Menschen aus, die krank sind. Oder sich außerordentlich fürchten.

»Geht es Ihnen nicht gut?«, begann Christoph.

Anneliese Schmidt sah ihn lange an, bevor sie antwortete. »Wundert es Sie? Schließlich ist Frank tot.«

»Das ist bestimmt ein schwerer Schock für Sie gewesen. Das verstehe ich. Aber deshalb verbarrikadiert man sich nicht. Vor wem fürchten Sie sich?«

Ihre Augen flackerten. Sie wich seinem Blick aus, dabei massierte sie unablässig ihre Finger.

»Ich möchte mit meiner Trauer allein sein. Das ist alles.«

Christoph schüttelte leicht den Kopf. »Ich gehe davon aus, dass Sie aber an der Beisetzung teilnehmen möchten.«

Ihre Antwort kam schnell. Zu schnell. »Das weiß ich noch nicht.«

»Wann werden Sie wieder zur Arbeit gehen?«

Sie sah ihn überrascht an, als hätte er sie an etwas erinnert, an das sie selbst überhaupt nicht gedacht hatte.

»Das ist noch offen.«

Die Frau bedrückte etwas, aber sie wollte nicht darüber reden. Er musste es auf anderem Wege versuchen. Sie hatte sich in ihrer Wohnung eingegraben und mied jeden Kontakt zu anderen Menschen.

»Hätten Sie vielleicht ein Glas Wasser für mich?«, bat er in der Hoffnung, die Antwort zu erhalten, die ihn weiterbrachte.

»Selbstverständlich. Sie sprang von ihrem Platz auf, ließ sich aber gleich wieder fallen. »Verzeihung, aber ich habe keines mehr im Hause.«

Das hatte Christoph hören wollen.

»Sie wagen sich nicht vor die Tür. Ihre Vorräte an Lebensmitteln erschöpfen sich. Frau Schmidt, wovor fürchten Sie sich? Ich versichere Ihnen, wir können Ihnen helfen. Vertrauen Sie uns und den dänischen Kollegen. Wir wissen inzwischen eine ganze Menge.«

Dann berichtete er in Kurzform davon, dass sie die Identität des Toten aus Reiches Wohnung ermittelt hätten und auch Spuren nachgingen, die auf eine osteuropäische kriminelle Vereinigung hinwiesen.

Anneliese Schmidt atmete hörbar auf. Sie holte tief Luft, konnte ihm aber nicht antworten, da sie ein heftiger Schluckauf befallen hatte.

»Ich hole Ihnen ein Glas Wasser«, sagte Christoph und suchte die Küche. Im dritten Schrank fand er ein leeres Glas und befüllte es mit Leitungswasser. Dann kehrte er ins Wohnzimmer zurück. Frau Schmidt hatte sich nicht vom Platz gerührt. Wenn sie das nächste ruckartige Zusammenziehen des Zwerchfells plagte, hielt sie beide Hände vor dem Mund und sah Christoph mit großen Augen an.

Es verging eine Weile, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie wieder sprechen konnte.

»Es ist so furchtbar«, stammelte sie. »Frank ist da in etwas hineingeraten, ohne zu ahnen, auf was er sich eingelassen hat.« Vorsichtig nippte sie an ihrem Wasserglas. »Für mich ist es eine fremde Welt. Ich verstehe nichts von diesen Geschäften. Aber für Frank lief es nicht besonders gut in der letzten Zeit. In seiner Verzweiflung ließ er sich mit einem Kreditvermittler ein, der ihm zu Wucherzinsen Geld gab. Obwohl Frank wusste, dass es gegen alle Vernunft war, vertraute er zwei großen Kunden, die ihm Aufträge für das beginnende Weihnachtsgeschäft versprachen, dann aber wieder zurückzogen. So konnte er weder den Kredit noch die Zinsen zurückzahlen.«

Ähnliches hatten sie schon vermutet. Viele der an diesem Fall beteiligten Personen waren in eine kritische wirtschaftliche Lage geraten.

»Dann hat man ihn unter Druck gesetzt?«, fragte Christoph, weil Frau Schmidt schwieg.

Sie nippte erneut an ihrem Glas. »Ja. Man hat ihm einen neuen Termin gesetzt. Danach kamen die Drohungen.«

»Welcher Art waren diese?«

Sie ließ ihren Blick stumm im Raum umherschweifen.

»Man drohte, seine Existenz zu vernichten. Ich war zufällig bei einem solchen Telefonat anwesend. ›Die ist schon zerstört‹, hatte Frank sarkastisch geantwortet. Das hätte er nicht tun sollen. Damit provozierte er nur die weitere Eskalation.«

»Was meinen Sie damit?«

»Dann wurden sie brutal. Es sei seine Sache, wie er das Geld auftreiben würde. Irgendetwas würde ihm schon einfallen.«

»Hat man Frank Reiche gegenüber angedeutet, dass er sich durch Beteiligung an ungesetzlichen Maßnahmen finanziell entlasten könnte?«

Sie sah Christoph irritiert an. »Wie soll ich das verstehen?«

»Sollte er sich an Straftaten beteiligen? Diebstahl? Raub? Überfälle?«

Sie pustete energisch Luft durch die Nase. »Wie kommen Sie darauf? Für so etwas hätte sich Frank auch in der größten Not nicht hergegeben. Er war doch kein Krimineller. Nein! Er sollte das Geld beschaffen, dass er ihnen schuldete. Wie, das sei seine Sache. Und wenn er ihren Forderungen nicht nachkommen würde, so hatten sie gedroht, wäre möglicherweise nicht nur seine finanzielle Existenz, sondern auch seine Gesundheit bedroht.«

»Und wie hat Herr Reiche reagiert?«

»Angst hatte er. Fürchterliche Angst. Er hat alles versucht, das Geld zusammenzubekommen. Aber alle seriösen Quellen waren erschöpft. Deshalb hatte er sich ja auch mit denen eingelassen.«

»Sie sprechen immer von denen. Kennen Sie Namen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kenne weder Namen noch Anschrift. Ich habe auch nie einen Kreditvertrag zu Gesicht bekommen.«

Merkwürdig, dachte Christoph. Sie hatten von der Spurensicherung auch keinen entsprechenden Hinweis erhalten. Jürgensen Leute arbeiteten zuverlässig. Es war kaum anzunehmen, dass ihnen solche Unterlagen entgangen wären.

»Und weshalb haben Sie Angst? Sind die Leute, die Frank Reiche bedroht haben, danach bei Ihnen aufgetaucht?«

Anneliese Schmidt sah Christoph lange an. Dann stand sie auf, ging langsam zum Fenster und sah durch die geschlossenen Gardinen auf die Straße. Sie wandte ihm den Rücken zu, als sie ein kaum wahrnehmbares »Ja« hauchte.

Eine Weile war Stille im Raum. Nur schwach drangen die Geräusche der Stadt von außen herein.

»Sind Sie erpresst worden? Wollte man, dass Sie Frank Reiches Schulden zurückzahlen? Oder haben Sie sogar eine Bürgschaft übernommen?«

Sie sah stumm aus dem Fenster. Dann antwortete sie mit dünner Stimme. »Ich habe keine Bürgschaft übernommen. Aber es stimmt, man verlangt von mir, dass ich die Schulden übernehme.«

»Verfügen Sie denn über das Geld?«

»Natürlich nicht. Ich habe mein Einkommen. Das ist nicht die Welt. Angespartes habe ich auch nicht.«

»Also können Sie ebenso wenig wie Frank Reiche zahlen?«

»Richtig.«

»Und deshalb haben Sie jetzt Angst. Hat man Sie auch schon bedroht?«

Erneut schwieg sie. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie sich zu Christoph umdrehte. Tränen liefen ihr über das Gesicht.

»Einer von denen war hier und hat gesagt, ich könne das Geld verdienen.«

Christoph ahnte Böses. Diese Leute schreckten vor nichts zurück.

»Sie meinen, man wollte Sie zur Prostitution nötigen?«

Mit ihrer Zungenspitze versuchte sie die Tränen aufzufangen. Als das nicht gelang, wischte sie sich mit dem Ärmel durch das Gesicht.

»Es gibt in Deutschland viele Unterkünfte mit Gastarbeitern aus Osteuropa, hat mir einer von den Leuten erzählt. Die wären fern von daheim. Das ändere aber nichts daran, dass sie Männer wären. Dorthin wollte man mich fahren. Das könnten dann durchaus zehn bis zwölf Männer pro Durchgang sein. Durchgang! So nannte es dieser Widerling.«

Anneliese Schmid würgte. Es schien, als müsste sie sich übergeben.

Christoph stand auf. Er ging ihr entgegen und fasste sie vorsichtig an den Unterarmen. Sie ließ es geschehen.

»Sie sind sehr mutig, dass Sie sich mir anvertraut haben. Ich versichere Ihnen, dass wir alles unternehmen werden, diese Verbrecher der Gerechtigkeit zuzuführen. Ich werde auch meinen dänischen Kollegen benachrichtigen und ihn bitten, für Ihren Schutz zu sorgen. Haben Sie die Möglichkeit, vorübergehend irgendwo anders zu wohnen? Bei der Familie? Einer Freundin?«

Sie schüttelte stumm den Kopf.

»Eine letzte Frage noch. Wann war der Mann bei Ihnen? Vor oder nach Franks Tod?«

»Davor«, flüsterte sie. »Am Tag, bevor Frank ermordet wurde.«

Er sprach der Frau noch einmal Mut zu und verließ dann das Haus. Etwas seitlich versetzt stand der gelbe Mini auf der anderen Straßenseite. Große Jäger lehnte sich gegen den Wagen und nahm noch einen tiefen Zug aus seiner Zigarette. Dann grinste er Christoph über die ganze Breite seines unrasierten Gesichts an.

Christoph berichtete von den Neuigkeiten, die er eben erfahren hatte.

»Jetzt kennen wir endlich das Motiv. Wir haben es hier mit professionellen Geldeintreibern der harten Sorte zu tun«, stellte Große Jäger fest.

»Damit schließt sich auch der Kreis. Fast alle Beteiligten hatten enorme wirtschaftliche Probleme. Mit einer Ausnahme«, antwortete Christoph.

»Georghe Smitkov scheint nicht in das Raster zu passen«, kommentierte Mommsen. »Daraus könnten wir den Schluss ziehen, dass er der Mann hinter diesen Aktionen ist.«

»Oder er ist eine Art Statthalter, der uns mit etwas Glück zu den Hintermännern führt«, gab Christoph zu bedenken. »Aber der Mann ist eine schwer zu knackende Bastion. Außerdem ist das unsaubere Kreditgeschäft eine Domäne von Manfred Schöppe gewesen. Vielleicht sollten wir uns den Mann noch einmal vornehmen.«

Somit war der Entschluss gefasst, die Rückfahrt nach Husum über Schleswig vorzunehmen.

Unterwegs meldete sich Klaus Jürgensen über Funk. Große Jäger, der zu Christoph in den Dienstwagen gewechselt war, nahm das Gespräch entgegen.

»Habt ihr heute wieder Wandertag mit eurer Truppe?«, begann der Kriminaltechniker.

»Nee, wir sind dem Ratschlag eines überschlauen Kollegen gefolgt und haben eine Kur an der Ostküste eingelegt. Bei uns ist das Klima zu gesund, und wir möchten gern erforschen, ob uns nicht auch die permanente Erkältung unseres geschätzten Kollegen Kriminalklempner ereilt, wenn wir an der Ostküste lustwandeln.«

Wie zur Bestätigung nieste Jürgensen, räusperte sich dann und ließ den Anwurf des Oberkommissars unkommentiert.

»Kiel hat uns eine erste Antwort aus Minsk geschickt.«

»Aus Weißrussland? Das ging aber fix«, warf Große Jäger ein.

»Vorurteile. Es läuft ja nicht jeder den Dingen hinterher wie ihr Nordfriesen. Oder kannst du mir einen Olympiasieger nennen, der aus Husum kommt?«

»Dafür hätte sich Winston Churchill hier sehr wohl gefühlt.«

»Ich weiß: No sports. Nun aber zurück zur Sache. Pjotr Schewtschenko war achtunddreißig Jahre alt. Er gehörte einer Spezialeinheit der Sowjetarmee an, die nach dem Zerfall der Sowjetunion aufgelöst wurde. Offensichtlich war er zum Zeitpunkt der Loslösung von Russland auf der falschen Seite der Grenze. Jedenfalls haben wir keine Information darüber, dass er sich danach in irgendeiner Weise in der Armee, Polizei oder geheimdienstlich betätigt hat. Genau genommen wissen wir gar nichts über ihn. Er ist zu keinem Zeitpunkt strafrechtlich in Erscheinung getreten. Womit er sich den Lebensunterhalt verdient hat, geht auch nicht aus den Unterlagen hervor. Kurzum: ein total unbeschriebenes Blatt. Dagegen bist du mit deinen Einträgen in Flensburg schon fast ein potenzieller Krimineller.«

»Nun mal sachte«, polterte Große Jäger zurück. »Aus Flensburg kommt doch nichts Gescheites. Oder willst du eure Punktebuchhalter als Erfolg bezeichnen? Dann gibt’s da noch den Scheiß-Starke. Und das einzig Positive, die Rumerzeugung, habt ihr schon lange eingestellt.«

»So würde ich das nicht sehen. Flensburg hat viele gute Seiten. Zum einen gibt es mich, darüber hinaus noch das Flens und, nicht zu vergessen, Beate Uhse.«

»Einverstanden«, brummte der Oberkommissar. »Damit kann ich leben. Nun, los – mach schon.«

Prompt musste Jürgensen niesen.

»Na – siehste. Geht doch. Ich wünsch dir noch einen schönen Tag.«

»Danke«, sagte der Kriminaltechniker lachend. »Euch auch einen fröhlichen Betriebsausflug.«

»In dem Bericht war nichts von einem zweiten Mann angemerkt, einem guten Freund oder alten Spezi aus der Militärzeit. Schade, ein solcher Hinweis wäre hilfreich gewesen. Wenn der Mann beim Militär war, so kann er in der Hierarchie noch nicht weit gewesen sein. Die Sowjetunion ist vor fünfzehn Jahren auseinander gefallen. Da war er gerade dreiundzwanzig.«

Große Jäger sah Christoph an. »Das ist ein Alter, in dem man durchaus im Rahmen einer harten Ausbildung gelernt haben kann, wie man Gewissenlosigkeit in Brutalität umsetzt. Und eine Liste seiner ehemaligen Kameraden aus der Spezialeinheit werden wir kaum bekommen.«

»Einen ähnlichen Gedanken hatte ich auch. Es ist nicht auszuschließen, dass der zweite Gangster aus dem gleichen Umfeld stammt. Aber wie wäre die Verbindung zu Smitkov?«

»Wenn der auch bei einer Sondereinheit war?«

Christoph schüttelte den Kopf. »Das klingt unwahrscheinlich. Zumindest die Verbindung. Smitkov ist Bulgare. Die wurden von den Sowjets nicht ernst genommen und schon gar nicht in Geheimnisse dieser Art eingeweiht. Da muss es eine andere Verbindung geben. Und wie könnten die beiden Weißrussen, wenn wir unterstellen, dass es nicht noch mehr sind, zu Schöppe stehen?«

»Vielleicht ist Smitkov auch unschuldig, und die beiden Schläger sind von Schöppe engagiert worden. Die Schaffung eines Kontakts sollte nicht zu schwer sein. Das läuft über verdeckte Zeitungsanzeigen oder übers Internet.«

Christoph musste seinem Kollegen Recht geben.

Sie hatten den Parkplatz am Schleswiger Wikingerturm erreicht. Mommsen stellte seinen gelben Mini direkt nebenan ab. Sie waren gerade ausgestiegen, als wie aus dem Nichts der Hausmeister auftauchte, den sie bei ihrem ersten Besuch kennen gelernt hatten. Offenbar schien sich auch er an sie zu erinnern.

»Hallo«, grüßte er. »Sie wollen wieder zu Herrn Schöppe?«

»Ja«, antwortete Christoph schnell, bevor Große Jäger einen seiner unerwünschten Kommentare abgeben konnte.

»Der müsste zu Hause sein. Übrigens«, der Hausmeister legte eine bedeutungsschwere Pause ein, »ist inzwischen der andere Typ wieder aufgetaucht. Sie wissen, der von der Konkurrenz, der anderen Versicherung, wie Sie mir erzählten.«

»Wann war das?«

»Noch nicht so lange her. Heute Vormittag. Ich glaube, dieses Mal hat er Schöppe erreicht.«

»Dem würde ich doch zu gern etwas wegen Verstoßes gegen die internen Wettbewerbsrichtlinien der Versicherungsvertreter ans Zeug flicken«, erfand Christoph eine nicht existierende Regel. »Sie haben sich nicht zufällig gemerkt, mit welchem Auto der Kollege unterwegs war?«

Der Hausmeister pustete fast entrüstet die Wangen auf. »Wo denken Sie hin.« Dann zwinkerte er vertraulich mit den Augen. »Natürlich habe ich das. Der Bursche sah wenig Vertrauen erweckend aus.«

»Richtig. Er hat große Ähnlichkeit mit einem russischen Preisboxer«, versuchte Christoph den Mann aus der Reserve zu locken.

»Nee! Da irren Sie sich. Wenn russische Faustkämpfer so aussehen, dann wundert es mich überhaupt nicht, wenn die keine Medaillen mehr gewinnen. Der war fast noch älter als Sie.« Dabei sah er Christoph an. »Oh, Entschuldigung. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Das sollte heißen, dass er nicht mehr zwanzig war. Graue Strähnen in den Haaren, eine Mittelglatze und einen Bart, hier – so um den Mund rum, bis zum Kinn.« Mit der Hand fuhr sich der Hausmeister über die Lippen und führte die Finger unter dem Unterkiefer zusammen, um Größe und Form des Barts anzudeuten. »Das war bestimmt kein Russe. Urdeutsch würde ich sagen.«

»Und mit welchem Auto war er unterwegs?«

»Mit einem blauen Passat. Aus Stormarn. Hier ist das Kennzeichen. OD. Strich. NY. Ich habe mir die Nummer notiert. Das mach ich öfter bei fremden Wagen, die hier parken. Man kann ja nie nich wissen, was die so im Schilde führn.« Dann sah der Mann im grauen Kittel hoch und zeigte mit ausgestrecktem Arm in die Richtung, der die Beamten ihren Rücken zugewandt hatten. »So ‘n Pech aber auch. Schöppe fährt gerade weg. Da.«

Sie wandten sich um und sahen einen weinroten Fünfer-BMW davonfahren.

»Danke für Ihre Hilfe«, konnte Christoph dem verdutzen Hausmeister noch zurufen, während Große Jäger sich schon hinters Lenkrad des Dienst-Kombis geworfen hatte.

Mommsen schwang sich auf die Rückbank.

»Ja, halt!«, rief der Hausmeister. »Was ist mit dem Mini? Soll der hier stehen bleiben?«

»Das macht nichts«, antwortete Große Jäger, bevor er die Tür zufallen ließ. »Der ist ohnehin gestohlen.«

Mit großen Augen und einem heftigen Kopfschütteln ließen sie den verblüfften Mann stehen und versuchten, dem BMW zu folgen.

Christoph griff zum Funkgerät. »Ich habe eine Halteranfrage«, gab er der Zentrale durch und nannte das Kennzeichen.

»Verstanden«, dröhnte die Stimme aus dem Lautsprecher. »Wir melden uns wieder.«

Schöppe fuhr zügig, aber nicht zu schnell. Er bog auf die Bundesstraße Richtung Rendsburg ab und fuhr in Jagel auf die Autobahn Richtung Süden. Er zog den BMW auf die linke Spur und blieb dort. Gottlob bemühte er nicht die volle Kraft des Wagens. Dann hätten sie unter Umständen das Nachsehen gehabt.

»Sieh mal, der hat die linke Spur für sich gekauft«, schimpfte Große Jäger über Schöppe, der auch bei größeren Lücken nicht dran dachte, den Hauptfahrstreifen zu nutzen. »Ich bin mal gespannt, wo der hinwill.«

»Wenn wir Pech haben, macht er Urlaub in der Schweiz«, unkte Mommsen. »Oder er holt sich neues Geld aus Luxemburg.«

»Liechtenstein«, korrigierte Große Jäger. »Dort sitzt der Treuhänder, der das Aktienkapital der Nordic Financial Consulting verwaltet.«

»Stammkapital, nicht Aktienkapital. Das Unternehmen ist eine GmbH«, korrigierte Christoph.

Der Oberkommissar warf ihm einen Blick zu. »Ja, Papi. Ist das nicht egal? Weißt du überhaupt, was die Abkürzung GmbH heißt?« Als keiner antwortete, erklärte es Große Jäger: »Gesellschaft mit beschissener Haftung.«

»Das sehen die Beteiligten aber anders«, antwortete Christoph. »Bei denen steht die Abkürzung für: Gehste mit, biste hin.«

Auf der nur spärlich befahrenen Autobahn gab es niemanden, der Schöppe bisher das Recht des Linksfahrens streitig gemacht hatte. Sie waren inzwischen an der Rader Hochbrücke angekommen, die bei Rendsburg über den Nord-Ostsee-Kanal führte. Der BMW hatte die Geschwindigkeit reduziert und fuhr mit etwa zwanzig Stundenkilometern mehr als erlaubt über das Bauwerk.

»Ob er hinter Rendsburg nach Kiel abbiegt?«, überlegte Große Jäger, um mit einem Seitenblick auf Christoph fortzufahren: »Da kommen alle Spitzbuben her.«

Doch Schöppe blieb auf der Autobahn Richtung Süden. Bei Bordesholm, wo der Kieler Zweig dazustieß, wurde es voller. Auch Neumünster mit seinen drei Auffahrten führte dem Verkehrsweg weitere Fahrzeuge zu, sodass es zunehmend schwieriger wurde, Anschluss zu halten.

»Was macht der denn jetzt?«, fragte der Oberkommissar, als der BMW bremste, sich rechts einordnete und an der Ausfahrt Großenaspe blinkte. »Der verlässt die Piste.«

Sie fuhren ebenfalls den Weg zur Bundesstraße hoch und sahen den BMW, der in südlicher Richtung abgebogen war. »Was will der in Bad Bramstedt?«, fragte Große Jäger.

»Das ist ein Kurort. Dort laufen viele reiche Frauen herum. Irgendwie muss sich der gute Mann doch ernähren, jetzt, wo sein eigener Laden pleite ist«, erklärte Christoph.

Tatsächlich steuerte Schöppe den Marktplatz des beschaulichen Städtchens an und parkte seinen Wagen in der Nähe des Rolands. Neben Wedel an der Elbe und Bremen, wo der bekannteste Vertreter stand, zierte auch in Bad Bramstedt eine Roland-Skulptur das Stadtzentrum.

Große Jäger hatte Mühe, den Dienstwagen so zu platzieren, dass er nicht auffiel. Doch Schöppe schien arglos zu sein. Er sah sich um, blickte dann auf seine Uhr, ließ seinen Blick erneut suchend über den Platz schweifen und wandte sich dann zum Rand des Zentrums hin, wo sich die Straße teilte.

»Ich pirsch hinterher. Mich kennt er nicht«, brummte der Oberkommissar und stieg aus. Wie ein Müßiggänger folgte er Schöppe.

Aus der Ferne sahen Christoph und Mommsen, wie Schöppe unschlüssig umherwanderte, schließlich umkehrte und wieder in ihre Richtung kam. Darauf verschwanden zuerst Schöppe und dann Große Jäger ins Gasthaus »Zum Bramstedter Wappen«, das auf der anderen Seite des Platzes lag.

Nachdem sie eine Viertelstunde gewartet hatten, erinnerte sich Christoph, dass sie von der Zentrale immer noch keine Antwort zur Halteranfrage bekommen hatten.

»Warum dauert eine einfache Anfrage so lange?«, wollte Christoph wissen.

»Das ist nicht so einfach«, antwortete der Kollege am anderen Ende der Leitung. »Da gibt es ein kleines Problem.«

»Und? Das wäre?«

»Ist das Kennzeichen richtig, dass Sie mir genannt haben?« Er wiederholte es.

»Ja«, bestätigte Christoph. »Das ist korrekt.«

»Das gibt es nicht«, kam zögerlich die Antwort aus dem Äther. »Die Nummer ist nicht gespeichert.«

»Hmmh«, meinte Mommsen. »Da haben wir ja richtig hineingegriffen.«

»So schlimm finde ich es gar nicht«, meinte Christoph und erntete dafür einen verständnislosen Blick. »Das beweist uns doch, dass unser Verfolger nicht sauber ist. Wir können uns sicher sein, dass wir unter Beobachtung der Gegenseite stehen. Aber merkwürdig ist es schon. Wer hat ein so reges Interesse daran, die Polizei zu verfolgen? Und warum? Was wissen wir, oder besser: Was glaubt die Gegenseite, was wir wissen könnten, das für sie gefährlich ist?«

Dann meldete sich Große Jäger auf dem Handy. »Der Typ sitzt hier mutterseelenallein, schaut ständig auf die Uhr und trinkt Latte macchiato. Und ich hab jetzt ein Problem. Ich muss mal für Königstiger.«

»Wieso ist das ein Problem? Du wirst deinen Gang zum Entsafter, wie du immer zu sagen pflegst, doch allein bewerkstelligen können.«

»Das ist es nicht«, dröhnte die Stimme des Oberkommissars aus dem kleinen Lautsprecher. »Nicht der Entsafter. Das Problem ist größer.« Dann klickte es, und die Verbindung war unterbrochen.

In der nächsten Stunde tat sich nichts. Große Jäger hatte sich wieder zurückgemeldet und berichtet, dass Schöppe unruhig wirkte. »Es sieht aus, als würde er jemanden erwarten.« Es verging eine weitere Stunde, bis der Oberkommissar erneut anrief. »Achtung. Er hat eben bezahlt.«

Kurz darauf trat Schöppe auf die Straße. Er blieb unschlüssig vor dem Lokal stehen, orientierte sich nach beiden Seiten und schlenderte dann langsam in Richtung seines Autos.

»Ob er versetzt wurde?«, fragte Mommsen.

»Das sieht nicht so aus. Es hat eher den Anschein, als hätte er die Zeit überbrückt.«

»Warum ist er nicht später gefahren? Das macht doch keinen Sinn, Schleswig vor der Zeit zu verlassen, um hier in Bad Bramstedt die Zeit totzuschlagen.«

»Das könnte ein Zeichen für Nervosität sein«, meinte Christoph. »Er hat es in seiner Wohnung nicht mehr ausgehalten.«

»Der hat Hummeln im Hintern«, kommentierte Große Jäger, der sich mit einem Stöhnen auf die Rückbank quetschte. »Mann, war der Typ unruhig. Der hat ständig auf seine Uhr gesehen, viermal die Speisekarte auswendig gelernt und jede Glühbirne einzeln gezählt.«

»Hat er dich ins Visier genommen?«

Der Oberkommissar lachte. »Mich? ‘nen einheimischen Arbeitslosen, der sich ein Bier am Nachmittag gönnt?«

Christoph ließ den Motor an und folgte dem BMW, der das Zentrum in südlicher Richtung verließ. Schöppe bog am Ende des Marktplatzes nach rechts ab.

»Das ist interessant«, murmelte Christoph.

»Das kannst du wohl sagen«, stimmte Große Jäger zu. Auch er hatte das Richtungsschild gelesen: »Quickborn 20 km«.

Irgendwer im Landkreis musste gehört haben, dass Kreisverkehre den nicht vorhandenen Massenverkehr beschleunigen. Jedenfalls unterbrach ein solches Rondell auf der schnurgeraden Straße den Verkehrsfluss. Ein Stück weiter führte die wie mit dem Lineal gezogene Straße durch ein großes Waldgebiet. Nur gelegentlich kam ihnen ein einzelnes Fahrzeug entgegen.

Sie folgten dem BMW in großem Abstand. Ein ganzes Stück vor Quickborn flackerten die Bremsleuchten auf, dann bog der Wagen nach rechts auf ein Waldgrundstück ab. Schon von weitem sahen sie das Hinweisschild des Hotels »Waldfrieden«.

Christoph reduzierte die Geschwindigkeit, um Schöppe Gelegenheit zum Aussteigen zu geben. Dann bog auch er auf das Hotelgrundstück ein. Das durch eine große Rhododendronhecke geschützte ehemalige Jagdhaus lag mitten im Hochwald. Das verwinkelte Gebäude mit dem markanten Spitzgiebel und dem zinnbewehrten Rundtürmchen kuschelte sich richtiggehend ins Grün hinein. Im Hintergrund befand sich ein im gleichen Stil gehaltener weiterer Bau, der früher die Remise gewesen sein mochte.

Sie waren noch auf der Zufahrt, als sie Schöppe den Weg kreuzen sahen. Mit einem Aktenkoffer in der einen und einem Bordcase in der anderen Hand strebte er dem Hoteleingang zu. Sein Fahrzeug hatte er unter den Bäumen geparkt.

Christoph fuhr bis ans Ende der freien, besandeten Fläche und stellte den Dienst-Kombi ebenfalls unter die Bäume.

»Schöppe kennt uns drei. Deshalb wäre es unklug, ihm zu folgen. Warten wir einmal, ob er sich mit jemandem verabredet hat, den wir kennen«, schlug Christoph vor.

Kurz darauf hörten sie auf den groben Kieseln das Knirschen eines sich nähernden Wagens. Durch die Bäume sahen sie einen blauen Passat, der langsam den Weg entlangrollte. Im Wagen konnte man eine einzelne Person ausmachen. Er hielt auf der Höhe des geparkten BMW kurz an und fuhr dann im Schritttempo weiter. Vor dem Anbau zögerte der Fahrer, entschloss sich dann aber, nach links abzubiegen, entgegen der Richtung, in der die drei Beamten standen. Langsam fuhr der Wagen hinter das Hotel und entschwand ihren Blicken.

»Ich glaube es nicht«, sagte Große Jäger. »Das Kennzeichen, das es nicht gibt. OD-NY. Der Wagen, den uns der Hausmeister aus Schleswig beschrieben hat.«

»Nun wird es spannend. Wieso haben sich Schöppe und der Unbekannte hier in Quickborn verabredet? Die Sache wird immer undurchsichtiger. Wer ist dieser Unbekannte?«

»Der Mann im Hintergrund?«, mutmaßte Mommsen, aber Christoph schüttelte den Kopf.

»Das glaube ich nicht. Wenn es der ist, der die Fäden zieht, lässt er sich nicht dazu herab, uns persönlich zu beschatten. Aber wir suchen immer noch den zweiten Russen, den Kumpel von Pjotr Schewtschenko, mit dem er die Überfälle in den letzten Jahren begangen hat und von dem wir vermuten, dass er Reiche ermordet hat. Vorsicht, der Mann ist gewalttätig. Wir sollten vorsichtshalber das MEK benachrichtigen«, mahnte Christoph.

»Damit die hier mit Tatütata ankommen und nichts vorfinden?«, sagte Große Jäger. »Außerdem wissen wir gar nicht, ob es wirklich der ist, für den wir ihn halten. Ich werde nachsehen.«

»Lass mich das machen«, schlug Mommsen vor und hatte bereits die Tür geöffnet. Wie ein Schatten verschwand der junge Kommissar im Unterholz.

»Da hast du wohl Recht«, knurrte ihm Große Jäger hinterher und tippte Christoph von hinten auf die Schulter. »Wir beiden Ollen sind nicht mehr das ideale Gespann, um irgendwelchen Ganoven hinterherzulaufen.«

»Unsere Stärken sind Erfahrung und Überzeugungskraft«, erwiderte Christoph mit einem leisen Lächeln.

»Na ja, damit bist du nicht weit gekommen, als sie dich in der Tiefgarage in die Mangel genommen haben.«

Es waren höchstens drei Minuten vergangen, als der Oberkommissar unruhig wurde. »Verdammt, wo bleibt der Junge nur?«

»Der ist gerade weg«, beruhigte ihn Christoph und hörte, wie hinter seinem Rücken die Zigarettenschachtel raschelte. Dann hörte er das Geräusch des Feuerzeuges. Er war zwar nicht begeistert, dass ihm Große Jäger den Qualm um die Ohren blasen würde, unterließ es aber, eine entsprechende Bemerkung zu machen. Der Oberkommissar mit seiner nicht zu unterdrückenden Fürsorglichkeit war übernervös und musste ganz einfach rauchen.

Sie schwiegen eine Weile und beobachteten die Umgebung. Nach einer geraumen Zeit hörten sie das muntere Geschrei zweier Kinder, die mit ihren Eltern aus einer großen Glastür, die zu den Remisen führte, herauskamen. In den elegant umgebauten Nebengebäuden waren Hotelzimmer untergebracht. Der Vater ging mit den beiden Kleinen zu einem Van, während die Frau einen Schlüssel in der Hand schwenkte und zum Haupthaus des Hotels ging. Offensichtlich gab es dort einen Hintereingang, der zur Rezeption führte.

»Verdammt. Ich gehe Mommsen suchen«, fluchte Große Jäger. »Wir hätten den Jungen nie allein losgehen lassen dürfen.«

Christoph hielt ihn am Ärmel fest. »Beruhige dich. Erstens ist er kein Kind mehr, sondern für so etwas besser geeignet als wir beiden Alten. Außerdem ist er gut ausgebildet und kann vorzüglich auf sich aufpassen. Und Drittens ist Mommsen kein Hasardeur, sondern bewegt sich mit Vorsicht und Vernunft.«

Doch Große Jäger war nicht zu beschwichtigen. Ich werde ihn notfalls mit Handschellen im Fahrzeug festhalten müssen, überlegte Christoph nicht ganz ernsthaft.

Es dauerte noch unendlich erscheinende weitere zehn Minuten, bis sie einen Schatten sahen, der sich von hinten ihrem Wagen näherte. Gleich darauf ließ sich Mommsen auf den Beifahrersitz fallen.

»Mensch, Kind, wo warst du nur so lange«, warf ihm Große Jäger vor und konnte in seiner Stimme die Erleichterung nicht verbergen.

»Hast du dich um mich gesorgt?«, fragte der junge Kommissar grinsend.

»Quatsch. Du musst schon selbst auf dich aufpassen.« Es war dem Oberkommissar anzumerken, dass es ihm unangenehm war, dass man ihm seine Besorgtheit anmerken konnte.

»Interessant«, begann Mommsen seinen Bericht. »Zwischen den Rhododendren und dem Haus führt ein schmaler Weg zum Haupteingang, der auf der anderen Seite liegt. Am Haus ist ein Wintergarten angebaut. Ich vermute, dass er einen Teil des Restaurants beherbergt. Zwei Tische waren besetzt. Aber alle Leute machten einen harmlosen Eindruck. Spaziergänger oder Gäste, die mit dem Nachmittagskaffee etwas spät dran sind.«

»Von Schöppe oder dem Unbekannten war nichts zu sehen?«, fragte Christoph.

»Nein. Auf der anderen Seite befindet sich ein großzügig angelegter Garten mit Teich und Gartenhäuschen. Da war aber niemand. Es war nur eingedeckt für eine spätere Veranstaltung. Hinter dem Hotel führt ein Weg im Halbkreis durch den Wald zurück zur Straße. Eine zweite Zufahrt. An diesem Weg steht etwas im Hintergrund ein weißer Bungalow. Aus dem kam ein stattlicher Mann im dunklen Anzug heraus, der im Kücheneingang des Hotels verschwand. Ich vermute, dass es der Hoteldirektor war, der im Bungalow wohnt. An dieser zweiten Zufahrt parkten Fahrzeuge unkonventionell auf dem Rasen. Dort steht auch unser blauer Passat. Verschlossen. Vom Fahrer war weit und breit nichts zu sehen. Ich habe einen Blick in den Wagen geworfen. Leer.«

»Das heißt, der Unbekannte hat sich im Hotel mit Schöppe getroffen«, stellte Große Jäger fest.

»Wir wollten uns ohnehin mit Schöppe unterhalten. Deshalb waren wir nach Schleswig gefahren«, sagte Christoph. »Gehen wir hinein und plaudern ein wenig mit den Herren.«

»Warte einmal«, bremste ihn Mommsen und wies auf ein weiteres Fahrzeug, das über die Zuwegung rollte, um dann direkt neben dem Haupthaus zu parken. Dem schwarzen Jaguar entstieg Georghe Smitkov.

»Die Sache wird immer spannender«, meinte Große Jäger. »Das scheint eine Vollversammlung zu werden. Lautet unsere Frage möglicherweise nicht: Smitkov oder Schöppe, sondern und

»Bleibt nur noch offen, wer von beiden den Hut aufhat.«

Der smarte Geschäftsmann war ausgestiegen. Er trug businesslike eine Konferenzmappe aus hellem Leder unterm Arm. Ohne sich umsehen, wandte er sich dem Hoteleingang zu.

»Wo sind die beiden anderen geblieben?«, fragte Große Jäger. »Merkwürdig, dass Mommsen sie bei seiner Erkundung nicht gesehen hat.«

»Vielleicht sind die drei zur Wahrung der Diskretion in einem Hotelzimmer verabredet«, erwiderte Christoph.

Sie warteten noch eine Viertelstunde, bis Christoph das Signal zum Aufbruch gab. Große Jäger wandte sich dem Hintereingang zu, während Christoph und Mommsen um das Gebäude herumgingen.

Zu beiden Seiten des Eingangs bewachten zwei steinerne Hunde das Entree. Rechts führten ein paar Stufen in den angebauten Wintergarten, den Mommsen ihnen vorhin beschrieben hatte. Zwei Kellner mit bis zum Boden reichenden weißen Schürzen richteten die Tische für die abendlichen Gäste her. Doch keine ihrer Zielpersonen war zu sehen. Von der zur linken Hand liegenden Rezeption kam ihnen der Mann im dunklen Anzug entgegen, von dem sie vermuteten, dass er der Direktor war.

»Guten Abend«, grüßte er freundlich. »Haben Sie bestellt? Darf ich Ihnen behilflich sein?«

»Vielen Dank«, sagte Christoph, »aber wir sind verabredet.«

»Mit wem?«, fragte der hilfsbereite Patron und blickte auf, als Große Jäger von der anderen Seite zur kleinen Gruppe dazustieß. Der Oberkommissar zeigte mit dem Daumen über die Schulter in die Richtung, aus der er gekommen war.

»Er sitzt dahinten«, raunte er. »Allein.«

»Wenn ich vorangehen darf«, bot der Hoteldirektor an, doch Christoph lehnte ab.

Außer dem Wintergarten gab es noch einen gemütlich eingerichteten Raum, der ebenfalls auf die Abendgäste wartete.

Sie folgten Große Jäger, der sie durch eine kleine Halle führte, die nach oben offen war. Mittelpunkt des Raumes war ein großer Kamin, über den zwei Werkzeuge, die Hellebarden glichen und zum Torfstechen benutzt wurden, an der Wand hingen. Wuchtige Sessel luden zum Aperitif, Mokka oder zur Zigarre nach dem Diner ein.

Ganz hinten in der Ecke befand sich noch ein weiterer kleiner Raum, der fast den intimen Charakter eines Separees aufwies.

Am Tisch, der für zwei Personen gedeckt war, saß Smitkov. Er sah auf, als die drei Beamten eintraten, und zog leicht die linke Augenbraue in die Höhe. Wenn er überrascht war, so ließ er es sich nicht anmerken.

Mit seiner manikürten Hand griff er zum Sherryglas, nippte daran, betupfte sich vorsichtig mit der schweren Damastserviette die Lippen und sagte: »Guten Abend. Das überrascht mich, Sie hier zu sehen. Was führt Sie aus Büsum hierher?«

»Husum«, antwortete Christoph. »Wir kommen aus Husum.«

Smitkovs Blick, mit dem er die drei musterte, schien fast ein wenig amüsiert.

Jetzt war auch der Hoteldirektor hinzugetreten. Argwöhnisch musterte er die drei Beamten. Insbesondere Große Jäger schien sein Missfallen zu erregen.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er an Smitkov gewandt.

»Danke. Die Herren wollen gleich wieder gehen«, sagte dieser, worauf sich der Patron diskret entfernte.

»Zuvor haben wir noch ein paar Fragen an Sie«, sagte Christoph. »Dürfen wir uns setzen?«

Smitkov hatte nicht vor, die Polizisten zum Gespräch einzuladen. »Das kommt mir ungelegen. Ich erwarte geschäftlichen Besuch. Morgen – nein! Warten Sie.« Er legte die Zeige- und Mittelfinger an die Schläfe. »Morgen bin ich auf Reisen. Übermorgen, sagen wir am Nachmittag, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden.«

»So läuft das nicht«, polterte Große Jäger dazwischen. »Terminabsprachen können Sie mit anderen treffen. Wir machen unsere Planungen immer noch ohne Sekretärin. Wenn mein Boss sagt: ›Jetzt!‹, dann meint er es auch so.«

Christoph musste innerlich schmunzeln. Der Oberkommissar hatte ihn bisher noch nie als »Boss« bezeichnet. Es war eine seiner Finten, um dem ungerührten Smitkov zu verstehen zu geben, dass er es nicht mit »irgendwem« aus tiefster Provinz zu tun hatte.

Dann angelte sich Große Jäger einen Stuhl und ließ sich demonstrativ am Tisch nieder, an dem Platz, der für den zweiten Besucher reserviert war. Er fischte seine Zigarettenschachtel hervor und zündete sich eine Zigarette an. Mit dem Unterarm schob er Platzteller, Besteck und Serviette zur Seite.

»Und nun bitte ich Sie, unsere Fragen zu beantworten. Wo waren Sie gestern? Mit wem haben Sie telefoniert, nachdem sich mein Boss von Ihnen verabschiedet hat? Und wir haben noch eine Menge weiterer Fragen an Sie. Also?«

Zum ersten Mal zeigte Smitkov eine Spur von Unsicherheit. Er blickte an den drei Beamten vorbei. Es schien, als wäre es ihm unangenehm, in dieser Situation überrascht zu werden.

»Sind Sie hier mit Manfred Schöppe verabredet?«, fragte Christoph, dem Smitkovs Regung nicht entgangen war.

Der Geschäftsmann zögerte einen Moment.

»Gut«, meinte er schließlich. »Wenn Sie es als unaufschiebbar betrachten, so kann ich dem kaum etwas entgegensetzen.«

Er stand auf, schob vorsichtig seinen Stuhl nach hinten.

»Dieser Ort ist wohl wenig geeignet für das – Gespräch, wie Sie es nannten. Wollen Sie mir nach Hause folgen?«

Große Jäger war auch aufgestanden. »Vielleicht ist das örtliche Polizeirevier ein besserer Platz«, schlug er vor.

»Wie Sie meinen«, erwiderte Smitkov und wollte den Raum verlassen, wurde aber von Christoph und Mommsen, die im Durchlass zur Hotelhalle standen, daran gehindert.

Warum hat es der Mann plötzlich so eilig, überlegte Christoph. Wollte er nicht, dass sie seinem Besucher begegnen? War der Unbekannte aus dem Passat mit ihm verabredet? Wenn die zwei nicht miteinander sprachen, jetzt, nachdem sie Kontakt zu Smitkov aufgenommen hatten, würde man nie beweisen können, dass sie sich kannten, auch wenn der Passat-Fahrer den Fehler gemacht hatte, sich hierher zu begeben.

»Wir werden uns auf der Quickborner Polizeistation unterhalten«, entschied Christoph. Zu viert verließen sie das Hotel.

»Ich zahle später«, gab Smitkov dem Hotelmanager zu verstehen, der professionell reagierte und angesichts der Ereignisse in seinem Haus mit keiner Miene seine eigene Meinung zu erkennen gab.

Vor der Tür wollte sich der Geschäftsmann seinem Jaguar zuwenden.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, bieten wir Ihnen eine Fahrgelegenheit«, sagte Christoph.

Der Mann schien überrascht. »Warum kann ich nicht mit meinem eigenen Wagen fahren? Glauben Sie, ich will mich dem Gespräch durch Flucht entziehen? Oder haben Sie mich verhaftet?«

»Wir möchten Ihnen nur einige Fragen stellen. Danach werden wir Sie wieder zu Ihrem Auto bringen.«

Smitkov schien das nicht recht zu sein. »Das macht bei den Leuten einen schlechten Eindruck, wenn ich von der Polizei eskortiert werde. Ich genieße einen untadeligen Ruf und möchte, dass es so bleibt.«

»Wir bestehen aber darauf«, sagte Christoph.

Der Mann beugte sich dem Vorgehen der Polizisten.

»Gibt es eine Stelle, bei der ich mich über Ihre Handlungsweise beschweren kann?«, fragte er. Zu keinem Zeitpunkt hatte er seine ruhige Tonlage verändert, auch wenn er jetzt sichtlich verärgert war.

»Das steht Ihnen frei. Ich werde Ihnen nachher meine Dienststelle nennen. Sie können jederzeit eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen mich erwirken.«

»Das möchte ich nicht ausschließen. Schließlich ist es schon ein massiver Eingriff in meine Rechte, was Sie hier machen. Ich bin auf Ihre Erklärung gespannt.«

Sie hatten den Ford erreicht.

»Mein Kollege wird Sie jetzt kurz untersuchen, bevor wir in das Fahrzeug einsteigen. Das ist reine Routine«, sagte Christoph.

Smitkov protestierte nicht, sondern stellte sich mit leicht gespreizten Beinen vor Mommsen, der mit beiden Händen die Konturen des Mannes nachfuhr.

»Haben Sie geglaubt, ich wäre bewaffnet?«, amüsierte sich Smitkov.

In diesem Moment zischte etwas zwischen den Köpfen Christophs und Smitkovs hindurch. Noch ehe sie reagieren konnten, schlug Smitkov die Hände über dem Kopf zusammen, während die drei Polizisten über die Schultern blickten. In diesem Augenblick zersprang mit einem lauten Knall die Scheibe der hinteren Tür. Fast gleichzeitig war ein metallenes »Plong« zu hören.

Instinktiv ließen sich die drei fallen, dabei riss Große Jäger Smitkov mit sich und bedeckte den verdutzten Mann halb mit seinem massigen Körper.

»Da schießt jemand auf uns«, sagte Christoph.

»Das glaub ich nicht. Wo sind wir hier gelandet?«, erwiderte Große Jäger. Er hatte ebenso schnell wie Mommsen seine eigene Waffe gezogen. Außer dem Entsichern der beiden Waffen war nichts zu hören.

»Woher kam das?«, fragte Mommsen, während Große Jäger Christoph ansah und seine zwei Reihen gelber Zähne blicken ließ. »Du hast wohl keine Zimmerflak an Bord?«, meinte er, weil Christoph keine Waffe in der Hand hielt.

»Die stärkste Waffe des Polizisten ist das Wort«, erwiderte Christoph.

»Glückwunsch, dann schieß mal mit Halbsätzen zurück«, griente der Oberkommissar. Ebenso wie Mommsen suchte er die Umgebung ab. »Siehst du etwas?«, fragte er Mommsen.

»Nein. Nichts. Woher kamen die beiden Schüsse?«

»Ich habe nichts gehört. Vermutlich benutzt der Typ einen Schalldämpfer. Ich schätze, er sucht dort hinter der Ecke Deckung. Da, neben dem Anbau.«

Dann schwiegen sie einen Moment. Von ihrem Gegner war nichts zu hören. Auf der am Hotelgelände vorbeiführenden Straße rauschte ein Auto vorbei. Sonst war nur das leise Brummen der Abluftanlage der Hotelküche zu vernehmen.

»Wer hat es da auf Sie abgesehen?«, fragte Christoph den völlig verwandelten Smitkov, der seine ganze Selbstsicherheit verloren hatte und immer noch halb unter dem Oberkommissar kauerte. »Ist es Ihr Gast? Der Passat-Fahrer?«

Smitkov sah Christoph an und öffnete zweimal den Mund, als würde er antworten wollen.

»Es wäre hilfreich für uns, wenn Sie uns sagen, wer dort auf uns geschossen hat. Wir könnten uns dann auf unseren Gegner einstellen. Ist es der russische Killer?«

»Ich kenne keinen russischen Killer«, stammelte Smitkov. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Ich war hier zu einem Geschäftsessen verabredet.«

»Mit Schöppe?«

Jetzt schwieg der Mann. Wenn er mehr wusste, so wollte er es nicht preisgeben.

»Ruf du Verstärkung«, raunte Große Jäger Christoph zu. »Ich werde ich mir die Sache aus der Nähe ansehen.«

»Ich habe eine andere Idee«, schlug Mommsen vor. »Wenn er noch auf uns lauert, können wir nicht die freie Fläche des Parkplatzes überqueren. Gib du mir Feuerschutz. Ich werde den Parkplatz im Schutz des Unterholzes umrunden. Wenn ich drüben bin, gebe ich dir ein Zeichen. Dann kannst du folgen.«

»Seid vorsichtig«, gab ihnen Christoph mit auf den Weg.

»Und was ist mit mir? Wollen Sie mich hier allein lassen? Das können Sie doch nicht.« Zum ersten Mal klang Smitkovs Stimme nicht mehr gefasst.

Christoph sah ihn an. »Ich werde Ihnen hier Gesellschaft leisten.«

»Ja, aber … Sie sind doch gar nicht bewaffnet«, stammelte Smitkov.

»Das macht nichts«, tröstete Große Jäger. »Einen Polizistenmord werden Sie nicht miterleben, weil der Gangster zuerst Sie erschießt, bevor mein Kollege ihn mit Tannenzapfen bewirft.« Dann kroch der Oberkommissar zu einem nahe gelegenen Baumstamm. Von Mommsen war nichts mehr zu sehen.

Es war kein weiterer Schuss gefallen. Die hereinbrechende Dunkelheit hatte den unsichtbaren Gegner verschluckt. Es blieb nur zu hoffen, dass nicht aus Versehen ein unbeteiligter Hotelgast auftauchte und die freie Fläche zwischen ihnen und der Hausecke betrat, von der sie vermuteten, dass es der Standort des Schützen war. Gottlob blieb es ruhig.

Christoph hörte neben sich Smitkovs hastigen Atem. Der hatte sich ganz flach gemacht. Es sah fast aus, als würde er sich eingraben wollen. Mit einem unruhigen Flackern in den Augen beobachtete der Geschäftsmann die andere Parkplatzseite. Immer wieder ließ er, ebenso wie Christoph, seine Augen über die efeubewachsene Fassade der ehemaligen Remise gleiten. Doch alle Fenster waren verschlossen. Rechts vom Anbau, durch einen schmalen Grundstücksstreifen getrennt, stand ein weiteres kleines Gebäude, eine Garage, deren Obergeschoss ebenfalls zu einem Gästezimmer ausgebaut war. Eine Treppe führte an der Außenseite hinauf.

Jetzt tauchte vorsichtig ein Schatten hinter der Garage auf. Ein Kopf schob sich um die Ecke, dann erschien Mommsens Gesicht. Der junge Kommissar hielt sein Handy in der Hand und schwenkte es kurz. Christoph sah, wie Große Jäger den Daumen in die Höhe streckte. Dann nahm der Oberkommissar sein Mobiltelefon ans Ohr. Christoph konnte nicht verstehen, was die beiden miteinander sprachen. Danach robbte Große Jäger ein Stück zurück.

»Mommsen sagt, auf der Rückseite der Garage bewegt sich jemand durch das Unterholz. Er will rechts herum, während ich den Parkplatz überquere und mich von links heranschleiche.«

Christoph hatte den Eindruck, dass die Situation trotz der Gefährlichkeit dem Oberkommissar sichtlich Vergnügen bereitete.

Im Entengang watschelte Große Jäger zu dem Baum zurück, hinter dem er sich zuvor verschanzt hatte. Im Zeitlupentempo zog er sich am Stamm hoch. Dann nahm er Blickkontakt mit Mommsen auf, der eine Zeit lang verschwunden war. Offensichtlich hatte er noch einmal das Terrain auf der Rückseite der Garage sondiert.

Mommsen machte eine Winkbewegung, die Große Jäger bedeutete, er könne kommen.

Dann rannte der Oberkommissar los.

Christoph erinnerte sich an Wildwestfilme aus seiner Jugendzeit. Sein Kollege hatte Ähnlichkeit mit einer auf das Kameraobjektiv zurasenden Büffelherde. Große Jäger fand auf der anderen Seite hinter der Garagenecke Deckung. Wenn der geheimnisvolle Schütze dort immer noch lauerte, musste er jetzt glauben, dass eine ganze Hundertschaft im Anmarsch war.

Große Jäger blinzelte um die Ecke und sah eine Gestalt, die mit gezückter Waffe an der Querwand entlangschlich, vorsichtig Fuß für Fuß vorsetzend.

Der Mann sah hoch. Er musste den Oberkommissar auch entdeckt haben, machte aber merkwürdigerweise keine Anstalten, auf ihn zu schießen oder in Deckung zu gehen. Es schien, als würde sich der Unbekannte auf ein anderes Ziel konzentrieren.

Zu dieser Seite der Gasse zwischen dem Hotelanbau und der Garage konnte der Unbekannte nicht mehr entkommen. Große Jäger sah, wie sich auf der anderen Seite der Querwand eine bewaffnete Hand um die Ecke schob, dann folgte Mommsens halbes Gesicht.

»Polizei. Lassen Sie die Waffe fallen. Sie sind umstellt. Jeder Widerstand ist zwecklos!«

Der Unbekannte sah erst zu Mommsen, dann zur anderen Seite, auf der sich Große Jäger ein wenig aus der Deckung gewagt hatte. Der Mann machte keine Anstalten, seine Pistole in Richtung eines der beiden Polizisten zu schwenken. Mit spitzen Fingern fasste er den Lauf seiner Pistole von vorn und hielt die Waffe am ausgestreckten Arm von sich. Dann stapfte er auf Große Jäger zu. Mommsen machte ein paar schnelle Sätze und war jetzt zwei Schritte hinter dem Mann.

Christoph beobachtete beides von der anderen Parkplatzseite. Jetzt, nachdem sie den Schützen gefasst hatten, richtete er sich wieder auf.

»Sie dürfen auch aufstehen«, sagte er zu Smitkov, der immer noch am Boden kauerte und halbwegs unter den Dienst-Kombi gekrochen war. Er sah Christoph mit großen Augen an. Nur zögernd kam er in die Höhe und sah dabei angstvoll zur anderen Parkplatzseite.

Dort war der ertappte Schütze bei Große Jäger angekommen und blieb zwei Schritte vor ihm stehen. Mit ausgestrecktem Arm reichte er ihm die Pistole, während Mommsen mit gezückter Waffe im Rücken des Mannes sicherte.

Dann sah Christoph, wie die drei ein paar Worte wechselten. Es war der Unbekannte, der sie verfolgt hatte. Christoph erkannte ihn wieder. Er hatte etwa Christophs Größe und war nicht mehr ganz jung. Christoph schätzte ihn auf über fünfzig. Die schlanke Gestalt war sportlich trainiert und stand ein wenig im Widerspruch zu den lichten Haaren, zwischen deren Schwarz bereits viel Grau schimmerte.

Die drei wechselten ein paar Worte, dann zog der Mann mit zwei Fingern ein Papier aus der Innentasche seiner Jacke und reichte es Große Jäger.

Aufmerksam studierte der Oberkommissar das Dokument, nickte Mommsen zu und gab dem Mann Papier und Waffe zurück. Christoph konnte sich darauf keinen Reim machen.

War das ein Privatdetektiv, der die Polizei observiert hat?

Mommsen hatte seine Waffe gesenkt, ebenso Große Jäger. Sie behielten ihre Pistolen aber ebenso in der Hand wie der Unbekannte. Jetzt kamen die drei auf Christoph und Smitkov zu. Christoph wollte ihnen entgegenkommen, aber der Oberkommissar rief ihm zu: »Bleib in Deckung.«

Mit hastigen Sprüngen hatten die drei den Parkplatz überquert.

»Das ist irre«, begann Große Jäger. »Darf ich vorstellen? Helge Thiel. Kollege aus Kiel. Erster Hauptkommissar beim LKA

Dann lachte er, weil Christoph keinen allzu intelligenten Eindruck machte.

Der Mann streckte Christoph die Hand entgegen.

»Hallo«, sagte er in unverkennbarem Norddeutsch. »Wir kennen uns schon.«

Christoph erwiderte den festen Händedruck. »Wenn Sie uns die ganze Zeit gefolgt sind, dann haben wir schon aus der Distanz miteinander zu tun gehabt.«

»Ich war Ihnen schon ganz nah«, sagte der Kieler Polizist schmunzelnd. »In der Tiefgarage.«

»Waren Sie der Unbekannte, der mir die Tüte vom Kopf gezogen hat? Der mich als Erster fragte, wie es mir geht?«

»Genau. Dann musste ich Sie leider verlassen, weil ich dem Übeltäter nachgeeilt bin. Aber der Kerl war schneller und ist mir entwischt.«

»Herzlichen Dank für Ihre Hilfe. Trotzdem glaube ich, dass Sie uns einiges erklären müssen.«

»Das denke ich auch«, antwortete Helge Thiel. »Doch lassen Sie uns zuerst nach dem Burschen suchen, der auf Smitkov geschossen hat.«

»Auf mich?«, fragte der Mann ungläubig. »Man hat auf mich geschossen? Ich vermute viel eher, dass der Anschlag der Polizei galt.«

»Nein«, erklärte ihm Christoph, der die Idee des LKA-Beamten aufgriff. »Der Anschlag war Ihnen zugedacht. Der Schütze hat gesehen, dass Sie in unserer Begleitung sind. Offenbar befürchtet er, dass Sie uns etwas verraten könnten. Ich freue mich schon auf die Unterhaltung mit Ihnen, Herr Smitkov.«

Smitkov machte keinen glücklichen Eindruck, schwieg aber. Seine Miene hellte sich erst auf, als Große Jäger sagte: »Vermutlich hat der Bursche das Weite gesucht. Den bekommen wir nicht mehr.«

»Oder es ist einer von der intelligenten Sorte, der sich jetzt in einem der Hotelzimmer aufhält und einen harmlosen Touristen mimt. Wir sollten Verstärkung anford…«, meinte der Kieler Kommissar, wurde aber in seinen Ausführungen durch den heranrollenden VW-Bulli der Quickborner Polizeistation unterbrochen. Drei Uniformierte entstiegen dem Wagen, darunter die beiden schon bekannten Ulrich Schröder und Ben Hegermann.

Christoph gab eine kurze Lagebeschreibung. »Wir müssen das Terrain absuchen und die Räume inspizieren. Aber Achtung! Es ist Vorsicht geboten. Der Mann ist bewaffnet und macht rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch.«

»Sollten wir nicht auf das SEK warten?«, schlug der Quickborner Revierleiter vor.

»Nein«, entschied Thiel. »So viel Zeit bleibt uns nicht. Also, los.« Er zeigte auf den dritten Beamten der Schutzpolizei, der nicht mit Namen vorgestellt wurde. »Sie bleiben hier und werfen einen Blick auf den Mann.« Er zeigte auf Smitkov. »Zwei sichern die Rückseite«, wies der Kieler Kommissar an.

»Ich«, meldete sich Mommsen.

Ben Hegermann machte einen Schritt auf Mommsen zu. »Ich begleite den Kollegen.«

»Gut«, sagte Thiel. »Dann man los.«

Im leichten Trab verschwanden die beiden im Durchgang zwischen Hotelanbau und der einzeln stehenden Garage.

»Wir sollten uns von der Rezeption eine Liste mit der Zimmerbelegung besorgen«, schlug Christoph vor und wandte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, dem Haupthaus zu.

Der Hoteldirektor zeigte sich überrascht, als Christoph sich auswies und seine Bitte vortrug.

»Selbstverständlich«, antwortete er hilfsbereit und fuhr mit dem Finger über die aktuelle Seite seines Belegungsplans. Dann notierte er eine Reihe von Zimmernummern auf einen Zettel.

»Wer wohnt in diesen Räumen?«

Der Manager überlegte kurz. »Hier wohnen zwei ältere Damen. Die eine benötigt eine Gehhilfe. Dieses Zimmer hat ein junges Ehepaar mit zwei Kindern belegt. Die sind vorhin weggefahren. Hier – das können Sie auch streichen. Das ist ein Ehepaar aus Münster. Stammgäste. Die kenne ich schon seit Jahren. Diese beiden Einzelzimmer ebenso. Zwei ältere Herren, so um die siebzig. Kommen zweimal jährlich zum Golfspielen.«

Es blieben drei Räume übrig. In einem hatte sich ein Paar eingemietet. Der Schlüssel hing nicht am Brett.

»Vermutlich sind die Herrschaften auf dem Zimmer. Und die beiden anderen Räume gehören Einzelreisenden. Männlich. Beide sind das erste Mal in unserem Haus. Ein Zimmer befindet sich im Anbau, zweiter Eingang, und dann im Erdgeschoss. Das zweite Zimmer ist hier im Haupthaus.«

»Mit welchem Namen sind die eingetragen?«

»Der im Haupthaus heißt Hermann-Josef Frings. Der im Anbau nennt sich Gorbatschow.«

Mit diesen Informationen kehrte Christoph zur kleinen Gruppe zurück, die sich in den Schutz der Bäume zurückgezogen hatte.

»Wir sollten uns zuerst diesen Gorbatschow vornehmen«, schlug Christoph vor.

»Wie heißt der?«, fragte Große Jäger ungläubig. »Habe ich richtig gehört?«

»Hast du.«

»Oh wie sinnig«, gab der Oberkommissar zurück. »Dann wollen wir ihn mal besuchen. Ich bin nämlich der dicke Kohl und will mit dem Typen in die Sauna.«

Sie traten nacheinander durch die Tür in den Flur des Anbaus. Geradeaus führte eine zweite Glasdoppeltür in den Erdgeschossflur. In einer Glasvitrine war handbemaltes Vitroporzellan ausgestellt. Eine kleine Anrichte, zwei Stühle und ein runder Tisch vervollständigten das Mobiliar des Eingangbereichs. Rechts führte eine Treppe in die obere Etage. Von dort kam ein älterer weißhaariger Mann herab und stutzte, als er die vier Männer mit ihren gezückten Waffen in der Hand sah.

Christoph hielt einen Finger vor den Mund und bedeutete dem Hotelgast, leise zu sein. Dann winkte er ihn zu sich heran.

»Verlassen Sie bitte das Gebäude und gehen Sie ins Haupthaus«, bat er. Der Weißhaarige nickte und verschwand lautlos nach draußen. Ein Blick zurück überzeugte Christoph, dass der Mann nicht zu den Neugierigen gehörte, die vor dem Ort des Geschehens stehen bleiben und der Ereignisse harren.

Von dem mit rotem Teppich ausgelegten Flur zweigten die weiß lackierten Zimmertüren ab. Tüten-Wandlampen an der mit Blumenranken bedruckten Tapete beleuchteten den Gang nur mäßig.

Die Zimmernummer war mit goldenen Lettern auf dem Türblatt angebracht. Große Jäger und der Quickborner Stationsleiter Schröder platzierten sich, die Waffe im Anschlag, links und rechts vom Eingang. Thiel stellte sich seitlich von der Tür auf, Christoph daneben.

Der Oberkommissar klopfte energisch gegen das Holz. Dann warteten sie ab.

Es dauerte eine Weile, bis sie hinter der Tür ein Geräusch hörten. Dann fragte eine dunkle Männerstimme mit hartem osteuropäischen Klang: »Ja? Wer ist da?«

»Würden Sie bitte öffnen«, sagte Christoph.

Einen Moment herrschte Stille. Dann fragte die Stimme erneut: »Wer ist denn da?«

»Hier ist die Polizei. Öffnen Sie bitte die Tür, strecken Sie Ihre Arme vor und kommen Sie heraus.«

Dann war Stille. Sie hörten im Zimmer ein Geräusch. Es klang, als würde eine Tür geöffnet.

»Mensch, der haut über die Terrasse ab«, wisperte Große Jäger.

»Da sind Mommsen und der Kollege«, flüsterte Christoph zurück.

Das Geräusch wiederholte sich.

»Hört sich an, als hätte er die Tür wieder geschlossen. Wahrscheinlich hat er die beiden im Garten entdeckt«, kommentierte Uli Schröder.

Hinter der Tür war nichts zu vernehmen.

Große Jäger klopfte erneut gegen das Holz.

»Kommen Sie raus. Alles andere ist zwecklos. Das Gebäude ist umstellt«, forderte Christoph den Unbekannten erneut auf.

Nach einer ganzen Weile meldete sich die tiefe Bassstimme aus dem Inneren.

»Ist gut. Ich öffne jetzt die Tür.«

Sie hörten, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde.

Es dauerte viele Herzschläge, bis sich der Türgriff im Zeitlupentempo abwärts bewegte. Dann öffnete sich die Tür zentimeterweise.

Die Anspannung war jetzt unermesslich. Christoph spürte, wie das Adrenalin durch seinen Körper schoss. Er warf einen Blick auf Große Jäger.

Der hatte die Augen zu einem Spalt zusammengekniffen und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Dabei blickte er starr geradeaus auf den sich verbreiternden Türspalt. Wenn der Oberkommissar nervös war, so war ihm das nicht anzumerken.

Langsam tauchte eine Hand auf. Sie war kräftig, die gepflegten, auf der Oberseite mit schwarzen Haaren bewachsenen Finger waren nach vorn gestreckt. Es war die linke Hand.

Große Jäger sprang vor, sodass er dem Mann aus dem Hotelzimmer gegenüberstand, die Waffe immer noch im Anschlag. Erst nachdem auch Uli Schröder sich vor Gorbatschow aufgebaut hatte, griff der Oberkommissar zu den Handschellen, die an seinem Gürtel baumelten, und ließ die Metallklammern um die Handgelenke des Mannes klicken.

Es war, als atmeten alle gleichzeitig aus.

Gorbatschow wirkte keine Spur aufgeregt.

»Was soll das Ganze?«, fragte er in Christophs Richtung.

»Eine reine Routinemaßnahme«, erwiderte Christoph. Sie schoben den Mann ins Hotelzimmer und folgten ihm.

Thiel öffnete vorsichtig die Terrassentür und rief leise in den Garten: »Alles erledigt. Ich komme jetzt hinaus.«

»Verstanden«, kam Mommsens Stimme aus dem Dunkel des Gärtchens hinter dem Haus zurück. Wenig später drängten auch die beiden Beamten, die die Rückfront abgesichert hatten, in das Hotelzimmer.

»Was wollen Sie von mir?«, fragte Gorbatschow erneut. »Ich erwarte eine Erklärung.«

»Sie sind Herr Gorbatschow?«, antwortete Christoph mit einer Gegenfrage.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein. So habe ich mich nur an der Rezeption angemeldet. Ich habe nie verstanden, warum in einem Land, das die Freiheit seiner Bürger propagiert, eine Anmeldung mit Namen erforderlich ist.«

»Wie heißen Sie richtig?«

»Andrej Baranowitsch. Ich bin Tourist aus Minsk. Pass und Visum finden Sie dort.« Mit einem Kopfnicken zeigte er auf ein Sakko, das über einer Stuhllehne hing.

»Darf ich?«, fragte Thiel und hatte schon in die Tasche gegriffen, ohne die Antwort abzuwarten.

Die drei Husumer sahen sich an. Ein Weißrusse. Wie der tote Pjotr Schewtschenko.

»Stimmt«, bestätigte der Kieler Kommissar. »Alter: fünfundvierzig. Und das Visum der deutschen Botschaft scheint auch echt zu sein.«

»Wo denken Sie hin?«, empörte sich Baranowitsch.

»Haben Sie eine Waffe?«, fragte Christoph.

»Was soll ich damit?«

Helge Thiel ging auf den Mann zu und ergriff seine Hände. Wenn er sich bisher friedfertig verhalten hatte, so zeigte er plötzlich Widerstand. Ruckartig riss er die gefesselten Hände vor seinen Bauch. Aus seinen dunklen Augen funkelte er den LKA-Beamten böse an. Doch der feste Griff der beiden uniformierten Polizisten brach seine Gegenwehr.

Thiel beugte sich zur rechten Hand des Delinquenten herab und schnupperte daran. Nichts. Das Ganze wiederholte er an der linken Hand. »Sie haben vor kurzem eine Waffe in der Hand gehabt. Ich rieche es«, stellte er fest.

Baranowitsch sah ihn an. »Ich sage nichts mehr«, antwortete er.

»Wir nehmen Sie vorläufig fest«, sagte Christoph und spulte den Text der bei Verhaftungen üblichen Rechtsbelehrung ab.

»Haben Sie das verstanden?«, fragte er anschließend.

Der gefesselte Mann nickte wortlos.

Dann untersuchten sie das Hotelzimmer. Sie fanden nur Kleidungsstücke und Utensilien, die ein Tourist üblicherweise mit sich führt. Eine Waffe fanden sie nicht.

Als die beiden Schutzpolizisten Baranowitsch unter den Arm fassten und ihn nach draußen führten, stockte der Mann zunächst. Dann ließ er sich widerstandslos begleiten. Er hatte während der ganzen Zeit geschwiegen. Sie traten ins Freie und wandten sich dem Polizeibulli zu, in dem der dritte Uniformierte mit Smitkov wartete.

Als sie vor der Schiebetür des grün-weißen Polizeiwagens auftauchten, bemerkte Christoph ein Erschrecken in Smitkovs Augen.

»Sie wollen diesen Mann doch nicht etwa in einem Wagen mit mir transportieren«, protestierte er. »Schließlich hat er versucht, auf Sie zu schießen.«

»Das galt Ihnen«, erwiderte Große Jäger. »Und nun interessiert uns brennend, warum.«

Smitkov sah den Weißrussen verächtlich an. Dann begann er auf ihn einzureden. Er bediente sich einer Sprache, von der Christoph vermutete, dass es Russisch war. Am Tonfall konnte man erkennen, dass es alles andere als eine freundliche Begrüßung war.

»He, he – sprich Deutsch«, fuhr Große Jäger dazwischen. »Wir möchten gern etwas mitbekommen von eurem trauten Zwiegespräch.«

Doch Smitkov ließ sich nicht bremsen. Der Oberkommissar wollte erneut dazwischen fahren, wurde aber diskret von Thiel durch ein Zupfen am Ärmel daran gehindert.

Baranowitsch hörte sich Smitkovs Schimpftirade reglos an. Erst als der smarte Geschäftsmann schwieg, antwortete er mit einem prägnanten »Pahhh!«.

»Wenn ich das übersetzen könnte, würde das mit Sicherheit für eine Anklageerhebung reichen«, mutmaßte Große Jäger.

»Stimmt«, bestätigte Thiel. »Herr Smitkov hat unseren Schützen aufs Heftigste beschimpft, ihn einen Idioten genannt und gefragt, was um Himmels willen in ihn gefahren wäre, dass er auf ihn geschossen hätte.«

Alle schauten erstaunt auf den Kieler LKA-Beamten. Smitkov war vor Schreck der Unterkiefer nach unten gerutscht. Zum ersten Mal machte er einen nahezu dümmlichen Eindruck. Auch Baranowitsch hatte verstanden, dass Smitkov mit seiner unbedachten Erregung einen großen Fehler begangen hatte.

»Sie verstehen Russisch?«, fragte Christoph.

Helge Thiel nickte. »Ich komme von der Spezialdienststelle für Organisierte Kriminalität und habe Russisch gelernt. Mühsam«, fügt er an. »Auch wenn Schleswig-Holstein kein Brennpunkt der Organisierten Kriminalität ist, so hat deren Bekämpfung aufgrund der geographischen Lage im Ostseeraum eine herausragende Stellung.«

»Donnerlüttchen«, staunte Große Jäger. »Das traut der Rest der Republik uns gar nicht zu. Hinter Holstein, auf der anderen Elbseite, glauben die doch, wir würden nur Eier- und Fischdiebe jagen.«

»Siehst du«, beruhigte ihn Christoph. »Wie du richtig angemerkt hast. Die anderen wohnen hinter Holstein. Doch zurück zur Sache. Ich möchte mir jetzt auch den Herrn Frings ansehen, der sich im Haupthaus eingemietet hat. Ich fürchte, der Herr ist uns bekannt. Das Hotel hat zwei Eingänge. Vielleicht solltest du, Harm, mit einem unserer uniformierten Kollegen zum Vordereingang gehen.«

Mommsen nickte, und Ben Hegermann schloss sich ihm an.

Die anderen drei betraten das Hotel durch den Seiteneingang. An der Rezeption empfing sie der Hoteldirektor. Mit einer Gelassenheit, als würde er eine Bestellung der Vorspeisen aufnehmen, fragte er: »Waren Sie erfolgreich, meine Herren?«

Christoph nickte nur. »Wo finden wir Herrn Frings?«

»Der wohnt hier im Haupthaus. Oben.« Der Direktor zeigte mit dem Finger in die nach oben offene Halle. Dort war eine Galerie zu sehen. Allerdings führte keine Treppe empor.

»Wie kommen wir dort hinauf?«

»Wenn Sie zum Nebeneingang zurückgehen. Dort ist die Treppe.«

Als die drei die Halle durchquerten, sahen sie oben auf der Galerie Schöppe. Der hatte sie auch bemerkt. Er stutzte einen Moment, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand in seinem Zimmer.

Während Christoph und Thiel die Treppe hochhetzten, lief Große Jäger ins Freie.

»Ich sichere die Rückseite«, rief er, stieß aber vor der Tür mit Mommsen zusammen. »Lauf ums Haus«, befahl er ihm und eilte Christoph hinterher.

Die im Obergeschoss um die Halle laufende Galerie war schmal. Sie sahen eine nur angelehnte Tür. Das musste Schöppes Zimmer sein. In der Eile hatte er keine Zeit gefunden, sie zu schließen. Sie stießen sie vorsichtig auf. Thiel und der mit keuchendem Atem aufschließende Große Jäger hatten ihre Dienstwaffen gezogen.

»Mensch, so oft wie heute hatte ich meinen Ballermann die letzten Jahre nicht in den Händen«, raunte der immer noch nach Luft ringende Oberkommissar.

Doch die Vorsicht war vergeblich. An der gegenüberliegenden Wand stand die Balkontür offen. Schöppe hing halb über die Brüstung gelehnt. Das rechte Bein war noch diesseits des Geländers, während das linke außen im Freien pendelte. Das Bild ähnelte einer Szene aus einer Comedy-Darstellung.

»Nun spring schon. Der junge Fabian Auhagen aus Husum ist auch gesprungen«, schimpfte Große Jäger, zerrte aber am Oberarm Schöppes und zog ihn auf den Balkon zurück. Dann schlossen sich die Handschellen um seine Handgelenke.

Christoph klärte den Mann über seine Rechte auf.

Sie durchsuchten ihn. Er war unbewaffnet.

Christoph warf einen Blick in die Aktenmappe. Dabei sah ihm Thiel über die Schulter.

»So etwas hatte ich erwartet«, stellte Christoph fest. »Lauter Kreditverträge. Die Herren wollten sich hier treffen, um die nächsten Wucherverträge unter Dach und Fach zu bringen.« Christoph klopfte auf die Unterlagen. »Das sind lauter neue Reiches, Auhagens, Dugovics und wie sie alle heißen.«

Als sie den Polizeibulli erreichten, in dem Uli Schröder und sein Kollege mit den beiden anderen Verhafteten warteten, machte Smitkov gar nicht den Versuch, vorzutäuschen, er würde Schöppe nicht kennen.

»Du kennst es«, zischte er ihn an. »Am Ende müssen alle zahlen. Auch du. Und die Zinsen werden auch nicht vergessen.«

Schöppe blieb stumm. Aber einen glücklichen Eindruck machte er nicht.

Während die drei Beamten der Schutzpolizei Baranowitsch mitnahmen, wurde Smitkov in Thieles Passat verfrachtet, wobei Mommsen ihn unterstützte. Christoph und Große Jäger bildeten in ihrem Ford-Kombi mit der zerschossenen Scheibe und dem zitternden Schöppe auf dem Rücksitz das Ende der kleinen Karawane, die zur Quickborner Polizeistation fuhr.

*

Der Raum war karg möbliert. Ihm fehlte alles Anheimelnde. Nicht einmal Bilder zierten die Wände. In der Polizeiorganisation war eine ländliche Polizeistation die kleinste Organisationseinheit, das letzte Glied in der Kette. Da blieb nichts mehr übrig für eine komfortable Ausstattung.

Am Tisch saßen Christoph, Große Jäger, Mommsen, der Kieler LKA-Beamte Thiel und der Stationsleiter, Hauptkommissar Uli Schröder.

Die drei Verhafteten waren in Arrestzellen sicher verwahrt. Keiner von ihnen hatte während der ganzen Prozedur Widerstand geleistet.

»Jetzt erklären Sie mir bitte, was das LKA mit dieser Sache zu tun hat und weshalb uns die eigenen Kollegen beschattet haben«, forderte Christoph Thiel auf.

Der lehnte sich entspannt auf dem Holzstuhl zurück. »Erst einmal sollten wir das förmliche Sie lassen«, schlug er vor. »Ich heiße Helge.« Dann strich er sich mit der Hand über den Bart.

»Smitkov war nach außen ein unbescholtener Bürger. Er hat sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Gerissen und durchtrieben. Obwohl wir schon lange Verdacht hegten, dass hinter der Fassade mehr steckte, konnten wir ihm nichts anhaben. Nicht einmal die Steuer ist fündig geworden. Trotzdem musste da etwas sein. Also fingen wir an, ihn zu beobachten und über Interpol Erkundigungen einzuziehen.«

»Es muss doch einen ersten Hinweis gegeben haben«, unterbrach Christoph.

»Ja, den gab es. Aus Italien kam eine Anfrage an das BKA. Sie klang eigentlich harmlos. Man vermutete, dass Smitkov sich als Finanzier im internationalen Waffengeschäft betätigte. Wohlgemerkt, er selbst hat nicht mit Waffen gehandelt. Dafür war er zu vorsichtig. Man hatte aber den Verdacht, dass er die Geschäfte finanzierte. Er war sozusagen die Clearingstelle zwischen Käufer und Verkäufer. So fingen wir an, ihn zu beobachten.«

»Und? Seid ihr fündig geworden?«

Thiel kniff die Augen ein wenig zusammen. »Nicht direkt. Der Mann war auffallend oft in Zürich, in Luxemburg und auf den Kanalinseln. Das sind die Standorte in Europa, wo das große Geld gewaschen oder versteckt wird. Wir haben ihn überwacht, ihn beim Grenzübertritt durch den Zoll besonders filzen lassen. Nichts. Der Bursche ist aalglatt.«

»Hätte man nicht einmal in seine Unterlagen sehen können?«, mischte sich Große Jäger ein. »Oder Telefonüberwachung?«

Thiel schüttelte den Kopf.

»Mehr, als dem Anfangsverdacht zu folgen, war uns nicht möglich. Die Wohnraumüberwachung ist laut Bundesverfassungsgericht nur unter erschwerten Bedingungen möglich.«

»Toll«, warf der Oberkommissar dazwischen. »Da können Finanzamt und Sozialbehörde jedem Normalbürger in die Konten gucken, aber Verbrecher dürfen wir nicht jagen.«

»Tja, so ist es«, bedauerte Thiel. »Smitkov war Anfang der neunziger Jahre aus Bulgarien nach Deutschland gekommen. Zuerst war er als Wirtschaftsdolmetscher tätig. Sehr schnell merkte er, dass es lukrativer ist, die Geschäfte selbst zu machen. In kürzester Zeit baute er dank hervorragender Verbindungen ein Im- und Exportgeschäft auf und verkaufte alles. Hafenkräne, alte Industrieanlagen, Müll, Schrottautos – es gab nichts, was er nicht zu Geld machte. Doch das reichte ihm nicht. Er wollte mehr. Und so erschloss er sich weitere Betätigungsfelder im Untergrund. Und die wollten wir ihm nachweisen.«

»Wenn ich es richtig verstehe, war Smitkov Einzelgänger«, warf Christoph ein. »Was hat das mit Organisierter Kriminalität zu tun?«

»Organisierte Kriminalität ist die von Gewinn- oder Machtstreben getragene planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind, sofern sie von mehr als zwei Beteiligten verübt werden, die hierzu auf längere Zeit oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen oder unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel ausgeübt werden«, zitierte Thiel wörtlich die Definition. »Wir haben zuerst nur Smitkov gesehen, aber vermutet, dass er nicht allein tätig ist, sondern dass eine für uns nicht erkennbare Organisation dahinter steckt. So sind wir auf die Sache gestoßen. Tja, und ich bin aus diesem Team beim LKA der Frontmann.«

»Und wie hängen Schöppe und die weißrussischen Killer in der Sache?«, fragte Christoph.

»Von denen wussten wir nichts«, gestand Thiel ein. »Auf die seid ihr erst gestoßen.«

»Aber irgendwie müsst ihr doch auf unseren Fall gekommen sein?«

»Das mag mysteriös erscheinen, ist aber simpel. Eine Telefonüberwachung war uns nicht möglich. Natürlich kannten wir aber die Nummern der Handys, die auf Smitkov kontrahiert waren. Uns kam es merkwürdig vor, dass zwei der Mobiltelefone – übrigens ständig andere Nummern – sich in bestimmten Zeitabständen immer wieder durch Norddeutschland bewegten, obwohl Smitkov selbst zu Hause oder auf Geschäftsreise war. Das hat uns erstaunt, da der Mann ansonsten absoluter Einzelgänger war. So haben wir durch gute Beziehungen zum Netzbetreiber«, Thiel hüstelte leicht und warf einen Blick auf Hauptkommissar Schröder, weil er jetzt sensible Informationen von sich gab, »verfolgen können, wo sich die Telefone aufhielten. Beide waren in Nordfriesland unterwegs. Daher bin ich auch dorthin gefahren. Durch einen glücklichen Zufall fiel mir im Zielgebiet ein Pkw auf, der mir schon in Quickborn begegnet war. Ein Leihwagen, angemietet von Georghe Smitkov. Ich folgte dem Fahrzeug, verlor es in Leck aber aus den Augen. Ich bin die Straßen abgefahren, habe aber den Wagen nicht wiederfinden können. Am nächsten Tag habe ich noch einmal die Gegend abgesucht, weil ein Handy verstummt war, das zweite sich aber immer noch aus der Region meldete. Dabei bin ich auf einen Polizeieinsatz gestoßen.«

»Das waren wir in der Wohnung von Frank Reiche«, warf Große Jäger ein. »Dabei haben wir dich auf der anderen Straßenseite gesehen.«

»Genau«, bestätigte Thiel. »Nach Rücksprache mit meiner Dienststelle haben wir entschieden, unsere Identität im Interesse der Ermittlungen nicht preiszugeben. Wir wollten uns erst einmal die Ergebnisse der Kripo Husum anzuschauen.« Thiel lachte. »Wir haben nicht damit gerechnet, dass ihr so rasant an die Sache herangeht. Ihr habt euch großartig durchgebissen. Zu unserer großen Überraschung habt ihr einen ganzen Kreis von Kontaktpersonen aus dem Hut gezaubert, die uns bis dahin alle unbekannt waren.«

»Der geheimnisvolle Zettel mit den Telefonnummern«, stellte Christoph fest.

»Dann geschah der Mord in Husum. Auch darin habt ihr euch verbissen. Ihr habt die Verbindung zu den Banküberfällen und dem Mord in Lille hergestellt. Das war für uns der Zeitpunkt, um auf dem Dienstweg Verbindung mit euch aufzunehmen. So hat unserer Kriminaldirektor mit eurem Dr. Starke gesprochen. Der hielt es aber für klüger, euch nicht zu informieren. ›Wir lassen die Husumer noch ein wenig von der Leine‹, meinte er. ›Wenn die ins Leere laufen, werden die verdeckten Ermittlungen des LKA nicht gefährdet.‹ Euer Kriminaloberrat hat sogar die Mordkommission zurückgezogen.«

»Dann war der eingeweiht«, ereiferte sich Große Jäger, »und hat nichts gesagt. Der Sch…«

An dieser Stelle unterbrach ihn Christoph. »Darüber werden wir noch ein paar Worte zu wechseln haben.« Zu Thiel gewandt fuhr er fort: »Andererseits konnte Smitkov, als ich ihn aufsuchte, ruhig bleiben. Ihm war klar, dass wir ihn in keiner Weise mit dem Mord an Reiche in Verbindung bringen konnten. Dass Reiche wütend wurde und Pjotr Schewtschenko umbrachte, war ein bedauerlicher Betriebsunfall.«

»Ja, das ist alles, was ich zur Aufklärung beitragen kann«, schloss Thiel seinen Bericht. »Den Rest habt ihr Provinzler gelöst.«

»Gut, dann verhören wir doch erst einmal den weißrussischen Killer«, schlug Christoph vor.

Ben Hegermann führte Baranowitsch herein und wollte ihm die Handschellen abnehmen, aber Christoph deutete mit einem Kopfnicken an, dass der Mann gefesselt bleiben sollte. Ungefragt nahm er auf einem freien Stuhl Platz.

»Weshalb haben Sie sich widerstandslos verhaften lassen?«, begann Christoph das Verhör.

Baranowitsch zog die Mundwinkel hoch. »Ich bin Tourist aus Minsk«, behauptete er. »Ich habe ein gültiges Visum der Botschaft.«

»Sie sind schon oft in der Bundesrepublik gewesen?«

»Ist das verboten? Überall verkünden die Politiker, die Einreise nach Deutschland sollte vielen ermöglicht werden.«

»Und deshalb sitzt uns nun eine der fragwürdigen Visaerteilungen gegenüber, die uns dank großzügiger Auslegung des Liberalitätsgedankens das Leben schwer machen«, stöhnte Große Jäger. »Es wäre schön, könnten wir das Vernehmungsprotokoll als Anschauungsmaterial ans schwarze Brett in einem der Berliner Diplomatenclubs hängen.«

»Kein Politiker hat auf die Sicherheitsbehörden gehört, die vor solchen Konsequenzen gewarnt haben«, ergänzte Helge Thiel.

»Wollen Sie mit mir über Politik diskutieren?«, warf Baranowitsch dem Oberkommissar entgegen. »Ich sagte bereits, ich bin Tourist und möchte meinen Konsul in Berlin sprechen.«

»Das wird Ihnen ermöglicht werden. Aber zuvor sollten Sie uns einige Fragen beantworten. Sie haben auf uns geschossen«, sagte Christoph. »Das bedeutet, versuchter Mord an einem Polizisten.«

»Können Sie mir das beweisen? Haben Sie eine Waffe gefunden?«

»Sie unterschätzen uns. Wahrscheinlich liegt das daran, dass Sie Ihre bisherigen kriminellen Streifzüge durch Europa vornehmen konnten, ohne dabei erwischt worden zu sein.«

»Wir werden die Waffe finden, mit der Sie geschossen haben. Auch wenn es viel Mühe kosten wird, das Terrain um das Hotel abzusuchen. Es sei Ihnen versichert: Wir finden sie«, warf Thiel ein. »An Ihren Händen finden sich Schmauchspuren. Außerdem haben wir Fingerabdrücke aus halb Europa, die Sie eindeutig überführen. Wir können Ihnen die Banküberfälle in Hjørring und Bad Vilbel, den Mord in Lille, insbesondere aber das Verbrechen in Husum nachweisen. Außerdem gibt es jede Menge Zeugen, die bereitwillig aussagen werden und froh sind, dass Sie nicht mehr frei herumlaufen. Nein, Herr Baranowitsch. Ihre kriminelle Karriere endet hier und jetzt.«

Der Mann zuckte nicht mit der Wimper. Er wandte sich Thiel zu und sagte etwas auf Russisch. Der LKA-Beamte nickte ruhig.

»Sie können jede Art von Drohung aussprechen. Auch wenn Sie uns das gleiche Schicksal wie Frank Reiche prophezeien.«

Die anderen Polizisten sahen Thiel an. Der nickte zurück.

»Er hat gerade gestanden, Frank Reiche ermordet zu haben.«

»Dieser Bastard hat meinen Kumpel umgebracht«, fauchte Baranowitsch. Aus seinen Augen funkelte es böse. »Er hat ihn erschlagen wie ein Stück Vieh. Das habe ich gerächt.«

»Woher wussten Sie, dass Reiche Pjotr Schewtschenko ermordet hat?«

»Ich habe es aus ihm herausgeprügelt. Der Jammerlappen. Pjotr war zu einem Geschäftsbesuch bei diesem Kerl. Nachdem er nicht wieder zurückkam und sich auch nicht per Handy meldete, bin ich zu Reiches Wohnung gefahren. Im Wohnzimmer habe ich dann das Blut entdeckt und mir meinen Teil gedacht. Später habe ich Reiche telefonisch erreicht. Die Memme hat keinen zusammenhängenden Satz von sich gegeben. Überraschend hat er einem Treffen in Husum zugestimmt, doch dann versuchte er zu fliehen. Im Eingang dieser Buchhandlung holte ich ihn ein. Schon nach dem ersten Mal, nachdem ich seinen Schädel gegen die Wand geschlagen hatte, fing er an, um sein Leben zu flehen, und gestand, Pjotr erschlagen zu haben. Dieses elendige Schwein. Und genauso wie dieser Hund wirst du enden«, drohte er Thiel.

»Sie werden erst einmal wegen mehrfachen Mordes hinter Gefängnismauern verschwinden. Und bei der Art und Weise, wie Sie Ihre Taten begangen haben, wird das Gericht mit Sicherheit die besondere Schwere der Schuld feststellen. Ihre Drohung gegen uns ficht mich daher nicht an. Sollten Sie – wenn überhaupt – jemals wieder frei sein, werden Sie so alt und klapprig sein, dass Sie keine Kuh auf fünf Metern mehr treffen werden.«

Es schien, als wäre eine Verwandlung mit dem Mann vorgegangen. Er sah die Polizisten nachdenklich der Reihe nach an. Dann zuckte er resignierend mit den Schultern.

»Ich hätte früher aufhören sollen«, brummte er, »in meinem Alter sollte man nicht mehr jeden Job machen. Irgendwann kann man nicht mehr vor der Polizei weglaufen.«

»Wie wär’s denn, wenn Sie dafür mit uns kooperieren?«

Für seinen Versuch erntete Große Jäger nur einen Seitenblick. »Du Arsch glaubst doch nicht, dass ich mich dazu herablasse, Handlager der Polizei zu werden«, fauchte Baranowitsch zurück. Dann versuchte er, die Hände vor der Brust zu verschränken, was ihm aber mit den Handschellen nicht gelang. Trotzig lehnte er sich zurück und ließ die Schultern fallen.

»In wessen Auftrag haben Sie auf uns geschossen?«, versuchte es Christoph erneut. »Hat Smitkov Sie angeheuert?«

Baranowitsch biss die Zähne zusammen, sodass seine Lippen einen schmalen Spalt bildeten. Dann musterte er aus seinen dunklen Augen der Reihe nach die anwesenden Beamten.

Sie versuchten es abwechselnd, den Mann zum Reden zu bringen, aber es half nichts. Er schwieg eisern.

»Der Haftbefehl gegen Sie ist nur eine Formsache. Kennen Sie die Anschrift Ihres Konsulats?«

Baranowitsch nickte. »Habe ich mit meinen Reiseunterlagen erhalten.«

»Notieren Sie uns bitte Anschrift und Telefonnummer Ihres Konsulats auf diesem Zettel«, brach Christoph das Verhör schließlich ab. Ben Hegermann guckte irritiert, als Christoph den jungen Polizisten aufforderte, Baranowitsch die Handschellen abzunehmen, damit er ungehindert schreiben konnte. Dann wurde der Killer aus Minsk abgeführt.

»Harm, kannst du von den anderen Inhaftierten Namen und Telefonnummer in Erfahrung bringen? Es wäre gut, wenn die beiden die Angaben handschriftlich notieren würden«, schickte Christoph seinen jungen Kollegen los. Als Mommsen den Raum verlassen hatte, fragte Christoph: »Nun haben wir gehört, was wir ohnehin schon vermutet hatten: Wir haben den Mörder gefasst. Und das Opfer war zugleich der Täter im ersten Mord. Bleibt eine letzte Frage: In wessen Auftrag haben die beiden Gewalttäter gearbeitet? Schöppe oder Smitkov?«

»Oder die haben zusammengearbeitet«, ergänzte Große Jäger.

»Das ist anzunehmen. Aufgrund der Kreditunterlagen, die Schöppe in seinem Aktenkoffer bei sich hatte, vermute ich, dass über das Schleswiger Finanzbüro die Kunden angelockt wurden. Dabei arbeitete Schöppe zweigleisig.«

»Was verstehst du darunter?«

»Leute, die Geld anlegen wollten und denen entweder die Rendite bei soliden Finanzpartnern nicht attraktiv genug war oder die Gelder zu verstecken hatten, bediente Schöppe auf eigene Rechnung. Mit haltlosen Versprechungen hat er Gelder eingesammelt und sich davon selbst großzügig bedient. Mit dieser Masche hat er sich bereits in Hamburg betätigt. Als das Rad, das er drehte, zu schnell wurde, hat er Insolvenz angemeldet und dabei viele Anleger um ihre Ersparnisse gebracht. Wir wissen, dass in diesem Fall die Staatsanwaltschaft ermittelt.«

»Und dann hat er die gleiche Masche in Schleswig erneut aufgezogen?«

»Richtig. Da aber gegen ihn ermittelt wurde, hat er seine Freundin Sabine Bruck-Hersanger vorgeschoben. Die hat aber lediglich ihren Namen hergegeben und wurde zur Belohnung auf einen Südseetrip abgeschoben. Das hatte den Vorteil, dass sie nicht stören konnte. Ebenso wurden ihr die Vermögenswerte überschrieben, die Schöppe bei seinem Deal in Hamburg beiseite geschafft hatte.«

»Ganz schön leichtsinnig, sich finanziell voll einer Frau auszuliefern«, warf Große Jäger ein.

»Unter normalen Umständen vielleicht«, gab Christoph zurück. »Aber Schöppe wusste ja, wie man Druck ausübt. Das hat er bei Smitkov gelernt.«

»Da unterstellst du jetzt aber etwas.«

»Richtig. In Schleswig hat Schöppe noch eine andere Idee verwirklicht. Er fing an, bei kleinen Leuten abzusahnen. Da war die Masche mit den Kleinanzeigen und der Endlosschleife am Telefon. Das bringt auch Geld. Kontinuierlich. Und die Dummheit der Anrufer bleibt straffrei für den Initiator. Außerdem hat er Kredite gewährt. Zu Wucherzinsen. An Menschen, die woanders kein Geld mehr bekommen haben. Auf irgendeine Weise hat er dabei Kontakt zu den beiden Weißrussen bekommen und sich derer als Geldeintreiber bedient, wenn die Schuldner nicht zahlen wollten – oder konnten. In manchen Fällen scheint es ja geklappt zu haben. Zum Beispiel in Heide bei diesem Mitrolitis. Nachdem er zusammengeschlagen wurde, hat er sein Auto verkauft. Bei Reiche hat man versucht, das Geld beizutreiben, indem man seine Freundin aus Apenrade zur Prostitution zwingen wollte.«

»Und das hast du alles schon gewusst?«, knirschte Große Jäger zwischen den Zähnen hervor.

»Nein«, lachte Christoph, »manches vielleicht geahnt. Aber zusammengereimt habe ich es mir erst vor kurzem. Die letzten Mosaiksteinchen fanden sich hier, zum Beispiel die Kreditunterlagen, die Schöppe dabeihatte. Ich gehe davon aus, dass er die Fälle mit Smitkov abstimmen wollte. Wahrscheinlich war Smitkov der Kreditgeber hinter den Kulissen. So wie Kollege Thiel uns erzählte, dass er Waffengeschäfte finanzierte, hat er sich wohl auch in diesem Metier getummelt.«

»Kaum zu glauben, dass er sich mit solchem Kleinkram abgab«, warf Große Jäger ein.

»Warum nicht? Die Menge macht’s. Damit wissen wir aber immer noch nicht, wer der Auftraggeber für die beiden Schläger war.«

In der Zwischenzeit war Mommsen zurückgekehrt und hatte still dem Dialog gelauscht. Er nutzte die kleine Pause, um Christoph die Zettel mit den Namen und Telefonnummern auszuhändigen.

»Hat alles geklappt?«, fragte Christoph.

Mommsen nickte. »Warum nicht? Da steckt doch nichts hinter, oder?«

»Wenn unser Christoph schmunzelt, hat er noch einen im Ärmel«, mischte sich der Oberkommissar ein, als er Christoph vergnügt lächeln sah.

Der suchte in seiner Jackentasche nach einem Papier. Dann zog er eine Fotokopie hervor und legte sie vor sich auf den Tisch. Er verglich die Schrift mit den drei handschriftlichen Notizen, die er von den Inhaftierten vorliegen hatte. Fast gleichzeitig tippten er und Große Jäger auf eine der Unterlagen und sagten: »Das ist es.«

Eine der Handschriften stimmte mit dem Zettel überein, den sie in Reiches Wohnung gefunden hatten und der die verschlüsselten Telefonnummern enthielt.

»Auch gut organisierte Strukturen scheitern häufig an Kleinigkeiten«, stellte Christoph fest. Thiel stimmte ihm zu.

Für das Gericht würde ein Schriftsachverständiger bestätigen, was die Beamten hier mit bloßem Auge feststellen konnten: Die Notiz mit dem Zahlenrätsel war von Georghe Smitkov verfasst worden.

»Damit wissen wir, dass Smitkov die beiden Schläger losgeschickt hat. Wahrscheinlich ist er der Drahtzieher hinter den Kulissen«, fasste Christoph zusammen.

»Aber warum hat sein eigener Mann, Baranowitsch, vorhin auf ihn geschossen?«

Christoph sah Mommsen über den Rand der Brille an. »Ich schlage vor, wir fragen Smitkov selbst.«

Die beiden Schutzpolizisten verließen wortlos den Raum und kehrten kurz darauf mit dem Geschäftsmann zurück. Im Unterschied zu Baranowitsch trug der Mann keine Handschellen.

»Wir haben Sie als Hintermann entlarvt«, begann Große Jäger etwas voreilig. »Hier!« Er zeigte mit seinem nikotingelben Finger auf die handschriftliche Notiz. »Ihre Handschrift ist einwandfrei identisch mit dieser Nachricht, die wir am Tatort in Leck fanden.«

»Und? Was beweist das? War ich dort?«

»Nicht persönlich. Aber Sie haben den Auftrag für die Straftaten erteilt. Sie sind der Anstifter.«

Smitkov lehnte sich nahezu entspannt zurück. »Lächerlich. Ich bin Kaufmann. Ich mache Geschäfte. Legal und gesetzeskonform. Ich habe zu keinem Zeitpunkt jemanden zu einer Straftat angestiftet.«

»Und wie kommt diese Nachricht an den Tatort? Leugnen Sie, Pjotr Schewtschenko und Andrej Baranowitsch zu kennen?«

»Habe ich das gesagt? Die beiden sind mir bekannt. Ich habe sie vor der Öffnung des eisernen Vorhangs kennen gelernt.«

»Waren Sie auch beim Geheimdienst?«

Smitkov strahlte eine bemerkenswerte Gelassenheit aus. »Ich?« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin deutscher Staatsbürger. Glauben Sie, unsere Verfassungsorgane durchleuchten nicht jeden, der sich um die Einbürgerung bemüht? Ich bin sauber.«

»Und die beiden haben für Sie als Schläger gearbeitet«, stellte Christoph fest.

»Nein. Das ist eine Unterstellung. Ich habe Geld verliehen. Menschen geholfen, denen niemand sonst mehr Kredit gewährt hat. Das ist doch nicht strafbar. Ganz im Gegenteil. Für mich ist das sozial verantwortungsbewusstes Handeln.«

»Sie haben Kreditnehmern, die ihre Raten nicht zahlen konnten, Schläger auf den Hals gehetzt. Damit sind Sie der Anstiftung schuldig.«

»Das entspricht nicht den Tatsachen. Es ist mein gutes Recht, ein Inkassobüro mit der Eintreibung rückständiger Zahlungen zu beauftragen.«

»Ein Inkassobüro? Das ist doch lächerlich. Sie haben genau gewusst, welche Gewalt Ihre Handlanger gegen die Menschen ausüben.«

Ein überhebliches Lächeln umspielte Smitkovs Lippen. »Sie stellen hier nur unbeweisbare Mutmaßungen an. Schön.« Er spitzte ein wenig die Lippen. »Vielleicht habe ich mich geirrt, und das Inkassobüro hat keine gültige Lizenz. Das ist aber keine strafbare Handlung. Höchstens eine Ordnungswidrigkeit.«

»Und wie verhält es sich mit der Notiz, auf der Sie die Telefonnummern der Opfer niedergeschrieben haben? Und das auch noch verschlüsselt?«

»Na schön. Die Außendienstmitarbeiter …«

»Das ist ja ein Hohn«, unterbrach zornig Große Jäger. »Bei Ihren Killern sprechen Sie von Außendienstmitarbeitern!«

Smitkov bedachte den Oberkommissar mit einem leicht spöttischen Lächeln. »Also! Die Außendienstmitarbeiter benötigten Informationen. Und was das geheimnisvolle Codieren anbetrifft … Ich bitte Sie. Sie haben den angeblichen Code doch völlig unproblematisch knacken können.«

Christoph befürchtete, dass Smitkov Recht behalten könnte.

»Warum hat Baranowitsch auf Sie geschossen?«, schaltete sich Helge Thiel ein.

»Falls er es überhaupt war, so galt der Anschlag Ihnen«, wehrte Smitkov ab.

Die Beamten waren in einer Sackgasse. Es würde schwierig werden, dem Mann eine maßgebliche Beteiligung nachzuweisen. Wahrscheinlich kommt der Täter mit dem weißen Kragen wieder einmal ungeschoren oder höchstens mit einem blauen Auge davon, dachte Christoph.

»In Ordnung«, sagte er laut. »Wir werden Sie jetzt noch erkennungsdienstlich behandeln. Dann können Sie gehen.«

Alle anderen Polizisten im Raum waren erstaunt über Christophs einsame Entscheidung. Große Jäger öffnete den Mund, als wolle er dagegen protestieren, schwieg dann aber doch. Es wäre unklug gewesen, Christoph in Gegenwart des Verdächtigen zu kritisieren.

Christoph sah erst Hauptkommissar Ulrich Schröder, dann seinen Kollegen an.

»Bis wir hier fertig sind, bitte ich Sie, Herrn Smitkov für einen kurzen Moment in die Zelle zurückzubringen. Sperren Sie ihn zu seinem Mitarbeiter, da die andere Zelle durch den Neuzugang belegt ist.«

»Welcher Neuzu…?« Ben Hegermann wurde mitten im Satz durch Mommsen unterbrochen, der dem uniformierten Kollegen die Hand auf den Oberarm gelegt hatte. Gottlob hatte Smitkov diese Aktion nicht registriert.

»Sie können mich doch nicht mit einem Mörder in eine Zelle sperren«, protestierte er lebhaft.

»Wieso?«, entgegnete Christoph. »Sie haben eben selbst in Zweifel gezogen, dass Baranowitsch ein Gewalttäter ist. In Ihren Ausführungen haben Sie uns glaubhaft machen wollen, dass Sie lediglich legale Geschäfte betrieben haben. Es dürfte Ihnen doch nichts ausmachen, noch eine halbe Stunde in der Zelle zu bleiben. Ihre ganzen Ausführungen laufen darauf hinaus, dass es sich um ein ganz normales Auftragsverhältnis handelte. Deshalb habe ich auch keine Bedenken, Sie mit Baranowitsch allein zu lassen.«

»Ich bin ein unbescholtener Bürger«, begehrte Smitkov auf. Seine Stimme bekam überraschend einen fast flehenden Klang. »Warum kann ich nicht hier warten?«

»Das ist aus dienstlichen Gründen nicht möglich«, wehrte Christoph ab und sah dabei in Große Jägers breit grinsendes Gesicht. »Würden Sie den Herrn bitte begleiten«, wandte sich Christoph an die beiden Uniformierten.

Auch Hauptkommissar Uli Schröder schmunzelte. Er hatte ebenso wie Thiel und Mommsen Christophs Schachzug durchschaut und machte einen Schritt auf Smitkov zu.

»Nein, ich will aber nicht«, wehrte sich dieser, als ihn der Polizist am Ellenbogen griff. »Ich weigere mich, zu Andrej in die Zelle zu gehen.«

»Machen Sie keine Umstände«, beschied Schröder und nickte Hegermann zu. Der junge Polizist hatte Smitkov am anderen Arm gepackt.

Mit einem Ruck riss sich Smitkov los, machte einen Schritt seitwärts auf Große Jäger zu.

»Na, mein Jung«, dröhnte der Oberkommissar. »Suchst du Polizeischutz?« Dann zeigte er auf die beiden Uniformierten. »Die Kollegen gewähren ihn dir gern. Ach, noch etwas. Du kannst mit deinem russischen Kumpel ungestört plaudern. Die Zellen sind alle schallisoliert. Da hört man nichts. Bis zu diesem Raum hier dringt kein Ton.«

»Können wir das restliche Procedere nicht gleich abwickeln?«, bat Smitkov. Er war sichtlich bleich geworden und konnte weder die Schweißperlen auf seiner Stirn noch das leichte Zittern seiner Hände verbergen.

»Genug jetzt.« Schröders Stimme klang energisch. Erneut griff er zu. Diesmal aber fester, dabei von seinem Kollegen unterstützt.

Smitkov begann sich heftig zu wehren. Er versuchte vergeblich, sich erneut loszureißen, zumal jetzt auch Mommsen eingriff. Der Mann strampelte mit den Beinen, hatte aber gegen die drei Beamten keine Chance. Fast in Zeitlupe zerrten sie Smitkov zum Eingang.

Thiel hatte die Tür bereits geöffnet, als Smitkov den Kopf über die Schulter drehte und in Christophs Richtung einen verzweifelten Schrei ausstieß.

»Warten Sie. Ich kann Ihnen noch etwas sagen«, stammelte er.

Christoph nickte den dreien zu, die den Mann losließen. Der taumelte zum Stuhl, fiel auf die Sitzfläche und sah Christoph mit großen Augen an. Sie gaben ihm eine Minute zur Erholung.

»Es stimmt«, begann er dann mit brüchiger Stimme. »Schöppe und ich haben Geschäfte gemacht. Sie haben richtig vermutet. Er akquirierte, ich gab das Geld. Zuerst habe ich mich völlig auf seinen kaufmännischen Instinkt verlassen. Aber dann wurde er gierig und überspannte den Bogen. Er schleppte auch Kreditnehmer heran, bei denen abzusehen war, dass sie die Raten nicht zurückzahlen konnten.«

»Welchen Vorteil hatte Schöppe dabei?«, unterbrach Christoph.

»Er bekam Provision für die vermittelten Kredite. Bis dahin war alles legal.«

»Mit Ausnahme der überhöhten Zinsen, mit denen Sie die Menschen strangulierten.«

»Zins ist der Preis fürs Geld. Und in kritischen Fällen muss eine höhere Risikoprämie gezahlt werden. Das machen die Banken auch und nennen es Basel II. Was ist daran illegitim?«

Christoph ignorierte diesen Einwand. »Weiter«, mahnte er.

»Wir hatten plötzlich eine größere Anzahl fauler Kredite. Das wollte ich nicht hinnehmen. Ich erinnerte mich an Schewtschenko und Baranowitsch, die ich aus Sofia kannte. Ich habe dort zur Zeit des Eisernen Vorhangs im Handelsministerium gearbeitet. Wenn es Probleme gab, die wir nicht lösen konnten, hatten wir einen russischen Kontaktmann. Die beiden waren Mitarbeiter von ihm. Ich war überrascht, als – lange nach der Öffnung des Ostens – die beiden in Quickborn auftauchten und fragten, ob ich lukrative Arbeit für sie hätte. Da kam mir der Gedanke, sie für den Inkassodienst einzuspannen.«

»Wussten Sie, dass die beiden knallharte Gewaltverbrecher waren und eine blutige Spur quer durch Europa hinter sich herzogen?«, fragte Christoph.

»Ich schwöre, dass ich davon nichts gewusst habe. Es verwundert mich aber nicht. Sie waren schon damals in Bulgarien alles andere als zimperlich.«

»Dann hast du also geahnt, wie die beiden Knallköpfe bei ihren so genannten Inkassotouren vorgehen werden?«, sprang Große Jäger dazwischen.

»Nein … Ja. Ein bisschen. Ich hätte es mir in der Phantasie ausmalen können. Aber das wollte ich nicht«, gestand Smitkov ein. »Schöppe war kein solider Kaufmann. Ihm kam es bei allen seinen Geschäften nur auf die Abzocke an. So machte ich ihm Vorwürfe. Wir stritten uns heftig, dann kam es zum Zerwürfnis. Ich forderte Schöppe auf, für die Ausfälle einzustehen. Doch der fühlte sich sicher. Er wäre nur Vermittler. Das Kreditrisiko würde bei mir liegen, lachte er mich aus.«

»Ein betrogener Betrüger«, warf Große Jäger ein. Die Spur Schadenfreude in der Stimme war unverkennbar.

»Und wie ging es weiter?«, hakte Christoph nach.

»Ich schickte ihm Schewtschenko und Baranowitsch auf den Hals. Sie sollten ihm ein wenig einheizen.«

»Und? Waren die beiden erfolgreich?«

»Zuerst schien es, als würde Schöppe einwilligen. Doch dann kehrte er zu seiner harten Linie zurück. Meine Beauftragten meinten, bei Schöppe mit seinen Möglichkeiten und Verbindungen würden ihre Methoden nichts bewirken.«

»Das ist aber ein merkwürdiges Eingeständnis der Ohnmacht.«

»So empfand ich es auch. Bis mir Böses schwante.«

»Ich kann es mir denken«, erwiderte Christoph. »Schöppe hat die beiden gekauft und ihnen mehr geboten. Dafür sollten sie die Seiten wechseln.«

Smitkov nickte nur stumm.

»Das also ist Loyalität in Gangsterkreisen wert. Und plötzlich standen Sie auf der Abschussliste.«

Erneut nickte Smitkov.

»Schöppe verlangte plötzlich, dass ich alles vergessen sollte. Geschäftsrisiko nannte er es hämisch.«

»Hätten Sie das Geld nicht verschmerzen können?«

»Das ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern sie ist grundsätzlicher Natur. Wenn Sie in diesem Geschäft Schwäche zeigen, bekommen Sie kein Bein mehr auf den Boden. So durfte ich nicht nachgeben.«

»Und dabei haben Sie die Kaltblütigkeit der russischen Killer unterschätzt.«

Smitkov wirkte jetzt müde, abgespannt. Er schien aber auch erleichtert, da alles vorbei war.

»Ja«, gestand er, »das war wohl mein größter Fehler. Ich hätte nicht geglaubt, dass sich die beiden kaufen lassen und auch nicht davor zurückschrecken, mich umzubringen.«

Danach verhörten sie Manfred Schöppe. Sie konfrontierten ihn mit dem, was sie bereits in Erfahrung gebracht hatten.

Schöppe leistete keinen sichtlichen Widerstand. Er brach schnell ein und bestätigte die gegen ihn erhobenen Vorwürfe.

»Ja, ich wollte Smitkov beseitigen lassen und habe Baranowitsch beauftragt, den Parasiten aus dem Weg zu räumen.«

»Sie gestehen damit, einen Mord in Auftrag gegeben zu haben?«

»Darauf kommt es auch nicht mehr«, entgegnete Schöppe lakonisch. »Ich fürchte, mit den anderen Delikten, die man mir vorwirft, liegt genug Material bei der Staatsanwaltschaft.«

»Man wird auch prüfen, ob die Übertragung der Vermögenswerte an Ihre Freundin Sabine Bruck-Hersanger rechtsverbindlich war.«

»Von mir aus gern«, erwiderte Schöppe. »Das Flittchen hat mir gestern eine SMS geschickt, dass sie jemanden kennen gelernt hat. Sie hat nicht vor, in der nächsten Zeit zurückzukommen.«

»Und was wird aus der Wohnung? Dem Boot? Der Nordic Financial Consulting?«

»Die Kosten für Haus und Boot werden von laufenden Konten beglichen, die auf ihren Namen laufen. Und die Gesellschaft in Schleswig wird von einem Treuhänder verwaltet.«

»Und für wen?«

»Für mich«, gab Schöppe zu. »Aber das bringt auch nichts, weil der Laden ohnehin in Kürze Insolvenz anmelden muss.«

»Dafür wird sich dann Ihr Liechtensteiner Anwalt, dieser Dr. Reto Häfeli, nicht wieder in Deutschland blicken lassen dürfen. Den jagen jetzt Zoll und Finanzamt«, stellte Große Jäger mit Genugtuung fest.

»Das kümmert mich nicht. Ich werde die Zeit schon überbrücken«, gab Schöppe von sich.

»Und dann? Machen Sie sich danach wieder als Finanzberater breit?«

»Möglich«, grinste der Mann Christoph frech entgegen.